Reconciliatio et paenitentia DE


APOSTOLISCHES SCHREIBEN

IM ANSCHLUSS AN DIE BISCHOFSSYNODE

RECONCILIATIO ET PAENITENTIA

VON

JOHANNES PAUL II.

AN DIE BISCHÖFE

DIE PRIESTER UND DIAKONE

UND AN ALLE GLÄUBIGEN

ÜBER VERSÖHNUNG UND BUSSE

IN DER SENDUNG DER KIRCHE HEUTE

EINLEITUNG

URSPRUNG UND BEDEUTUNG DES DOKUMENTES



1 Von Versöhnung und Buße zu sprechen bedeutet eine Einladung an die Männer und Frauen unserer Zeit, in ihrer Sprache jene Worte wiederzuentdecken, mit denen unser Heiland und Meister Jesus Christus seine Verkündigung beginnen wollte: »Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«,(1) das heißt, nehmt an die Frohe Botschaft der Liebe, der Gotteskindschaft und so auch der Brüderlichkeit.

Warum legt die Kirche dieses Thema und diese Einladung erneut vor?

Der brennende Wunsch, den heutigen Menschen und seine Welt besser kennenzulernen und zu verstehen, seine Rätsel zu lösen und sein Geheimnis zu enthüllen sowie die guten von den schlechten Fermenten, die heute wirksam sind, zu unterscheiden, läßt viele schon seit längerem mit fragenden Augen auf diesen Menschen und auf diese Welt blicken. Dies tun der Historiker und der Soziologe, der Philosoph und der Theologe, der Psychologe und der Humanist, der Dichter, der Mystiker: vor allem aber tut dies - besorgt und doch auch voller Hoffnung - der Seelsorger.

Ein solch fragender Blick ist besonders deutlich auf jeder Seite der wichtigen PastoralkonstitutionGaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche in der Welt von heute zu finden, vor allem in der umfangreichen und tiefgehenden Einführung, ebenso in einigen Dokumenten, die aus der Weisheit und Hirtenliebe meiner verehrten Vorgänger hervorgegangen sind, deren herausragende Pontifikate vom geschichtlichen und prophetischen Ereignis jenes Ökumenischen Konzils geprägt sind.

Wie die anderen entdeckt auch das Auge des Seelsorgers unter den verschiedenen charakteristischen Zügen der Welt und der Menschheit unserer Tage leider die Existenz zahlreicher tiefer und schmerzlicher Spaltungen.

Eine zerrissene Welt


2 Diese Spaltungen zeigen sich in den Beziehungen zwischen Personen und Gruppen, aber auch bei den größten gesellschaftlichen Gebilden: Nationen gegen Nationen, gegeneinanderstehende Blöcke von Ländern, alle in atemlosem Streben nach Vorherrschaft. Es ist nicht schwer, an der Wurzel der Spaltungen Konflikte zu entdecken, die sich in Auseinandersetzung und Streit verschärfen, anstatt im Dialog eine Lösung zu finden.

Auf der Suche nach den Ursachen solcher Spaltung finden aufmerksame Beobachter die verschiedensten Elemente: von wachsender Ungleichheit zwischen den Gruppen, sozialen Klassen und Ländern bis zu noch keineswegs überwundenen ideologischen Gegensätzen; vom Gegensatz ökonomischer Interessen bis zu politischer Frontenbildung; von Stammeskonflikten bis zu gesellschaftlicher und religiöser Diskriminierung. Einige für alle sichtbare Tatsachen bilden gleichsam das traurige Antlitz solcher Spaltungen: Sie sind deren Frucht und zeigen ihre Schwere in unwiderlegbarer konkreter Deutlichkeit. Unter vielen anderen schmerzlichen sozialen Erscheinungen unserer Zeit kann man auf die folgenden hinweisen:

1. die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte, darunter an erster Stelle das Recht auf Leben und auf eine menschenwürdige Lebensqualität, was umso empörender ist, als sie einhergeht mit einer bisher nie gekannten Rhetorik über diese Rechte;
2. die Angriffe und Drohungen gegen die Freiheit der einzelnen und der Gemeinschaften, darin eingeschlossen, ja noch weit mehr verletzt und bedroht, die Freiheit, einen eigenen Glauben zu haben, zu bekennen und zu leben;
3. die verschiedenen Formen von Diskriminierung: rassisch, kulturell, religiös usw.;
4. Gewalt und Terrorismus;
5. Gebrauch der Folter und ungerechte wie unerlaubte Formen staatlicher Gewalt;
6. die Anhäufung von konventionellen oder atomaren Waffen und ein Rüstungswettlauf mit Militärkosten, die dazu dienen könnten, das unverschuldete Elend von Völkern zu lindern, die sozial und wirtschaftlich zurückliegen;
7. die ungerechte Verteilung der Hilfsquellen dieser Welt und ihrer Kulturgüter, die ihren Gipfel in einer Sozialstruktur erreicht, durch welche der Abstand zwischen den sozialen Bedingungen der Reichen und der Armen immer mehr zunimmt.(2)
Der überwältigende Druck dieser Spaltungen macht aus der Welt, in der wir leben, eine bis in ihre Fundamente zerrissene Welt.(3)

