Rosarium Virginis Mariae DE 17

Mit Maria Christus verkünden


17 Der Rosenkranz stellt ebenso einen Weg der Verkündigung und der Vertiefung dar, auf dem sich das Christusgeheimnis unaufhörlich auf den verschiedenen Ebenen der christlichen Erfahrung vergegenwärtigt. Seine Struktur ist die der betenden und betrachtenden Darstellung, die danach strebt, den Christen nach dem Herzen Jesu Christi zu formen. In der Tat müssen beim Rosenkranzgebet alle seine Elemente für eine gute Betrachtung entsprechend geschätzt werden. Nur dann erwächst aus ihm, besonders beim gemeinschaftlichen Gebet in den Pfarreien und an Wallfahrtsorten, eine bedeutende katechetische Möglichkeit, die die Hirten zu nutzen wissen sollten. Die Jungfrau des Rosenkranzes führt auch in dieser Weise ihr Werk der Verkündigung Christi fort. Die Geschichte des Rosenkranzes zeigt uns, wie gerade dieses Gebet in schwierigen Zeiten besonders von den Dominikanern benutzt wurde, um die Kirche vor den sich verbreitenden Häresien zu schützen. Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen. Warum nehmen wir den Rosenkranz nicht mit dem Glauben unserer Vorfahren in die Hände? Der Rosenkranz bewahrt seine ganze Kraft und bleibt ein nicht zu vernachlässigender Schatz für die pastorale Ausrüstung jeder guten Glaubensverkündigung.



ZWEITES KAPITEL


GEHEIMNISSE CHRISTI –


GEHEIMNISSE DER MUTTER


Der Rosenkranz: »Kurzfassung des Evangeliums«


18 In die Betrachtung des Antlitzes Christi werden wir eingeführt, indem wir im Geist die Stimme des Vaters hören; denn »niemand kennt den Sohn, nur der Vater« (Mt 11,27). Auf das Bekenntnis des Petrus hin verdeutlicht Jesus im Gebiet von Cäsarea Philippi den Ausgangspunkt für eine so klare Erkenntnis seiner Identität: »Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Mt 16,17). Also ist die Offenbarung aus der Höhe notwendig. Um sie aufzunehmen, ist es unabdingbar hinzuhören: »Allein die Erfahrung des Schweigens und des Gebetes bietet den geeigneten Horizont, in dem die wahrste, getreueste und stimmigste Erkenntnis jenes Geheimnisses heranreifen und sich entfalten kann«.27

Der Rosenkranz ist einer der traditionellen Wege des christlichen Gebetes, das sich der Betrachtung des Antlitzes Christi widmet. Papst Paul VI. beschrieb ihn so: »Als biblisches Gebet, in dessen Mitte das Geheimnis der erlösenden Menschwerdung steht, ist der Rosenkranz ganz klar auf Christus hin ausgerichtet. Auch sein charakteristischstes Element, die litaneiartige Wiederholung des ,,Gegrüßet seist du, Maria“, wird zu einem unaufhörlichen Lobpreis Christi, um den es eigentlich bei der Verkündigung des Engels und dem Gruß der Mutter des Täufers geht: ,,Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“ (Lc 1,42). Wir möchten noch mehr sagen: die Wiederholung des Ave Maria ist der tragende Grund, auf dem sich die Betrachtung der Geheimnisse entfaltet. Jener Jesus, den jedes Ave Maria erwähnt, ist derselbe, den die Folge der einzelnen Geheimnisse uns vorstellt: Sohn Gottes und der Jungfrau ...« .28

27 Johannes Paul II., Apost. Schr. Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), NM 20: AAS 93 (2001), 279.
28 Apost. Lehrschreiben Marialis cultus, 46: AAS 66 (1974), 155.

Eine angemessene Ergänzung


19 Von den vielen Geheimnissen des Lebens Christi führt der Rosenkranz, so wie er in der allgemeinen Frömmigkeitspraxis entstanden ist und von der kirchlichen Autorität bestätigt wurde, nur einige an. Diese Auswahl ist durch die ursprüngliche Gebetskette vorgegeben, die sich basierend auf der dem Psalterium entsprechenden Zahl 150 herausgebildet hat.

