Generalaudienzen 2005-2013 14058

Mittwoch, 14. Mai 2008: Pseudo-Dionysius Areopagita

14058
Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich in der Reihe der Katechesen über die Kirchenväter von einer sehr geheimnisvollen Gestalt sprechen: einem Theologen des sechsten Jahrhunderts, dessen Name unbekannt ist und der unter dem Pseudonym Dionysius Areopagita geschrieben hat. Mit diesem Pseudonym spielte er auf den Abschnitt aus der Heiligen Schrift an, den wir soeben gehört haben, nämlich die vom hl. Lukas im 17. Kapitel der Apostelgeschichte erzählte Szene, wo berichtet wird, daß Paulus in Athen auf dem Areopag vor einer Elite der großen intellektuellen griechischen Welt predigte; aber am Ende zeigten sich die meisten Zuhörer desinteressiert, verspotteten ihn und gingen weg; einige wenige jedoch, wie der hl. Lukas sagt, schlossen sich Paulus an und wurden gläubig. Der Evangelist nennt uns zwei Namen: Dionysius, Mitglied des Areopags, und eine Frau namens Damaris.

Wenn fünf Jahrhunderte später der Verfasser dieser Bücher sich für das Pseudonym Dionysius Areopagita entschieden hat, weist dies auf seine Absicht hin, die griechische Weisheit in den Dienst des Evangeliums zu stellen, die Begegnung zwischen der griechischen Kultur und Intelligenz und der Verkündigung Christi zu fördern; er wollte genau das tun, was dieser Dionysius erstrebte, nämlich daß sich das griechische Denken und die Verkündigung des hl. Paulus begegnen sollten; er wollte als Grieche Schüler des hl. Paulus und damit Schüler Christi werden.

Warum hat er seinen Namen verborgen und dieses Pseudonym gewählt? Teilweise wurde diese Frage bereits beantwortet: Er wollte diese Grundabsicht seines Denkens zum Ausdruck bringen. Aber es gibt zwei Hypothesen zu dieser Anonymität und zur Wahl des Pseudonyms. Eine erste Hypothese sagt: Es war eine beabsichtigte Fälschung, mit der er durch Rückdatierung seiner Werke ins erste Jahrhundert, also in die Zeit des hl. Paulus, seinem literarischen Schaffen eine gleichsam apostolische Autorität verleihen wollte. Aber besser als diese Hypothese - die mir wenig glaubwürdig erscheint - ist die andere: Er wollte einen Akt der Demut setzen. Er wollte nicht seinem eigenen Namen Ruhm verleihen, nicht mit seinen Werken sich selbst ein Denkmal setzen, sondern wirklich dem Evangelium dienen, eine kirchliche Theologie schaffen, keine individuelle, auf sich selbst gegründete. In Wirklichkeit gelang es ihm, eine Theologie aufzubauen, die sich zwar mit Sicherheit in das sechste Jahrhundert datieren, aber keiner der Gestalten jener Zeit zuschreiben läßt: Es ist eine etwas entindividualisierte Theologie, das heißt eine Theologie, die einen gemeinsamen Gedanken und eine gemeinsame Sprache zum Ausdruck bringt. Nach dem Konzil von Chalkedon herrschte eine Zeit schärfster Polemiken; er sagt jedoch in seinem »Siebenten Brief«: »Ich will keine Polemik betreiben; ich spreche einfach von der Wahrheit, ich suche die Wahrheit.« Und das Licht der Wahrheit bringt von sich aus die Irrtümer zu Fall und läßt alles, was gut ist, erstrahlen. Mit diesem Prinzip klärte er das griechische Denken und setzte es in Beziehung zum Evangelium. Dieses Prinzip, das er in seinem »Siebenten Brief« darlegt, ist auch Ausdruck eines wahren Geistes des Dialogs: nicht Dinge suchen, die trennen, sondern die Wahrheit in der göttlichen Wahrheit selbst suchen; sie erstrahlt dann und bringt die Irrtümer zu Fall.

Auch wenn die Theologie dieses Autors sozusagen »überpersönlich«, wirklich kirchlich ist, können wir sie in das sechste Jahrhundert datieren. Warum? Dem griechischen Geist, den er in den Dienst des Evangeliums stellte, begegnete er in den Büchern eines gewissen Proklos, der im Jahr 485 in Athen gestorben war: Dieser Autor gehörte dem späten Platonismus an, einer Denkrichtung, die die Philosophie Platons in eine Art Religion umgewandelt hatte, deren Ziel es am Ende war, eine große Apologie des griechischen Polytheismus zu schaffen und nach dem Erfolg des Christentums zur antiken griechischen Religion zurückzukehren. Er wollte beweisen, daß in Wirklichkeit die Gottheiten die im Kosmos wirkenden Kräfte sind. Die Folge war, daß der Polytheismus sich für wahrer halten mußte als der Monotheismus mit seinem einen Schöpfergott. Es war ein großes kosmisches System von Gottheiten, von geheimnisvollen Kräften, das Proklos darstellte, für den der Mensch in diesem vergöttlichten Kosmos den Zugang zur Gottheit finden konnte. Er unterschied jedoch die Wege für die Einfachen, die nicht imstande waren, sich zu den Gipfeln der Wahrheit zu erheben - für sie konnten auch gewisse Riten genügen -, von den Wegen für die Weisen, die sich hingegen läutern mußten, um zum reinen Licht zu gelangen.

