Generalaudienzen 2005-2013 31208

Mittwoch, 3. Dezember 2008: Der Hl. Paulus (15): Adam und Christus: von der Erbsünde zur Freiheit.

31208

Liebe Brüder und Schwestern!

In der heutigen Katechese wollen wir bei der Beziehung zwischen Adam und Christus verweilen, wie sie vom hl. Paulus in dem bekannten Abschnitt des Briefes an die Römer (5,12-21) umrissen wird, wo er der Kirche die wesentlichen Züge der Lehre über die Erbsünde übergibt. In Wirklichkeit hatte Paulus schon im Ersten Brief an die Korinther bei der Behandlung des Glaubens an die Auferstehung die Gegenüberstellung zwischen dem Urvater und Christus eingeführt: »Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden… Adam, der erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der Letzte Adam wurde lebendigmachender Geist« (
1Co 15,22 1Co 15,45). In Rm 5,12-21 wird die Gegenüberstellung zwischen Christus und Adam deutlicher und erhellender: Paulus läßt die Heilsgeschichte von Adam bis zum Gesetz und von diesem bis zu Christus vorüberziehen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht nicht so sehr Adam mit den Folgen der Sünde für die Menschheit als vielmehr Jesus Christus und die Gnade, die durch ihn in Fülle über der Menschheit ausgegossen worden ist. Das mehrmals wiederholte »erst recht« in bezug auf Christus unterstreicht, daß die in ihm empfangene Gabe bei weitem die Sünde Adams und ihre Folgen für die Menschheit übertrifft, so daß Paulus zu der Schlußfolgerung kommen kann: »Wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden« (Rm 5,20). Deshalb rückt die Gegenüberstellung, die Paulus zwischen Adam und Christus entwirft, die Unterlegenheit des ersten Menschen gegenüber der Überlegenheit des zweiten ins Licht. Zwei Aspekte der Lehre von der Erbsünde

Andererseits weist Paulus eben deshalb auf die Sünde Adams hin, um das unermeßliche Geschenk der Gnade in Christus hervorzuheben. Man könnte sagen: Wäre es ihm nicht darum gegangen, die zentrale Bedeutung der Gnade aufzuzeigen, hätte er sich wohl nicht damit aufgehalten, die Sünde zu behandeln, die »durch einen einzigen Menschen in die Welt kam und durch die Sünde der Tod« (Rm 5,12). Wenn also im Glauben der Kirche das Bewußtsein für das Dogma der Erbsünde gereift ist, dann deshalb, weil es untrennbar mit jenem anderen Dogma verbunden ist, jenem des Heils und der Freiheit in Christus. Die Folge davon ist, daß wir von der Sünde Adams und der Menschheit niemals getrennt vom Heilszusammenhang sprechen sollten, das heißt ohne sie im Horizont der Rechtfertigung in Christus zu verstehen.

Aber als Menschen von heute müssen wir uns fragen: Was ist diese Erbsünde? Was lehrt der hl. Paulus, was lehrt die Kirche? Ist diese Lehre heute noch vertretbar? Viele denken, im Lichte der Geschichte der Evolution gäbe es keinen Platz mehr für die Lehre von einer ersten Sünde, die sich dann in der ganzen Geschichte der Menschheit ausbreiten würde. Und infolgedessen würde auch die Frage der Erlösung und des Erlösers ihr Fundament verlieren. Also gibt es die Erbsünde oder nicht? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zwei Aspekte der Lehre von der Erbsünde unterscheiden. Es gibt einen empirischen Aspekt, das heißt eine konkrete, sichtbare, ich würde sagen, eine für alle berührbare Wirklichkeit. Und einen dem Geheimnis verpflichteten Aspekt, der das ontologische Fundament dieser Tatsache betrifft. Die empirische Gegebenheit ist, daß es in unserem Sein einen Widerspruch gibt. Einerseits weiß jeder Mensch, daß er das Gute tun soll, und in seinem Innersten will er es ja auch tun. Aber zugleich spürt er auch den anderen Drang, das Gegenteil zu tun, den Weg des Egoismus, der Gewalt einzuschlagen, nur das zu tun, was ihm gefällt, wohl wissend, daß er so gegen das Gute, gegen Gott und gegen den Nächsten handelt. Der hl. Paulus hat in seinem Brief an die Römer diesen Widerspruch in unserem Sein so ausgedrückt: »Ich weiß, daß in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen. Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will« (7,18-19). Dieser innere Widerspruch unseres Seins ist keine Theorie. Jeder von uns erfährt ihn jeden Tag. Und vor allem sehen wir um uns herum das Überwiegen dieses zweiten Willens. Man braucht nur an die täglichen Nachrichten über Ungerechtigkeiten, Gewalt, Lüge, Unzucht zu denken. Wir sehen es jeden Tag: Es ist eine Tatsache.

Als Folge dieser Macht des Bösen in unseren Seelen hat sich in der Geschichte ein schmutziger Fluß entwickelt, der die Gestaltung der menschlichen Geschichte vergiftet. Der große französische Denker Blaise Pascal hat von einer »zweiten Natur« gesprochen, die unsere ursprüngliche, gute Natur überlagert. Diese »zweite Natur« läßt das Böse als für den Menschen normal erscheinen. So hat auch die übliche Formulierung: »das ist menschlich« eine doppelte Bedeutung. »Das ist menschlich« kann heißen: Dieser Mensch ist gut, er handelt wirklich so, wie ein Mensch handeln sollte. Aber »das ist menschlich« kann auch das Falsche bedeuten: Das Böse ist normal, es ist menschlich. Das Böse scheint zu einer zweiten Natur geworden zu sein. Dieser Widerspruch im menschlichen Sein, in unserer Geschichte muß die Sehnsucht nach Erlösung hervorrufen und tut dies auch heute. Und tatsächlich ist die Sehnsucht nach einer Veränderung der Welt und die Verheißung, daß eine Welt der Gerechtigkeit, des Friedens und des Guten entstehen werde, überall vorhanden: So sprechen zum Beispiel in der Politik alle von der Notwendigkeit, die Welt zu verändern, eine gerechtere Welt zu schaffen. Und genau das ist Ausdruck der Sehnsucht nach Befreiung von dem Widerspruch, den wir in uns selbst erleben.

Die Tatsache der Macht des Bösen im Herzen des Menschen und in der menschlichen Geschichte ist also unbestreitbar. Die Frage ist: Wie ist dieses Böse zu erklären? In der Geschichte des Denkens gibt es - wenn man vom christlichen Glauben absieht - hauptsächlich ein Erklärungsmodell mit verschiedenen Variationen. Dieses Modell besagt: Der Mensch selbst ist widersprüchlich, er trägt sowohl das Gute als auch das Böse in sich. In der Antike beinhaltete diese Idee die Meinung, es bestünden zwei gleichursprüngliche Prinzipien: ein gutes Prinzip und ein böses Prinzip. Dieser Dualismus wäre unüberwindbar; die beiden Prinzipien stünden auf derselben Ebene, weshalb es immer, seit dem Ursprung des Seins, diesen Widerspruch geben werde. Der Widerspruch unseres Seins würde also sozusagen nur die Gegensätzlichkeit der beiden göttlichen Prinzipien widerspiegeln. In dem atheistischen Evolutionsmodell der Welt kehrt dieselbe Sicht in neuer Form wieder. Auch wenn in dieser Auffassung die Sicht des Seins monistisch ist, nimmt man an, daß das Sein als solches von Anfang an das Böse und das Gute in sich trage. Der Mensch selbst sei nicht einfach gut, sondern offen für das Gute und das Böse. Das Böse sei ebenso ursprünglich wie das Gute. Und die menschliche Geschichte entfalte lediglich das in der ganzen vorhergehenden Evolution bereits vorhandene Modell. Was die Christen Erbsünde nennen, sei in Wirklichkeit nur das gemischte Wesen des Seins, eine Mischung von Gut und Böse, die nach dieser Theorie zum selben Stoff wie das Sein gehöre. Das ist eine von Grund auf verzweifelte Sicht: Wenn es sich so verhält, ist das Böse unbesiegbar. Am Ende zählt nur das Eigeninteresse. Und jeder Fortschritt wäre notwendigerweise mit einer Flut von Bösem zu bezahlen, und wer dem Fortschritt dienen möchte, müßte die Zahlung dieses Preises akzeptieren. Die Politik beruht im Grunde genau auf diesen Prämissen: Und die Auswirkungen davon sehen wir. Dieses moderne Denken kann am Ende nur Traurigkeit und Zynismus erzeugen.

Und so fragen wir uns erneut: Was sagt der vom hl. Paulus bezeugte Glaube? Als ersten Punkt bestätigt er die Tatsache des Widerstreits zwischen den zwei Naturen, die Tatsache dieses Bösen, dessen Schatten auf der ganzen Schöpfung lastet. Wir haben das 7. Kapitel des Briefes an die Römer gehört, wir könnten noch das 8. Kapitel hinzufügen. Das Böse existiert schlicht und einfach. Als Erklärung und im Gegensatz zu den Dualismen und Monismen, die wir uns kurz angesehen und trostlos gefunden haben, sagt uns der christliche Glaube: Es gibt zwei Geheimnisse des Lichts und ein Geheimnis der Nacht, das jedoch von den Geheimnissen des Lichts umhüllt ist. Das erste Geheimnis des Lichts ist dieses: Der Glaube sagt uns, daß es nicht zwei Prinzipien, ein gutes und ein böses, gibt, sondern nur ein einziges Prinzip, den Schöpfergott, und dieses Prinzip ist gut, nur gut, ohne jeglichen Schatten des Bösen. Und deshalb ist auch das Sein keine Mischung aus Gutem und Bösem. Das Sein als solches ist gut, und deshalb ist es gut zu sein, ist es gut zu leben. Das ist die Frohbotschaft des Glaubens: Es gibt nur einen guten Quell, den Schöpfer. Und deshalb ist es gut zu leben, deshalb ist es etwas Gutes, ein Mann, eine Frau zu sein, deshalb ist das Leben gut. Das Böse - ein Geheimnis der Dunkelheit Dann folgt ein Geheimnis der Finsternis, der Nacht. Das Böse stammt nicht aus der Quelle des Seins selbst, es ist nicht gleichursprünglich. Das Böse stammt aus einer geschaffenen Freiheit, aus einer mißbrauchten Freiheit.

Wie war das möglich, wie ist das geschehen? Das bleibt im Dunkeln. Das Böse ist nicht logisch. Allein Gott und das Gute sind logisch, sind Licht. Das Böse bleibt geheimnisvoll. Es wird in großen Bildern dargestellt, wie es das 3. Kapitel des Buches Genesis mit jener Vision von den zwei Bäumen, von der Schlange, vom Menschen, der zum Sünder wird, tut. Ein großartiges Bild, das uns rätseln läßt, aber das, was in sich unlogisch ist, nicht zu erklären vermag. Wir können es rätselnd ahnen, aber nicht erklären; und wir können es auch nicht wie eine Tatsache unter anderen erzählen, weil es sich um eine tiefere Wirklichkeit handelt. Es bleibt ein Geheimnis der Dunkelheit, der Nacht. Aber da kommt sogleich ein Geheimnis des Lichts hinzu. Das Böse kommt aus einer untergeordneten Quelle. Gott ist stärker mit seinem Licht. Und deshalb kann das Böse überwunden werden. Deshalb ist das Geschöpf, der Mensch heilbar. Die dualistischen Sichtweisen, auch der Monismus des Evolutionismus, können nicht sagen, daß der Mensch heilbar sei; wenn aber das Böse nur aus einer untergeordneten Quelle stammt, bleibt es wahr, daß der Mensch heilbar ist. Und das Buch der Weisheit sagt: »Heilbar sind die Generationen des Weltkreises« (Sg 1,14 Vulgata). Und schließlich als letzter Punkt: Der Mensch ist nicht nur heilbar, er ist tatsächlich geheilt. Gott hat die Heilung eingeleitet. Er ist selbst in die Geschichte eingetreten. Der ständigen Quelle des Bösen hat er eine Quelle des reinen Guten entgegengesetzt. Der gekreuzigte und auferstandene Christus, der neue Adam, setzt der schmutzigen Flut des Bösen eine Flut des Lichts entgegen. Und diese Flut ist in der Geschichte gegenwärtig: Wir sehen die Heiligen, die großen Heiligen, aber auch die demütigen Heiligen, die einfachen Gläubigen. Wir sehen, daß die Flut des Lichts, das von Christus kommt, gegenwärtig und stark ist.

Brüder und Schwestern, es ist Adventszeit. In der Sprache der Kirche hat das Wort Advent zwei Bedeutungen: Gegenwart und Erwartung. Gegenwart: Das Licht ist gegenwärtig, Christus ist der neue Adam, er ist bei uns und mitten unter uns. Schon erstrahlt das Licht, und wir müssen die Augen des Herzens öffnen, um das Licht zu sehen und uns in den Fluß des Lichts hineinzubegeben. Wir müssen vor allem dafür dankbar sein, daß Gott selbst als neue Quelle des Guten in die Geschichte eingetreten ist. Aber Advent heißt auch Erwartung. Die dunkle Nacht des Bösen ist noch stark. Und deshalb beten wir im Advent mit dem Volk des Alten Bundes: »Rorate caeli desuper - Tauet, ihr Himmel, von oben.« Und wir beten inständig: Komm, Jesus, komm! Gib dem Licht und dem Guten Kraft! Komm dorthin, wo Lüge, Unkenntnis von Gott, Gewalt und Ungerechtigkeit herrschen! Komm, Herr Jesus, verleihe dem Guten in der Welt Kraft und hilf uns, Träger deines Lichts, Friedensstifter und Zeugen der Wahrheit zu sein! Komm, Herr Jesus!

Das Thema der heutigen Katechese ist die Lehre des Apostels Paulus über das Spannungsverhältnis zwischen der Erbsünde und der Freiheit, die uns durch die Gnade geschenkt ist. Diese beiden Pole veranschaulicht Paulus schon im ersten Korinther-Brief und dann besonders im Römer-Brief durch die Gegenüberstellung von Adam und Christus. So wie die Sünde des ersten Menschen Konsequenzen für die gesamte Menschheit hat, so - und noch viel mehr - wird den vielen durch die Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus die Gabe der Gerechtigkeit zuteil. Die Sünde hat für Paulus - wie auch für die jüdischen Schriften seiner Zeit - zwei Dimensionen. Einerseits ist die Erbsünde eine Gegebenheit, der wir ausgeliefert sind: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt“ (Rm 5,12); andererseits trägt jeder Verantwortung für seine eigenen Sünden: „Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren“ (Rm 3,23). Die Befreiung von der Sünde Adams und von unseren eigenen Sünden durch Christus schenkt uns die Freiheit, ein neues Leben im Dienst des Herrn zu führen und uns auch unserer Mitmenschen und der ganzen Schöpfung anzunehmen, die bis zum heutigen Tag unter der Last der Sünde seufzen und darauf warten, in die Herrlichkeit der Kinder Gottes einzutreten (vgl. Rm 8,20-22).
* * *


Einen frohen Gruß richte ich an die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Besonders heiße ich heute die Pilgergruppe von Schönstatt willkommen. Das Paulusjahr und der eben begonnene Advent laden uns ein, daß wir Christus unsere Herzen öffnen. Er ist der einzige Weg der Befreiung, der uns vor der sonst unentrinnbaren Gefahr der Übermacht der Sünde und des Bösen bewahrt. Der Herr schenke uns allen den Geist der Hoffnung und der Liebe und begleite euch mit seinem Segen!



Mittwoch, 10. Dezember 2008: Der Hl. Paulus (16): Die Rolle der Sakramente

10128

Liebe Brüder und Schwestern!

Dem hl. Paulus folgend haben wir in der Katechese vom vergangenen Mittwoch zweierlei gesehen. Zunächst die Tatsache, daß unsere menschliche Geschichte von den Anfängen an durch den Mißbrauch der geschaffenen Freiheit, die sich vom göttlichen Willen emanzipieren will, verunreinigt ist. Aber so findet man nicht die wahre Freiheit, sondern widersetzt sich der Wahrheit und verfälscht folglich unsere menschlichen Wirklichkeiten. