Unitatis redintegratio DE 16


16 Schon von den ältesten Zeiten her hatten die Kirchen des Orients ihre eigenen Kirchenordnungen, die von den heiligen Vätern und Synoden, auch von ökumenischen, sanktioniert worden sind. Da nun eine gewisse Verschiedenheit der Sitten und Gebräuche, wie sie oben erwähnt wurde, nicht im geringsten der Einheit der Kirche entgegensteht, sondern vielmehr ihre Zierde und Schönheit vermehrt und zur Erfüllung ihrer Sendung nicht wenig beiträgt, so erklärt das Heilige Konzil feierlich, um jeden Zweifel auszuschließen, daß die Kirchen des Orients, im Bewußtsein der notwendigen Einheit der ganzen Kirche, die Fähigkeit haben, sich nach ihren eigenen Ordnungen zu regieren, wie sie der Geistesart ihrer Gläubigen am meisten entsprechen und dem Heil der Seelen am besten dienlich sind. Die vollkommene Beobachtung dieses Prinzips, das in der Tradition vorhanden, aber nicht immer beachtet worden ist, gehört zu den Dingen, die zur Wiederherstellung der Einheit als notwendige Vorbedingung durchaus erforderlich sind.


17 Was oben von der legitimen Verschiedenheit gesagt wurde, dasselbe soll nun auch von der verschiedenen Art der theologischen Lehrverkündigung gesagt werden. Denn auch bei der Erklärung der Offenbarungswahrheit sind im Orient und im Abendland verschiedene Methoden und Arten des Vorgehens zur Erkenntnis und zum Bekenntnis der göttlichen Dinge angewendet worden. Daher darf es nicht wundernehmen, daß von der einen und von der anderen Seite bestimmte Aspekte des offenbarten Mysteriums manchmal besser verstanden und deutlicher ins Licht gestellt wurden, und zwar so, daß man bei jenen verschiedenartigen theologischen Formeln oft mehr von einer gegenseitigen Ergänzung als von einer Gegensätzlichkeit sprechen muß. Gerade gegenüber den authentischen theologischen Traditionen der Orientalen muß anerkannt werden, daß sie in ganz besonderer Weise in der Heiligen Schrift verwurzelt sind, daß sie durch das liturgische Leben gefördert und zur Darstellung gebracht werden, daß sie genährt sind von der lebendigen apostolischen Tradition und von den Schriften der Väter und geistlichen Schriftsteller des Orients und daß sie zur rechten Gestaltung des Lebens, überhaupt zur vollständigen Betrachtung der christlichen Wahrheit hinführen.

Dieses Heilige Konzil erklärt, daß dies ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört; und sie sagt Gott dafür Dank, daß viele orientalische Söhne der katholischen Kirche, die dieses Erbe bewahren und den Wunsch haben, es reiner und vollständiger zu leben, schon jetzt mit den Brüdern, die die abendländische Tradition pflegen, in voller Gemeinschaft leben.


18 Im Hinblick auf all dies erneuert das Heilige Konzil feierlich, was in der Vergangenheit von Heiligen Konzilien und von römischen Päpsten erklärt wurde, daß es nämlich zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Gemeinschaft und Einheit notwendig sei, "keine Lasten aufzuerlegen, die über das Notwendige hinausgehen" (Ac 15,28). Es spricht den dringenden Wunsch aus, daß von nun an alle ihr Bestreben darauf richten, diese Einheit allmählich zu erlangen in den verschiedenen Einrichtungen und Lebensformen der Kirche, besonders durch das Gebet und den brüderlichen Dialog über die Lehre und über die drängenden Notwendigkeiten der Seelsorgsaufgaben in unserer Zeit. In gleicher Weise empfiehlt das Heilige Konzil den Hirten und den Gläubigen der katholischen Kirche eine enge Verbundenheit mit denen, die nicht mehr im Orient, sondern fern von ihrer Heimat leben, damit die brüderliche Zusammenarbeit mit ihnen im Geist der Liebe und unter Ausschluß jeglichen Geistes streitsüchtiger Eifersucht wachse. Wenn dieses Werk mit ganzer Seele in Angriff genommen wird, so hofft das Heilige Konzil, daß die Wand, die die abendländische und die orientalische Kirche trennt, einmal hinweggenommen werde und schließlich nur eine einzige Wohnung sei, deren fester Eckstein Jesus Christus ist, der aus beidem eines machen wird (27).