Weil die Kirche andererseits, ohne sich mit der Welt gleichzusetzen oder von der Welt zu sein, doch in der Welt lebt und im Dialog mit der Welt steht,(4) darf es nicht verwundern, wenn man auch in der kirchlichen Gemeinschaft selbst Auswirkungen und Zeichen jener Zerrissenheit feststellen kann, die die ganze menschliche Gesellschaft verwundet. Außer den Spaltungen zwischen den christlichen Gemeinschaften, die sie seit Jahrhunderten bedrücken, erlebt die Kirche heute in ihrem Inneren Spaltungen zwischen ihren eigenen Mitgliedern, die durch unterschiedliche Auffassungen und Standpunkte im Bereich der Glaubenslehre und Pastoral verursacht werden.(5) Auch diese Spaltungen scheinen zuweilen unheilbar zu sein.

So beängstigend solche Wunden der Einheit bereits auf den ersten Blick erscheinen mögen, ihre Wurzel kann man erst entdecken, wenn man bis in die Tiefe schaut: Die Wurzel liegt in einerWunde im Inneren des Menschen. Im Licht des Glaubens nennen wir sie Sünde: beginnend mit der Ursünde, die jeder von Geburt an wie ein von den Eltern empfangenes Erbe in sich trägt, bis hin zur Sünde, die ein jeder begeht, wenn er die eigene Freiheit gegen den Plan Gottes benutzt.

Sehnsucht nach Versöhnung

3 Und doch, wenn der gleiche prüfende Blick scharfsichtig genug ist, entdeckt er inmitten der Spaltung ein unverkennbares Verlangen von Menschen guten Willens und von wirklichen Christen, die Brüche zu heilen, die Risse zu schließen und auf allen Ebenen die wesentliche Einheit wiederherzustellen.

Dieses Verlangen wird bei vielen zu einer wahren Sehnsucht nach Versöhnung, auch dann, wenn das Wort selbst nicht benutzt wird.

Für manche handelt es sich hierbei um eine Utopie, die zum idealen Hebel für eine echte Veränderung der Gesellschaft werden könnte; für andere dagegen muß die Versöhnung durch hartes, intensives Bemühen errungen werden und stellt darum ein Ziel dar, das man durch ernsthaften Einsatz von Denken und Handeln erreichen soll. In jedem Falle ist das Verlangen nach einer aufrichtigen und dauerhaften Versöhnung ohne allen Zweifel ein grundlegendes Motiv unserer Gesellschaft und eine Folge ihres unaufhaltsamen Friedenswillens; und das ist es - auch wenn dies paradox erscheint - um so stärker, je mächtiger die Ursachen der Spaltung sind.

Allerdings darf die Aussöhnung nicht weniger tief reichen als die Entzweiung. Die Sehnsucht nach Versöhnung und die Versöhnung selbst werden nur in dem Maße voll wirksam sein, wie sie heilend bis zu jener ursprünglichen Verwundung vordringen, welche die Wurzel aller anderen ist; und das ist die Sünde.


Die Blickrichtung der Synode

4 Darum muß jede Institution oder Organisation, die dem Menschen dienen will und ihn in seinen grundlegenden Belangen retten möchte, ihren aufmerksamen Blick auf die Versöhnung richten, um deren Bedeutung und volle Tragweite tiefer zu erfassen und daraus die notwendigen praktischen Konsequenzen zu ziehen.

Auch die Kirche Jesu Christi durfte sich dieser besonderen Aufmerksamkeit nicht verschließen. Mit der Hingabe einer Mutter und der Klugheit einer Lehrerin geht sie mit Eifer und Umsicht daran, aus der Gesellschaft zusammen mit den Zeichen der Spaltung auch jene ebenso deutlichen und aufschlußreichen Zeichen der Suche nach Aussöhnung zu sammeln. Sie ist sich ja bewußt, daß ihr in besonderer Weise die Möglichkeit gegeben und die Sendung aufgetragen ist, den wahren und tief religiösen Sinn sowie die wesentlichen Dimensionen der Versöhnung aufzuzeigen und schon so dazu beizutragen, daß die wesentlichen Aspekte der Frage von Einheit und Frieden klarer werden.

Meine Vorgänger haben unablässig die Versöhnung gepredigt und die ganze Menschheit sowie jede Gruppe und jeden Bereich der menschlichen Gemeinschaft, die sie zerrissen und gespalten sahen, zur Versöhnung aufgefordert.(6) Aus einem inneren Antrieb, der zugleich - dessen bin ich gewiß - einer höheren Eingebung sowie den Appellen der Menschheit gehorchte, habe ich selbst in zwei verschiedenen, aber beidemal feierlichen und verbindlichen Weisen das Thema der Versöhnung besonders herausgestellt: zunächst, indem ich die VI. Allgemeine Versammlung der Bischofssynode einberufen habe; und dann, indem ich es zum Mittelpunkt des Jubiläumsjahres gemacht habe, das zur Feier des 1950. Jahrestages der Erlösung ausgerufen worden ist.(7) Als ich der Synode ein Thema zuweisen mußte, konnte ich jenem voll und ganz zustimmen, das zahlreiche meiner Brüder im Bischofsamt vorgeschlagen hatten, nämlich das fruchtbare Thema derVersöhnung in enger Verbindung mit der Buße.(8)

