Generalaudienzen 2005-2013 15026

Mittwoch, 15. Februar 2006: Lesung: Lk 1,46-55

15026

Lc 1,46-55

46 Meine Seele preist die Größe des Herrn,
47 und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
48 Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
49 Denn der Mächtige hat Großes an mir getan, und sein Name ist heilig.
50 Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.
51 Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; 52 er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.
53 Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen.
54 Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen,
55 das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Wir sind jetzt am Ende des langen Weges angekommen, den vor nunmehr fünf Jahren, im Frühjahr 2001, mein geliebter Vorgänger, der unvergeßliche Papst Johannes Paul II., begonnen hatte. Der große Papst hatte in seinen Katechesen die gesamte Abfolge der Psalmen und Hymnen durchlaufen wollen, die den fundamentalen Gebetsschatz der Liturgie der Laudes und der Vesper bilden. Nachdem wir nun an das Ende unserer Pilgerreise durch diese Texte gelangt sind, die einer Reise in den blühenden Garten des Lobpreises, der Anrufung, des Gebets und der beschaulichen Betrachtung gleicht, geben wir heute jenem Gesang Raum, der jede Feier der Vesper ideell besiegelt, dem Magnifikat (Lc 1,46-55).

Es ist ein Gesang, der mit aller Zartheit die Spiritualität der biblischen anawim enthüllt, das heißt jener Gläubigen, die sich als »Arme« verstehen, und zwar nicht nur in der Abkehr von jeder Vergötzung des Reichtums und der Macht, sondern auch in der tiefen Demut des Herzens, das, frei von der Versuchung des Stolzes, offen ist für das Hereinbrechen der heilbringenden göttlichen Gnade. Das ganze Magnifikat, das wir soeben von der Sixtinischen Kapelle gehört haben, ist in der Tat von dieser »Demut«, im Griechischen tapeinosis, gekennzeichnet, die auf eine Situation konkreter Niedrigkeit und Armut hinweist.

2. Der erste Satz des marianischen Lobgesanges (vgl. Lc 1,46-50) ist eine Art Solostimme, die sich zum Himmel erhebt, um den Herrn zu erreichen. Wir hören die Stimme der allerseligsten Jungfrau, die so von ihrem Retter spricht, der in ihrer Seele und in ihrem Leib Großes getan hat. Man beachte nämlich, daß beständig in der ersten Person gesprochen wird: »Meine Seele …, mein Geist …, mein Retter …, sie preisen mich selig …, er hat Großes an mir getan«. Die Seele des Gebets ist also die Feier der göttlichen Gnade, die in das Herz und die Existenz Mariens hereingebrochen ist und sie zur Mutter des Herrn werden ließ.

Inhalt und Gestalt ihres gesungenen Gebets ist der Lobpreis, der Dank, die anerkennende Freude. Aber dieses persönliche Zeugnis ist nicht das auf einen einzelnen beschränkte, intime, rein individualistische Zeugnis, denn die Jungfrau Maria ist sich bewußt, daß sie einen Auftrag für die Menschheit zu erfüllen hat und ihr Schicksal sich in die Heilsgeschichte einfügt. Und so kann sie sagen: »Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten« (V. 50). Mit diesem Lob des Herrn verleiht die selige Jungfrau allen erlösten Geschöpfen, die in ihrem »Fiat« und somit in der Gestalt des von der Jungfrau geborenen Jesus das Erbarmen Gottes finden, eine Stimme.

3. An dieser Stelle beginnt der zweite poetisch- spirituelle Satz des Magnifikat (V. 51-55). Er hat die Merkmale eines Chorgesangs, so als vereinigte sich mit der Stimme Mariens jene der ganzen Gemeinschaft der Gläubigen, die die überraschenden Ratschlüsse Gottes preisen. Im griechischen Urtext des Lukasevangeliums haben wir sieben Verben im Aorist, die auf ebenso viele Taten hinweisen, die der Herr fortwährend in der Geschichte vollbringt: »Er vollbringt machtvolle Taten …, er zerstreut die im Herzen voll Hochmut sind…, er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen …, die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und läßt die Reichen leer ausgehen…, er nimmt sich seines Knechtes Israel an«.

In diesen sieben göttlichen Werken wird der »Stil« offenkundig, an dem der Herr der Geschichte sein Verhalten inspiriert: Er stellt sich auf die Seite der Letzten, der Geringsten. Sein Plan ist oft hinter dem undurchsichtigen Bereich der menschlichen Angelegenheiten verborgen, in denen »die Hochmütigen, Mächtigen und Reichen« zu triumphieren scheinen. Doch die geheimnisvolle Kraft des göttlichen Heilsplanes ist dazu bestimmt, schließlich enthüllt zu werden, um zu zeigen, wer die wahren Erwählten Gottes sind: »Jene, die ihn fürchten«, die seinem Wort treu sind; »die Demütigen, die Hungernden, sein Knecht Israel«, das heißt, die Gemeinschaft des Gottesvolkes, das wie Maria aus denen besteht, die »arm«, rein und einfachen Herzens sind. Das ist jene »kleine Herde«, die eingeladen ist, sich nicht zu fürchten, weil der Vater beschlossen hat, ihr sein Reich zu geben (vgl. Lc 12,32). Und so lädt uns dieser Hymnus ein, uns der kleinen Herde anzuschließen und in der Reinheit und Einfachheit des Herzens, in der Liebe Gottes wirklich Glieder des Volkes Gottes zu sein.