Dieses Denken ist, wie man sieht, zutiefst antichristlich. Es ist eine späte Reaktion auf den Sieg des Christentums. Eine antichristliche Verwendung Platons, während eine christliche Auslegung des großen Philosophen bereits im Gange war. Es ist interessant, daß dieser Pseudo-Dionysius es gewagt hat, sich gerade dieses Denkens zu bedienen, um die Wahrheit Christi aufzuzeigen; um dieses polytheistische Universum in einen von Gott geschaffenen Kosmos, in die Harmonie des Kosmos Gottes zu verwandeln, wo alle Kräfte Lob Gottes sind, und um diese große Harmonie zu zeigen, diese Symphonie des Kosmos, die von den Seraphim über die Engel und Erzengel bis hin zum Menschen und allen Geschöpfen reicht, die gemeinsam die Schönheit Gottes widerspiegeln und Gott zum Lob gereichen. So verwandelte er das polytheistische Bild in einen Lobpreis des Schöpfers und seines Geschöpfes. Wir können auf diese Weise die wesentlichen Merkmale seines Denkens entdecken: Es ist vor allem ein kosmischer Lobpreis. Die ganze Schöpfung spricht von Gott und ist ein Lobpreis Gottes. Da das Geschöpf ein Lobpreis Gottes ist, wird die Theologie des Pseudo-Dionysius zu einer liturgischen Theologie: Man findet Gott vor allem, wenn man ihn lobt, nicht nur, wenn man über ihn nachdenkt; und die Liturgie ist nicht etwas von uns Konstruiertes, etwas, das erfunden wurde, um während eines bestimmten Zeitraumes eine religiöse Erfahrung zu machen; sie ist das Singen mit dem Chor der Geschöpfe und das Eintreten in die kosmische Wirklichkeit selbst. Und gerade so wird die scheinbar nur kirchliche Liturgie weit und groß, sie wird zu unserer Vereinigung mit der Sprache aller Geschöpfe. Er sagt: Man kann von Gott nicht in abstrakter Weise sprechen; von Gott sprechen ist immer - er sagt es mit dem griechischen Wort - ein »hymnein«, ein Singen für Gott mit dem großen Gesang der Geschöpfe, der sich im liturgischen Lobpreis widerspiegelt und konkrete Gestalt annimmt. Dennoch ist seine Theologie, obwohl sie kosmisch, kirchlich und liturgisch ist, zutiefst persönlich. Er schuf die erste große mystische Theologie. Ja, das Wort »mystisch« nimmt bei ihm eine neue Bedeutung an. Bis dahin war für die Christen dieses Wort gleichbedeutend mit dem Wort »sakramental«, also das, was zum »mysterion«, zum Sakrament gehört. Mit ihm wird das Wort »mystisch« persönlicher, vertraulicher: Es drückt den Weg der Seele zu Gott aus. Und wie kann man Gott finden? Und hier bemerken wir erneut ein wichtiges Element in seinem Dialog zwischen der griechischen Philosophie und dem Christentum, insbesondere dem biblischen Glauben. Es hat den Anschein, als sei das, was Platon und die große Philosophie über Gott sagt, sehr viel höher, sehr viel wahrer; die Bibel erscheint ziemlich »barbarisch«, einfach, vor-kritisch, wie man heute sagen würde; er beobachtet aber, daß gerade das notwendig ist, weil wir so verstehen können, daß die erhabensten Begriffe oder Vorstellungen über Gott niemals an seine wahre Größe heranreichen; sie sind immer unangemessen. Diese Bilder lassen uns in Wirklichkeit verstehen, daß Gott über allen Begriffen steht; in der Schlichtheit der Bilder finden wir besser als in den großen Begriffen das Antlitz Gottes und unsere Unfähigkeit, wirklich zum Ausdruck zu bringen, was er ist. So spricht man - es ist der Pseudo-Dionysius selbst, der das tut - von einer »negativen Theologie «. Wir können leichter sagen, was Gott nicht ist, als ausdrücken, was er wirklich ist. Nur durch diese Bilder können wir sein wahres Antlitz erahnen, und andererseits ist dieses Antlitz Gottes sehr konkret: Es ist Jesus Christus. Und auch wenn uns Dionysius, indem er Proklos folgt, die Harmonie der himmlischen Chöre erkennen läßt, so daß alle von allen abhängig zu sein scheinen, bleibt es wahr, daß unser Weg zu Gott sehr weit von ihm entfernt bleibt; der Pseudo-Dionysius zeigt, daß am Ende der Weg zu Gott Gott selbst ist, der sich uns in Jesus Christus nähert.

Und so wird eine große und geheimnisvolle Theologie auch sehr konkret, sowohl in der Interpretation der Liturgie als auch in der Rede über Jesus Christus: Mit alledem hatte dieser Dionysius Areopagita einen großen Einfluß auf die gesamte mittelalterliche Theologie, auf die gesamte mystische Theologie sowohl des Ostens wie des Westens; er wurde im 13. Jahrhundert gleichsam wiederentdeckt, vor allem vom hl. Bonaventura, dem großen franziskanischen Theologen, der in dieser mystischen Theologie das begriffliche Instrument fand, um das so einfache und so tiefe Erbe des hl. Franziskus zu interpretieren: Der »Poverello« sagt uns am Ende mit Dionysius, daß die Liebe mehr sieht als die Vernunft. Wo das Licht der Liebe ist, haben die Dunkelheiten der Vernunft keinen Zugang mehr; die Liebe sieht, die Liebe ist unser Auge, und die Erfahrung gibt uns mehr als die Reflexion. Was diese Erfahrung ist, sah Bonaventura beim hl. Franziskus: Sie ist die Erfahrung eines sehr demütigen, sehr realistischen Weges, Tag für Tag, sie ist dieses Unterwegssein mit Christus, unter Annahme seines Kreuzes. In dieser Armut und in dieser Demut - in der Demut, die man auch in der Kirchlichkeit lebt - gibt es eine Erfahrung Gottes, die höher ist als jene, die durch die Reflexion erreicht wird: In ihr berühren wir wirklich das Herz Gottes.

Heute hat Dionysius Areopagita eine neue Aktualität: Er erscheint als großer Vermittler im modernen Dialog zwischen dem Christentum und den mystischen Theologien Asiens, deren Wesensmerkmal in der Überzeugung liegt, daß man nicht sagen könne, wer Gott ist; man kann von ihm nur in negativen Formen sprechen; man kann von Gott nur mit dem »Nicht« sprechen, und nur, wenn man in diese Erfahrung des »Nicht« eintritt, gelangt man zu ihm. Und hier erkennt man eine Ähnlichkeit zwischen dem Denken des Areopagiten und jenem der asiatischen Religionen: Er kann heute ein Vermittler sein, wie er es zwischen dem griechischen Geist und dem Evangelium gewesen ist.