Der Ausdruck und der Begriff der Buße selbst sind sehr vielschichtig. Sehen wir sie mit derMetánoia verbunden, wie die Synoptiker sie darstellen, so bezeichnet Buße die innere Umkehr des Herzens unter dem Einfluß des Wortes Gottes und mit dem Blick auf das Reich Gottes.(9) Buße bedeutet aber auch, das Leben zu ändern in Übereinstimmung mit der Umkehr des Herzens; in diesem Sinne wird das »Buße tun« dadurch ergänzt, daß »würdige Früchte der Buße«hervorgebracht werden:(10) Die ganze Existenz wird in die Buße einbezogen, das heißt, sie ist bereit, beständig zum Besseren voranzuschreiten. Buße tun ist allerdings nur dann echt und wirksam, wenn es sich in Akten und Taten der Buße konkretisiert. In diesem Sinne bedeutet Buße im theologischen und geistlichen christlichen Sprachgebrauch Aszese, das heißt die konkrete und tägliche Anstrengung des Menschen, mit Hilfe der Gnade Gottes sein Leben um Christi willen zu verlieren, als einzige Weise, es wirklich zu gewinnen;(11) den alten Menschen abzulegen und denneuen Menschen anzuziehen;(12) alles in sich zu überwinden, was »fleischlich« ist, damit das »Geistliche« sich durchsetze;(13) beständig von den irdischen Dingen hinaufzustreben zu den himmlischen, wo Christus ist.(14) Buße ist also eine Umkehr, die vom Herzen hin zu den Taten geht und daher das gesamte Leben des Christen erfaßt.

In allen diesen Bedeutungen ist Buße eng mit Versöhnung verbunden; denn sich mit Gott, mit sich selbst und mit den anderen zu versöhnen, setzt voraus, daß man jenen radikalen Bruch überwindet, den die Sünde darstellt. Dies geschieht nur durch eine innere Wandlung oder Umkehr, die sich durch Bußakte im täglichen Leben auswirkt.

Das Ausgangsdokument der Synode (auch »Lineamenta«, »Grundlinien«, genannt), das ausschließlich vorbereitet worden war, um das Thema vorzustellen und davon einige grundlegende Gesichtspunkte besonders hervorzuheben, hat es den kirchlichen Gemeinschaften in aller Welt ermöglicht, fast zwei Jahre lang über diese Aspekte einer alle interessierenden Frage, nämlich der nach Umkehr und Versöhnung, nachzudenken und daraus neue Kraft für ein christliches Leben und Apostolat zu gewinnen. Die Reflexion hat sich dann bei der unmittelbareren Vorbereitung auf die Synodenarbeit weiter vertieft durch den »Arbeitstext« (»Instrumentum laboris«), der den Bischöfen und ihren Mitarbeitern rechtzeitig zugestellt worden ist. Schließlich haben die Väter der Synode, von denjenigen unterstützt, die zur eigentlichen Synodensitzung berufen worden waren, mit tiefem Verantwortungsbewußtsein dieses Thema und die zahlreichen und verschiedenen damit verbundenen Fragen behandelt. Aus Debatte und gemeinsamem Studium, aus eifrigem und gründlichem Forschen ist so ein großer wertvoller Schatz entstanden, der in den »Schlußvorlagen« (»Propositiones«) im wesentlichen zusammengefaßt ist.

Die Synode übersieht nicht die Akte der Versöhnung - einige davon werden in ihrer Alltäglichkeit fast gar nicht bemerkt -, die alle in verschiedenem Maße mithelfen, die zahlreichen Spannungen zu lösen, die vielen Konflikte zu überwinden, die kleinen wie die großen Spaltungen zu beheben und die Einheit wiederherzustellen. Aber das hauptsächliche Bemühen der Synode richtete sich darauf, auf dem Grund dieser einzelnen Akte die verborgene gemeinsame Wurzel zu entdecken, eine Urversöhnung, die gleichsam wie eine Quelle für alles andere im Herzen und Gewissen des Menschen wirkt.

Die besondere, originale Gabe der Kirche hinsichtlich der Versöhnung, wo immer diese erreicht werden soll, besteht darin, daß sie stets bis zu dieser ursprunghaften Versöhnung vordringt. Kraft ihrer wesentlichen Sendung sieht sich die Kirche nämlich verpflichtet, bis an die Wurzeln der Urwunde der Sünde vorzudringen, um dort Heilung zu wirken und gleichsam eine Urversöhnung zu schaffen, die dann ein kraftvolles Prinzip jeder weiteren echten Versöhnung sein soll. Das ist es, was die Kirche beabsichtigt und durch die Synode dargelegt hat.