4. Hören wir nun die Einladung, die der hl. Ambrosius in seinem Kommentar zum Text des Magnifikat an uns richtet; der große Kirchenlehrer sagt: »In jeder Seele sei Marias Seele, daß sie groß mache den Herrn, in jeder sei der Geist Marias, daß er frohlocke in Gott! Gibt es auch nur eine leibliche Mutter Christi, so ist doch in der Ordnung des Glaubens Christus die Frucht aller. Denn jede Seele empfängt Gottes Wort … Groß macht aber die Seele Marias den Herrn und froh jubelt ihr Geist in Gott, weil sie mit Seele und Geist, dem Vater und dem Sohne hingegeben, frommen Sinnes den einen Gott, aus dem alles ist, und den einen Herrn, durch den alles ist, verehrt « (Hl. Ambrosius von Mailand, Kommentar zum Lukasevangelium, 2, 26-27, in: Ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt, 2. Band, Kempten/München 1915, S. 65-66).

In diesem wunderbaren Kommentar des hl. Ambrosius zum Magnifikat berührt mich immer wieder ganz besonders das erstaunliche Wort: »Gibt es auch nur eine leibliche Mutter Christi, so ist doch in der Ordnung des Glaubens Christus die Frucht aller. Denn jede Seele empfängt Gottes Wort«. So lädt uns der heilige Gelehrte mit der Auslegung der Worte der Muttergottes ein, dafür zu sorgen, daß der Herr in unserer Seele und in unserem Leben eine bleibende Wohnstatt findet. Wir sollen ihn nicht nur im Herzen tragen, sondern müssen ihn in die Welt tragen, so daß Christus auch durch uns zur Frucht für unsere Zeit wird. Bitten wir den Herrn, daß er uns helfe, ihn mit dem Geist und der Seele Mariens zu preisen und Christus wieder in unsere Welt zu tragen.

Mit den Psalmen und mit Liedern aus den Schriften des Neuen Testamentes richtet die Kirche allabendlich ihr Lob, ihren Dank und ihre Bitten an Gott. Diese münden in den Lobgesang Marias, das Magnificat, ein, in dem auch die Stimme der anawim, der Armen, erklingt, die im Verständnis des Alten Bundes weder den Götzen der Macht und des Reichtums, noch der Versuchung des Stolzes erliegen. Mit leeren Händen und mit offenem Herzen stehen sie vor dem Herrn, um von ihm die Fülle der Gnadengaben zu empfangen.

Maria lädt uns ein, in ihren Lobpreis der göttlichen Heilstaten einzustimmen: „Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten“ (Lc 1,50). Der Allmächtige tritt den Kleinen zur Seite, um an ihnen und durch sie seine Kraft sichtbar zu machen. Deshalb soll auch in uns, wie der heilige Ambrosius sagt, der Geist Marias weiterleben, der die Größe des Herrn preist. Denn in der Tat bringt jede Seele, die das Wort Gottes in dankbarer Freude aufnimmt, im Glauben fortwährend gute Werke hervor.
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Von Herzen begrüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, insbesondere die bayerische Abordnung des Sozialdienstes Katholischer Frauen, denen ich für ihren Dienst am Leben und am Menschen herzlich danke. Jeden Tag haben wir allen Grund, dem Herrn zu danken. Ein Herz, das vom frohen Lob Gottes erfüllt ist, erleuchtet auch die eigene Umgebung. Preist also mit euren Worten und Taten Gottes Treue zu uns Menschen! Gottes guter Geist geleite euch auf allen euren Wegen.



Mittwoch, 22. Februar 2006

22026

Liebe Freunde,

meinen herzlichen Willkommensgruß richte ich an euch alle, die ihr euch hier in der Basilika St. Peter versammelt habt, deren Apsis am heutigen Fest der Kathedra des Apostels Petrus besonders schön geschmückt und beleuchtet ist. Vor allem grüße ich euch, liebe Schüler und Lehrer des »Collegio San Francesco« aus Lodi, die ihr den 400. Jahrestag eurer von den Barnabiten gegründeten Schule feiert, sowie euch, liebe Schüler und Lehrer des Instituts »Maria Immacolata« in Rom.

Das heutige Fest lädt uns ein, auf die Kathedra des hl. Petrus zu blicken, und spornt uns an, unser persönliches und gemeinschaftliches Leben mit dem Glauben zu nähren, der auf dem Zeugnis Petri und der anderen Apostel gründet. Wenn ihr ihrem Beispiel folgt, könnt auch ihr, liebe Freunde, Zeugen Christi in Kirche und Welt sein.
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Liebe Brüder und Schwestern!

Die lateinische Liturgie feiert heute das Fest Kathedra Petri. Es handelt sich dabei um eine sehr alte, seit dem 4. Jahrhundert in Rom bezeugte Tradition, mit der Gott für die Sendung, die dem Apostel Petrus und seinen Nachfolgern anvertraut wurde, gedankt wird. Die »Kathedra« ist in der ursprünglichen Wortbedeutung der feste Sitz des Bischofs, der in der Hauptkirche einer Diözese aufgestellt ist, die deshalb »Kathedrale« heißt; sie ist außerdem das Symbol der Autorität des Bischofs und insbesondere seines »Lehramtes«, das heißt der Lehre des Evangeliums, die er als Nachfolger der Apostel bewahren und an die christliche Gemeinde weitergeben soll. Wenn der Bischof die ihm anvertraute Teilkirche in Besitz nimmt, trägt er Mitra und Hirtenstab und nimmt auf der Kathedra Platz. Von diesem Sitz aus wird er als Lehrer und Hirt den Weg der Gläubigen in Glaube, Liebe und Hoffnung leiten.

