Veritatis splendor 74


74 Aber wovon hängt die moralische Bewertung des freien Handelns des Menschen ab? Wodurch wird diese Hinordnung der menschlichen Handlungen auf Gott sichergestellt? Von der Intention des handelnden Subjektes, von den Umständen - und insbesondere von den Folgen - seines Handelns, vom Objekt seines Handelns selbt?

Das ist das, traditonellerweise sogenannte, Problem der »Quellen der Moralität«. Und gerade im Hinblick auf dieses Problem haben sich in den letzten Jahrzehnten neue - oder wieder erneuerte - kulturelle und theologische Strömungen offenbart, die eine sorgfältige Klärung von seiten des Lehramtes der Kirche erfordern.

Einige als »teleologisch« bezeichnete ethische Theorien richten ihre Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen mit den vom Handelnden verfolgten Zielen und mit den von ihm zu realisieren beabsichtigten Werten. Die Kriterien zur moralischen Beurteilung einer Handlung werden aus der Abwägung der zu erlangenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Güter und der entsprechenden zu respektierenden nicht-sittlichen und vor-sittlichen Werte gewonnen. Für manche wäre das konkrete Verhalten richtig bzw. falsch je nachdem, ob es für alle betroffenen Personen einen besseren Zustand hervorzubringen vermag oder nicht: Richtig wäre das Verhalten, das imstande ist, die Güter zu »maximieren« und die Übel zu »minimieren«.

Viele der katholischen Moraltheologen, die dieser Auffassung folgen, möchten nichts mit Utilitarismus und Pragmatismus zu tun haben, bei denen die Sittlichkeit der menschlichen Handlungen ohne Bezugnahme auf das letzte wahre Ziel des Menschen beurteilt werde. Zu Recht sind sie sich der Notwendigkeit bewußt, für die Vernunft einsichtige, immer stichhaltigere Argumente zu finden, um die Anforderungen des sittlichen Lebens zu rechtfertigen und die entsprechenden sittlichen Normen zu begründen. Und dieses Forschen ist gerade insofern legitim und notwendig, als ja die im Naturgesetz festgelegte sittliche Ordnung menschlicher Vernunfterkenntnis grundsätzlich zugänglich ist. Dieses Suchen entspricht im übrigen den Erfordernissen des Dialogs und der Zusammenarbeit mit den Nicht-Katholiken und den Nicht-Glaubenden, besonders in pluralistischen Gesellschaften.


75 Aber im Rahmen des Bemühens um die Erarbeitung einer solchen vernunftgemäßen Moral - deshalb manchmal auch »autonome Moral« genannt - gibt es falsche Lösungen, die insbesondere mit einem unzulänglichen Verständnis dessen zusammenhängt, was man das »Objekt« des sittlichen Handelns nennt. Einige schenken der Tatsache nicht genügend Beachtung, daß der Wille in die konkreten Wahlakte, die er vollzieht, miteinbezogen ist: diese sind Voraussetzung für sein sittliches Gutsein und für seine Hinordnung auf das letzte Ziel der Person. Andere hingegen inspirieren sich an einer Konzeption der Freiheit, die von den tatsächlichen Bedingungen ihrer Ausübung, von ihrem objektiven Bezug zur Wahrheit des Guten, von ihrer Bestimmung durch die Wahl konkreter Verhaltensweisen absieht. Nach diesen Theorien wäre also der freie Wille weder bestimmten Verpflichtungen sittlich unterworfen, noch würde er durch seine Wahlakte geformt, auch wenn er für seine Handlungen und deren Folgen verantwortlich bleibt. Dieser »Teleologimus«, als Methode der Entdeckung der moralischen Norm, kann also - entsprechend den aus verschiedenen Denkströmungen entnommenen Terminologien und Geisteshaltungen - als »Konsequentialismus« oder »Proportionalismus« bezeichnet werden. Ersterer beansprucht die Kriterien für die Richtigkeit eines bestimmten Handelns, die lediglich aus den voraussehbaren Folgen einer getroffenen Wahl hervorgehen. Der zweite - unter Abwägen zwischen den Werten und den verfolgten Gütern - orientiert sich eher an der anerkannten Verhältnismäßigkeit bezüglich der guten und bösen Auswirkungen hinsichtlich des »höheren Gutes« oder des »kleineren Übels«, die in einer besonderen Situation wirklich möglich sind.