Man sieht also, daß der Dialog keine Oberflächlichkeit zuläßt. Gerade wenn man in die Tiefe der Begegnung mit Christus eintritt, öffnet sich auch der weite Raum für den Dialog. Wenn man dem Licht der Wahrheit begegnet, wird man gewahr, daß es ein Licht für alle ist; es verschwinden die Polemiken, und es wird möglich, einander zu verstehen oder wenigstens miteinander zu sprechen, sich näherzukommen. Der Weg des Dialogs ist es gerade, daß wir in Christus Gott in der Begegnung mit ihm nahe sind, in der Erfahrung der Wahrheit, die uns dem Licht öffnet und uns hilft, den anderen entgegenzugehen: das Licht der Wahrheit, das Licht der Liebe. Und schließlich sagt er uns: Schlage den Weg der Erfahrung ein, der demütigen Erfahrung des Glaubens, jeden Tag. Da wird das Herz groß und kann sehen und auch die Vernunft erleuchten, damit sie die Schönheit Gottes wahrnehme. Beten wir zum Herrn, daß er uns auch heute helfe, die Weisheit unserer Zeit in den Dienst des Evangeliums zu stellen, indem wir erneut die Schönheit des Glaubens, die Begegnung mit Gott in Christus entdecken.

Im Mittelpunkt der heutigen Katechese steht der Kirchenschriftsteller Pseudo-Dionysius Areopagita. Der echte Name und die Lebensdaten dieses Autors sind nicht bekannt; lange Zeit wurde er mit dem in der Apostelgeschichte erwähnten Dionysius, dem Areopagit, gleichsetzt. Aus den unter seinem Namen überlieferten Schriften läßt sich aber schließen, daß der Verfasser wohl zu Beginn des 6. Jahrhunderts gelebt hat und vermutlich aus Syrien stammte. Seine Werke übten einen großen Einfluß auf spätere Theologen in Ost und West aus, vor allem auf die Mystiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In den beiden Schriften „Über die Göttlichen Namen“ und „Über die mystische Theologie“ handelt unser Autor von der Frage der Erkennbarkeit Gottes und vom mystischen Aufstieg zu Gott. Auf zweifache Weise können wir von Gott sprechen: in bejahenden Aussagen, ausgehend von den göttlichen Namen der Bibel, oder in verneinenden Prädikaten, indem wir sagen, was Gott nicht ist. Beide Wege - die positive (kataphatische) und die negative (apophatische) Theologie - können letztendlich Gottes Wesen nicht erfassen, das alles menschliche Erkennen übersteigt. Diese heilige Unwissenheit führt hinein in eine Betrachtung über jedes Verständnis hinaus, zu einer symbolischen Erkenntnis in einer personalen Beziehung. Dazu muß der Gottsuchende gereinigt und zur Erleuchtung befähigt werden, die ihn auf dem Weg der Vollkommenheit antreibt, an deren Ende die Vergöttlichung steht. Wahre Theologie ist also nichts Abstraktes, es geht dabei um eine Glaubenserfahrung und persönliche Wandlung zum neuen Menschen.
* * *


Mit Freude grüße ich alle Pilger und Besucher aus allen Ländern deutscher Sprache. Gott - so verstehen wir von Pseudo-Dionysius her - ist nicht bloßer Name oder Begriff, sondern eine Person, die Ursprung und Ziel allen Lebens ist. Reinigen wir unser Herz, um in diese lebendige Beziehung mit Gott eintreten zu können und dann Boten seiner Liebe zu werden. Ich freue mich über die vielen, die aus allen Teilen Deutschlands heute unter uns sind, und grüße sie ganz herzlich, wünsche ihnen gesegnete Zeit in Rom und Gottes Segen auf allen ihren Wegen.

APPELL

Meine Gedanken gehen in diesem Moment an die Bevölkerung von Sichuan und von den angrenzenden Provinzen in China, die schwer getroffen wurden von dem Erdbeben, das so viele Todesopfer, zahllose Vermißte und unermeßliche Schäden verursacht hat. Ich lade euch ein, euch meinen innigen Gebeten für all jene anzuschließen, die ums Leben gekommen sind. Im Geiste bin ich allen nahe, die von dieser verheerenden Naturkatastrophe getroffen wurden: für sie erbitten wir von Gott die Linderung ihrer Leiden. Der Herr gewähre all denen seinen Beistand, die bei den unmittelbaren Hilfsmaßnahmen mitarbeiten.



Mittwoch, 21. Mai 2008: Romanus Melodus

21058

Liebe Brüder und Schwestern!

In der Reihe der Katechesen über die Kirchenväter möchte ich heute über eine wenig bekannte Gestalt sprechen: Romanus Melodus, der um 490 in Emesa (dem heutigen Homs) in Syrien geboren wurde. Als Theologe, Dichter und Komponist gehört er zu der großen Schar von Theologen, die die Theologie in Poesie verwandelt haben. Wir denken an seinen Landsmann, den hl. Ephräm den Syrer, der zweihundert Jahre vor ihm gelebt hat. Aber wir denken auch an abendländische Theologen, wie den hl. Ambrosius, dessen Hymnen noch heute Teil unserer Liturgie sind und auch das Herz rühren; oder an einen Theologen, einen Denker von so großer Kraft wie den hl. Thomas, der uns die Hymnen zum morgigen Fronleichnamsfest geschenkt hat; wir denken auch an den hl. Johannes vom Kreuz und noch an viele andere. Der Glaube ist Liebe und bringt daher Dichtung und Musik hervor. Der Glaube ist Freude, daher bringt er Schönheit hervor.