Was war also die »Kathedra« des hl. Petrus? Er, der von Christus als »Fels« ausgewählt worden war, um darauf die Kirche zu bauen (vgl.
Mt 16,18), begann seinen Dienst in Jerusalem, nach der Himmelfahrt Jesu und nach Pfingsten. Der erste »Sitz« der Kirche war der Abendmahlssaal, und wahrscheinlich war in jenem Saal, wo auch Maria, die Mutter Jesu, mit den Jüngern zusammen betete, für Simon Petrus ein besonderer Platz vorgesehen. Danach wurde Antiochien zum Sitz des Petrus, die am Fluß Orontes in Syrien, heute in der Türkei, gelegene Stadt und damals nach Rom und Alexandrien in Ägypten die drittgrößte Metropole des Römischen Reiches. Von dieser Stadt, die von Barnabas und Paulus evangelisiert worden war und wo »man die Jünger zum erstenmal Christen nannte« (Ac 11,26), wo also für uns der Name Christen entstanden ist, war Petrus der erste Bischof, so daß das Römische Martyrologium vor der Kalenderreform auch ein eigenes Fest der Kathedra Petri in Antiochien vorsah. Von dort führte die Vorsehung Petrus nach Rom. Dies ist also der Weg von Jerusalem, wo die Kirche entstanden ist, nach Antiochien, dem ersten Zentrum der Kirche, die aus Heiden bestand und noch mit der von den Juden herkommenden Kirche verbunden war. Danach begab sich Petrus nach Rom, den Mittelpunkt des Reiches, Symbol des »Orbis« - die »Urbs«, die Stadt, die Ausdruck des »Orbis«, des Erdkreises, ist -, wo er seinen Weg im Dienst des Evangeliums mit dem Martyrium vollendete. Deshalb erhielt der Sitz von Rom, dem die höchste Ehre zuteil geworden war, auch die dem Petrus von Christus anvertraute Ehre, nämlich allen Teilkirchen zu dienen, für den Aufbau und die Einheit des ganzen Volkes Gottes.

Der Sitz von Rom wurde nach diesem Weg des hl. Petrus somit als Sitz des Nachfolgers Petri anerkannt, und die »Kathedra« des Bischofs von Rom repräsentierte die des Apostels, der von Christus beauftragt worden war, dessen ganze Herde zu weiden. Das bezeugen die ältesten Kirchenväter, wie zum Beispiel der hl. Irenäus, Bischof von Lyon, aber aus Kleinasien stammend, der in seinem Traktat Adversus haereses [Gegen die Häresien] die Kirche von Rom als »größte und älteste, bei allen bekannte…, in Rom gegründet und aufgebaut von den zwei glorreichsten Aposteln Petrus und Paulus«, beschreibt. Und er fügt hinzu: »Mit dieser Kirche muß wegen ihres besonderen Vorranges notwendig jede Kirche übereinstimmen, das heißt die Gläubigen von überall« (III, 3, 2-3). Wenig später äußert sich Tertullian so: »Wie gesegnet ist doch diese Kirche von Rom! Es waren die Apostel selbst, die ihr mit ihrem Blut die ganze Lehre weitergegeben haben« (De praescriptione haereticorum, 36). Die Kathedra des Bischofs von Rom verkörpert also nicht nur dessen Dienst an der römischen Gemeinde, sondern seinen Leitungsauftrag für das ganze Volk Gottes.

Die »Kathedra« Petri feiern, wie wir es heute tun, bedeutet daher, ihr eine starke geistliche Bedeutung zuzuschreiben und darin ein bevorzugtes Zeichen der Liebe Gottes zu erkennen, des guten und ewigen Hirten, der seine ganze Kirche zusammenführen und auf dem Weg des Heils leiten will. Unter den vielen Zeugnissen der Kirchenväter möchte ich gern jenes des hl. Hieronymus wiedergeben, das einem seiner Briefe an den Bischof von Rom entnommen und besonders interessant ist, weil es ausdrücklich auf die »Kathedra« Petri Bezug nimmt und sie als sicheren Ankerplatz der Wahrheit und des Friedens darstellt. Hieronymus schreibt: »Ich habe beschlossen, bei der Kathedra Petri anzufragen, dort, wo jener Glaube ist, den der Mund eines Apostels gerühmt hat; ich komme jetzt, um an jenem Ort Nahrung für meine Seele zu erbitten, wo ich einst das Kleid Christi erhalten habe. Ich folge keinem anderen Primat als dem Christi; deshalb setze ich mich mit deiner Heiligkeit in Verbindung, das heißt mit der Kathedra Petri. Ich weiß, daß auf diesem Fels die Kirche gebaut ist« (Briefe I,15,1-2).

Liebe Brüder und Schwestern, in der Apsis der Petersbasilika befindet sich, wie ihr wißt, das Denkmal der Kathedra des Apostels, ein Spätwerk Berninis, dargestellt in Form eines großen bronzenen Thrones, der von den Statuen von vier Kirchenlehrern getragen wird: zwei von ihnen stammen aus dem Westen, der hl. Augustinus und der hl. Ambrosius, und zwei aus dem Osten, der hl. Johannes Chrysostomos und der hl. Athanasios. Ich lade euch ein, vor diesem eindrucksvollen Werk innezuhalten, das heute, mit vielen Kerzen geschmückt, bewundert werden kann, und ganz besonders für das Amt, das Gott mir anvertraut hat, zu beten. Wenn ihr den Blick zu dem Alabasterfenster erhebt, das sich genau über der Kathedra öffnet, dann ruft den Heiligen Geist an, damit er meinen täglichen Dienst an der ganzen Kirche stets mit seinem Licht und seiner Kraft tragen möge. Dafür sowie für eure ergebene Aufmerksamkeit danke ich euch von Herzen.

