Ut unum sint 60


60 Vor kurzem hat die gemischte internationale Kommission in der so heiklen Frage der Methode, die bei der Suche nach der vollen Gemeinschaft zwischen der katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche befolgt werden solle, einer Frage, die oft die Beziehungen zwischen Katholiken und Orthodoxen verschlechtert hat, einen bedeutsamen Schritt vollzogen. Sie hat die lehrmäßigen Grundlagen für eine positive Lösung des Problems gelegt, die sich auf die Lehre von den Schwesterkirchen stützt. Auch in diesem Zusammenhang ist klar geworden, daß die Methode, die auf dem Weg zur vollen Gemeinschaft befolgt werden soll, der Dialog der Wahrheit ist, der vom Dialog der Liebe genährt und unterstützt wird. Das den katholischen orientalischen Kirchen zuerkannte Recht, sich zu organisieren und ihr Apostolat auszuüben, sowie die tatsächliche Einbeziehung dieser Kirchen in den Dialog der Liebe und in den theologischen Dialog werden nicht nur eine wirkliche und brüderliche gegenseitige Achtung zwischen den in demselben Gebiet lebenden Orthodoxen und Katholiken, sondern auch ihren gemeinsamen Einsatz auf der Suche nach der Einheit begünstigen. 99 Ein Schritt vorwärts ist getan worden. Der Einsatz muß weitergehen. Schon jetzt kann man aber eine Beruhigung der Geister feststellen, die die Suche fruchtbarer macht.

Was die orientalischen Kirchen betrifft, die sich in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche befinden, hatte das Konzil die folgende Wertschätzung zum Ausdruck gebracht: »Dieses Heilige Konzil erklärt, daß dies ganze geistliche und liturgische, disziplinäre und theologische Erbe mit seinen verschiedenen Traditionen zur vollen Katholizität und Apostolizität der Kirche gehört; und es sagt Gott dafür Dank, daß viele orientalische Söhne der katholischen Kirche 2 schon jetzt mit den Brüdern, die die abendländische Tradition pflegen, in voller Gemeinschaft leben«. 100 Sicher werden die katholischen Ostkirchen im Geist des Ökumenismusdekrets in positiver Weise am Dialog der Liebe und am theologischen Dialog sowohl auf lokaler wie auf universaler Ebene teilnehmen können und so zum gegenseitigen Verständnis und zu einer dynamischen Suche nach der vollen Einheit beitragen. 101


61 Nach dieser Auffassung will die katholische Kirche nichts anderes als die volle Gemeinschaft zwischen Orient und Abendland. dabei inspiriert sie sich an der Erfahrung des ersten Jahrtausends. In jener Zeit war in der Tat »die Herausbildung unterschiedlicher Erfahrungen kirchlichen Lebens 3 kein Hindernis dafür, daß die Christen durch gegenseitige Beziehungen weiterhin die Gewißheit empfinden konnten, in jeder Kirche zu Hause zu sein, weil von allen in einer wunderbaren Vielfalt von Sprachen und Modulationen das Lob des einen Vaters durch Christus im Heiligen Geist emporstieg; alle haben sich versammelt, um die Eucharistie zu feiern, Herz und Vorbild für die Gemeinschaft nicht nur im Hinblick auf die Spiritualität oder das sittliche Leben, sondern auch für die Struktur der Kirche in der Vielfalt der Ämter und Dienste unter dem Vorsitz des Bischofs, des Nachfolgers der Apostel. Die ersten Konzilien sind ein beredtes Zeugnis für die fortdauernde Einheit in Vielfalt«. 102 Wie läßt sich nach fast tausend Jahren diese Einheit wiederherstellen? Das ist die große Aufgabe, die sie lösen muß und die auch der orthodoxen Kirche obliegt. Von daher begreift man die ganze Aktualität des Dialogs, der gestützt wird vom Licht und der Kraft des Heiligen Geistes.

Beziehungen zu den alten Kirchen des Orients

62 Seit dem II. Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche mit Unterschieden hinsichtlich der Vorgangsweisen und zeitlichen Abläufe auch zu jenen alten Kirchen des Orients wieder brüderliche Beziehungen aufgenommen, die die dogmatischen Formeln der Konzilien von Ephesus und Chalkedon angefochten haben. Alle diese Kirchen haben Beobachter zum II. Vatikanischen Konzil entsandt; ihre Patriarchen haben uns mit ihrem Besuch geehrt, und der Bischof von Rom hat mit ihnen wie mit Brüdern sprechen können, die sich nach langer Zeit in der Freude wiederfinden.