Einer dieser Männer ist also Romanus Melodus, ein Theologe, Dichter und Komponist. Nachdem er sich die ersten Elemente griechischer und syrischer Kultur in seiner Geburtsstadt angeeignet hatte, übersiedelte er nach Berytos (Beirut), wo er die klassische Ausbildung und seine rhetorischen Kenntnisse vervollkommnete. Nach seiner Weihe zum ständigen Diakon (
CA 515) war er dort drei Jahre lang Prediger. Gegen Ende der Herrschaft von Anastasios I. übersiedelte er dann nach Konstantinopel (um das Jahr 518) und ließ sich dort in dem Kloster bei der Kirche der »Theotókos«, der Gottesmutter, nieder. Hier trug sich das Schlüsselereignis seines Lebens zu: Das Synaxarion berichtet uns von der Erscheinung der Muttergottes im Traum und das Geschenk des dichterischen Charismas. Maria gebot ihm nämlich, ein zusammengerolltes Blatt zu verschlucken. Als Romanus am nächsten Morgen - es war das Fest der Geburt des Herrn - erwachte, begann er vom Ambo aus zu deklamieren: »Heute gebiert die Jungfrau den, der über allem Sein ist« (Hymnus Über Weihnachten, I. Einleitung). So wurde er zum Sänger-Prediger, der er bis zu seinem Tod blieb (nach 555).

Romanus bleibt in der Geschichte einer der repräsentativsten Verfasser liturgischer Hymnen. Die Predigt war damals für die Gläubigen praktisch die einzige Gelegenheit zu katechetischer Unterweisung. Romanus erweist sich somit als herausragender Zeuge des religiösen Empfindens seiner Zeit, aber auch einer lebendigen und originellen Form der Katechese. Durch seine Kompositionen können wir uns eine Vorstellung machen von der Kreativität dieser Form der Katechese, von der Krativität des theologischen Denkens, der Ästhetik und der sakralen Hymnendichtung jener Zeit. Der Ort, an dem Romanus predigte, war ein Heiligtum am Stadtrand von Konstantinopel: Er stieg auf den in der Mitte der Kirche aufgestellten Ambo und sprach zur Gemeinde, wobei er eine ziemlich aufwendige Inszenierung anwandte: Er benutzte Wandbilder oder auf den Ambo gestellte Ikonen und griff auch auf den Dialog zurück. Seine Predigten waren metrisch gesungen, sogenannte »Kontakien« (»kontákia«). Der Begriff »kontákion«, »kleine Rute«, scheint auf den kleinen Stab zu verweisen, um den die Rolle einer liturgischen oder anders gearteten Handschrift gewickelt wurde.

Unter dem Namen des Romanus sind 89 »kontákia« auf uns gekommen, aber die Überlieferung schreibt ihm tausend zu. Bei Romanus besteht jedes Kontakion aus zumeist 18 bis 24 Strophen mit gleicher Silbenzahl, die nach dem Vorbild der ersten Strophe, des »Hirmos« (»heirmós«), aufgebaut sind; die rhythmischen Akzente der Verse aller Strophen richten sich nach jenen des Hirmos.Jede Strophe schließt mit einem meist identischen Refrain (»ephymnion«), um die dichterische Einheit zu schaffen. Darüber hinaus geben die Anfangsbuchstaben der einzelnen Strophen den Namen des Autors an (»akróstichon«), dem oft das Adjektiv »demütig« vorangestellt ist. Ein Gebet mit Bezug auf die gefeierten oder angesprochenen Ereignisse schließt den Hymnus ab. Nach der Lesung aus der Bibel sang Romanus das »Prooímion« (Präludium) meist in Form eines Gebets oder einer Anrufung. So kündigte er das Thema der Predigt an und erklärte den Refrain, der am Ende jeder Strophe, die von ihm kadenziert mit lauter Stimme vorgetragen wurde, im Chor zu wiederholen war.

Ein bedeutsames Beispiel bietet uns das Kontakion für den Karfreitag: Es ist ein dramatischer Dialog zwischen Maria und dem Sohn, der sich auf dem Kreuzweg abspielt. Maria spricht: »Wohin gehst du, Sohn? Warum vollendest du so schnell den Lauf deines Lebens? / Nie hätte ich geglaubt, o Sohn, dich jemals in diesem Zustand zu sehen, / noch hätte ich mir je vorstellen können, daß die Frevler in ihrer Wut soweit gehen würden, / Hand an dich zu legen entgegen jeder Gerechtigkeit.« Jesus antwortet: »Warum weinst du, meine Mutter? […] Sollte ich nicht leiden? Sollte ich nicht sterben? / Wie also könnte ich Adam retten?« Der Sohn Mariens tröstet die Mutter und erinnert sie dabei an ihre Rolle in der Heilsgeschichte: »Lege also deinen Schmerz ab, Mutter, lege ihn ab: / Es ziemt sich nicht für dich zu seufzen, da du ›voll der Gnade‹ genannt wurdest« (Maria unter dem Kreuz, 1-2; 4-5). Im Hymnus über das Opfer Abrahams behält sich dann Sara die Entscheidung über das Leben Isaaks vor. Abraham sagt: »Wenn Sara alle deine Worte hören wird, mein Herr, / und diesen deinen Willen erkannt haben wird, wird sie zu mir sagen: / - Wenn der, der ihn uns gegeben hat, ihn wieder zurückholt, warum hat er ihn uns dann geschenkt? / […] - Du, o Greis, laß mir meinen Sohn, / und wenn der, der dich gerufen hat, ihn haben will, wird er es mir sagen müssen« (Das Opfer Abrahams, 7).