Die teleologischen Ethiken (Proportionalismus, Konsequentialismus) anerkennen zwar, daß die sittlichen Werte durch Vernunft und Offenbarung aufgezeigt werden; dennoch halten sie daran fest, daß sich bezüglich konkret bestimmbarer Verhaltensweisen, die unter allen Umständen und in allen Kulturen zu diesen sittlichen Werten in Widerspruch stünden, niemals eine absolute Verbotsnorm formulieren lasse. Das handelnde Subjekt wäre selbstverständlich für die Erlangung der verfolgten Werte verantwortlich, dies jedoch in zweifacher Hinsicht: Die durch eine menschliche Handlung betroffenen Werte oder Güter wären einerseits moralischer Art (bezogen auf eigentlich sittliche Werte wie Gottesliebe, Wohlwollen gegenüber dem Mitmenschen, Gerechtigkeit usw.) und, in anderer Hinsicht, vor-moralischer Art, eine Ebene, die auch nichtsittlich, physisch oder ontisch genannt wird (bezogen auf Nutzen und Schaden, die sowohl dem Handelnden als auch anderen, früher oder später involvierten Personen erwachsen, wie zum Beispiel: Gesundheit bzw. ihre Beeinträchtigung, physische Unversehrtheit, Leben, Tod, der Verlust materieller Güter usw.). In einer Welt, in der das Gute immer mit dem Übel vermischt und jede gute Wirkung mit anderen schlechten Auswirkungen verbunden wäre, müßte man die Sittlichkeit der Handlung in differenzierter Weise beurteilen: ihr sittliches »Gutsein« aufgrund der sich auf sittliche Güter beziehenden Absicht des Subjektes, ihre »Richtigkeit« aufgrund ihrer vorhersehbaren Wirkungen oder Folgen und deren Verhältnis zueinander. Konkrete Verhaltensweisen müßten daher als »richtig« bzw. »falsch« bewertet werden, ohne daß es deshalb schon möglich wäre, den Willen der Person, der sie wählt, als sittlich »gut« oder »schlecht« zu bezeichnen. Auf diese Weise könnte eine Handlung, die, im Widerspruch zu einer universellen Verbotsnorm, als vor-moralisch bezeichnete Güter direkt verletzt, als sittlich zulässig bewertet werden, falls sich die Absicht des Subjektes, gemäß »verantwortlicher« Abwägung der bei der konkreten Handlung auf dem Spiel stehenden Güter, auf den in der gegebenen Situation für entscheidend gehaltenen sittlichen Wert richtet.

Die Bewertung der Folgen der Handlung aufgrund der Verhältnismäßigkeit des Aktes bezüglich seiner Auswirkungen und der Auswirkungen untereinander würde lediglich die vor-moralische Ordnung betreffen. Über die sittliche Artbestimmtheit der Handlungen, d.h. über ihre Güte oder Schlechtigkeit, würde allein die Treue der Person zu den höchsten Werten der Liebe und Klugkeit entscheiden, ohne daß solche Treue notwendigerweise mit Entscheidungen unvereinbar wäre, die bestimmten sittlichen Einzelverboten widersprechen. Auch im Falle schwerwiegender Materie müßten diese letzteren als stets relative und Ausnahmen unterliegende Handlungsnormen angesehen werden.

Gemäß dieser Sichtweise würde dann die bewußte Einwilligung in bestimmte Verhaltensweisen, die in der traditionellen Moral als unerlaubt gelten, auch nichts objektiv sittlich Schlechtes einschließen.


Der Gegenstand der freien menschlichen Handlung

76 Diese Theorien gewinnen vielleicht aufgrund ihrer Verwandschaft mit der naturwissenschaftlichen Denkweise eine gewisse Überzeugungskraft; das wissenschaftliche Denken bemüht sich zu Recht, das technische und wirtschaftliche Schaffen aufgrund der Berechnung der Ressourcen und der Gewinne, der Verfahrensweisen und ihrer Auswirkungen zu ordnen. Es will von den Zwängen einer voluntaristischen und willkürlichen Pflichtmoral befreien, die sich als unmenschlich erweisen würde.