Die Wiederaufnahme der brüderlichen Beziehungen zu den alten Kirchen des Orients, Zeugen des christlichen Glaubens in oft feindseligen und tragischen Situationen, ist ein konkretes Zeichen dafür, daß uns trotz der historischen, politischen, sozialen und kulturellen Hindernisse Christus miteinander vereint. Und gerade was das christologische Thema betrifft, haben wir gemeinsam mit den Patriarchen einiger dieser Kirchen unseren gemeinsamen Glauben an Jesus Christus erklären können, den wahren Gott und wahren Menschen. Papst Paul VI. seligen Andenkens hatte in diesem Sinne Erklärungen mit Seiner Heiligkeit Shenouda III., dem koptisch-orthodoxen Papst und Patriarchen, 103 und mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen von Antiochien, Seiner Heiligkeit Jacoub III., 104 unterzeichnet. Ich selbst konnte diese christologische Übereinstimmung bestätigen und daraus die Konsequenzen ziehen: für die Entwicklung des Dialogs mit Papst Shenouda 105 und für die pastorale Zusammenarbeit mit dem syrischen Patriarchen von Antiochien, Mar Ignatius Zakka I. Iwas. 106

Gemeinsam mit dem ehrwürdigen Patriarchen der Kirche Äthiopiens, Abuna Paulos, der mich am 11. Juni 1993 in Rom besuchte, haben wir die zwischen unseren beiden Kirchen bestehende tiefe Gemeinschaft hervorgehoben: »Wir teilen den von den Aposteln empfangenen Glauben, dieselben Sakramente und dasselbe in der apostolischen Sukzession verwurzelte Amt 4. Heute können wir tatsächlich behaupten, denselben Glauben an Christus zu haben, nachdem er lange Zeit Ursache der Spaltung zwischen uns gewesen war«. 107

Vor kurzer Zeit hat mir der Herr die große Freude beschert, eine gemeinsame christologische Erklärung mit dem assyrischen Patriarchen des Orients, Seiner Heiligkeit Mar Dinkha IV., zu unterschreiben, der mich aus diesem Anlaß im November 1994 in Rom besuchte. Unter Berücksichtigung der differenzierten theologischen Formulierungen konnten wir so gemeinsam den wahren Glauben an Christus bekennen. 108 Meiner Freude über all das möchte ich mit den Worten der seligen Jungfrau Ausdruck verleihen: »Meine Seele preist den Herrn« (
Lc 1,46).


63 Hinsichtlich der traditionellen Auseinandersetzungen über die Christologie haben die ökumenischen Kontakte also grundlegende Klärungen ermöglicht, so daß wir miteinander jenen Glauben bekennen können, der uns gemeinsam ist. Noch einmal sei festgestellt, daß diese bedeutende Errungenschaft sicherlich Ergebnis der theologischen Forschung und des brüderlichen Dialogs ist. Und nicht nur das. Sie ist für uns auch Ermutigung: denn sie zeigt uns, daß der eingeschlagene Weg richtig ist und daß man vernünftigerweise darauf hoffen kann, miteinander die Lösung für die anderen Streitfragen zu finden.

Dialog mit den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften im Abendland

64 Im umfassenden, für die Wiederherstellung der Einheit unter allen Christen vorgezeichneten Plan berücksichtigt das Ökumenismusdekret ebenso auch die Beziehungen zu den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften des Abendlandes. In der Absicht, ein Klima der christlichen Brüderlichkeit und des Dialogs zu schaffen, führt das Konzil seine Angaben und Hinweise im Rahmen zweier allgemeiner Betrachtungen aus: die eine hat historisch-psychologischen und die andere theologisch-doktrinalen Charakter. Einerseits stellt das Dokument fest: »Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die in der schweren Krise, die im Abendland schon vom Ende des Mittelalters ihren Ausgang genommen hat, oder auch in späterer Zeit vom Römischen Apostolischen Stuhl getrennt wurden, sind mit der katholischen Kirche durch das Band besonderer Verwandtschaft verbunden, da ja das christliche Volk in den Jahrhunderten der Vergangenheit so lange Zeit sein Leben in kirchlicher Gemeinschaft geführt hat«. 109 Andererseits wird mit ebensolchem Realismus festgestellt: »dabei muß jedoch anerkannt werden, daß es zwischen diesen Kirchen und Gemeinschaften und der katholischen Kirche Unterschiede von großem Gewicht gibt, nicht nur in historischer, soziologischer, psychologischer und kultureller Beziehung, sondern vor allem in der Interpretation der geoffenbarten Wahrheit«. 110


65 Gemeinsam sind die Wurzeln und trotz der Unterschiede sind die Orientierungen ähnlich, die die Entwicklung der katholischen Kirche und der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und Gemeinschaften im Abendland geleitet haben. Sie besitzen daher eine gemeinsame abendländische Charakteristik. Die oben genannten »Unterschiede«, wenn sie auch von Bedeutung sind, schließen also gegenseitige Durchdringungen und Ergänzungen nicht aus.