27) Vgl. Konzil v. Florenz, Sessio VI (1439), Definitio Laetentur caeli: Mansi 31,1026 E.

II. Die getrennten Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften im Abendland


19 Die Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften, die in der schweren Krise, die im Abendland schon vom Ende des Mittelalters ihren Ausgang genommen hat, oder auch in späterer Zeit vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennt wurden, sind mit der katholischen Kirche durch das Band besonderer Verwandtschaft verbunden, da ja das christliche Volk in den Jahrhunderten der Vergangenheit so lange Zeit sein Leben in kirchlicher Gemeinschaft geführt hat.

Da jedoch diese Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften wegen ihrer Verschiedenheit nach Ursprung, Lehre und geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber, sondern auch untereinander nicht wenige Unterschiede aufweisen, so wäre es eine überaus schwierige Aufgabe, sie recht zu beschreiben, was wir hier zu unternehmen nicht beabsichtigen.

Obgleich die ökumenische Bewegung und der Wunsch nach Frieden mit der katholischen Kirche sich noch nicht überall durchgesetzt hat, so hegen wir doch die Hoffnung, daß bei allen ökumenischer Sinn und gegenseitige Achtung allmählich wachsen.

Dabei muß jedoch anerkannt werden, daß es zwischen diesen Kirchen und Gemeinschaften und der katholischen Kirche Unterschiede von großem Gewicht gibt, nicht nur in historischer, soziologischer, psychologischer und kultureller Beziehung, sondern vor allem in der Interpretation der offenbarten Wahrheit. Damit jedoch trotz dieser Unterschiede der ökumenische Dialog erleichtert werde, wollen wir im folgenden einige Gesichtspunkte hervorheben, die das Fundament und ein Anstoß zu diesem Dialog sein können und sollen.


20 Unser Geist wendet sich zuerst den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und Herrn und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur Ehre des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wir wissen zwar, daß nicht geringe Unterschiede gegenüber der Lehre der katholischen Kirche bestehen, insbesondere über Christus als das fleischgewordene Wort Gottes und über das Werk der Erlösung, sodann über das Geheimnis und den Dienst der Kirche und über die Aufgabe Mariens im Heilswerk. Dennoch freuen wir uns, wenn wir sehen, wie die getrennten Brüder zu Christus als Quelle und Mittelpunkt der kirchlichen Gemeinschaft streben. Aus dem Wunsch zur Vereinigung mit Christus werden sie notwendig dazu geführt, die Einheit mehr und mehr zu suchen und für ihren Glauben überall vor allen Völkern Zeugnis zu geben.


21 Die Liebe und Hochschätzung, ja fast kultische Verehrung der Heiligen Schrift führen unsere Brüder zu einem unablässigen und beharrlichen Studium dieses heiligen Buches: Das Evangelium ist ja "eine Kraft Gottes zum Heile für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst, aber auch für den Griechen" (Rm 1,16).

Unter Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In der Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse seines Todes und seiner Auferstehung.

Während die von uns getrennten Christen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift bejahen, haben sie jedoch, jeder wieder auf andere Art, eine von uns verschiedene Auffassung von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche, wobei nach dem katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung und Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen Platz einnimmt.

Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet.


22 Der Mensch wird durch das Sakrament der Taufe, wenn es gemäß der Einsetzung des Herrn recht gespendet und in der gebührenden Geistesverfassung empfangen wird, in Wahrheit dem gekreuzigten und verherrlichten Christus eingegliedert und wiedergeboren zur Teilhabe am göttlichen Leben nach jenem Wort des Apostels: "Ihr seid in der Taufe mit ihm begraben, in ihm auch auferstanden durch den Glauben an das Wirken Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat" (Col 2,12) (28).