Derartige Theorien sind jedoch der Lehre der Kirche nicht treu, wenn sie glauben, die freie und bedachte Wahl von Verhaltensweisen, die den Geboten des göttlichen und des Naturgesetzes widersprechen, als sittlich gut rechtfertigen zu können. Diese Theorien können sich nicht auf die katholische moralische Tradition berufen: wenn es wahr ist, daß sich in dieser letzteren eine Kasuistik entwickelt hat, die darauf bedacht ist, in einigen konkreten Situationen die besseren Möglichkeiten für das Gute zu erwägen, so ist ebenso wahr, daß dies nur jene Fälle betrifft, in denen das Gesetz unbestimmt war und daher die absolute Gültigkeit der moralischen negativen Gebote, die ohne Ausnahme verpflichten, nicht in Frage stellte. Die Gläubigen sind verpflichtet, die spezifischen, von der Kirche im Namen Gottes, des Schöpfers und Herrn, vorgelegten und gelehrten sittlichen Gebote anzuerkennen und zu achten. 125 Wenn der Apostel Paulus die Erfüllung des Gesetzes in dem Gebot zusammenfaßt, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (vgl.
Rm 13,8-10), schwächt er damit nicht die Gebote ab, sondern er bestätigt sie vielmehr, da er deren Forderungen und Gewicht offenlegt. Die Gottesliebe und die Nächstenliebe sind nicht zu trennen von der Einhaltung der Gebote des Bundes, der im Blut Jesu Christi und durch die Gabe des Geistes erneuert wurde. Es gereicht den Christen zur Ehre, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (vgl. Ac 4,19 Ac 5,29) und dafür auch das Martyrium auf sich zu nehmen, wie es die heiligen Männer und Frauen des Alten und Neuen Testamentes getan haben; sie wurden als heilig anerkannt, weil sie eher ihr Leben hingege ben haben als diese oder jene im Widerspruch zum Glauben oder zur Tugend stehende konkrete Einzelhandlung auszuführen.


77 Um vernunftgemäße Kriterien für die rechte sittliche Entscheidung bereitzustellen, berücksichtigen die erwähnten Theorien die Absicht und die Folgen des menschlichen Handelns. Gewiß müssen sowohl die Absicht - wie Jesus in offenem Gegensatz zu den Schriftgelehrten und Pharisäern, die ohne auf das Herz zu achten, gewisse äußere Werke pedantisch vorschrieben, mit besonderem Nachdruck betont (vgl. Mc 7,20-21 Mt 15,19) -, als auch die infolge einer einzelnen Handlung erlangten Güter und vermiedenen Übel entscheidend in Erwägung gezogen werden. Es handelt sich um eine Forderung der Verantwortlichkeit. Aber die Erwägung dieser Folgen - ebenso wie der Absichten - genügt nicht für die Bewertung der moralischen Qualität einer konkreten Wahl. Die Abwägung der als Folge einer Handlung vorhersehbaren Güter und Übel ist keine angemessene Methode, um bestimmen zu können, ob die Wahl dieses Verhaltens »ihrer Artbestimmung nach« oder »in sich selbst« sittlich gut oder schlecht, erlaubt oder unerlaubt ist. Die vorhersehbaren Folgen gehören zu jenen Umständen des Aktes, die zwar die Schwere einer schlechten Handlung modifizieren, jedoch nicht ihre moralische Spezies verändern können.

Im übrigen weiß jeder, wie schwierig - oder, besser, wie unmöglich - es ist, alle Folgen und alle im vor-moralischen Sinne guten bzw. schlechten Auswirkungen der eigenen Handlungen zu bewerten: ein erschöpfendes vernünftiges Kalkulieren ist nicht möglich. Wie soll man Proportionen ausmachen, die von einer Bewertung abhängen, deren Kriterien im Dunkeln verbleiben? Wie könnte man aufgrund derart fraglicher rechnerischer Überlegungen eine absolute Inpflichtnahme rechtfertigen?