Um den christologischen Gehalt dieses Gebetes deutlicher zu machen, halte ich es für angebracht, eine angemessene Ergänzung vorzunehmen, die auch die Geheimnisse des öffentlichen Lebens zwischen der Taufe und dem Leidensweg Christi einbezieht, wobei ich es den einzelnen und den Gemeinschaften überlasse, davon Gebrauch zu machen. In der Tat können wir im Verlauf dieser Geheimnisse bedeutsame Aspekte der Person Christi als dem endgültigen Offenbarer Gottes betrachten. Er ist derjenige, der bei der Taufe im Jordan der geliebte Sohn des Vaters genannt wurde, der das Kommen des Reiches verkündigt, es mit Werken bezeugt und den daraus folgenden Anspruch kundtut. In den Jahren seines öffentlichen Lebens zeigt sich das Geheimnis Christi in besonderer Weise als das Geheimnis des Lichtes: »Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt« (
Jn 9,5).

Damit sich der Rosenkranz in einem umfassenderen Sinne des Wortes »Kompendium des Evangeliums« nennen kann, ist es sinnvoll, die Betrachtung auch auf einige besonders bedeutende Momente des öffentlichen Lebens Jesu zu lenken (lichtreiche Geheimnisse). Diese lassen sich nach dem Gedächtnis der Inkarnation und des verborgenen Lebens Christi (freudenreiche Geheimnisse) einordnen, und vor der Betrachtung seines Erleidens der Passion (schmerzhafte Geheimnisse), auf die der Triumph der Auferstehung (glorreiche Geheimnisse) folgt. Ohne irgendeinem wesentlichen Aspekt des traditionellen Aufbaus dieses Gebetes Abbruch tun zu wollen, ist die Einbeziehung neuer Geheimnisse dazu bestimmt, daß der Rosenkranz mit einem erneuten Interesse an der christlichen Spiritualität gelebt werden kann und so eine wirkliche Einführung in die Tiefen des Herzens Jesu, den Urgrund der Freude und des Lichtes, des Leidens und der Verherrlichung wird.

Die freudenreichen Geheimnisse


20 Der erste Zyklus der ,,freudenreichen Geheimnisse“ ist tatsächlich von der Freude gekennzeichnet, die vom Ereignis der Menschwerdung ausgeht. Das wird bereits deutlich in der Verkündigung, wo sich der Gruß des Erzengels Gabriel an die Jungfrau von Nazareth mit der Einladung zur messianischen Freude verbindet: »Sei gegrüßt, du Begnadete«. An diese Verkündigung lehnt die ganze Heilsgeschichte, ja in gewisser Weise sogar die Weltgeschichte an. Wenn nämlich der Plan des Vaters darin besteht, alles in Christus zu vereinen (vgl. Eph Ep 1,10), ist es das ganze Universum, das in gewisser Weise eingeholt wird von der göttlichen Gunst, mit der sich der Vater über Maria neigt, um sie zur Mutter seines Sohnes zu machen. Ihrerseits ist so die ganze Menschheit eingeschlossen in dem Fiat, mit dem Maria unverzüglich dem Willen Gottes entspricht.

Zum Frohlocken kommt es dann bei der Begegnung mit Elisabeth, wo Marias Stimme und die Gegenwart Christi in ihrem Leib Johannes »vor Freude hüpfen läßt« (vgl. Lk Lc 1,44). Erfüllt von Freude ist auch das Ereignis von Bethlehem, in der die Geburt des göttlichen Kindes, des Heilands der Welt, von den Engeln besungen und den Hirten als »eine große Freude« (Lc 2,10) verkündet wird.

Obwohl sie noch den Tonfall der Freude tragen, nehmen die beiden letzten Geheimnisse schondie Zeichen des Dramas vorweg. Die Darstellung im Tempel drückt zwar die Freude über die Weihe aus und mündet zugleich ein in den Jubel des alten Simeon, aber bemerkt auch die Prophezeiung des »Zeichens des Widerspruchs«, das das Kind für Israel sein wird, und des Schwertes, das durch die Seele der Mutter dringen wird (vgl. Lk Lc 2,34-35). Freudig und zugleich spannungsvoll ist auch die Begebenheit des zwölfjährigen Jesus im Tempel. Er erscheint hier in seiner göttlichen Weisheit, wie er zuhört und Fragen stellt, und schon ganz in der Haltung dessen auftritt, der ,,lehrt“. Die Offenbarung seines Geheimnisses, als Sohn ganz an den Willen des Vaters ergeben zu sein, ist die Botschaft jener Radikalität des Evangeliums, die selbst die liebsten menschlichen Bindungen in die Krise führt, angesichts des absoluten Anspruchs des Evangeliums. Selbst Josef und Maria, voller Sorgen um den Sohn, verstanden seine Worte nicht (vgl. Lk Lc 2,50).

Das Betrachten der freudenreichen Geheimnisse bedeutet demnach ein Eintreten in die letzten Beweggründe und in die tiefe Bedeutung der christlichen Freude. Dies bedeutet, das Augenmerk auf die konkrete Wirklichkeit der Menschwerdung und auf die dunkle Vorankündigung des heilbringenden Geheimnisses des Leidens Christi zu richten. Maria führt uns dazu, das Geheimnis der christlichen Freude aufzunehmen, indem sie uns daran erinnert, daß das Christentum vor allem euangelion, die »gute Nachricht« ist, die ihren Mittelpunkt, besser ihren ganzen Inhalt, in der Person Jesu Christi, im fleischgewordenen Wort, dem einzigen Erlöser der Welt hat.

Die lichtreichen Geheimnisse


21 Wenn wir von der Kindheit und dem Leben in Nazareth zum öffentlichen Wirken Jesu übergehen, führt uns die Betrachtung zu jenen Geheimnissen, die in besonderer Weise ,,Geheimnisse des Lichtes“ genannt werden können. Tatsächlich ist das ganze Geheimnis Christi Licht. Er ist das »Licht der Welt« (Jn 8,12). Diese Dimension kommt allerdings in den Jahren seines öffentlichen Auftretens besonders zum Ausdruck, als er das Evangelium vom Reich verkündet. Im Bemühen, der christlichen Gemeinde fünf bedeutungsvolle Momente dieser Lebensphase Jesu – ,,lichtreiche“ Geheimnisse – aufzuzeigen, erachte ich, daß diese entsprechend ausgemacht werden können: 1. seine Taufe im Jordan, 2. seine Selbstoffenbarung bei der Hochzeit zu Kana, 3. seine Verkündigung des Reiches Gottes mit dem Ruf zur Umkehr, 4. seine Verklärung und schließlich 5. die Einsetzung der Eucharistie, der sakramentale Ausdruck des Ostergeheimnisses.

Jedes dieser Geheimnisse ist Offenbarung des Reiches, das in der Person Jesu Christi schon eingetroffen ist. Die Taufe im Jordan ist ganz besonders ein Geheimnis des Lichtes. Während Jesus Christus, der Unschuldige, der sich für uns zur ,,Sünde“ macht (vgl. 2Co 5,21), in die Wasser des Flusses hinabsteigt, öffnet sich der Himmel und der Vater proklamiert ihn als seinen geliebten Sohn (vgl. Mt Mt 3,17 par.). Der Geist läßt sich auf ihm nieder und überträgt ihm die erwartete Mission. Der Beginn der Zeichen Christi in Kana (vgl. Joh Jn 2,1-12) ist Geheimnis des Lichtes, wo er das Wasser in Wein verwandelt und auf die Fürsprache Marias hin, der ersten aller Glaubenden, das Herz der Jünger für den Glauben öffnet. Geheimnis des Lichtes ist die Predigt, mit der Jesus das Kommen des Reiches Gottes ankündigt und zur Bekehrung aufruft (vgl. Mk Mc 1,15), indem er denen die Sünden nachläßt, die sich ihm mit demütigem Vertrauen nähern (vgl. Mk Mc 2,3-13 Lk Lc 7,47-48). Dies ist der Beginn des Dienstes des Erbarmens, den er bis zum Ende der Welt auszuüben fortfährt, besonders durch das Sakrament der Versöhnung, das er seiner Kirche anvertraut hat (vgl. Joh Jn 20,22-23). Geheimnis des Lichtes schlechthin ist die Verklärung, die sich nach der Überlieferung auf dem Berg Tabor ereignet hat. Auf dem Antlitz Christi erstrahlt göttliche Glorie, während der Gottvater ihn vor den verzückten Aposteln beglaubigt, damit sie »auf ihn hören« (vgl. Lk Lc 9,35 par.) und sich darauf einstellen, mit ihm auch die schmerzvollen Augenblicke seiner Passion zu leben, um mit ihm zur Freude der Auferstehung und zu einem im Heiligen Geist verklärten Leben zu gelangen. Geheimnis des Lichtes ist schließlich die Einsetzung der Eucharistie, in der Christus sich mit seinem Leib und seinem Blut unter den Gestalten von Brot und Wein zur Speise gibt und so der Menschheit seine Liebe »bis zur Vollendung« erweist (Jn 13,1), zum Heil derselben er sich im Opfer darbringt.

Die Präsenz Mariens bleibt in diesen Geheimnissen im Hintergrund mit Ausnahme der Hochzeit zu Kana. Die Evangelien deuten gelegentlich ihre Anwesenheit bei dieser oder jener Predigttätigkeit Jesu an (vgl. Mk Mc 3,31-35 Jn 2,12), aber sie schweigen hinsichtlich einer eventuellen Teilnahme ihrerseits bei der Einsetzung der Eucharistie im Abendmahlssaal. Die ihr in Kana zugefallene Aufgabe begleitet jedoch in gewisser Weise den ganzen Weg Jesu. Die Offenbarung, die bei der Taufe im Jordan direkt vom Vater ausgeht und in den Worten des Täufers widerhallt, liegt zu Kana auf ihren Lippen und wird zu der großen mütterlichen Ermahnung, die Maria an die Kirche aller Zeiten richtet: »Was er euch sagt, das tut!« (Jn 2,5). Hier finden wir die Mahnung, die die Worte und Zeichen Jesu während seines ganzen öffentlichen Wirkens vorbereitet und somit den marianischen Hintergrund aller ,,lichtreichen Geheimnisse“ bildet.

Die schmerzhaften Geheimnisse


22 Die Evangelien messen den Geheimnissen des Leidens Christi große Bedeutung zu. Immer schon hat sich die christliche Frömmigkeit, besonders in der Fastenzeit, mittels der Übung desKreuzweges den einzelnen Momenten der Passion zugewandt, in denen sie den Höhepunkt der Offenbarung der Liebe und die Quelle unseres Heiles erahnt. Der Rosenkranz wählt einige Momente der Passion aus und veranlaßt so den Betenden, den Blick seines Herzens darauf auszurichten und danach zu leben. Der betrachtende Weg öffnet sich mit Getsemani, dort wo Jesus einen besonders angstvollen Moment gegenüber dem Willen des Vaters durchlebt, dem die Schwachheit des Fleisches sich zu widersetzen versucht wäre. Dort, am Ort aller Versuchungen der Menschheit und angesichts aller Sünden der Menschen nimmt es der Sohn auf sich, zum Vater zu sagen: »Nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen« (Lc 22,42 par.). Sein Ja stößt das Nein der Stammeltern von Eden um. Wie viel ihn diese Einwilligung in den Willen des Vaters gekostet haben mag, geht aus den folgenden Geheimnissen hervor, in denen er mit der Geißelung, der Dornenkrönung, dem Weg nach Golgotha und schließlich seinem Kreuzestod die tiefste Erniedrigung erleidet: Ecce homo!

In dieser Erniedrigung wird nicht nur die Liebe des Vaters offenbar, sondern die Sinnhaftigkeit des Menschen. Ecce homo: wer den Menschen erkennen will, muß den Sinn, die Wurzel und die Erfüllung anerkennen, die ihm von Christus her eignet, von Gott, der sich aus Liebe herabläßt »bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz« (Ph 2,8). Die schmerzhaften Geheimnisse führen den Glaubenden dazu, den Tod Christi nachzuleben, indem er sich neben Maria unter das Kreuz stellt, um mit ihr in die Tiefe der Liebe Gottes für den Menschen einzudringen und daraus die ganze neubelebende Kraft zu erfahren.

Die glorreichen Geheimnisse


23 »Die Betrachtung des Antlitzes Christi kann nicht beim Bild des Gekreuzigten stehen bleiben. Er ist der Auferstandene!«.29 Der Rosenkranz drückt schon immer diese Glaubensgewißheit aus und lädt die Gläubigen dazu ein, über das Dunkel der Passion hinauszugehen, um den Blick auf die Herrlichkeit Christi in Auferstehung und Himmelfahrt zu richten. In der Betrachtung des Auferstandenen entdeckt der Christ die Gründe seines Glaubens (vgl. 1Co 15,14). Er erlebt nicht nur die Freude derjenigen, denen sich der auferstandene Christus zeigte – den Aposteln, Maria von Magdala, den Jüngern von Emmaus –, sondern auch die Freude Marias, die eine nicht geringere Erfahrung der neuen Wirklichkeit ihres verherrlichten Sohnes machen durfte. Zu dieser Herrlichkeit, die in der Himmelfahrt Christus an die Rechte des Vaters setzt, wurde auch sie erhoben und erlangte so das ganz außerordentliche Vorrecht, die bei der Auferstehung des Fleisches allen Gerechten zugedachte Bestimmung voraushaben zu dürfen. Schließlich wurde sie mit Herrlichkeit gekrönt – wie es im letzten glorreichen Geheimnis aufscheint – und erstrahlt als Königin der Engel und der Heiligen als Vorwegnahme und Höhepunkt der eschatologischen Wirklichkeit der Kirche.

Im Mittelpunkt dieses Weges der Verherrlichung des Sohnes und der Mutter steht im dritten Rosenkranzgeheimnis das Pfingstereignis, welches das Angesicht der Kirche als einer mit Maria vereinten Familie zeigt. Sie wird durch die kraftvolle Ausgießung des Heiligen Geistes belebt und ist bereit, ihre Sendung der Glaubensverbreitung zu erfüllen. Die Betrachtung dieses wie auch der anderen glorreichen Geheimnisse soll in den Gläubigen das stets lebendigere Bewußtsein ihres neuen Lebens in Christus stärken. Dabei stellt die Pfingstszene im Innenraum der ekklesialen Wirklichkeit eine große ,,Ikone“ dar. Die glorreichen Geheimnisse nähren so in den Gläubigen die Hoffnung auf das eschatologische Ziel, zu dem sie als Glieder des durch die Geschichte pilgernden Gottesvolkes unterwegs sind. Dies kann sie nur zu einem mutigen Zeugnis für die »Frohe Botschaft« anspornen, die ihrer ganzen Existenz Sinn verleiht.

29 Johannes Paul II., Apost. Schr. Novo millennio ineunte (6. Januar 2001), NM 28: AAS 93 (2001), 284.

Von den ,,Geheimnissen“ zum ,,Geheimnis“: der Weg Marias


24 Diese betrachtenden Schritte, wie sie im Rosenkranz vorgeschlagen werden, schöpfen sicher nicht das ganze Geheimnis aus, bringen aber die wesentlichen Punkte zum Ausdruck und verleihen dem Geist den Geschmack einer Erkenntnis Christi, die sich ständig an der reinen Quelle des biblischen Textes labt. Jeder einzelne von den Evangelisten berichtete Lebensabschnitt Jesu erstrahlt in jenem Geheimnis, das alle Erkenntnis übersteigt (vgl. Eph Ep 3,19). Es ist das Geheimnis des fleischgewordenen Wortes, in dem »wirklich die ganze Fülle Gottes wohnt« (Col 2,9). Deshalb besteht der Katechismus der Katholischen Kirche so sehr auf den Geheimnissen Christi, wenn er uns daran erinnert, daß »im Leben Jesu alles Zeichen seines innersten Geheimnisses ist«.30 Das »Duc in altum« der Kirche des dritten Jahrtausends bemißt sich an der Fähigkeit der Christen, »die tiefe und reiche Erkenntnis zu erlangen und das göttliche Geheimnis zu erkennen, das Christus ist. In ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen.« (Col 2,2-3). Der brennende Aufruf des Epheserbriefes ergeht an jeden Getauften: »Durch den Glauben wohne Christus in euren Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, [...] die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt« (Ep 3,17-19).

Der Rosenkranz stellt sich in den Dienst dieses Ideals, indem er das ,,Verborgene“ darbietet, um sich leichter für eine tiefe und eingängige Erkenntnis Christi zu öffnen. Wir könnten ihn den Weg Marias nennen. Er ist der modellhafte Weg der Jungfrau von Nazareth, der Frau des Glaubens, des Schweigens und des Hörens. Zugleich ist dies der Weg einer marianischen Frömmigkeit, die vom Bewußtsein der unzertrennlichen Beziehung animiert ist, welche Christus mit seiner Mutter verbindet: die Geheimnisse Christi sind in gewisser Weise auch die Geheimnisse der Mutter; dies gilt sogar für die Situationen, in denen sie nicht direkt einbezogen ist, und zwar aufgrund der Tatsache, daß sie von ihm her und für ihn lebt. Wenn wir uns die Worte des Erzengels Gabriel und der heiligen Elisabeth im Ave Maria zu eigen machen, regt uns dieses Gebet dazu an, stets aufs Neue bei Maria, auf ihren Armen und in ihrem Herzen, die »gebenedeite Frucht ihres Leibes« (vgl. Lk Lc 1,42) zu suchen.

30 Nr. CEC 515

Geheimnis Christi, ,,Geheimnis“ des Menschen


25 In meinem schon erwähnten Zeugnis von 1978 über den Rosenkranz als meinem Lieblingsgebet, habe ich ein Bild gebraucht, zu dem ich gerne zurückkehren möchte. Damals sagte ich, daß das »schlichte Gebet des Rosenkranzes den Rhytmus des menschlichen Lebens bekommt«.31

Im Licht der bisher erfolgten Überlegungen über die Geheimnisse Christi ist es nicht schwer, diese anthropologischen Implikationen des Rosenkranzes zu vertiefen. Dieser Bedeutungsinhalt ist radikaler, als es am Anfang erscheinen mochte. Wer die Betrachtung Christi entlang seiner verschiedenen Lebensabschnitte unternimmt, wird in ihm auch die Wahrheit über den Menschen erfassen. Es ist die großartige Feststellung des II. Vatikanischen Konzils, die ich seit der Enzyklika Redemptor hominis in meinem Lehramt immer wieder aufgegriffen habe: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf«.32 Der Rosenkranz hilft, sich diesem Licht zu öffnen. Beim Mitgehen des Weges Christi, in dem der Weg des Menschen »rekapituliert«,33 enthüllt und erlöst wird, stellt sich der Gläubige dem Bild des wahren Menschen. Die Geburt betrachtend erfährt er die Heiligkeit des Lebens; im Blick auf das Haus von Nazareth erfaßt er die ursprüngliche Wahrheit über die Familie nach dem Plan Gottes. Wo er dem Meister in den Geheimnissen seines öffentlichen Wirkens folgt, kommt er mit dem Licht in Berührung, um in das Reich Gottes einzutreten, und indem er den Weg zum Kalvarienberg beschreitet, lernt er den Sinn des erlösenden Leidens kennen. Schließlich betrachten wir Christus und seine Mutter in der Glorie des Himmels und sehen das Ziel, zu dem jeder von uns berufen ist, wenn wir uns vom Heiligen Geist heilen und verklären lassen. Man kann somit sagen, daß jedes Rosenkranzgeheimnis, wenn wir es gut meditieren, Licht auf das Geheimnis des Menschen wirft.

Gleichzeitig ist es dann ganz natürlich, zu einer Begegnung mit der heiligen Menschheit des Erlösers die vielen Probleme, Drangsale, Mühen und Vorhaben mitzunehmen, die unser Leben kennzeichnen. »Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht« (
Ps 55,23). Den Rosenkranz betrachtend zu beten bedeutet, unsere Anliegen dem erbarmenden Herzen Jesu und dem seiner Mutter zu übergeben. Im Abstand von fünfundzwanzig Jahren und im Rückblick auf die Prüfungen, die in meiner Ausübung des petrinischen Dienstamtes nicht ausgeblieben sind, möchte ich im Sinne einer an alle gerichteten herzlichen Einladung daran erinnern, daß allen diese persönliche Erfahrung zuteil werden kann: Im Rosenkranz schlägt wirklich der Rhythmus des menschlichen Lebens, um dieses mit dem Rhythmus des göttlichen Lebens in der freudvollen Gemeinschaft der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, die die Bestimmung und Sehnsucht unserer Existenz ist, in Einklang zu bringen.

31 Angelus vom 29. Oktober 1978: Insegnamenti I (1978), 76; vgl. OR dt., Nr. 44 (1978), S.3.
32 Ökum. II. Vat. Konzil, Pastoralkonst. über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, GS 22.
33 Vgl. hl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, III, 18, 1: PG 7, 932.


DRITTES KAPITEL


»FÜR MICH IST CHRISTUS DAS LEBEN«


Der Rosenkranz: Weg zur Aufnahme des Geheimnisses


26 Der Rosenkranz stellt die Betrachtung der Geheimnisse Christi mit einer charakteristischen Methode vor, die auf eine Erleichterung ihrer Zueigenmachung ausgerichtet ist. Diese Methode beruht auf der Wiederholung. Dies gilt insbesondere für das Ave Maria, welches in jedem Gesätz zehnmal wiederholt wird. Bei einer oberflächlichen Betrachtung dieser Wiederholungen könnte man versucht sein, das Rosenkranzgebet als eine trockene und langweilige Frömmigkeitsform anzusehen. Zu einer ganz andere Einschätzung hingegen gelangen wir, wenn wir dieses Gebet als Ausdruck einer Liebe betrachten, die nicht müde wird, sich der geliebten Person zuzuwenden. Obschon ähnlich in der Ausdrucksform, ist dabei das Ausströmen der Liebe wegen der Gefühle, die es durchdringt, stets neu.

In Christus hat Gott wirklich ein menschliches Herz angenommen. Er hat nicht nur ein göttliches Herz, reich an Barmherzigkeit und Vergebung, sondern auch ein menschliches Herz, fähig zu allen Gefühlsregungen. Sollten wir dazu einen Belegtext aus dem Evangelium benötigen, würde es nicht schwerfallen, diesen im bewegenden Gespräch Christi mit Petrus nach der Auferstehung zu finden: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?«. Dreimal stellt der Herr die Frage, dreimal erfolgt die Antwort: »Herr, du weißt, daß ich dich liebe!« (vgl. Joh
Jn 21,15-17). Über die spezifische Bedeutung dieses Abschnitts für die Sendung des Petrus hinaus, kann niemandem die Schönheit dieser dreifachen Wiederholung entgehen, in der sich die drängende Frage und die entsprechende Antwort in einer Weise ausdrücken, die die allgemeine Erfahrung menschlicher Liebe widerspiegeln. Um den Rosenkranz richtig zu verstehen, müssen wir in die psychologische Eigendynamik der Liebe eintreten.

Eine Sache ist klar: wenn sich die Wiederholung des Ave Maria direkt an Maria wendet, dann richtet sich der Akt der Liebe mit ihr und durch sie schließlich an Jesus. Die Wiederholung nährt sich aus dem Verlangen nach einer immer vollkommeneren Gleichgestaltung mit Christus, dem wahren »Programm« des christlichen Lebens. Der heilige Paulus hat dieses Programm mit flammenden Worten dargelegt: »Für mich ist Christus das Leben, und Sterben ein Gewinn« (Ph 1,21). Nochmals: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (Ga 2,20). Der Rosenkranz hilft uns, auf dem Weg des Gleichförmigwerdens mit Christus dem Ziel entgegenzuwachsen, das in der Heiligkeit besteht.

Eine wirksame Methode ...


27 Wir dürfen nicht überrascht sein, daß unsere Christusbeziehung sich der Hilfe einer Methode bedienen kann. Gott teilt sich dem Menschen in einer Weise mit, die unsere Natur und ihre vitalen Rhythmen respektiert. Die christliche Frömmigkeit weiß um die sublimen Formen mystischen Schweigens, in dem gewissermaßen alle Bilder, Worte und Gebärden von der Intensität einer erhabenen Gottesbeziehung des Menschen überstiegen werden. Dennoch kennzeichnet diese Spiritualität normalerweise ein totales Hineingenommensein der Person in ihrer komplexen psychisch-physischen und zwischenmenschlichen Wirklichkeit.

Dies scheint besonders in der Liturgie auf. Die Sakramente und die Sakramentalien haben ihre Struktur in einer Abfolge von Riten, die die verschiedenen Dimensionen des Menschen ansprechen. Auch das nicht-liturgische Gebet entspricht dieser Notwendigkeit. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, daß im Osten das charakteristischste Gebet der Christus-Betrachtung herkömmlicherweise dem Atemrhythmus folgt: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder!« 34 Gleichzeitig fördert es die Beharrlichkeit der Anrufung und verleiht dem Wunsch, daß Christus selbst zum Atem, zur Seele und zum ,,alles“ des Lebens wird, gewissermaßen eine physische Dichte.

34 Katechismus der Katholischen Kirche Nr.
CEC 2616.

... die jedoch verbessert werden kann


28 Im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte habe ich daran erinnert, daß es heute auch in der westlichen Welt eine neue Notwendigkeit der Betrachtung gibt, die zuweilen in anderen Religionen ziemlich gewinnende Ausdrucksformen annimmt.35 Es fehlt nicht an Christen, die sich auf Grund geringen Wissens um die kontemplative Gebetstradition des Christentums von solchen Formen anziehen lassen. Obschon sie positive Elemente in sich bergen, die manchmal die christliche Gebetserfahrung ergänzen, enthalten diese Formen oftmals einen unannehmbaren ideologischen Hintergrund. Auch in solchen Gebetsformen ist eine Methodologie sehr beliebt, die sich mit dem Ziel hoher geistlicher Konzentration Techniken psychisch-physischer, wiederholender und symbolischer Natur bedient. Der Rosenkranz läßt sich in dieses Bild weltweit verbreiteter religiöser Phänomene einordnen, jedoch bietet er sich mit eigenen Merkmalen dar, die den typischen Anforderungen der Besonderheit des Christentums entsprechen.

Der Rosenkranz ist in Wahrheit nur eine Methode der Betrachtung. Als Methode muß er in Bezug auf das Ziel verwendet werden und kann nicht selbst zum Ziel werden. Als Frucht jahrhundertealter Erfahrung darf jedoch auch die Methode nicht unterschätzt werden. Die Erfahrung unzähliger Heiliger spricht für sie. Dies heißt jedoch nicht, daß sie nicht verbessert werden könnte. Genau darauf hin zielt die Ergänzung des Rosenkranzes durch einen Zyklus von Geheimnissen, die neuen Gesätze der mysteria lucis, die ich in diesem Schreiben zusammen mit einigen Hinweisen für das Beten des Rosenkranzes vorschlagen möchte. Obgleich ich die weithin gefestigte Struktur dieses Gebetes aufrechterhalte, möchte ich den Gläubigen helfen, mit den neuen Gesätzen das Rosenkranzgebet auf seiner symbolischen Ebene zu begreifen, in Übereinstimmung mit den Anforderungen, die das tägliche Leben an uns stellt. Ohne dies besteht die Gefahr, daß das Gebet nicht nur die gewünschten geistlichen Früchte nicht hervorbringt, sondern daß die Perlenschnur, mit der man den Rosekranz zu rezitieren pflegt, schließlich einem Amulett oder einem magischen Gegenstand gleicht, in radikaler Entstellung seiner Bedeutung und seiner Funktion.

35 Vgl. Nr.
NM 33: AAS 93 (2001), 289.

Die Nennung des Rosenkranzgeheimnisses


29 Die Nennung des jeweiligen Rosenkranzgesätzes, die möglicherweise mit der Betrachtung einer bildlichen Darstellung seines Inhaltes einhergehen kann, gleicht dem Öffnen einer Szene, auf die sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Die Worte führen die Vorstellungskraft und den Geist zum betreffenden Ereignis oder Moment im Leben Christi. In der Spiritualität, die sich in der Kirche herausgebildet hat, berufen sich sowohl die Verehrung heiliger Bilder als auch die anderen an sinnlichen Elementen reichen Frömmigkeitsformen, wie ebenso die vom heiligen Ignatius von Loyola in seinen geistlichen Exerzitien vorgeschlagene Methode auf die Seh- und Vorstellungskraft (compositio loci), die als große Hilfe zur Förderung der Konzentration der Seele auf das zu betrachtende Geheimnis beurteilt werden. Es handelt sich hier übrigens um eine Methodologie, die der Logik der Menschwerdung selbst entspricht: Gott wollte in Jesus menschliche Züge annehmen. Durch diese seine körperliche Wirklichkeit werden wir dazu angeleitet, mit seinem göttlichen Geheimnis in Kontakt zu treten.

Auch die Nennung der verschiedenen Rosenkranzgeheimnisse versucht diesem konkreten Anliegen zu entsprechen. Sie ersetzen gewiß nicht das Evangelium, noch rufen sie uns alle seine Seiten in Erinnerung. Der Rosenkranz ersetzt daher auch nicht die lectio divina, die sie, ganz im Gegenteil, voraussetzt und anregt. Auch wenn die im Rosenkranz meditierten Geheimnisse mit der Ergänzung der mysteria lucis sich auf die Grundzüge des Lebens Christi beschränken, gelingt es der Seele leicht, über den Rest des Evangeliums zu schweifen, vor allem wenn der Rosenkranz in gewissen Momenten ausgedehnter innerer Sammlung gebetet wird.

Das Hören auf Gottes Wort


30 Um der Meditation eine biblische Grundlage und größere Tiefe zu geben, ist es sinnvoll, daß der Ansage des Rosenkranzgesätzes die Verkündigung eines passenden Bibelabschnittes folgt. Dieser kann je nach den Umständen mehr oder weniger ausgedehnt sein. Andere Texte erreichen sicherlich nie die dem inspirierten Wort innewohnende Wirksamkeit. Dieses muß mit der Gewißheit vernommen werden, daß es Wort Gottes ist, das in das Heute hinein und »für mich« verkündet wird.

So aufgenommen, geht das Wort Gottes in die Wiederholungsmethodologie des Rosenkranzbetens ein, ohne Langeweile hervorzurufen, die durch den Verweis auf eine bereits gut bekannte Information entstehen könnte. Es handelt sich nicht um ein erneutes in Erinnerung bringen einer Information, sondern vielmehr um das Sprechen lassen Gottes. Zu manchen Anlässen des feierlichen und gemeinschaftlichen Gebetes kann dieses Wort in angebrachter Weise durch einen kurzen Kommentar erläutert werden.

Die Stille


31 Das Hören und die Meditation nähren sich von der Stille. Es ist angemessen, nach der Ankündigung des Rosenkranzgeheimnisses und nach der Wortverkündigung eine Zeit lang innezuhalten und den Blick auf das zu betrachtende Gesätzchen zu richten, bevor das hörbare Beten ansetzt. Die Wiederentdeckung des Wertes der Stille ist eines der Geheimnisse in der Übung der Kontemplation und der Meditation. Die Tatsache, daß Stille heute immer schwieriger wird, gehört zu den Grenzen einer stark technisierten und durch die Massenmedien geprägten Gesellschaft. Wie in der Feier der Liturgie Momente der Stille angebracht sind, so erscheint es auch beim Beten des Rosenkranzes sinnvoll, nach dem Hören des Wortes Gottes eine kurze Pause zu machen, damit sich die Seele auf den Inhalt eines bestimmten Geheimnisses besinnen kann.


Rosarium Virginis Mariae DE 17