Die Taufe begründet also ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus. Daher ist die Taufe hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus sie gewollt hat, schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft.

Obgleich bei den von uns getrennten Kirchlichen Gemeinschaften die aus der Taufe hervorgehende volle Einheit mit uns fehlt und obgleich sie nach unserem Glauben vor allem wegen des Fehlens des Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit (substantia) des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, bekennen sie doch bei der Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl, daß hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie erwarten seine glorreiche Wiederkunft. Deshalb sind die Lehre vom Abendmahl des Herrn, von den übrigen Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern der Kirche notwendig Gegenstand des Dialogs.

28) Vgl. Rm 6,4.


23 Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus, gefördert durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Dies zeigt sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen Familienleben und im Gottesdienst der zum Lob Gottes versammelten Gemeinde. Übrigens enthält ihr Gottesdienst nicht selten deutlich hervortretende Elemente der alten gemeinsamen Liturgie.

Der Christusglaube zeitigt seine Früchte in Lobpreis und Danksagung für die von Gott empfangenen Wohltaten; hinzu kommt ein lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine aufrichtige Nächstenliebe. Dieser werktätige Glaube hat auch viele Einrichtungen zur Behebung der geistlichen und leiblichen Not, zur Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens hervorgebracht.

Wenn auch viele Christen das Evangelium auf dem Gebiet der Moral weder stets in der gleichen Weise auslegen wie die Katholiken noch in den sehr schwierigen Fragen der heutigen Gesellschaft zu denselben Lösungen wie sie gelangen, so wollen sie doch ebenso wie wir an dem Worte Christi als der Quelle christlicher Tugend festhalten und dem Gebot des Apostels folgen, der da sagt: "Alles, was immer ihr tut in Wort oder Werk, tut alles im Namen unseres Herrn Jesus Christus, und danket durch ihn Gott dem Vater" (
Col 3,17). Von da her kann der ökumenische Dialog über die Anwendung des Evangeliums auf dem Bereich der Sittlichkeit seinen Ausgang nehmen.


24 Nach dieser kurzen Darlegung der Bedingungen für die praktische Durchführung der ökumenischen Arbeit und der Prinzipien, nach denen sie auszurichten ist, richten wir unsern Blick vertrauensvoll auf die Zukunft. Das Heilige Konzil mahnt die Gläubigen, jede Leichtfertigkeit wie auch jeden unklugen Eifer zu meiden, die dem wahren Fortschritt der Einheit nur schaden können, Ihre ökumenische Betätigung muß ganz und echt katholisch sein, das heißt in Treue zur Wahrheit, die wir von den Aposteln und den Vätern empfangen haben, und in Übereinstimmung mit dem Glauben, den die katholische Kirche immer bekannt hat, zugleich aber auch im Streben nach jener Fülle, die sein Leib nach dem Willen des Herrn im Ablauf der Zeit gewinnen soll.

Das Heilige Konzil wünscht dringend, daß alles, was die Söhne der katholischen Kirche ins Werk setzen, in Verbindung mit den Unternehmungen der getrennten Brüder fortschreitet, ohne den Wegen der Vorsehung irgendein Hindernis in den Weg zu legen und ohne den künftigen Anregungen des Heiligen Geistes vorzugreifen. Darüber hinaus erklärt es seine Überzeugung, daß dieses heilige Anliegen der Wiederversöhnung aller Christen in der Einheit der einen und einzigen Kirche Christi die menschlichen Kräfte und Fähigkeiten übersteigt. Darum setzt es seine Hoffnung gänzlich auf das Gebet Christi für die Kirche, auf die Liebe des Vaters zu uns und auf die Kraft des Heiligen Geistes. "Die Hoffnung aber wird nicht zuschanden: Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns geschenkt ist" (
Rm 5,5).

21. November 1964





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