78 Der sittliche Charakter der menschlichen Handlung ist von dem durch den freien Willen vernunftgemäß gewählten Gegenstand abhängig wie es auch die scharfsinnige, noch immer gültige Analyse des hl. Thomas aufweist. 126 Um den Gegenstand einer Handlung, der sie sittlich spezifiziert, erfassen zu können, muß man sich daher in die Perspektive der handelnden Person versetzen. Das Objekt des Willensaktes ist ja ein frei gewähltes Verhalten. Insofern es mit der Vernunftordnung übereinstimmt, ist es Ursache der Güte des Willens, macht es uns sittlich vollkommener und hilft uns, unser letztes Ziel im vollkommenen Guten, der ursprünglichen Liebe, zu erkennen. Unter »Objekt« einer bestimmten sittlichen Handlung kann man daher nicht einen Prozeß oder ein Ereignis rein physischer Ordnung verstehen, die danach zu bewerten wären, daß sie einen bestimmten Zustand in der äußeren Welt hervorrufen. Das Objekt ist das unmittelbare Ziel einer freien Wahl, die den Willensakt der handelnden Person prägt. In diesem Sinne gibt es, wie der Katechismus der katholischen Kirche lehrt, »konkrete Verhaltensweisen, die zu wählen immer falsch ist, weil ihre Wahl die Ungeordnetheit des Willens einschließt, das heißt ein sittliches Übel«. 127 »Es geschieht nicht selten - schreibt der hl. Thomas von Aquin -, daß der Mensch in guter Absicht, aber in nichtsnutziger Weise handelt, weil ihm der gute Wille fehlt. Zum Beispiel, wenn einer stiehlt, um einen Armen zu ernähren: Obwohl in diesem Fall die Absicht recht ist, fehlt hier die Richtigkeit eines angemessenen Willens. Kurz und gut, die gute Absicht entschuldigt keineswegs die Ausführung böser Werke. "Einige legen uns in den Mund: Laßt uns Böses tun, damit Gutes entsteht. Diese Leute werden mit Recht verurteilt" (Rm 3,8)«. 128

Der Grund, warum die gute Absicht nicht genügt, sondern es auch der richtigen Wahl der Werke bedarf, liegt darin, daß die menschliche Handlung von ihrem Gegenstand beziehungsweise davon abhängt, ob dieser Gegenstand auf Gott, also den, der »allein "der Gute" ist«, hingeordnet werden kann oder nicht und so die Vollkommenheit der menschlichen Person bewirkt. Eine Handlung ist daher gut, wenn ihr Gegenstand (Objekt) dem Gut der Person, unter Respektierung der für sie sittlich bedeutsamen Güter, entspricht. Die christliche Ethik, die dem Gegenstand sittlicher Handlungen eine ganz besondere Beachtung schenkt, lehnt es also nicht ab, die innere »Teleologie« des Handelns in Betracht zu ziehen, insofern auf die Förderung des wahren Gutes der Person gerichtet; sie hält aber fest, daß letzteres nur dann wahrhaftig verfolgt wird, wenn die wesentlichen Aspekte der menschlichen Natur respektiert werden. Die ihrem Gegenstand nach gute menschliche Handlung besitzt auch die Eigenschaft, auf das letzte Ziel hingeordnet werden zu können. Eben diese Handlung erlangt dann ihre letzte und entscheidende Vollkommenheit, wenn der Wille sie durch die Liebe tatsächlich auf Gott hinordnet. In diesem Sinne lehrt der Patron der Moraltheologen und Beichtväter: »Es genügt nicht, gute Werke zu tun, sie müssen gut getan werden. Damit unsere Werke gut und vollkommen sind, müssen wir sie mit dem klaren Ziel tun, daß sie Gott gefallen«. 129


Das »in sich Schlechte«: Man darf nicht Böses tun, damit Gutes entsteht

(vgl. Rm 3,8).
79 Zurückgewiesen werden muß daher die für teleologische und proportionalistische Theorien typische Ansicht, es sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen nach ihrer Spezies - ihrem »Objekt« - als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht, mit der diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhersehbaren Folgen jener Handlungen für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen.

Das vorrangige und entscheidende Element für das moralische Urteil ist das Objekt der menschlichen Handlung, das darüber entscheidet, ob sie auf das Gute und auf das letzte Ziel, das Gott ist, hingeordnet werden kann. Ob dies so ist, erkennt die Vernunft im Sein des Menschen selbst, verstanden in seiner vollumfänglichen Wahrheit, und damit unter Berücksichtigung seiner natürlichen Neigungen, seiner Triebkräfte und seiner Zweckbestimmtheiten, die immer auch eine geistige Dimension besitzen: Genau das sind die Inhalte des Naturgesetzes und damit die geordnete Gesamtheit der »Güter für die menschliche Person«, die sich in den Dienst des »Gutes der Person« stellen, des Gutes, das sie selbst und ihre Vollendung ist. Das sind die von den Geboten (des Dekalogs) geschützten Güter, der nach dem hl. Thomas das ganze Naturgesetz enthält. 130