Von dieser Versöhnung spricht die Heilige Schrift, wenn sie uns auffordert, hierfür alle Anstrengungen zu unternehmen;(15) aber sie sagt uns auch, daß solche Versöhnung vor allem ein barmherziges Geschenk Gottes an den Menschen ist.(16) Die Heilsgeschichte der gesamten Menschheit wie auch jedes einzelnen Menschen zu allen Zeiten ist die wundervolle Geschichte einer Versöhnung, bei der Gott, weil er Vater ist, im Blut und im Kreuz seines menschgewordenen Sohnes die Welt wieder mit sich versöhnt und so eine neue Familie von Versöhnten geschaffen hat.

Versöhnung wird notwendig, weil es einen Bruch durch die Sünde gegeben hat, aus dem sich alle weiteren Formen einer Spaltung im Inneren des Menschen und in seiner Umgebung herleiten. Damit die Versöhnung vollständig sei, muß sie also notwendigerweise die Befreiung von der Sünde bis in ihre tiefsten Wurzeln umfassen. So sind Umkehr und Versöhnung durch ein inneres Band eng miteinander verbunden: Es ist unmöglich, diese beiden Wirklichkeiten voneinander zu trennen oder von der einen zu sprechen und die andere zu verschweigen.

Die Bischofssynode hat gleichzeitig von der Versöhnung der ganzen Menschheitsfamilie und von der inneren Umkehr jeder einzelnen Person, von ihrer neuen Hinwendung zu Gott, gesprochen; sie wollte damit anerkennen und verkünden, daß es keine Einheit der Menschen ohne eine Änderung im Herzen eines jeden einzelnen geben kann. Die persönliche Umkehr ist der notwendige Weg zurEintracht unter den Menschen.(17) Wenn die Kirche die Frohe Botschaft von der Versöhnung verkündigt oder dazu einlädt, sie durch die Sakramente zu verwirklichen, handelt sie wahrhaft prophetisch: Sie klagt die Übel des Menschen in ihrer verschmutzten Quelle an; sie weist hin auf die Wurzel der Spaltung und gibt Hoffnung, daß die Spannungen und Konflikte überwunden werden können, damit man zu Brüderlichkeit und Eintracht und zum Frieden auf allen Ebenen und in allen Gruppen der menschlichen Gesellschaft gelangt. Sie beginnt, eine von Haß und Gewalt geprägte geschichtliche Situation in eine Zivilisation der Liebe zu verwandeln; sie bietet allen das sakramentale Prinzip des Evangeliums für jene Urversöhnung an, aus der jede andere versöhnende Geste oder Handlung, auch im gesellschaftlichen Bereich, hervorgeht.

Von dieser Versöhnung als einer Frucht der Umkehr handelt das vorliegende Apostolische Schreiben. Denn wie es schon am Ende der drei vorhergehenden Synodenversammlungen geschehen war, haben die Väter der Synode dem Bischof von Rom, dem obersten Hirt der Kirche und Haupt des Bischofskollegiums, in seiner Eigenschaft als Präsident der Synode auch diesesmal die Ergebnisse ihrer Arbeit übergeben wollen. Als schwere und zugleich dankbare Verpflichtung meines Amtes habe ich die Aufgabe übernommen, aus dem überaus großen Reichtum der Synode zu schöpfen, um als Frucht der Synode ein Lehr- und Pastoralschreiben zum Thema derVersöhnung und Buße an das Volk Gottes zu richten. In einem ersten Teil möchte ich von der Kirche und dem Vollzug ihrer versöhnenden Sendung, von ihrem Einsatz für die Bekehrung der Herzen, für die erneuerte Einheit zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Menschen und seinem Bruder, zwischen dem Menschen und der gesamten Schöpfung handeln. Im zweiten Teil werde ich die wurzelhafte Ursache jeder Verwundung und Spaltung unter den Menschen und vor allem in ihrem Verhältnis zu Gott aufzeigen, nämlich die Sünde. Schließlich will ich jene Hilfsmittel angeben, die es der Kirche ermöglichen, die volle Aussöhnung der Menschen mit Gott und folglich auch der Menschen untereinander zu fördern und zu erwirken.

Das Dokument, das ich hiermit den Gläubigen der Kirche, aber auch all denjenigen übergebe, die, gläubig oder nicht, mit Interesse und aufrichtigem Herzen auf sie schauen, will die pflichtgemäße Antwort auf die an mich gerichtete Bitte der Synode sein. Aber es ist auch - das möchte ich um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen sagen - ein Werk der Synode selbst. Der Inhalt dieser Seiten stammt nämlich von ihr: aus ihrer entfernten oder näheren Vorbereitung, aus dem Arbeitstext, aus den Stellungnahmen in der Synodenaula und bei den Arbeitsgruppen und vor allem aus den 63Schlußvorlagen. Dies ist die Frucht der gemeinsamen Arbeit der Väter, zu denen auch Vertreter der Ostkirchen gehörten, deren theologisches, spirituelles und liturgisches Erbe so reich und wertvoll auch für das vorliegende Thema ist. Darüberhinaus hat der Rat des Synodensekretariates in zwei wichtigen Sitzungen die Ergebnisse und Grundlinien der soeben abgeschlossenen Synode geprüft, den inneren Zusammenhang der genannten Schlußvorlagen aufgezeigt und die Themen skizziert, die für die Abfassung dieses Dokumentes am meisten geeignet erschienen. Ich bin all jenen dankbar, die diese Arbeit geleistet haben, während ich im folgenden in Treue zu meiner Sendung all das vermitteln möchte, was mir aus dem für Lehre und Pastoral so reichen Schatz der Synode als ein Geschenk der Vorsehung erscheint für das Leben so vieler Menschen in dieser großartigen und zugleich schwierigen Stunde der Geschichte.

Es empfiehlt sich, das zu tun - und es erweist sich als sehr bedeutungsvoll -, während im Herzen vieler die Erinnerung an das Heilige Jahr, das ganz von Buße, Umkehr und Versöhnung geprägt war, noch lebendig ist. Möge dieses Lehrschreiben, das ich den Brüdern im Bischofsamt und ihren Mitarbeitern, den Priestern und Diakonen, den Ordensmännern und Ordensfrauen, allen Gläubigen und allen gewissenhaften Männern und Frauen übergebe, nicht nur eine Hilfe zur Läuterung, Bereicherung und Vertiefung ihres persönlichen Glaubens sein, sondern auch ein Sauerteig, dem es gelingt, im Herzen der Welt Frieden und Brüderlichkeit, Hoffnung und Freude wachsen zu lassen, Werte, die aus dem Evangelium hervorgehen, wenn es angenommen, meditiert und Tag für Tag nach dem Beispiel Marias gelebt wird, der Mutter unseres Herrn Jesus Christus, durch den Gott alles mit sich versöhnen wollte.(18)

ERSTER TEIL


VERSÖHNUNG UND BUSSE:


AUFTRAG UND EINSATZ DER KIRCHE


ERSTES KAPITEL


EIN GLEICHNIS DER VERSÖHNUNG


5 Am Beginn dieses Apostolischen Schreibens steht vor meinem geistigen Auge jener außerordentliche Text des hl. Lukas, dessen tiefen religiösen wie menschlichen Inhalt ich schon in einem früheren Dokument zu erläutern versucht habe.(19) Ich meine das Gleichnis vom verlorenen Sohn.(20)

Vom Bruder, der verloren war...

»Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht«, so erzählt Jesus bei der Darstellung der dramatischen Geschichte dieses jungen Mannes: der leichtsinnige Weggang aus seinem Vaterhaus, die Vergeudung all seines Besitzes in einem ausschweifenden Lebenswandel ohne Sinn, die dunklen Tage der Fremde und des Hungers, aber mehr noch die Tage der verlorenen Würde, der Erniedrigung und Beschämung und schließlich die Sehnsucht nach dem Vaterhaus, der Mut zur Heimkehr, der Empfang durch den Vater. Dieser hatte den Sohn keineswegs vergessen; im Gegenteil, er hatte ihm unverändert Liebe und Achtung bewahrt. So hatte er immer auf ihn gewartet, und so umarmt er ihn jetzt, während er zum großen Fest für denjenigen auffordert, der tot war und wieder lebt, der verloren war und wiedergefunden wurde.

Der Mensch - ein jeder Mensch - ist ein solcher verlorener Sohn: betört von der Versuchung, sich vom Vater zu trennen, um ein unabhängiges Leben zu führen; dieser Versuchung verfallen; enttäuscht von der Leere, die ihn wie ein Blendwerk verzaubert hatte; allein, entehrt, ausgenutzt, als er sich eine Welt ganz für sich allein zu schaffen versucht; auch in der Tiefe seines Elendes noch immer gequält von der Sehnsucht, zur Gemeinschaft mit dem Vater zurückzukehren. Wie der Vater im Gleichnis erspäht Gott den heimkehrenden Sohn, er umarmt ihn bei seiner Ankunft und läßt die Tafel herrichten für das Festmahl ihrer neuen Begegnung, mit dem der Vater und die Brüder die Wiederversöhnung feiern.

Was an diesem Gleichnis am meisten beeindruckt, ist die festliche und liebevolle Aufnahme, die der Vater dem heimkehrenden Sohn bereitet: ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes, der immer bereit ist zu verzeihen. Sagen wir es gleich: Die Versöhnung ist in erster Linie ein Geschenk des himmlischen Vaters

... zum Bruder, der zu Hause geblieben war

6 Das Gleichnis läßt aber auch den älteren Bruder auftreten, der seinen Platz beim Festmahl verschmäht. Er wirft dem jüngeren Bruder dessen lockeres Treiben vor und dem Vater den Empfang, den dieser dem verlorenen Sohn vorbehalten habe, während es ihm selbst, immer beherrscht und fleißig und treu zum Vater und zum Hause stehend, niemals erlaubt worden sei - wie er sagt -, mit seinen Freunden ein Fest zu feiern. Ein Zeichen, daß er die Güte des Vaters nicht versteht. Solange dieser Bruder, von sich selbst und seinen Verdiensten allzu sehr überzeugt, eifersüchtig und verächtlich, voller Bitterkeit und Zorn, sich nicht bekehrt und mit dem Vater und dem Bruder versöhnt, ist dieses Mahl noch nicht ganz das Fest der Begegnung und des Sichwiederfindens.

Der Mensch - ein jeder Mensch - ist auch ein solcher älterer Bruder. Egoismus macht ihn eifersüchtig, läßt sein Herz hart werden, verblendet und verschließt ihn gegenüber den anderen und vor Gott. Die Güte und Barmherzigkeit des Vaters reizen und ärgern ihn; das Glück des heimgekehrten Bruders schmeckt ihm bitter.(21) Auch in dieser Hinsicht hat der Mensch es nötig, sich zu bekehren, um sich auszusöhnen.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist vor allem die wunderbare Geschichte der großen Liebe Gottes, des Vaters, der dem zu ihm heimgekehrten Sohn das Geschenk einer vollständigen Versöhnung anbietet. Weil es aber in der Gestalt des älteren Bruders ebenso an den Egoismus erinnert, der die Brüder untereinander entzweit, wird es auch zur Geschichte der Menschheitsfamilie. Es kennzeichnet unsere Lage und gibt den zu gehenden Weg an. Der verlorene Sohn in seiner Sehnsucht nach Umkehr, nach Heimkehr in die Arme des Vaters und nach Vergebung stellt all jene dar, die im Grund ihres Herzens die Sehnsucht nach einer Aussöhnung auf allen Ebenen und ohne Vorbehalt verspüren und mit innerer Sicherheit sehen, daß diese nur dann möglich ist, wenn sie sich von jener ersten, grundlegenden Aussöhnung herleitet, die den Menschen aus der Gottferne zur kindhaften Freundschaft mit Gott bringt, um dessen unendliche Barmherzigkeit er weiß. Wenn es jedoch mit dem Blick auf den anderen Sohn gelesen wird, beschreibt das Gleichnis die Lage der Menschheitsfamilie, die von ihren Egoismen zerrissen ist; es beleuchtet die Schwierigkeiten, der Sehnsucht und dem Heimweh nach einer gemeinsamen, versöhnten und geeinten Familie zu entsprechen, und erinnert so an die Notwendigkeit einer tiefen Änderung der Herzen verbunden mit der Wiederentdeckung der Barmherzigkeit des Vaters und der Überwindung von Unverständnis und Feindseligkeit unter Brüdern.

Im Licht dieses unerschöpflichen Gleichnisses von der Barmherzigkeit, die die Sünde tilgt, versteht die Kirche, in dem sie den darin enthaltenen Anruf aufnimmt, ihre Sendung, auf den Spuren des Herrn für die Bekehrung der Herzen und die Versöhnung der Menschen mit Gott und untereinander zu wirken, zwei Bereiche, die eng miteinander verbunden sind.

ZWEITES KAPITEL


ZU DEN QUELLEN DER VERSÖHNUNG


Im Lichte Christi, der Versöhnung bewirkt

7 Wie sich aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn ergibt, ist die Versöhnung ein Geschenk Gottes und ganz seine Initiative. Unser Glaube belehrt uns, daß diese Initiative konkrete Gestalt im Geheimnis Jesu Christi annimmt, der den Menschen erlöst und versöhnt und ihn von der Sünde in all ihren Formen befreit. Paulus faßt gerade in dieser Aufgabe und in diesem Handeln die einzigartige Sendung Jesu von Nazaret, des menschgewordenen Wortes und Sohnes Gottes, zusammen.

Auch wir können von diesem zentralen Geheimnis des Heilswerkes ausgehen, dem Schlüsselbegriff der Christologie des Apostels. »Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren«, so schreibt Paulus an die Römer, »werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben. Mehr noch, wir rühmen uns Gottes durch Jesus Christus, unseren Herrn, durch den wir jetzt schon die Versöhnung empfangen haben«.(22) Weil also »Gott die Welt in Christus mit sich versöhnt hat«, fühlt sich Paulus dazu gedrängt, die Christen von Korinth aufzurufen: »Laßt euch mit Gott versöhnen!«.(23)

Von einer solchen versöhnenden Sendung durch den Tod am Kreuz spricht mit anderen Worten auch der Evangelist Johannes, wenn er feststellt, daß Christus sterben mußte, »um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln«.(24)

Paulus wiederum läßt unsere Sicht des Werkes Christi sich ausweiten in kosmische Dimensionen, wenn er schreibt, daß der Vater in ihm alle Geschöpfe mit sich versöhnt hat, jene im Himmel und jene auf Erden.(25) In Wahrheit kann man vom Erlöser Jesus Christus sagen, daß »er zur Zeit des Untergangs ein neuer Anfang war« (26) und daß er, wie »unser Friede«,(27) so auch unsere Versöhnung ist.

Zu Recht werden sein Leiden und Sterben, die in der Eucharistiefeier in sakramentaler Weise erneuert werden, von der Liturgie »Opfer unserer Versöhnung«(28) genannt: eine Aussöhnung mit Gott, ohne Zweifel, aber auch mit den Brüdern, wenn Jesus selbst lehrt, daß vor dem Opfer die Versöhnung unter den Brüdern erfolgen muß.(29)

Wenn man also von diesen und anderen bedeutsamen Abschnitten des Neuen Testamentes ausgeht, ist es durchaus berechtigt, unsere Überlegungen auf das gesamte Geheimnis Christi und seiner versöhnenden Sendung hinzulenken. Noch einmal muß der Glaube der Kirche an das erlösende Handeln Christi, an das österliche Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung, hervorgehoben werden, das die Ursache der Versöhnung des Menschen in ihrer doppelten Richtung einer Befreiung von der Sünde und einer Gnadengemeinschaft mit Gott ist.

Gerade vor dem traurigen Hintergrund der Spaltungen und der Schwierigkeiten einer Aussöhnungunter den Menschen lade ich dazu ein, das Geheimnis des Kreuzes zu betrachten, das größte Drama von allen, bei dem Christus das Drama der Trennung des Menschen von Gott bis auf den Grund wahrnimmt und erleidet, und dies so intensiv, daß er mit den Worten des Propheten aufschreit »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«(30) und dabei zugleich unsere Versöhnung erwirkt. Der Blick auf das Geheimnis von Golgota muß uns immer an jene »vertikale« Dimension der Trennung und Wiederversöhnung im Verhältnis des Menschen zu Gott erinnern, die aus der Sicht des Glaubens die »horizontale« Dimension immer übersteigt, das heißt die Wirklichkeit von Spaltung und die notwendige Wiederversöhnung unter den Menschen. Wir wissen ja, daß eine solche gegenseitige Aussöhnung nur die Frucht ist und sein kann aus dem erlösenden Handeln Christi, der gestorben und auferstanden ist, um das Reich der Sünde zu besiegen, den Bund mit Gott wiederherzustellen und so die Trennungsmauer niederzureißen,(31) die die Sünde zwischen den Menschen aufgerichtet hatte.


Versöhnung durch die Kirche


8 Aber - so sagte Leo der Große, als er vom Leiden Christi sprach - »alles, was der Sohn Gottes für die Aussöhnung der Welt getan und gelehrt hat, kennen wir nicht nur aus der Geschichte seiner Handlungen, die vergangen sind, sondern wir sehen es auch an den Wirkungen dessen, was er heute vollbringt«.(32) So erfahren wir die Versöhnung, die er in seinem Menschsein vollbracht hat, aus dem Wirken der heiligen Geheimnisse, die von seiner Kirche gefeiert werden, für die sich Christus dahingegeben und die er zum Zeichen und Werkzeug des Heils gemacht hat.

Das versichert der hl. Paulus, wenn er schreibt, daß Gott die Apostel Christi an seinem versöhnenden Werk teilnehmen läßt. »Gott«, so sagt er, »hat uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen... und das Wort von der Versöhnung anvertraut«.(33) In Hände und Mund der Apostel, seiner Boten, hat der Vater voller Erbarmen den Dienst der Versöhnung gelegt, den sie in einer einzigartigen Weise vollziehen, kraft der Vollmacht, »in der Person Christi« zu handeln. Aber auch der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen, dem ganzen Leib der Kirche ist das »Wort von der Versöhnung« anvertraut, das heißt der Auftrag, alles zu tun, um Versöhnung zu bezeugen und in der Welt zu verwirklichen.

Man kann sagen, daß auch das II. Vatikanische Konzil, indem es die Kirche definiert hat als »das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«, und indem es als ihre Aufgabe bezeichnet, »die volle Einheit in Christus« für die Menschen zu erlangen, »die heute durch vielfältige... Bande enger miteinander verbunden sind«,(34) damit anerkannt hat, daß sich die Kirche vor allem dafür einsetzen muß, die Menschen zu einer vollständigen Versöhnung zu führen.

Im engen Zusammenhang mit der Sendung Christi kann man also die an sich reiche und vielschichtige Sendung der Kirche zusammenfassen in der für sie zentralen Aufgabe der Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst, mit den Brüdern, mit der ganzen Schöpfung; und dies fortwährend: denn - wie ich schon bei anderer Gelegenheit gesagt habe - »die Kirche ist von Natur aus immer versöhnend«.(35)

Versöhnend ist die Kirche, weil sie die Frohe Botschaft von der Versöhnung verkündet, wie sie es in ihrer Geschichte immer getan hat, angefangen vom Apostelkonzil in Jerusalem(36) bis zur letzten Bischofssynode und zum jüngsten Jubiläumsjahr der Erlösung. Das Besondere an dieser Verkündigung liegt darin, daß die Versöhnung für die Kirche eng mit der Bekehrung des Herzens verbunden ist: Diese ist der notwendige Weg zu einer Verständigung zwischen den Menschen.