Die ökumenische Bewegung hat gerade im Bereich der Kirchen und Gemeinschaften der Reformation ihren Ausgang genommen. Zur gleichen Zeit, bereits im Januar 1920, hatte das Ökumenische Patriarchat den Wunsch geäußert, es solle eine Zusammenarbeit zwischen den christlichen Gemeinschaften aufgebaut werden. Dieser Umstand zeigt, daß die Auswirkung des kulturellen Hintergrundes nicht entscheidend ist. Wesentlich ist vielmehr die Frage des Glaubens. Das Gebet Christi, unseres einzigen Herrn, Erlösers und Meisters, spricht alle in derselben Weise an, den Orient ebenso wie das Abendland. Es wird zu einem Imperativ, der gebietet, die Trennungen aufzugeben, um die Einheit zu suchen und wiederzufinden, angespornt gerade auch durch die bitteren Erfahrungen der Spaltung.


66 Das II. Vatikanische Konzil beabsichtigt nicht, das »nachreformatorische« Christentum »zu beschreiben«, denn diese Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften weisen »wegen ihrer Verschiedenheit nach Ursprung, Lehre und geistlichem Leben nicht nur uns gegenüber, sondern auch untereinander nicht wenige Unterschiede« auf. 111 Außerdem bemerkt dasselbe Dekret, daß sich die ökumenische Bewegung und der Wunsch nach Frieden mit der katholischen Kirche noch nicht überall durchgesetzt hat. 112 Ungeachtet dieser Umstände schlägt das Konzil jedoch den Dialog vor.

Das Konzilsdekret versucht dann, »einige Gesichtspunkte hervorzuheben, die das Fundament und ein Anstoß zu diesem Dialog sein können und sollen«. 113

»Unser Geist wendet sich 5 den Christen zu, die Jesus Christus als Gott und Herrn und einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen offen bekennen zur Ehre des einen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«. 114

Diese Brüder pflegen Liebe und Hochschätzung für die Heilige Schrift: »Unter Anrufung des Heiligen Geistes suchen sie in der Heiligen Schrift Gott, wie er zu ihnen spricht in Christus, der von den Propheten vorherverkündigt wurde und der das für uns fleischgewordene Wort Gottes ist. In der Heiligen Schrift betrachten sie das Leben Christi und was der göttliche Meister zum Heil der Menschen gelehrt und getan hat, insbesondere die Geheimnisse seines Todes und seiner Aufer- stehung 6; sie bejahen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift«. 115

Gleichzeitig »haben sie jedoch 7 eine von uns verschiedene Auffassung von dem Verhältnis zwischen der Schrift und der Kirche, wobei nach dem katholischen Glauben das authentische Lehramt bei der Erklärung und Verkündigung des geschriebenen Wortes Gottes einen besonderen Platz einnimmt«. 116 »Nichtsdestoweniger ist die Heilige Schrift gerade beim (ökumenischen) Dialog ein ausgezeichnetes Werkzeug in der mächtigen Hand Gottes, um jene Einheit zu erreichen, die der Erlöser allen Menschen anbietet«. 117

Zudem stellt das Sakrament der Taufe, das wir gemeinsam haben, »ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen (dar), die durch sie wiedergeboren sind«. 118 Die theologischen, pastoralen und ökumenischen Verflechtungen der gemeinsamen Taufe sind zahlreich und bedeutsam. Obwohl dieses Sakrament »nur ein Anfang und Ausgangspunkt« ist, »ist es hingeordnet auf das vollständige Bekenntnis des Glaubens, auf die völlige Eingliederung in die Heilsveranstaltung, wie Christus sie gewollt hat, und schließlich auf die vollständige Einfügung in die eucharistische Gemeinschaft«. 119


67 Lehrmäßige und historische Unterschiede der Reformationszeit haben sich in bezug auf die Kirche, die Sakramente und das Weiheamt ergeben. Das Konzil verlangt daher, daß »die Lehre vom Abendmahl des Herrn, von den übrigen Sakramenten, von der Liturgie und von den Dienstämtern der Kirche notwendig Gegenstand des Dialogs sind«. 120