Facultatis Litterarum Christianarum et Classicarum placet salutare participes, qui huc advenerunt pontificia summi momenti documenta Veterum Sapientia necnon Studia Latinitatis commemoraturi. Iure meritoque Decessores Nostri permagni duxerunt Romani sermonis cognitionem, ut uberrimam doctrinam penitus adipisci possint qui in humanis ecclesiasticisque disciplinis versantur. Eosdem ideo incitamus ad studiose operam dandam, ut quam plurimi ad hunc thesaurum accedant eiusdemque percipiant praestantiam.

[Gern möchten Wir die Angehörigen der Fakultät für christliche und klassische Literaturwissenschaft begrüßen, die hierhergekommen sind, um an die höchst bedeutsamen päpstlichen Dokumente Veterum Sapientia und Studia Latinitatis zu erinnern. Mit vollem Recht haben Unsere großen Vorgänger die Kenntnis der lateinischen Sprache geschätzt und gefördert, damit jene, die sich mit den humanistischen und kirchlichen Fächern beschäftigen, die so reichhaltige Lehre ganz und gar erfassen können. Deshalb ermutigen Wir sie dazu, sich eifrig darum zu bemühen, daß sich möglichst viele mit diesem reichen Schatz befassen und seine Einzigartigkeit begreifen und sich aneignen.]
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Die Kirche feiert heute das Fest Kathedra Petri. Sie dankt dabei Gott für die Sendung, die Jesus Christus, der Herr der Kirche, dem Apostel Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat. Die Kathedra in der Bischofskirche einer jeden Diözese ist Sinnbild der Autorität des Bischofs, insbesondere seines Lehramts, das in der treuen Bewahrung und Weitergabe der Botschaft des Glaubens besteht.

Der Apostel Petrus hat sein Leben im Dienst Christi hier in Rom mit dem Martyrium vollendet. Rom ist daher zu Recht der Sitz seiner Nachfolger. Schon die ältesten Kirchenväter bezeugen die Würde der Kathedra des Bischofs von Rom, dessen Hirtenamt sich auf die ganze Kirche erstreckt. Der hl. Irenäus von Lyon spricht unter anderem davon, daß mit der Kirche von Rom „wegen ihres besonderen Vorrangs notwendig jede Kirche übereinstimmen muß, das heißt die Gläubigen von überall“. Die Kathedra Petri zu feiern besagt somit, ihr eine tiefe geistliche Bedeutung zuzuschreiben und in ihr ein bevorzugtes Zeichen der Liebe Gottes zu seinem heiligen Volk zu erkennen.
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An diesem Festtag heiße ich euch, liebe Brüder und Schwestern aus dem deutschen Sprachraum, ganz herzlich willkommen. Besonders grüße ich die Pilger aus der Diözese Eisenstadt und die Teilnehmer an einem Seminar über das Papsttum aus Südtirol. Unterstützt mit eurem Gebet den Nachfolger Petri in seinem universalen Hirtendienst. Betet mit mir und für mich, daß der Heilige Geist mir mit seinem Licht und seiner Kraft in der Erfüllung meiner Mission stets beistehe. Dafür danke ich euch und dazu erbitte ich euch Gottes reichen Segen.
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Das Fest Kathedra Petri ist ein besonders geeigneter Tag, um anzukündigen, daß ich am kommenden 24. März ein Konsistorium abhalten werde, bei dem ich die neuen Mitglieder des Kardinalskollegiums ernenne. Es ist angemessen, daß diese Ankündigung am Fest der Kathedra stattfindet, da die Kardinäle die Aufgabe haben, dem Nachfolger Petri bei der Ausübung seines apostolischen Amtes, das ihm im Dienst an der Kirche anvertraut wurde, helfend zur Seite zu stehen. Nicht ohne Grund bezeichneten die Päpste in alten kirchlichen Dokumenten das Kardinalskollegium als »pars corporis nostri« (vgl. F.X. Wernz, Ius Decretalium, II, Nr. 459). Die Kardinäle bilden somit um den Papst eine Art Senat, auf den er sich bei der Ausführung jener Aufgaben stützt, die mit seinem Dienst als »immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft« (vgl. Lumen gentium LG 18) verbunden sind.

Durch die Kreierung der neuen Purpurträger möchte ich die Zahl der wahlberechtigten Mitglieder des Kardinalskollegiums auf 120 erhöhen, jene Zahl, die von Papst Paul VI. ehrwürdigen Angedenkens festgelegt wurde (vgl. AAS 65, 1973, S. 163). Dies sind die Namen der neuen Kardinäle:

1. Msgr. WILLIAM JOSEPH LEVADA, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre;
2. Msgr. FRANC RODÉ, C.M., Präfekt der Kongregation für die Institute geweihten Lebens und für die Gesellschaften apostolischen Lebens;
3. Msgr. AGOSTINO VALLINI, Präfekt des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur;
4. Msgr. JORGE LIBERATO UROSA SAVINO, Erzbischof von Caracas;
5. Msgr. GAUDENCIO B. ROSALES, Erzbischof von Manila;
6. Msgr. JEAN-PIERRE RICARD, Erzbischof von Bordeaux;
7. Msgr. ANTONIO CAÑIZARES LLOVERA, Erzbischof von Toledo;
8. Msgr. NICOLAS CHEONG-JIN-SUK, Erzbischof von Seoul;
9. Msgr. SEAN PATRICK O'MALLEY, O.F.M. Cap., Erzbischof von Boston;
10. Msgr. STANISLAW DZIWISZ, Erzbischof von Cracovia;
11. Msgr. CARLO CAFFARRA, Erzbischof von Bologna;
12. Msgr. JOSEPH ZEN ZE-KIUN, S.D.B., Bischof von Hongkong.