Versöhnend ist die Kirche auch, weil sie dem Menschen die Wege zeigt und die Mittel anbietet für die obengenannte vierfache Aussöhnung. Diese Wege sind gerade die Bekehrung des Herzens und die Überwindung der Sünde, mag diese in Egoismus oder Ungerechtigkeit, in Anmaßung oder Ausbeutung des Nächsten, im Verfallensein an materielle Güter oder in hemmungsloser Genußsucht bestehen. Die Mittel sind das treue und liebende Hören des Wortes Gottes, das persönliche und das gemeinschaftliche Gebet und vor allem die Sakramente als die wahren Zeichen und Mittel der Versöhnung, aus denen gerade unter dieser Hinsicht jenes Sakrament hervorragt, das wir zu Recht Sakrament der Versöhnung oder auch Bußsakrament zu nennen pflegen. Hierauf werde ich im folgenden noch näher eingehen.

Die versöhnte Kirche


9 Mein verehrter Vorgänger Paul VI. hat das Verdienst, klargestellt zu haben, daß die Kirche, um die Frohe Botschaft wirksam verkündigen zu können, bei sich selbst beginnen und sich als Hörerin der Botschaft erweisen muß, das heißt als offen für die volle und ganze Verkündigung der Frohen Botschaft Jesu Christi, um sie aufzunehmen und zu verwirklichen.(37) Auch ich habe, als ich in einem eigenen Dokument die Überlegungen der IV. Generalversammlung der Synode zusammenhängend dargelegt habe, von einer Kirche gesprochen, die in dem Maße, wie sie anderen Glaubensunterricht erteilt, auch selbst tiefer in den Glauben hineinwächst.(38)

Ich zögere nun nicht, diese Zuordnung hier wieder aufzugreifen und sie auf das Thema anzuwenden, das ich behandle: Ich möchte betonen, daß die Kirche, um versöhnend zu wirken, bei sich selbst beginnen muß, eine versöhnte Kirche zu sein. Hinter dieser einfachen und knappen Formulierung steht die Überzeugung, daß die Kirche, um der Welt die Versöhnung noch wirksamer verkünden und anbieten zu können, immer mehr zu einer Gemeinschaft (und sei sie auch die »kleine Herde« der ersten Zeiten) von Jüngern Christi werden muß, einig im Bemühen, sich beständig zum Herrn zu bekehren und als neue Menschen zu leben, im Geist und in der Wirklichkeit der Versöhnung.

Vor unseren Zeitgenossen, die so empfindsam für den Beweis eines konkreten Lebenszeugnisses sind, ist die Kirche aufgerufen, ein Beispiel für Versöhnung vor allem in ihrem eigenen Inneren zu geben; darum müssen wir alle darauf hinwirken, die Herzen friedfertig zu stimmen, die Spannungen zu verringern, die Spaltungen zu überwinden, die Wunden zu heilen, die sich Brüder vielleicht gegenseitig zufügen, wenn sich der Gegensatz zwischen verschiedenen Einstellungen im Rahmen erlaubter Meinungsvielfalt zuspitzt, und zu versuchen, einig in dem zu sein, was wesentlich für den Glauben und das christliche Leben ist, nach der altbewährten Regel: In dubiis libertas, in necessariis unitas, in omnibus caritas - im Zweifel Freiheit, im Wesentlichen Einheit, in allem Liebe.

Nach demselben Maßstab muß die Kirche auch ihre ökumenische Aufgabe erfüllen. Sie ist sich ja dessen sehr bewußt, daß sie, um vollkommen versöhnt zu sein, unaufhörlich weiter nach der Einheit unter denjenigen suchen muß, die sich rühmen dürfen, Christen zu sein, aber - auch als Kirchen und Gemeinschaften - von einander und von der römischen Kirche getrennt sind. Die Kirche von Rom sucht eine Einheit, die, um Frucht und Ausdruck einer echten Versöhnung zu sein, weder die trennenden Elemente einfach übergeht noch sich auf Kompromisse gründet, die ebenso leichtfertig wie oberflächlich und hinfällig wären. Die Einheit muß das Ergebnis einer wahren Bekehrung aller, der gegenseitigen Vergebung, des theologischen Dialogs, des brüderlichen Umganges miteinander, des Gebetes, der vollen Offenheit für das Handeln des Heiligen Geistes sein, der auch der Geist der Wiederversöhnung ist.

Um sich vollständig versöhnt nennen zu können, fühlt sich die Kirche schließlich auch zu immer größeren Anstrengungen verpflichtet, das Evangelium zu allen Völkern zu bringen und den »Heilsdialog«(39) mit jenen weiten Bereichen der Menschheit in der heutigen Welt zu fördern, die den Glauben der Kirche nicht teilen oder die aufgrund der wachsenden Verweltlichung sogar Abstand nehmen von der Kirche und ihr kühl und gleichgültig gegenüberstehen, ja sie manchmal sogar anfeinden und verfolgen. Allen glaubt die Kirche immer wieder mit dem hl. Paulus sagen zu müssen: »Laßt euch mit Gott versöhnen!«.(40)

In jedem Falle aber fördert die Kirche nur eine Versöhnung in der Wahrheit, weil sie sehr wohl weiß, daß weder Versöhnung noch Einheit außerhalb oder gegen die Wahrheit möglich sind.


Reconciliatio et paenitentia DE