Während das Dekret Unitatis redintegratio hervorhebt, daß den nachreformatorischen Gemeinschaften die »aus der Taufe hervorgehende volle Einheit mit uns fehlt«, stellt es zugleich fest, daß sie »vor allem wegen des Fehlens des Weihesakramentes die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben«, obwohl sie »bei der Gedächtnisfeier des Todes und der Auferstehung des Herrn im Heiligen Abendmahl bekennen, daß hier die lebendige Gemeinschaft mit Christus bezeichnet werde, und sie seine glorreiche Wiederkunft erwarten«. 121


68 Das Dekret läßt das geistliche Leben und die moralischen Konsequenzen nicht außer acht: »Das christliche Leben dieser Brüder wird genährt durch den Glauben an Christus, gefördert durch die Gnade der Taufe und das Hören des Wortes Gottes. Dies zeigt sich im privaten Gebet, in der biblischen Betrachtung, im christlichen Familienleben und im Gottesdienst der zum Lob Gottes versammelten Gemeinde. Übrigens enthält ihr Gottesdienst nicht selten deutlich hervortretende Elemente der alten gemeinsamen Liturgie«. 122

Das Konzilsdokument beschränkt sich allerdings nicht auf diese geistlichen, moralischen und kulturellen Aspekte, sondern weitet seine Wertschätzung auf das starke Gerechtigkeitsgefühl und auf die aufrichtige Nächstenliebe aus, die bei diesen Brüdern vorhanden sind; außerdem verkennt es nicht ihre Initiativen zur Schaffung menschlicher sozialer Lebensbedingungen und zur Festigung des Friedens. Das alles geschieht in dem ehrlichen Willen, an dem Wort Christi als Quelle des christlichen Lebens festzuhalten.

So hebt der Text eine Problematik hervor, die auf ethisch-moralischem Gebiet in unserer Zeit immer dringlicher wird, nämlich daß »viele Christen das Evangelium« nicht immer »in der gleichen Weise auslegen wie die Katholiken«. 123 Auf diesem weiten Gebiet gibt es einen breiten Raum für den Dialog über die moralischen Prinzipien des Evangeliums und ihre Anwendung.


69 Die Vorgaben und die Einladung des II. Vatikanischen Konzils sind in die Tat umgesetzt worden, und nach und nach wurde der bilaterale theologische Dialog mit den verschiedenen Kirchen und weltweiten christlichen Gemeinschaften des Abendlandes aufgenommen.

Andererseits begann für den multilateralen Dialog bereits 1964 der Prozeß zur Errichtung einer »Gemischten Arbeitsgruppe« mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, und seit 1968 gehören katholische Theologen als Vollmitglieder der theologischen Abteilung dieses Rates an, nämlich der Kommission »Glaube und Verfassung«.

Der Dialog war und ist fruchtbar und verheibungsvoll. Mit den vom Konzilsdekret als Gegenstand des Dialogs empfohlenen Themen hat man sich bereits auseinandergesetzt oder wird das in Kürze tun können. Wenn man die verschiedenen bilateralen Gespräche betrachtet, die mit einer Hingabe geführt werden, die das Lob der ganzen ökumenischen Gemeinschaft verdient, so haben sie sich auf viele Streitfragen konzentriert, wie die Taufe, die Eucharistie, das Weiheamt, den sakramentalen Charakter und die Autorität der Kirche und die apostolische Sukzession. Auf diese Weise wurden unverhoffte Aussichten auf eine Lösung entworfen, und zugleich hat man begriffen, wie notwendig die tiefere Ergründung mancher Themen wäre.



70 Diese schwierige und heikle Untersuchung, die Probleme des Glaubens und der Achtung des eigenen und des Gewissens des anderen einbezieht, wurde auch vom Gebet der katholischen Kirche und der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften begleitet und unterstützt. Das im kirchlichen Gefüge bereits so tief verwurzelte und verbreitete Gebet für die Einheit zeigt, daß den Christen die Bedeutung der ökumenischen Frage nicht entgeht. Gerade weil die Suche nach der vollen Einheit eine Glaubensgegenüberstellung zwischen Gläubigen verlangt, die sich auf den einen Herrn berufen, ist das Gebet die Quelle der Erleuchtung über die Wahrheit, die als ganze angenommen werden muß.