80 Nun bezeugt die Vernunft, daß es Objekte menschlicher Handlungen gibt, die sich »nicht auf Gott hinordnen« lassen, weil sie in radikalem Widerspruch zum Gut der nach seinem Bild geschaffenen Person stehen. Es sind dies die Handlungen, die in der moralischen Überlieferung der Kirche »in sich schlecht« (intrinsece malum), genannt wurden: Sie sind immer und an und für sich schon schlecht, d.h. allein schon aufgrund ihres Objektes, unabhängig von den weiteren Absichten des Handelnden und den Umständen. Darum lehrt die Kirche - ohne im geringsten den Einfluß zu leugnen, den die Umstände und vor allem die Absichten auf die Sittlichkeit haben -, daß »es Handlungen gibt, die durch sich selbst und in sich, unabhängig von den Umständen, wegen ihres Objekts immer schwerwiegend unerlaubt sind«. 131 Das Zweite Vatikanische Konzil bietet im Zusammenhang mit der Achtung, die der menschlichen Person gebührt, eine ausführliche Erläuterung solcher Handlungsweisen anhand von Beispielen: »Was zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art von Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers«. 132

Über die in sich sittlich schlechten Handlungen und im Blick auf kontrazeptive Praktiken, mittels derer vorsätzlich unfruchtbar gemacht wird, lehrt Papst Paul VI.: »Wenn es auch in der Tat zuweilen erlaubt ist, ein sittliches Übel hinzunehmen, in der Absicht, damit ein größeres Übel zu verhindern oder ein höheres sittliches Gut zu fördern, ist es doch nicht erlaubt, nicht einmal aus sehr schwerwiegenden Gründen, das sittlich Schlechte zu tun, damit daraus das Gute hervorgehe (vgl.
Rm 3,8), d.h. etwas zum Gegenstand eines positiven Willensaktes zu machen, was an sich Unordnung besagt und daher der menschlichen Person unwürdig ist, auch wenn es in der Absicht geschieht, Güter der Person, der Familie oder der Gesellschaft zu schützen oder zu fördern«. 133


81 Wenn die Kirche das Bestehen »in sich schlechter« Handlungen lehrt, greift sie die Lehre der Heiligen Schrift auf. Der Apostel stellt kategorisch fest: »Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber werden das Reich Gottes erben« (1Co 6,9-10).

Wenn die Akte in sich schlecht sind, können eine gute Absicht oder besondere Umstände ihre Schlechtigkeit zwar abschwächen, aber nicht aufheben: Sie sind »irreparabel« schlechte Handlungen, die an und für sich und in sich nicht auf Gott und auf das Gut der menschlichen Person hinzuordnen sind: »Wer würde es im Hinblick auf die Handlungen, die durch sich selbst Sünden sind (cum iam opera ipsa peccata sunt) - schreibt der hl. Augustinus -, wie Diebstahl, Unzucht, Gotteslästerung, zu behaupten wagen, sie wären, wenn sie aus guten Motiven (causis bonis) vollbracht würden, nicht mehr Sünden oder, eine noch absurdere Schlußfolgerung, sie wären gerechtfertigte Sünden?«. 134

Darum können die Umstände oder die Absichten niemals einen bereits in sich durch sein Objekt sittenlosen Akt in einen »subjektiv« sittlichen oder als Wahl vertretbaren Akt verwandeln.


82 Im übrigen ist die Absicht dann gut, wenn sie auf das wahre Gut der Person im Blick auf ihr letztes Ziel gerichtet ist. Die Handlungen aber, die sich aufgrund ihres Objektes nicht auf Gott »hinordnen« lassen und »der menschlichen Person unwürdig« sind, stehen diesem Gut immer und in jedem Fall entgegen. In diesem Sinne bedeutet die Beachtung der Normen, die solche Handlungen verbieten und semper et pro semper, das heißt ausnahmslos, verpflichten, nicht nur keine Beschränkung für die gute Absicht, sondern sie ist geradezu der fundamentale Ausdruck guter Absicht.