Romanus verwendet nicht das feierliche byzantinische Griechisch des Hofes, sondern ein einfaches Griechisch, das der Sprache des Volkes nahesteht. Ich möchte hier ein Beispiel für seine sehr lebhafte und sehr persönliche Art zitieren, wie er über Jesus, den Herrn, spricht: Er nennt ihn »Quelle, die nicht brennt, und Licht gegen die Finsternis« und sagt: »Ich sehne mich danach, dich in Händen zu halten wie eine Lampe; / wer nämlich eine Lampe zu den Menschen trägt, ist erleuchtet, ohne zu brennen. / Erleuchte mich also, du, der du die unauslöschliche Lampe bist« (Die Darstellung des Herrn oder das Fest der Begegnung, 8). Die Überzeugungskraft seiner Predigten gründete auf der großen Übereinstimmung zwischen seinen Worten und seinem Leben. In einem Gebet sagt er: »Mach meine Sprache klar, mein Heiland, öffne mir den Mund, / und wenn du ihn angefüllt hast, durchbohre mein Herz, damit mein Tun / im Einklang mit meinen Worten stehe« (Sendung der Apostel, 2).

Untersuchen wir nun einige seiner Hauptthemen. Ein grundlegendes Thema seiner Predigt ist die Einheit des Wirkens Gottes in der Geschichte, die Einheit von Schöpfung und Heilsgeschichte, die Einheit von Altem und Neuem Testament. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Pneumatologie, das heißt die Lehre vom Heiligen Geist. Am Pfingstfest hebt er die Kontinuität hervor, die zwischen dem in den Himmel aufgefahrenen Christus und den Aposteln, das heißt der Kirche, besteht, und preist deren missionarisches Wirken in der Welt: »[…] mit göttlicher Tugend haben sie alle Menschen erobert; / sie haben das Kreuz Christi wie eine Feder genommen, / sie haben die Worte wie Netze benutzt und mit ihnen haben sie die Welt gefischt, / sie haben das Wort als spitzen Angelhaken verwendet, / so wie das Fleisch des Herrschers des Universums / für sie zum Köder geworden ist« (Pfingsten 2; 18).

Ein weiteres zentrales Thema ist natürlich die Christologie. Er geht nicht auf das Problem der schwierigen theologischen Begriffe ein, die in der damaligen Zeit heftig diskutiert wurden und die auch die Einheit nicht nur unter den Theologen, sondern auch unter den Christen in der Kirche zerrissen haben. Er predigt eine einfache, aber grundlegende Christologie, die Christologie der großen Konzilien. Aber er steht vor allem der Volksfrömmigkeit nahe - im übrigen sind die Begriffe der Konzilien aus der Volksfrömmigkeit und aus der Erkenntnis des christlichen Herzens entstanden -, und so unterstreicht Romanus, daß Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist, und da er wahrer Gott-Mensch ist, ist er eine einzige Person, die Synthese zwischen Schöpfung und Schöpfer: In seinen menschlichen Worten hören wir das Wort Gottes selbst sprechen. »Christus war Mensch« - sagt er -, »aber er war auch Gott, / nicht jedoch zweigeteilt: Er ist Einer, Sohn eines Vaters, der ein einziger ist« (Die Passion, 19). Was die Mariologie betrifft, so gedenkt Romanus, der der Jungfrau für das Geschenk des dichterischen Charismas dankbar ist, ihrer am Ende fast aller seiner Hymnen und widmet ihr seine schönsten Kontakien: Weihnachten, Verkündigung, Göttliche Mutterschaft, Neue Eva.

Die moralischen Lehren schließlich beziehen sich auf das Jüngste Gericht (Die zehn Jungfrauen [II]). Er führt uns hin zu diesem Augenblick der Wahrheit unseres Lebens, der Gegenüberstellung mit dem gerechten Richter, und mahnt uns deshalb zur Umkehr in der Buße und im Fasten. Positiv ausgedrückt muß der Christ die Nächstenliebe und das Almosengeben üben. Er betont den Primat der Liebe über die Enthaltsamkeit in zwei Hymnen: Die Hochzeit von Kana und Die zehn Jungfrauen. Die Liebe ist die größte Tugend: »[…] Zehn Jungfrauen besaßen die Tugend der unversehrten Jungfräulichkeit, / aber für fünf von ihnen blieb die harte Übung fruchtlos. / Die anderen leuchteten durch die Lampen der Liebe für die Menschheit; / darum lud sie der Bräutigam ein« (Die zehn Jungfrauen, 1).

Ergreifende Menschlichkeit, Glaubenseifer, tiefe Demut durchdringen die Gesänge des Romanus Melodus. Dieser große Dichter und Komponist bringt uns den ganzen Schatz der christlichen Kultur in Erinnerung, die aus dem Glauben entstanden ist und die aus dem Herzen hervorgeht, das Christus, dem Sohn Gottes, begegnet ist. Aus diesem Kontakt des Herzens mit der göttlichen Wahrheit, die Liebe ist, entsteht die Kultur, und aus ihm ist die gesamte große christliche Kultur entstanden. Und wenn der Glaube lebendig bleibt, wird auch dieses kulturelle Erbe nicht zu etwas Totem, sondern bleibt lebendig und gegenwärtig. Die Ikonen sprechen auch heute zum Herzen der Gläubigen, sie sind nicht etwas Vergangenes. Die Kathedralen sind keine mittelalterlichen Monumente, sondern Wohnstätten des Lebens, wo wir uns »zu Hause« fühlen: Wir begegnen Gott und wir begegnen einander. Auch die große Musik - der Gregorianische Choral oder Bach oder Mozart - ist keine Sache der Vergangenheit, sondern lebt von der Lebendigkeit der Liturgie und unseres Glaubens. Wenn der Glaube lebendig ist, wird die christliche Kultur nicht zu etwas »Vergangenem«, sondern bleibt lebendig und gegenwärtig. Und wenn der Glaube lebendig ist, können wir auch heute dem Gebot entsprechen, das in den Psalmen immer wieder anklingt: »Singt dem Herrn ein neues Lied.« Kreativität, Innovation, neues Lied, neue Kultur und Gegenwart des ganzen kulturellen Erbes in der Lebendigkeit des Glaubens schließen sich nicht aus, sondern sind eine einzige Wirklichkeit; sie sind die Gegenwart der Schönheit Gottes und der Freude, seine Kinder zu sein.