Durch das Gebet erstreckt sich zudem die Suche nach der Einheit, die ja nicht auf einen Kreis von Spezialisten beschränkt ist, auf jeden Getauften. Unabhängig von ihrer Rolle in der Kirche und von ihrer kulturellen Bildung können alle in einer geheimnisvollen, tiefgründigen Dimension einen aktiven Beitrag leisten.


Kirchliche Beziehungen

71 Wir müssen der göttlichen Vorsehung auch für alle Ereignisse danken, die Zeugnis geben vom Fortschritt auf dem Weg der Suche nach der Einheit. Neben dem theologischen Dialog müssen angebrachterweise die anderen Begegnungsformen erwähnt werden, nämlich das gemeinsame Gebet und die praktische Zusammenarbeit. Papst Paul VI. gab diesem Prozeß mit seinem Besuch am Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf am 10. Juni 1969 einen starken Anstoß und traf dann wiederholt mit den Vertretern verschiedener Kirchen und kirchlicher Gemeinschaften zusammen. Diese Kontakte tragen wirksam dazu bei, die gegenseitige Kenntnis voneinander zu verbessern und die christliche Brüderlichkeit wachsen zu lassen.

Papst Johannes Paul I. brachte während seines so kurzen Pontifikats den Willen zur Fortsetzung des Weges zum Ausdruck. 124 Der Herr hat mir gewährt, in dieser Richtung zu wirken. Außer den wichtigen ökumenischen Begegnungen in Rom ist ein bedeutender Teil meiner Pastoralbesuche regelmäßig dem Zeugnis für die Einheit der Christen gewidmet. Einige meiner Reisen weisen sogar eine ökumenische »Priorität« auf, besonders in den Ländern, in denen die katholischen Gemeinden gegenüber den aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften eine Minderheit darstellen; oder wo diese letzteren in einer bestimmten Gesellschaft einen beachtlichen Anteil der an Christus Glaubenden darstellen.


72 Das gilt vor allem für die europäischen Länder, wo diese Spaltungen ihren Ausgang genommen haben, und für Nordamerika. In diesem Zusammenhang verdienen, ohne deshalb die anderen Besuche schmälern zu wollen, jene besondere Aufmerksamkeit, die mich auf dem europäischen Kontinent zweimal nach Deutschland geführt haben: im November 1980 und im April- Mai 1987; der Besuch im Vereinigten Königreich (England, Schottland und Wales) im Mai-Juni 1982; in der Schweiz im Juni 1984; und in den skandinavischen und nordischen Ländern (Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Island), wohin ich mich im Juni 1989 begeben habe. Mit Freude, in gegenseitiger Achtung, in christlicher Solidarität und im Gebet bin ich vielen, vielen Brüdern und Schwestern begegnet, die alle in der Suche nach der Treue zum Evangelium engagiert sind. Das alles festzustellen war für mich eine Quelle großer Ermutigung. Wir haben die Gegenwart des Herrn mitten unter uns erfahren.

In diesem Zusammenhang möchte ich an eine von brüderlicher Liebe bestimmte und von tiefer Glaubensklarheit durchdrungene Haltung erinnern, die ich mit starker Anteilnahme erlebt habe. Sie bezieht sich auf die Eucharistiefeiern, denen ich während meiner Reise in die nordischen und skandinavischen Länder in Finnland und in Schweden vorstand. Bei der Kommunion präsentierten sich die lutherischen Bischöfe dem Zelebranten. Sie wollten mit einer einvernehmlichen Geste ihren sehnlichen Wunsch nach Erreichung des Zeitpunktes bekunden, an dem wir, Katholiken und Lutheraner, an derselben Eucharistie werden teilnehmen können, und sie wollten den Segen des Zelebranten empfangen. Voll Liebe habe ich sie gesegnet. Dieselbe so bedeutungsreiche Geste hat sich in Rom während der Messe wiederholt, die ich am 6. Oktober 1991 anläßlich des 600. Jahrestages der Heiligsprechung der hl. Birgitta auf der Piazza Farnese feierte.

Ähnlichen Empfindungen begegnete ich auch jenseits des Atlantik im September 1984 in Kanada und besonders im September 1987 in den Vereinigten Staaten, wo man eine große ökumenische Aufgeschlossenheit feststellt. Hier sei als Beispiel die ökumenische Begegnung in Columbia, South Carolina, vom 11. September 1987 erwähnt. Wichtig ist an sich die Tatsache, daß diese Begegnungen zwischen den Brüdern »aus der Reformationszeit« und dem Papst mit gewisser Regelmäßigkeit stattfinden. Ich bin zutiefst dafür dankbar, daß mich sowohl die Verantwortlichen der verschiedenen Gemeinschaften als auch die Gemeinschaften in ihrer Gesamtheit gern aufgenommen haben. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich den ökumenischen Wortgottesdienst für äußerst wichtig, der in Columbia stattgefunden hat und die Familie zum Thema hatte.


73 Ein weiterer Grund zu großer Freude ist die Feststellung, daß es in der nachkonziliaren Zeit und in den einzelnen Ortskirchen reichlich Initiativen und Aktionen zur Förderung der Einheit der Christen gibt, die ihr auf Mitwirkung aller abzielendes Tun auf der Ebene der Bischofskonferenzen, der einzelnen Diözesen und der Pfarrgemeinden wie auch der verschiedenen kirchlichen Bereiche und Bewegungen ausweiten.


Verwirklichte Zusammenarbeit

74 »Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt« (Mt 7,21). Die Kohärenz und Redlichkeit der Absichten und der Grundsatzaussagen erfüllen sich durch deren Anwendung auf das konkrete Leben. Das Konzilsdekret über den Ökumenismus führt an, daß bei den anderen Christen »der Christusglaube seine Früchte in Lobpreis und Danksagung für die von Gott empfangenen Wohltaten zeitigt; hinzu kommt ein lebendiges Gerechtigkeitsgefühl und eine aufrichtige Nächstenliebe«. 125

Der soeben beschriebene Bereich ist ein fruchtbarer Boden nicht nur für den Dialog, sondern auch für eine tätige Zusammenarbeit: Der »werktätige Glaube hat auch viele Einrichtungen zur Behebung der geistlichen und leiblichen Not, zur Förderung der Jugenderziehung, zur Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse im sozialen Leben und zur allgemeinen Festigung des Friedens hervorgebracht«. 126

Das soziale und kulturelle Leben bietet weite Räume für ökumenische Zusammenarbeit. Immer häufiger finden sich die Christen zusammen, um die Menschenwürde zu verteidigen, das Gut des Friedens, die Anwendung des Evangeliums auf das soziale Leben zu fördern sowie in Wissenschaft und Kunst den christlichen Geist präsent zu machen. Sie finden sich immer mehr zusammen, wenn es darum geht, der Not und dem Elend unserer Zeit entgegenzutreten: dem Hunger, den Katastrophen und der sozialen Ungerechtigkeit.


75 Diese Zusammenarbeit, die ihre Inspiration aus dem Evangelium selbst bezieht, ist für die Christen niemals eine bloß humanitäre Aktion. Sie hat ihren eigentlichen Grund im Wort des Herrn: »Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben« (Mt 25,35). Wie ich bereits hervorgehoben habe, macht die Zusammenarbeit aller Christen klar jenen zwischen ihnen bereits bestehenden Grad von Gemeinschaft offenbar. 127

Vor der Welt gewinnt das gemeinsame Wirken der Christen in der Gesellschaft dann den transparenten Wert eines Zeugnisses, das gemeinsam im Namen des Herrn abgelegt wird. Es nimmt auch die Dimensionen einer Verkündigung an, weil es das Antlitz Christi enthüllt.

Die noch bestehenden gegensätzlichen Auffassungen in der Lehre üben einen negativen Einfluß aus und setzen auch der Zusammenarbeit Grenzen. Die zwischen den Christen bereits bestehende Glaubensgemeinschaft bietet jedoch nicht nur für ihre gemeinsame Tätigkeit auf sozialem Gebiet eine solide Grundlage, sondern auch im religiösen Bereich.

Diese Zusammenarbeit wird die Suche nach der Einheit erleichtern. Wie das Ökumenismusdekret bemerkte, können bei dieser Zusammenarbeit »alle, die an Christus glauben, unschwer lernen, wie sie einander besser kennen und höher achten können und wie der Weg zur Einheit der Christen bereitet wird«. 128


76 Wie sollte man in diesem Zusammenhang nicht an das ökumenische Interesse für den Frieden erinnern, das unter wachsender Beteiligung der Christen und mit einer immer tiefgründigeren theologischen Motivation im Gebet und im Tun Ausdruck findet? Es könnte gar nicht anders sein. Glauben wir etwa nicht an Jesus Christus, den Friedensfürsten? Die Christen sind sich zunehmend einig in der Ablehnung der Gewalt, und zwar jeder Art von Gewalt, von Kriegen bis zur sozialen Ungerechtigkeit.

Wir sind zu einem immer tätigeren Einsatz aufgerufen, damit noch klarer zutage tritt, daß nicht die religiösen Gründe die wahre Ursache der herrschenden Konflikte darstellen, auch wenn leider die Gefahr der Instrumentalisierung zu politischen und feindseligen Zwecken nicht gebannt ist.

Während des Weltgebetstages für den Frieden 1986 in Assisi haben die Christen der verschiedenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit einer einzigen Stimme zum Herrn der Geschichte für den Frieden in der Welt gebetet. An jenem Tag haben parallel dazu, wenn auch in anderer Weise, ebenso die Juden und die Vertreter der nichtchristlichen Religionen um den Frieden gebetet — in einem Einklang von Gefühlen, die die tiefsten Seiten des menschlichen Geistes zum Schwingen brachten.

Nicht vergessen möchte ich auch den Weltgebetstag für den Frieden in Europa, besonders auf dem Balkan, der mich am 9. und 10. Januar 1993 wieder als Pilger in die Stadt des hl. Franziskus geführt hat, und die Messe für den Frieden auf dem Balkan und insbesondere in Bosnien-Herzegowina, die ich im Rahmen der Gebetswoche für die Einheit der Christen am 23. Januar 1994 in der Petersbasilika feierte.

Wenn unser Blick durch die Welt streift, erfüllt Freude unser Herz. Denn wir stellen fest, daß sich die Christen immer mehr von der Frage des Friedens ermahnt fühlen. Sie sehen sie in engem Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums und mit der Ankunft des Reiches Gottes.

III. QUANTA EST NOBIS VIA? (WIE LANG IST DER WEG, DER NOCH VOR UNS LIEGT?)


Den Dialog weiter intensivieren

77 Nun können wir uns fragen, wie lang der Weg ist, der uns noch von jenem segensreichen Tag trennt, an dem die volle Einheit im Glauben erreicht sein wird und wir einträchtig miteinander die heilige Eucharistie des Herrn werden feiern können. Die bessere gegenseitige Kenntnis und die Übereinstimmungen in Fragen der Lehre, die wir schon erreicht haben und die eine effektive Zunahme des Gemeinschaftsgefühls zur Folge hatten, können dem Gewissen der Christen, die die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekennen, freilich noch nicht genügen. Das letzte Ziel der ökumenischen Bewegung ist die Wiederherstellung der sichtbaren vollen Einheit aller Getauften.

Im Hinblick auf dieses Ziel sind alle bisher erreichten Ergebnisse nur ein, wenn auch vielversprechendes und positives Wegstück.


78 In der ökumenischen Bewegung hat nicht nur die katholische Kirche, zusammen mit den orthodoxen Kirchen, diese anspruchsvolle Auffassung von der von Gott gewollten Einheit. Das Streben nach einer solchen Einheit wird auch von anderen zum Ausdruck gebracht. 129

Zum Ökumenismus gehört, daß sich die christlichen Gemeinschaften gegenseitig helfen, damit in ihnen tatsächlich der ganze Inhalt und alle Ansprüche dessen gegenwärtig sind, »was uns seit den Zeiten der Apostel überkommen ist«. 130 Ohne dies wird eine volle Gemeinschaft nie möglich sein. Diese gegenseitige Hilfe bei der Suche nach der Wahrheit ist eine vortreffliche Form der Liebe im Sinne des Evangeliums.

Die Suche nach der Einheit findet in den verschiedenen Dokumenten der zahlreichen internationalen gemischten Dialog-Kommissionen Ausdruck. Ausgehend von einer gewissen Grundeinheit in der Lehre geht es in diesen Texten um die Taufe, die Eucharistie, das Amt und die Autorität.

Von dieser grundlegenden, aber eben nur teilweisen Einheit gilt es nun zu der notwendigen und hinreichenden sichtbaren Einheit zu gelangen, die sich in die konkrete Wirklichkeit einschreibt, damit die Kirchen tatsächlich das Zeichen jener vollen Gemeinschaft in der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche verwirklichen, die in der gemeinsamen Feier der Eucharistie Ausdruck finden wird.

Dieser Weg zur notwendigen und ausreichenden sichtbaren Einheit in der Gemeinschaft der einen von Christus gewollten Kirche erfordert eine noch geduldige und beherzte Arbeit. dabei gilt es, keine weiteren Verpflichtungen über die unverzichtbaren hinaus aufzuerlegen (vgl.
Ac 15,28).