Außerdem habe ich entschieden, drei Geistliche, die älter als 80 Jahre sind, in den Kardinalsrang zu erheben. Dies geschieht aufgrund des Dienstes, den sie mit vorbildlicher Treue und bewundernswerter Hingabe für die Kirche leisten. Es sind: .

1. Msgr. ANDREA CORDERO LANZA DI MONTEZEMOLO, Erzpriester der Basilika St. Paul vor den Mauern;
2. Msgr. PETER POREKU DERY, em. Erzbischof von Tamale (Ghana);
3. P. ALBERT VANHOYE, S.I., ehemaliger Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts und ehemaliger Sekretär der Päpstlichen Bibelkommission.

In der Schar der neuen Purpurträger spiegelt sich die Universalität der Kirche gut wider: Sie kommen in der Tat aus verschiedenen Teilen der Welt und üben im Dienst am Gottesvolk unterschiedliche Aufgaben aus. Ich lade euch ein, für sie ein besonderes Gebet zu Gott zu erheben, damit er ihnen die erforderliche Gnade gewähre, ihre Sendung mit Großherzigkeit zu erfüllen.

Wie ich zu Beginn sagte, werde ich am 24. März das angekündigte Konsistorium abhalten, und am darauffolgenden Tag, 25. März, am Hochfest der Verkündigung des Herrn, werde ich die Freude haben, einer feierlichen Konzelebration mit den neuen Kardinälen vorzustehen. Zu diesem Anlaß lade ich auch alle Mitglieder des Kardinalskollegiums ein. Es ist meine Absicht, mich mit ihnen am Vortag, am 23. März, bei einer Versammlung mit Gedankenaustausch und Gebet zu treffen.




Mittwoch, 1. März 2006

10306
Liebe Brüder und Schwestern!


Heute beginnt mit der Aschermittwochsliturgie der Weg der vierzigtägigen Fastenzeit, der uns zum österlichen Triduum führen wird, dem Gedenken an das Leiden, den Tod und die Auferstehung des Herrn, Herzstück des Geheimnisses unserer Erlösung. Das ist eine Zeit der Gnade, in der die Kirche die Christen dazu einlädt, sich das Erlösungswerk Christi lebendiger bewußt zu machen und die eigene Taufe mit größerer Tiefe zu leben. In dieser liturgischen Zeit nährt sich in der Tat das Volk Gottes schon seit den Anfängen reichlich vom Wort Gottes, um im Glauben zu erstarken, indem es die ganze Geschichte der Schöpfung und der Erlösung durchläuft.

In ihrer vierzigtägigen Dauer besitzt die Fastenzeit eine unverkennbare sinnfällige Kraft. Sie will nämlich an einige Ereignisse erinnern, die das Leben und die Geschichte des alten Israel geprägt haben, indem sie auch uns wieder auf deren paradigmatischen Wert hinweist: Denken wir zum Beispiel an die vierzig Tage der Sintflut, die in dem von Gott mit Noach und so mit der Menschheit besiegelten Bundesschluß endeten, und an den vierzigtägigen Aufenthalt des Mose auf dem Berg Sinai, worauf die Gabe der Gesetzestafeln folgte. Die Fastenzeit will uns vor allem dazu einladen, mit Jesus die vierzig Tage wieder zu erleben, die er betend und fastend in der Wüste verbrachte, bevor er sein öffentliches Wirken begann. Auch wir beginnen am heutigen Tag, zusammen mit allen Christen der Welt, einen Weg der Reflexion und des Gebets, um geistig zum Kalvarienberg aufzubrechen, während wir die zentralen Geheimnisse des Glaubens betrachten. Auf diese Weise werden wir uns darauf vorbereiten, nach dem Geheimnis des Kreuzes die Osterfreude der Auferstehung zu erfahren.

In allen Pfarrgemeinden vollzieht man heute eine ernste und symbolische Handlung: die Auflegung der Asche; und dieser Ritus wird von zwei bedeutungsreichen Formeln begleitet, die einen eindringlichen Appell darstellen, sich als Sünder zu erkennen und zu Gott zurückzukehren. Die erste Formel lautet: »Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst« (vgl.
Gn 3,19). Diese Worte aus dem Buch Genesis rufen den menschlichen Zustand in Erinnerung, der unter dem Zeichen der Vergänglichkeit und der Begrenzung steht, und wollen uns dazu führen, alle Hoffnung allein auf Gott zu setzen. Die zweite Formel bezieht sich auf die Worte Jesu zu Beginn seiner öffentlichen Wirkens: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium« (Mc 1,15). Das ist eine Aufforderung dazu, das entschiedene und vertrauensvolle Festhalten am Evangelium zum Fundament der persönlichen und gemeinschaftlichen Erneuerung zu machen. Das Leben des Christen ist Glaubensleben, das auf das Wort Gottes gegründet ist und von ihm genährt wird. In den Prüfungen des Lebens und in jeder Versuchung besteht das Geheimnis des Sieges darin, auf das Wort der Wahrheit zu hören und die Lüge und das Böse entschieden zurückzuweisen. Das ist das eigentliche und zentrale Programm der Fastenzeit: auf das Wort der Wahrheit hören, die Wahrheit leben, sprechen und tun, die Lüge, die die Menschheit vergiftet und das Einfallstor für alle Übel ist, zurückweisen. Es ist daher dringend notwendig, in diesen vierzig Tagen wieder das Evangelium zu hören, das Wort des Herrn, das Wort der Wahrheit, damit in jedem Christen, in jedem von uns, das Bewußtsein der Wahrheit gestärkt werde, die ihm geschenkt wird, die uns geschenkt wird, damit er sie lebe und ihr Zeuge werde. Die Fastenzeit spornt uns dazu an, unser Leben vom Wort Gottes durchdringen zu lassen und so die grundlegende Wahrheit kennenzulernen, nämlich: wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen müssen, welches der Weg ist, den wir im Leben einschlagen sollen.