In der Reihe der Katechesen über bedeutende Gestalten der frühen Kirche wenden wir uns heute dem in Syrien geborenen Diakon Romanus Melodus („Sänger“) zu, der in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts vorwiegend in Konstantinopel gewirkt hat. Seine poetische Gabe hat Romanus von der Muttergottes empfangen, die ihm im Traum erschienen ist. An einer Marienkirche hielt er auch die meisten seiner zahlreichen Predigten. Dabei handelt es sich um nach genauen Regeln verfaßte Hymnen, die der Gemeinde mit aussagekräftigen Bildern und Dialogen die Geheimnisse des Glaubens vermittelten. Romanus war ein Meister der Kommunikation und stellte Gesänge und Ikonen kreativ in den Dienst der Verkündigung. Seine inhaltsreichen und zugleich volksnahen Katechesen berührten verschiedenste Themen: Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch; die Kirche, die sein Heilswerk fortsetzt; das christliche Leben, das in der Nächstenliebe gipfelt und auf die Ewigkeit ausgerichtet ist. Überzeugt hat der Diakon Romanus aber auch durch seine genuine, zum Gebet einladende Frömmigkeit und seinen vorbildlichen Lebenswandel. So lesen wir in einer seiner Predigten: „Mein Erlöser, öffne meinen Mund, und wenn du ihn gefüllt hast, dann durchdringe mein Herz, damit mein Handeln meinen Worten entspricht.“

* * *


Einen herzlichen Gruß richte ich an die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Das Zeugnis dieses Theologen, Diakons, Predigers und Sängers (Romanus) sporne uns an, immer tiefer in den Reichtum des Glaubens einzudringen und unser Leben danach auszurichten. Dies gilt besonders für das morgige Fronleichnamsfest, wenn wir das Geschenk der Gegenwart Christi in der Eucharistie betend betrachten und mit Christus auf unseren Straßen gehen - als Sinnbild, daß wir immer mit Christus auf unserer Straße, auf der Straße des Lebens sein wollen. Dazu erbitte ich euch allen Gottes reichsten Segen.



Mittwoch, 28. Mai 2008: Der hl. Papst Gregor der Große

28058
Liebe Brüder und Schwestern!

Am vergangenen Mittwoch habe ich von einem im Westen kaum bekannten Kirchenvater, Romanus Melodus, gesprochen; heute möchte ich die Gestalt eines der größten Väter in der Kirchengeschichte, einen der vier Kirchenlehrer des Abendlandes vorstellen, den heiligen Papst Gregor, der zwischen 590 und 604 Bischof von Rom war und von der Tradition mit dem Ehrentitel »Magnus«, der Große, bedacht wurde. Gregor war wirklich ein großer Papst und ein großer Kirchenlehrer! Er wurde um das Jahr 540 in Rom geboren und entstammte einer reichen Patrizierfamilie aus der »gens Anicia«, dem Geschlecht der Anicier, die sich nicht nur durch ihr adeliges Blut, sondern auch durch ihre Treue zum christlichen Glauben und durch die dem Apostolischen Stuhl geleisteten Dienste auszeichneten. Aus dieser Familie waren zwei Päpste hervorgegangen: Felix III. (483-492), Gregors Ururgroßvater, und Agapet (535-536). Das Haus, in dem Gregor aufwuchs, stand auf dem »Clivus Scauri« und war von prachtvollen Gebäuden umgeben, die von der Größe des antiken Roms und von der geistlichen Kraft des Christentums Zeugnis gaben. Zu erhabenen christlichen Gefühlen inspirierten ihn sodann die Vorbilder seiner Eltern Gordian und Silvia, die beide als Heilige verehrt werden, und jene der beiden Tanten väterlicherseits, Aemiliana und Tarsilla, die in ihrem Haus als geweihte Jungfrauen miteinander einen Weg des Gebets und der Askese lebten.

Gregor trat bald die Laufbahn in der öffentlichen Verwaltung an, die auch sein Vater eingeschlagen hatte, und erreichte darin den Höhepunkt, als er 572 Stadtpräfekt wurde. Dieses Amt, das durch die damaligen tristen Verhältnisse erschwert wurde, gestattete ihm, sich in einem weiten Umfeld mit jeder Art von Verwaltungsproblemen zu befassen, woraus er Erhellung für künftige Aufgaben erfuhr. Insbesondere blieb ihm ein tiefer Sinn für Ordnung und Disziplin erhalten: Nachdem er Papst geworden ist, wird er den Bischöfen raten, sich bei der Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten die Sorgfalt und die Achtung vor den Gesetzen zum Vorbild zu nehmen, wie sie den zivilen Beamten eigen ist. Dieses Leben sollte ihn jedoch nicht befriedigen, denn wenig später beschloß er, jedes zivile Amt aufzugeben, um sich in sein Haus zurückzuziehen und das Leben eines Mönchs zu beginnen; dazu verwandelte er das Haus der Familie in das Kloster des hl. Andreas auf dem Coelius. Nach dieser Zeit des monastischen Lebens, eines Lebens des ständigen Gesprächs mit dem Herrn im Hören seins Wortes, wird er sich immer zurücksehnen; eine Sehnsucht, die immer wieder und immer stärker in seinen Predigten auftaucht: Inmitten der Widrigkeiten der Hirtensorgen wird er mehrmals in seinen Schriften daran als eine glückliche Zeit der Sammlung in Gott, der Hingabe an das Gebet, des frohen Sich-Vertiefens in das Studium erinnern. So konnte er sich jene tiefe Kenntnis der Heiligen Schrift und der Kirchenväter aneignen, derer er sich später in seinen Werken bediente.