Die Lehre vom Objekt als Quelle der Sittlichkeit ist authentische Ausdrucksform der biblischen Moral des Bundes und der Gebote, der Liebe und der Tugenden. Die sittliche Qualität menschlichen Handelns hängt von dieser Treue zu den Geboten ab, die Ausdruck von Gehorsam und Liebe ist. Und deshalb - wir wiederholen es noch einmal - muß die Meinung als irrig zurückgewiesen werden, es sei unmöglich, die bewußte Wahl einiger Verhaltensweisen bzw. konkreter Handlungen ihrer Spezies nach als sittlich schlecht zu bewerten, ohne die Absicht, aufgrund welcher diese Wahl vollzogen wurde, oder ohne die Gesamtheit der vorhersehbaren Folgen jener Handlung für alle betroffenen Personen zu berücksichtigen. Ohne diese Vernunftbestimmtheit der sittlichen Qualität menschlichen Handelns wäre es unmöglich, eine »objektive sittliche Ordnung« 135 anzunehmen und irgendeine von inhaltlichen Gesichtspunkten bestimmte Norm festzulegen, die ausnahmslos verpflichtet; und das zum Schaden der Brüderlichkeit unter den Menschen und der Wahrheit über das Gute und ebenso zum Nachteil der kirchlichen Gemeinschaft.



83 Im Problem der Sittlichkeit des menschlichen Handelns und besonders in der Frage nach der Existenz in sich schlechter Handlungen konzentriert sich, wie man sieht, gewissermaßen die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Wahrheit und den sich daraus ergebenden sittlichen Konsequenzen. Dadurch, daß die Kirche anerkennt und lehrt, daß es konkret bestimmbare menschliche Handlungen gibt, die in sich schon schlecht sind, bleibt sie der vollen Wahrheit über den Menschen treu und achtet und fördert ihn damit in seiner Würde und Berufung. Sie muß infolgedessen die oben dargelegten Theorien, die dieser Wahrheit zuwiderlaufen, zurückweisen.

Brüder im Bischofsamt, wir dürfen uns jedoch nicht nur dabei aufhalten, die Gläubigen über die Irrtümer und Gefahren einiger ethischer Theorien zu belehren. Wir müssen vor allem den faszinierenden Glanz jener Wahrheit aufzeigen, die Jesus Christus selber ist. In ihm, der die Wahrheit ist (vgl.
Jn 14,6), vermag der Mensch vermittels seiner guten Taten seine Berufung zur Freiheit im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz, das im Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe zusammengefaßt ist, voll zu begreifen und vollkommen zu leben. Und das alles geschieht durch die Gabe des Heiligen Geistes, des Geistes der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe: In ihm ist es uns gegeben, uns das Gesetz zu eigen zu machen und es als Treibkraft wahrer persönlicher Freiheit zu begreifen und zu leben. »Das vollkommene Gesetz ist das Gesetz der Freiheit« (Jc 1,25).


KAPITEL III - »DAMIT DAS KREUZ CHRISTI NICHT UM SEINE KRAFT GEBRACHT WIRD«

84 (1Co 1,17)

Das sittlich Gute für das Leben der Kirche und der Welt

»Zur Freiheit hat uns Christus befreit« (@Ga 5,1@)

Die grundlegende Frage, die die oben erwähnten Moraltheorien mit besonderer Eindringlichkeit stellen, ist die nach der Beziehung zwischen der Freiheit des Menschen und dem Gesetz Gottes, letztendlich die Frage nach der Beziehung zwischen Freiheit und Wahrheit.

Gemäß christlichem Glauben und der Lehre der Kirche führt »nur die Freiheit, die sich der Wahrheit unterwirft, die menschliche Person zu ihrem wahren Wohl. Das Wohl der Person besteht darin, sich in der Wahrheit zu befinden und die Wahrheit zu tun«. 136

Die Konfrontation zwischen der Position der Kirche und der heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Situation deckt unmittelbar die dringende Notwendigkeit auf, daß gerade im Hinblick auf diese grundlegende Frage von seiten der Kirche selbst eine intensive Pastoralarbeit entwickelt werden muß: »Dieser wesentliche Zusammenhang zwischen der Wahrheit, dem Guten und der Freiheit ist der modernen Kultur größtenteils abhanden gekommen, und darum besteht heute eine der besonderen Forderungen an die Sendung der Kirche zur Rettung der Welt darin, den Menschen zur Wiederentdeckung dieses Zusammenhanges zu führen. Die Frage des Pilatus: "Was ist Wahrheit?" wird auch heute an der trostlosen Ratlosigkeit eines Menschen sichtbar, der häufig nicht mehr weiß, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. Und so erleben wir nicht selten das er schreckende Abgleiten der menschlichen Person in Situationen einer fortschreitenden Selbstzerstörung. Wollte man gewissen Stimmen Gehör schenken, so scheint man nicht mehr die unzerstörbare Absolutheit auch nur eines einzigen sittlichen Wertes anerkennen zu dürfen. Allen Augen offenkundig ist die Verachtung des empfangenen und noch ungeborenen menschlichen Lebens; die ständige Verletzung der Grundrechte der Person; die ungerechte Zerstörung der für ein wirklich menschliches Leben notwendigen Güter. Ja, es ist noch viel Bedenklicheres geschehen: der Mensch ist nicht mehr davon überzeugt, allein in der Wahrheit das Heil finden zu können. Die rettende, heilbringende Kraft des Wahren wird angefochten, und allein der - freilich jeder Objektivität beraubten - Freiheit wird die Aufgabe zugedacht, autonom zu entscheiden, was gut und was böse ist. Dieser Relativismus führt auf theologischem Gebiet zum Mißtrauen in die Weisheit Gottes, die den Menschen durch das Sittengesetz leitet. Den Geboten des Sittengesetzes stellt man die sogenannten konkreten Situationen entgegen, weil man im Grunde nicht mehr daran festhält, daß das Gesetz Gottes immer das einzige wahre Gut des Menschen ist«. 137


85 Die Aufgabe der prüfenden Unterscheidung von seiten der Kirche angesichts dieser ethischen Theorien beschränkt sich nicht auf deren Entlarvung und Ablehnung, sondern zielt darauf ab, allen Gläubigen mit großer Liebe bei der Formung eines sittlichen Gewissens beizustehen, das zu urteilen und zu wahrheitsgemäßen Entscheidungen zu führen vermag, wie der Apostel Paulus mahnend schreibt: »Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist« (Rm 12,2). Ihren festen Halt - ihr pädagogisches »Geheimnis« - findet diese Arbeit der Kirche nicht so sehr in den Lehraussagen und pastoralen Aufrufen zur Wachsamkeit als vielmehr darin, daß sie den Blick unverwandt auf den Herrn Jesus richtet. So blickt die Kirche Tag für Tag mit unermüdlicher Liebe auf Christus, da sie sich völlig bewußt ist, daß allein bei ihm die wahre und endgültige Antwort auf die sittlichen Fragestellungen liegt.

Besonders im gekreuzigten Jesus findet sie die Antwort auf die Frage, die heute so viele Menschen quält: wie nur kann der Gehorsam gegenüber den allgemeinen und unveränderlichen sittlichen Normen die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit respektieren und nicht ein Angriff auf ihre Freiheit und Würde werden? Die Kirche macht sich jene Gewissensauffassung zu eigen, die der Apostel Paulus von der an ihn ergangenen Sendung hatte: »Denn Christus hat mich ... gesandt ..., das Evangelium zu verkünden, aber nicht mit gewandten und klugen Worten, damit das Kreuz Christi nicht um seine Kraft gebracht wird ... Wir verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit« (1Co 1,17 1Co 1,23-24). Der gekreuzigte Christus offenbart den authentischen Sinn der Fritheit, er lebt ihn in der Fülle seiner totalen Selbsthingabe und beruft die Jünger, an dieser seiner Freiheit teilzuhaben.


86 Vernünftige Überlegung und alltägliche Erfahrung zeigen die Schwäche, von der die Freiheit des Menschen gezeichnet ist. Sie ist wirkliche, aber begrenzte Freiheit: sie hat ihren absoluten und bedingungslosen Ausgangspunkt nicht in sich selbst, sondern in der Existenz, innerhalb der sie sich findet und die für sie gleichzeitig eine Grenze und eine Möglichkeit darstellt. Es ist die Freiheit eines Geschöpfes, das heißt geschenkte Freiheit, die als Keim empfangen und verantwortungsvoll zur Reife gebracht werden soll. Sie gehört wesentlich zu jenem geschaffenen Ebenbild Gottes, das die Würde der menschlichen Person begründet: in ihr hallt die ursprüngliche Berufung wider, mit welcher der Schöpfer den Menschen zum wahren Gut und, mehr noch, mit der Offenbarung Christi dazu berufen hat, durch Teilhabe am göttlichen Leben selbst mit ihm in Freundschaft einzutreten. Sie ist zugleich unveräußerlicher Eigenbesitz und umfassende Öffnung gegenüber jedem Seienden, indem sie aus sich herausgeht, um den anderen kennenzulernen und zu lieben. 138 Die Freiheit hat also ihre Wurzel in der Wahrheit vom Menschen und ihre Zielbestimmung in der Gemeinschaft.