Damit bietet uns die Fastenzeit einen asketischen und liturgischen Weg an, der uns, während er uns hilft, die Augen für unsere Schwachheit zu öffnen, das Herz für die barmherzige Liebe Christi öffnen läßt. Indem uns der Weg durch die Fastenzeit Gott näher bringt, ermöglicht er uns, den Nächsten und seine Nöte mit neuen Augen zu betrachten. Wer beginnt, Gott zu sehen, das Antlitz Christi zu betrachten, sieht auch den Bruder mit anderen Augen, entdeckt den Bruder, er entdeckt, was zu seinem Bestem und was nicht gut für ihn ist, seine Bedürfnisse und Nöte. Deshalb ist die Fastenzeit als Hören auf die Wahrheit ein günstiger Moment, um sich zur Liebe zu bekehren, denn die tiefe Wahrheit, die Wahrheit Gottes, ist zugleich Liebe. Indem wir uns zur Wahrheit Gottes bekehren, müssen wir uns notwendigerweise zur Liebe bekehren: einer Liebe, die fähig ist, sich die Haltung des Mitleids und des Erbarmens des Herrn anzueignen, woran ich in der Botschaft zur Fastenzeit erinnern wollte, die die Worte aus dem Evangelium zum Thema hat: »Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen« (Mt 9,36). Weil sich die Kirche ihrer Sendung in der Welt bewußt ist, verkündet sie unablässig die barmherzige Liebe Christi, der seinen mitleidvollen Blick weiterhin auf die Menschen und Völker aller Zeiten richtet. »Angesichts der schrecklichen Herausforderungen der Armut vieler Menschen« - habe ich in der zitierten Fastenbotschaft geschrieben - »stehen die Gleichgültigkeit und die Verschlossenheit im eigenen Egoismus in unerträglichem Gegensatz zum ›Blick‹ Christi. Fasten und Almosen, welche die Kirche zusammen mit dem Gebet in besonderer Weise in der Fastenzeit empfiehlt, sind eine günstige Gelegenheit, eins zu werden mit dem ›Blick‹ Christi« (O.R. dt., Nr. 6, 10.2.2006, S. 7) und uns selbst, die Menschheit, die anderen mit diesem seinem Blick zu sehen. Mit diesem Geist treten wir in die ernste und von Gebet erfüllte Atmosphäre der Fastenzeit ein, die eben eine Atmosphäre der Liebe zum Nächsten ist. Mögen es Tage der Reflexion und des intensiven Gebetes sein, in denen wir uns vom Wort Gottes leiten lassen, das uns die Liturgie in reichem Maße vorlegt.

Möge die Fastenzeit außerdem eine Zeit des Fastens, der Buße und der Wachsamkeit über uns selbst sein, in der Überzeugung, daß der Kampf gegen die Sünde niemals aufhört, da die Versuchung eine tagtägliche Realität ist und alle die Erfahrung der Schwäche und der Täuschung machen. Möge die Fastenzeit schließlich durch das Almosengeben - dadurch, daß den anderen Gutes getan wird - eine Gelegenheit sein, um die empfangenen Gaben mit den Brüdern ehrlich zu teilen und aufmerksam zu sein für die Bedürfnisse der Ärmsten und Verlassensten. Auf diesem Weg der Buße begleite uns Maria, die Mutter des Erlösers, die ein Vorbild des Hinhörens und des treuen Festhaltens an Gott ist. Die allerseligste Jungfrau helfe uns, geläutert und in Verstand und Geist erneuert das große Ostergeheimnis Christi zu feiern. Mit diesen Empfindungen wünsche ich allen eine gute und fruchtbare Fastenzeit.

„Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mc 1,15). Diesen eindringlichen Aufruf Jesu aus dem Markusevangelium haben wir zu Beginn der Audienz vernommen. In der Aschermittwochsliturgie begleiten diese Worte den Aschenkreuz-Ritus, der uns zeichenhaft an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert: „Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst“ (vgl. Gn 3,19). Die Erkenntnis unserer Schwachheit und das gläubige Festhalten an der Frohbotschaft Christi helfen uns, in rechter Weise die heute beginnende Fastenzeit zu leben, in der wir uns darauf vorbereiten, an Ostern die zentralen Geheimnisse unseres Glaubens zu feiern.

Die österliche Bußzeit prägen nach der Tradition der Kirche vor allem drei Frömmigkeitsformen: das Beten, das Fasten, und die Werke der Nächstenliebe. Im Hören auf Gottes Wort, das wir in der heiligen Liturgie und im persönlichen Gebet aufnehmen und vertiefen, wächst unser Glaube an das Evangelium, an Jesus Christus, der uns das Erbarmen des Vaters geoffenbart hat. Die Übungen des Fastens und der Buße sowie die geistliche Wachsamkeit fördern die stets notwendige Reinigung unseres Herzens. Durch das Almosengeben und andere Formen tätiger Liebe legen wir Zeugnis ab von der übergroßen Liebe Christi, der sich für uns und unsere Brüder und Schwestern hingegeben hat.
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Euch allen, liebe Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, wünsche ich eine gesegnete und fruchtbare Fastenzeit. Hört auf die Einladung der Kirche zu verstärktem Gebet und innerer Buße, und öffnet eure Augen und euer Herz für die Not eurer Mitmenschen. Jesus Christus, unser Herr und Gott, begleite euch auf diesem Weg.



Mittwoch, 15. März 2006

15036

Liebe Brüder und Schwestern!