Aber Gregors Rückzug in die Klausur war nicht von langer Dauer. Seine wertvolle Erfahrung in der zivilen Verwaltung, die in einer von schwerwiegenden Problemen belasteten Zeit gereift war, die Beziehungen, die er in diesem Amt mit den Byzantinern gepflegt hatte, die allgemeine Hochachtung, die er sich erworben hatte - all das bewog Papst Pelagius, ihn zum Diakon zu ernennen und als seinen »Apokrisiar« - heute würde man sagen »Apostolischen Nuntius« - nach Konstantinopel zu entsenden, um die letzten Auswirkungen des Monophysitenstreites auszuräumen und vor allem die Unterstützung des Kaisers für das Bemühen zu erlangen, den Druck von seiten der Langobarden einzudämmen. Der Aufenthalt in Konstantinopel, wo er zusammen mit einer Gruppe von Mönchen das monastische Leben wieder aufgenommen hatte, war für Gregor äußerst wichtig, da er ihm die Möglichkeit bot, direkte Erfahrung von der byzantinischen Welt zu erwerben und auch dem Langobardenproblem näherzukommen, das dann in den Jahren des Pontifikats seine Geschicklichkeit und seine Kraft auf eine harte Probe stellen sollte. Nach einigen Jahren wurde Gregor vom Papst nach Rom zurückgerufen, der ihn zu seinem Sekretär ernannte. Es waren schwierige Jahre: ständige Regenfälle, über die Ufer getretene Flüsse und Hungersnot suchten viele Gegenden Italiens und Rom selbst heim. Schließlich brach auch noch die Pest aus, die zahlreiche Opfer forderte, unter ihnen auch Papst Pelagius II. Der Klerus, das Volk und der Senat wählten ihn, Gregor, einmütig zu dessen Nachfolger auf dem Stuhl Petri. Er versuchte, sich zu widersetzen und erwog sogar die Flucht, aber es war nichts zu machen: Am Ende mußte er nachgeben. Es war das Jahr 590.

Der neue Papst erkannte in dem, was geschehen war, den Willen Gottes und machte sich sogleich voll Eifer an die Arbeit. Von Anfang an bewies er eine außergewöhnlich nüchterne Sicht der Wirklichkeit, mit der er sich messen mußte, eine außerordentliche Arbeitsfähigkeit bei der Ausführung sowohl der kirchlichen wie der zivilen Angelegenheiten, eine stete Ausgewogenheit in den auch mutigen Entscheidungen, die ihm sein Amt auferlegte. Dank der Verzeichnisse (»Registri«) seiner ca. 800 Briefe, in denen sich die tägliche Auseinandersetzung mit den komplexen Fragen widerspiegelt, die auf seinem Tisch zusammenflossen, ist von seiner Regierung eine breite Dokumentation erhalten. Es waren Fragen, die von den Bischöfen, den Äbten, den Klerikern und auch von den zivilen Autoritäten jeder Kategorie und jedes Ranges an ihn herangetragen wurden. Unter den Problemen, die zu jener Zeit Italien und Rom quälten, gab es eines von besonderer Bedeutung sowohl im zivilen als auch im kirchlichen Bereich: das Langobardenproblem. Ihm widmete der Papst jede mögliche Kraft im Hinblick auf eine wahrhaft friedenstiftende Lösung. Im Unterschied zum byzantinischen Kaiser, der von der Voraussetzung ausging, die Langobarden wären lediglich grobe und räuberische Individuen, die besiegt oder vernichtet werden müßten, sah der hl. Gregor diese Menschen mit den Augen des guten Hirten, der sich darum sorgte, ihnen das Wort des Heils zu verkünden, und zu ihnen Beziehungen der Brüderlichkeit herstellte, im Blick auf einen künftigen Frieden, der auf der gegenseitigen Achtung und auf dem ruhigen Zusammenleben zwischen den italischen Völkern, der Bevölkerung des byzantinischen Reiches und den Langobarden gründete. Er sorgte sich um die Bekehrung der jungen Völker und um die neue zivile Ordnung Europas: die Westgoten Spaniens, die Franken, die Sachsen, die Einwanderer Britanniens und die Langobarden waren die bevorzugten Adressaten seiner Evangelisierungsmission. Wir haben gestern den Gedenktag des hl. Augustinus von Canterbury gefeiert, des Führers einer Gruppe von Mönchen, die von Gregor beauftragt worden waren, nach Britannien zu gehen, um England zu evangelisieren.

Der Papst - er war ein wahrer Friedensstifter - setzte sich entschieden dafür ein, zu einem echten Frieden in Rom und in Italien zu gelangen, indem er mit dem Langobardenkönig Agilulf intensive Verhandlungen führte. Diese Unterhandlung brachte eine Zeit der Waffenruhe mit sich, die etwa drei Jahre dauerte (598-601); danach war es möglich, im Jahr 603 einen stabileren Waffenstillstand zu vereinbaren. Erreicht wurde dieses positive Ergebnis auch dank der parallelen Kontakte, die der Papst in der Zwischenzeit mit der Königin Theodolinde unterhielt, einer bayerischen Prinzessin, die im Unterschied zu den Häuptern der anderen germanischen Völker katholisch, tief katholisch war. Es ist eine Reihe von Briefen Papst Gregors an diese Königin erhalten, in denen er seine Hochachtung und seine Freundschaft für sie bekundet. Theodolinde gelang es, den König allmählich zum katholischen Glauben hinzuführen und so den Weg zum Frieden vorzubereiten. Der Papst kümmerte sich auch darum, ihr die Reliquien für die Basilika des hl. Johannes des Täufers zu übersenden, die sie in Monza hatte errichten lassen, und er versäumte auch nicht, ihr anläßlich der Geburt und der Taufe ihres Sohnes Adaloaldus seine Glückwünsche und wertvolle Geschenke für die genannte Kathedrale von Monza zukommen zu lassen. Das Geschehen um diese Königin ist ein schönes Zeugnis für die Bedeutung der Frauen in der Kirchengeschichte. Im Grunde waren es drei Ziele, auf die Gregor beharrlich setzte: der Expansion der Langobarden in Italien Einhalt zu gebieten; die Königin Theodolinde dem Einfluß der Schismatiker zu entziehen und ihren katholischen Glauben zu stärken; zwischen den Langobarden und den Byzantinern mit Aussicht auf eine Vereinbarung zu vermitteln, die den Frieden auf der Halbinsel gewährleistete und gleichzeitig gestattete, unter den Langobarden selbst eine Evangelisierungstätigkeit zu entfalten. Seine ständige Ausrichtung in der komplexen Angelegenheit war also eine zweifache: Vereinbarungen auf der diplomatisch-politischen Ebene zu treffen und die Verkündigung des wahren Glaubens unter den Völkern zu fördern.