Vernunft und Erfahrung sprechen nicht nur von der Schwäche der menschlichen Freiheit, sondern auch von ihrem Drama. Der Mensch entdeckt, daß seine Freiheit rätselhafterweise dazu neigt, diese Öffnung für das Wahre und Gute zu mißbrauchen, und daß er es zu oft tatsächlich vorzieht, endliche, begrenzte und vergängliche Güter zu wählen. Ja mehr noch, in den Irrtümern und negativen Entscheidungen spürt der Mensch den Anfang einer radikalen Auflehnung, die ihn die Wahrheit und das Gute zurückweisen läßt, um sich zum absoluten Prinzip seiner selbst aufzuwerfen: »Ihr werdet Gott« (
Gn 3,5). Die Freiheit muß also befreit werden. Christus ist ihr Befreier: er »hat uns zur Freiheit befreit« (Ga 5,1).


87 Zunächst offenbart Christus, daß die ehrliche und offene Anerkennung der Wahrheit die Bedingung einer authentischen Freiheit ist. »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Jn 8,32). 139 Die Wahrheit macht frei gegenüber der Macht und verleiht die Kraft zum Martyrium. So spricht es Jesus vor Pilatus aus: »Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege« (Jn 18,37). So sollen die wahren Anbeter Gottes diesen »im Geist und in der Wahrheit« anbeten (Jn 4,23): durch diese Anbetung werden sie frei: Der Zusammenhang mit der Wahrheit und die Anbetung Gottes werden in Jesus Christus als der tiefsten Wurzel der Freiheit offenbar.

Des weiteren offenbart Jesus mit seiner eigenen Existenz und nicht bloß mit Worten, daß sich die Freiheit in der Liebe, das heißt in der Selbsthingabe, verwirklicht. Er, der sagt: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Jn 15,13), geht aus freien Stücken der Passion entgegen (vgl. Mt 26,46) und gibt in seinem Gehorsam gegenüber dem Vater am Kreuz sein Leben für alle Menschen hin (vgl. Ph 2,6-11). Auf diese Weise ist die Betrachtung des gekreuzigten Jesus der königliche Weg, den die Kirche Tag für Tag gehen muß, wenn sie den ganzen Sinn der Freiheit verstehen will: die Selbsthingabe im Dienst an Gott und den Brüdern. Die Gemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist dann die unversiegbare Quelle, aus der die Kirche unablässig schöpft, um in der Freiheit zu leben, sich hinzugeben und zu dienen. In seinem Kommentar zu dem Vers aus dem 100. Psalm »Dient dem Herrn mit Freude!« sagt der hl. Augustinus: »Im Hause des Herrn ist die Knechtschaft frei. Frei, da nicht der Zwang, sondern die Liebe den Dienst auferlegt... Die Liebe mache dich zum Knecht (Diener), wie die Wahrheit dich frei gemacht hat... Du bist zugleich Diener und frei: Diener, weil du dazu geworden bist, frei, weil du von Gott, deinem Schöpfer, geliebt wirst; ja, frei auch, weil es dir gegeben ist, deinen Schöpfer zu lieben ... Du bist Diener des Herrn und du bist Befreiter des Herrn. Suche nicht eine Freiheit, die dich fortträgt vom Hause deines Befreiers!« 140

Auf diese Weise ist die Kirche und jeder Christ in ihr dazu berufen, teilzuhaben am Königtum Christi am Kreuz (vgl. Jn 12,32), an der Gnade und an der Verantwortung des Menschensohnes, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). 141

Jesus ist also die lebendige und personifizierte Synthese von vollkommener Freiheit und unbedingtem Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. Sein gekreuzigter Leib ist die volle Offenbarung der unlösbaren Bande zwischen Freiheit und Wahrheit, so wie seine Auferstehung vom Tode die erhabenste Verherrlichung der Fruchtbarkeit und heilbringenden Kraft einer in Wahrheit gelebten Freiheit ist.


Veritatis splendor 74