Nach der Reihe von Katechesen über die Psalmen und Gesänge aus Laudes und Vesper möchte ich die kommenden Mittwochsaudienzen dem Geheimnis der Beziehung zwischen Christus und der Kirche widmen und dieses von der Erfahrung der Apostel her, im Licht der ihnen anvertrauten Aufgabe, betrachten. Die Kirche ist auf dem Fundament der Apostel als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gegründet. Über die Apostel gelangen wir zu Jesus selbst. Die Kirche begann sich herauszubilden, als einige Fischer aus Galiläa Jesus begegneten und sich gewinnen ließen von seinem Blick, von seiner Stimme, von seiner herzlichen und kraftvollen Einladung: »Folgt mir nach, ich werde euch zu Menschenfischern machen!« (
Mc 1,17 Mt 4,19). Mein geliebter Vorgänger Johannes Paul II. hat der Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends nahegelegt, das Antlitz Christi zu betrachten (vgl. Novo millennio ineunte, NM 16ff.). Derselben Richtung folgend möchte ich in den Katechesen, mit denen ich heute beginne, zeigen, wie sich das Licht jenes Antlitzes auf dem Antlitz der Kirche widerspiegelt (vgl. Lumen gentium LG 1), trotz der Grenzen und Schatten unseres schwachen und von der Sünde gezeichneten Menschseins. Nach Maria, dem reinen Widerschein des Lichtes Christi, sind es die Apostel, die mit ihrem Wort und ihrem Zeugnis die Wahrheit Christi an uns weitergeben. Ihre Sendung steht jedoch nicht isoliert da, sondern ist eingebunden in ein Geheimnis der Gemeinschaft, das das ganze Volk Gottes einbezieht und das schrittweise vom Alten zum Neuen Bund Wirklichkeit wird.

Dazu muß gesagt werden, daß die Botschaft Jesu völlig mißverstanden wird, wenn man sie aus dem Zusammenhang des Glaubens und der Hoffnung des auserwählten Volkes heraustrennt: Wie Johannes der Täufer, sein unmittelbarer Vorläufer, so wendet sich Jesus zuallererst an Israel (vgl. Mt 15,24), um es in der Endzeit, die mit ihm angebrochen ist, zu »sammeln«. Und wie die Predigt des Johannes, so ist auch die Verkündigung Jesu gleichzeitig Gnadenruf und Zeichen des Widerspruchs und des Gerichts für das gesamte Volk Gottes. Vom ersten Augenblick seines Heilswirkens an strebt deshalb Jesus von Nazaret danach, das Volk Gottes zu sammeln. Auch wenn seine Verkündigung immer ein Aufruf zur persönlichen Umkehr ist, hat er in Wirklichkeit stets den Aufbau des Volkes Gottes als Ziel vor Augen, das zu sammeln, zu reinigen und zu retten er gekommen ist. Daher ist die von der liberalen Theologie vertretene individualistische Interpretation von Christi Verkündigung des Reiches Gottes einseitig und ohne jede Grundlage. Sie wurde im Jahre 1900 von dem großen liberalen Theologen Adolf von Harnack in seinen Vorlesungen Das Wesen des Christentums so zusammengefaßt: »Das Reich Gottes kommt, insofern es in einzelne Menschen kommt, Zugang zu ihrer Seele findet und sie es aufnehmen. Das Reich Gottes ist gewiß die Herrschaft Gottes, aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen« (vgl. Das Wesen des Christentums. Dritte Vorlesung). In Wirklichkeit ist dieser Individualismus der liberalen Theologie eine typisch moderne Akzentuierung: Aus der Sicht der biblischen Tradition und innerhalb des Judentums, in die sich das Wirken Jesu stellt, wenn auch in seiner ganzen Neuheit, wird deutlich, daß die ganze Sendung des fleischgewordenen Sohnes eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Zielsetzung hat: Er ist eben dazu gekommen, die zerstreute Menschheit zu einen, er ist eben dazu gekommen, das Volk Gottes zu sammeln, zu einen.

Ein unverkennbares Zeichen für die Absicht des Nazareners, die Gemeinschaft des Bundes zu sammeln, um in ihr offenbar werden zu lassen, daß die Verheißungen, die den Vätern gemacht wurden und die immer von Zusammenrufen, von Einigung und Einheit sprechen, zur Erfüllung gekommen sind, ist die Einsetzung der Zwölf. Wir haben das Evangelium über diese Einsetzung der Zwölf gehört. Ich lese noch einmal das Hauptsächliche vor: »Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er erwählt hatte, und sie kamen zu ihm. Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte, damit sie predigten und mit seiner Vollmacht Dämonen austrieben. Die Zwölf, die er einsetzte, waren…« (Mc 3,13-16; vgl. Mt 10,1-4 Lc 6,12-16). Am Ort der Offenbarung, dem »Berg«, setzt Jesus mit einer Initiative, die absolutes Bewußtsein und Entschlossenheit ausdrückt, die Zwölf ein, damit sie mit ihm zusammen Zeugen und Verkünder des Kommens des Gottesreiches sein sollen. Über die Geschichtlichkeit dieser Berufung gibt es keine Zweifel, nicht nur aufgrund des Alters und der Vielzahl der Zeugnisse, sondern auch aus dem einfachen Grund, daß darin der Name des Judas vorkommt, des Verräters unter den Aposteln, trotz der Schwierigkeiten, die seine Anwesenheit für die entstehende Gemeinschaft mit sich bringen konnte. Die Zahl Zwölf, die zweifellos Bezug nimmt auf die zwölf Stämme Israels, offenbart bereits die Tatsache, daß die neue Initiative zur Wiedererrichtung des heiligen Volkes eine Handlung ist, die prophetisch-symbolische Bedeutung besitzt. Da es die zwölf Stämme schon lange nicht mehr gab, hoffte Israel auf ihre Wiedererrichtung als Zeichen für den Anbruch der Endzeit (man denke an den Schluß des Buches Ezechiel: Ez 37,15-19 Ez 39,23-29 Ez 40-48). Dadurch, daß er die Zwölf erwählte, sie in eine Lebensgemeinschaft mit ihm einführte und sie an seiner Sendung der Verkündigung des Reiches in Wort und Tat teilhaben ließ (vgl. Mc 6,7-13 Mt 10,5-8 Lc 9,1-6 Lc 6,13), will Jesus sagen, daß die Endzeit angebrochen ist, in der das Volk Gottes neu gegründet wird, das Volk der zwölf Stämme, das jetzt ein weltumfassendes Volk wird, seine Kirche.