79 Schon jetzt ist es möglich, die Themen festzulegen, die vertieft werden müssen, um zu einer echten Übereinstimmung im Glauben zu gelangen: 1) die Beziehungen zwischen Heiliger Schrift als oberster Autorität in Sachen des Glaubens und der heiligen Tradition als unerläßlicher Interpretation des Wortes Gottes; 2) die Eucharistie, Sakrament des Leibes und Blutes Christi, dargebracht zum Lob des Vaters, Gedächtnis des Opfers und Realpräsenz Christi, heiligmachende Ausgießung des Heiligen Geistes; 3) die Weihe als Sakrament zum Dienstamt in seinen drei Stufen: Bischofsamt, Priestertum und Diakonat; 4) das Lehramt der Kirche, dem Papst und den in Gemeinschaft mit ihm stehenden Bischöfen anvertraut, verstanden als Verantwortung und Autorität im Namen Christi für die Unterweisung im Glauben und seine Bewahrung; 5) die Jungfrau Maria, Gottesmutter und Ikone der Kirche, geistliche Mutter, die für die Jünger Christi und für die ganze Menschheit Fürbitte leistet.

Auf diesem mutigen Weg zur Einheit halten uns die Klarheit und die Klugheit des Glaubens an, die falsche Irenik und die Nichtbeachtung der Normen der Kirche zu vermeiden. 131 Umgekehrt gebieten uns dieselbe Klarheit und dieselbe Klugheit, die Lauheit beim Einsatz für die Einheit und noch mehr den vorgefaßten Widerstand zu meiden oder auch den Defätismus, der dazu neigt, alles negativ zu sehen.

An einer Sicht der Einheit festhalten, die allen Forderungen der geoffenbarten Wahrheit Rechnung trägt, heißt jedoch nicht der ökumenischen Bewegung Einhalt zu gebieten. 132 Im Gegenteil, es bedeutet zu vermeiden, daß sie sich mit Scheinlösungen zufriedengibt, die zu keinem stabilen und echten Ergebnis führen würden. 133 Der Anspruch der Wahrheit muß bis auf den Grund gehen. Ist das etwa nicht das Gesetz des Evangeliums?


Annahme der erreichten Ergebnisse

80 Während der Dialog über neue Themenbereiche weitergeht oder sich auf tiefer reichenden Ebenen entwickelt, haben wir eine neue Aufgabe zu lösen: wie nämlich die bisher erzielten Ergebnisse angenommen werden sollen. Sie dürfen nicht Aussagen der bilateralen Kommissionen bleiben, sondern müssen Gemeingut werden. Damit das geschieht und sich auf diese Weise die Gemeinschaftsbande festigen, bedarf es einer ernsthaften Untersuchung, die in verschiedenen Weisen, Formen und Zuständigkeiten das Volk Gottes als ganzes einbeziehen muß. Es handelt sich nämlich um Fragen, die häufig den Glauben betreffen, und sie erfordern die allseitige Übereinstimmung, die von den Bischöfen bis zu den gläubigen Laien reicht, die alle die Salbung mit dem Heiligen Geist empfangen haben. 134 Es ist derselbe Geist, der dem Lehramt beisteht und den sensus fidei weckt.

Für die Annahme der Ergebnisse des Dialogs braucht es daher einen umfangreichen und sorgfältigen kritischen Prozeß, der sie analysiert und mit Strenge ihre Übereinstimmung mit der Glaubenstradition überprüft, die uns von den Aposteln überkommen ist und in der um den Bischof als ihrem rechtmäßigen Hirten versammelten Gemeinschaft der Gläubigen gelebt wird.


81 Dieser Prozeß, der mit Klugheit und in der Haltung des Glaubens vorgenommen werden muß, wird vom Heiligen Geist begleitet werden. Damit er günstig ausgeht, müssen seine Ergebnisse zweckmäßigerweise von kompetenten Personen verständlich dargestellt werden. Sehr wichtig ist dafür der Beitrag, den die Theologen und die Theologischen Fakultäten in Erfüllung ihres Charismas in der Kirche anzubieten berufen sind. Außerdem ist klar, daß die ökumenischen Kommissionen diesbezüglich ganz einzigartige Verantwortlichkeiten und Aufgaben haben.

Der gesamte Prozeß wird von den Bischöfen und vom Heiligen Stuhl verfolgt und unterstützt. Die Lehrautorität hat die Verantwortung, das endgültige Urteil zu sprechen.

Bei all dem wird es eine große Hilfe sein, sich methodisch an die Unterscheidung zwischen dem Glaubensgut (depositum fidei) und der Formulierung, in der es ausgedrückt wird, zu halten, wie es Papst Johannes XXIII. in seiner Ansprache zur Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils empfahl. 135



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