Neben dem rein geistlichen und pastoralen Wirken war Papst Gregor auch aktiver Protagonist einer vielgestaltigen sozialen Tätigkeit. Mit den Erträgen des beachtlichen Vermögens, das der Römische Stuhl in Italien, besonders in Sizilien besaß, kaufte und verteilte er Korn, stand er Bedürftigen bei, half Priestern, Mönchen und Nonnen, die in Not und Elend lebten, zahlte Lösegelder für Bürger, die in Gefangenschaft der Langobarden geraten waren, erkaufte Waffenruhen und Waffenstillstände. Außerdem führte er in Rom wie in anderen Teilen Italiens eine sorgfältige Neuordnung der Verwaltung durch und erließ präzise Anweisungen, damit die Güter der Kirche, die für ihren Unterhalt und für ihr Evangelisierungswerk in der Welt nützlich waren, mit absoluter Redlichkeit und gemäß den Regeln der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit verwaltet werden. Er forderte, daß die Bauern vor den Mißbräuchen der konzessionierten Verwalter des in Kirchenbesitz befindlichen Landes geschützt und im Falle des Betrugs sofort entschädigt würden, damit das Antlitz der Braut Christi nicht durch unehrenhaften Gewinn beschmutzt werde.

Diese intensive Aktivität entfaltete Gregor trotz seiner schwachen Gesundheit, die ihn oft zwang, tagelang das Bett zu hüten. Das während der Zeit des monastischen Lebens praktizierte Fasten hatte ihm ernsthafte Störungen des Verdauungsapparats verursacht. Außerdem hatte er eine sehr schwache Stimme, so daß er oft gezwungen war, einem Diakon die Lesung seiner Predigten zu übertragen, damit die in den römischen Basiliken anwesenden Gläubigen ihn hören konnten. Er tat dennoch das Mögliche, um an den Festtagen die »Missa solemnis«, das heißt die feierliche Messe, zu zelebrieren, und dabei begegnete er persönlich dem Volk Gottes, das ihm sehr zugetan war, da es in ihm den maßgeblichen Bezugspunkt sah, aus dem es Sicherheit schöpfen konnte: Es ist kein Zufall, daß ihm sehr bald der Titel »consul Dei«, Konsul Gottes, zuerkannt wurde. Trotz der sehr schwierigen Umstände, unter denen er wirken mußte, gelang es ihm dank der Heiligkeit seines Lebens und seiner reichen Menschlichkeit das Vertrauen der Gläubigen zu gewinnen, während er für seine Zeit und für die Zukunft wirklich großartige Ergebnisse erzielte. Er war ein in Gott versunkener Mensch: Die Sehnsucht nach Gott war im Grunde seiner Seele immer lebendig, und gerade deshalb stand er immer dem Nächsten, den Bedürfnissen der Menschen seiner Zeit sehr nahe. In einer unheilvollen, ja verzweifelten Zeit verstand er es, Frieden zu schaffen und Hoffnung zu geben. Dieser Mann Gottes zeigt uns, wo die wahren Quellen des Friedens sind, woher die wahre Hoffnung kommt, und wird so zu einem Leitbild auch für uns heute.

Heute wollen wir unser Augenmerk auf das Leben des heiligen Gregor des Großen richten. Gregor wurde um 540 in Rom geboren und entstammte dem Geschlecht der Anicier, einer vornehmen Familie, aus der schon zwei Päpste - Felix III. und Agapet - hervorgegangen waren. Er schlug zunächst eine Laufbahn in der zivilen Verwaltung ein, die ihn bis in das Amt des Stadtpräfekten von Rom aufsteigen ließ. Diese Berufserfahrungen sollten ihm später bei der Leitung der Kirche von großem Nutzen sein. Bald gab Gregor jedoch seine Karriere auf, um ein monastisches Leben in Gebet und Studium zu führen; es war ihm aber keine lange Zeit der klösterlichen Abgeschiedenheit vergönnt, nach der er sich dann zeitlebens zurücksehnte. Zum Diakon geweiht, wurde Gregor von Papst Pelagius II. als Botschafter an den Kaiserhof in Konstantinopel gesandt. Nach seiner Rückkehr nach Rom wirkte er als Ratgeber von Pelagius II. und wurde 590 in einer von Naturkatastrophen, Hungersnöten und Pest gekennzeichneten Zeit zu seinem Nachfolger gewählt. Trotz seiner schwachen Gesundheit - Gregor mußte vielfach das Bett hüten und konnte oft auch nicht mehr öffentlich predigen - entfaltete er mit Realitätssinn und außergewöhnlichem Arbeitsvermögen eine reiche Tätigkeit zum Wohl der Kirche und der Menschen. Ein Hauptanliegen war ihm der Frieden mit den Langobarden und die Verbreitung des katholischen Glaubens. Ebenso kümmerte er sich um die Verwaltung der kirchlichen Güter, um die öffentliche Ordnung und um die Versorgung der notleidenden Bevölkerung. So wurde Gregor, der im Jahr 604 starb, zu recht „Konsul Gottes“ genannt, wie seine Grabinschrift in St. Peter besagt.

* * *


Gerne heiße ich alle deutschsprachigen Pilger in dieser Audienz willkommen. Nach dem Beispiel des heiligen Gregor des Großen wollen auch wir all unsere Fähigkeiten einsetzen, um die uns anvertrauten Aufgaben in Kirche und Welt zu erfüllen. Der Herr schenke euch dazu die Kraft und den Beistand des Heiligen Geistes.




Generalaudienzen 2005-2013 14058