Allein durch ihre Existenz werden die Zwölf, die aus verschiedenen Umfeldern heraus berufen worden sind, bereits zu einem Aufruf an ganz Israel, damit es sich bekehre und sich im Neuen Bund sammeln lasse, der die volle und vollkommene Erfüllung des Alten Bundes ist. Die Tatsache, daß Jesus ihnen beim Abendmahl, vor seinem Leiden, die Aufgabe anvertraute, sein Gedächtnis zu feiern, zeigt, daß er der ganzen Gemeinschaft in der Person ihrer zwölf Anführer den Auftrag geben wollte, in der Geschichte Zeichen und Werkzeug der endzeitlichen Sammlung zu sein, die in ihm begonnen hat. In gewissem Sinne können wir sagen, daß gerade das Letzte Abendmahl der Gründungsakt der Kirche ist, weil Er selbst sich hingibt und auf diese Weise eine neue Gemeinschaft schafft, eine Gemeinschaft, die vereint ist in der Gemeinschaft mit Ihm selbst. In diesem Lichte versteht man, daß der Auferstandene ihnen - mit der Ausgießung des Geistes - die Macht der Sündenvergebung überträgt (vgl. Jn 20,23). Die zwölf Apostel sind so das offenkundigste Zeichen für den Willen Jesu in bezug auf die Existenz und die Sendung seiner Kirche, die Garantie, daß zwischen Christus und der Kirche keinerlei Gegensatz besteht: Sie sind untrennbar, trotz der Sünden der Menschen, die die Kirche bilden. Daher ist ein bestimmter Slogan, der vor einigen Jahren in Mode war, mit der Absicht Christi absolut unvereinbar: »Jesus ja, Kirche nein«. Dieser individualistisch gewählte Jesus ist ein Jesus, der der Phantasie entspringt. Wir können Jesus nicht ohne die Wirklichkeit haben, die er geschaffen hat und in der er sich mitteilt. Zwischen dem fleischgewordenen Sohn Gottes und seiner Kirche besteht eine tiefe, untrennbare und geheimnisvolle Kontinuität, kraft der Christus heute in seinem Volk gegenwärtig ist. Er ist immer unser Zeitgenosse, er ist immer gegenwärtig in der Kirche, die auf dem Fundament der Apostel errichtet worden ist, er ist lebendig in der Nachfolge der Apostel. Und diese Gegenwart in der Gemeinschaft, in der er selbst sich uns immer wieder schenkt, ist der Grund unserer Freude. Ja, Christus ist bei uns, das Reich Gottes kommt.

Mit der heutigen Audienz möchte ich eine neue Reihe von Katechesen beginnen, die das Geheimnis der Beziehung zwischen Christus und der Kirche zum Gegenstand unserer Betrachtung machen. Wir alle wissen: die Kirche ist als Gemeinschaft im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe auf dem Fundament der Apostel gegründet, jener Männer also, die von Jesus selbst auserwählt worden sind. Die Apostel haben den Auftrag erhalten, die in Christus geoffenbarte Wahrheit durch die Zeiten weiterzugeben. Von ihnen übernimmt die Kirche die Aufgabe, das Antlitz Jesu allen Generationen immer neu erstrahlen zu lassen (vgl. Apostol. Schreiben Novo millennio ineunte NM 16).

„Jesus setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte...“ (Mc 3,14). Die Zahl der Apostel erinnert an die zwölf Stämme Israels. Den Zwölfen vertraut Christus die Heilssendung der Kirche an. In seinem Namen sollen sie die Menschen sammeln und retten; sie sollen Boten und Zeugen des Reiches Gottes sein, das sich schon hier zu verwirklichen beginnt.

Beim Letzten Abendmahl beauftragt Jesus die Apostel, sein Gedächtnis zu feiern. In Einheit mit ihnen und ihren Nachfolgern sind alle Gläubigen Zeichen und Werkzeug jener eschatologischen Gemeinschaft, die in Gott ihren Ursprung hat. Der auferstandene Herr Jesus Christus verleiht den Aposteln die Macht, Sünden zu vergeben. Er selbst macht sich zur Garantie dafür, daß die Kirche als solche niemals von ihm getrennt wird. Zwischen dem menschgewordenen Gottessohn und seiner Kirche besteht daher eine tiefe Einheit, kraft derer Christus auch heute gegenwärtig ist - in seinem heiligen Volk und besonders in den Nachfolgern der Apostel.
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Mit diesen Gedanken heiße ich euch, liebe Pilger und Besucher deutscher Sprache herzlich zu dieser Audienz willkommen. Jeder von uns kann und soll zum Aufbau echter Gemeinschaft unter den Menschen beitragen. Tragt den Geist der Versöhnung und der Hilfsbereitschaft in eure Lebenswelt hinein und erleuchtet eure Umgebung mit dem Licht der Hoffnung und der Liebe! Der allmächtige Gott erhalte und führe euch auf seinen Wegen. - Euch allen einen gesegneten und frohen Tag!




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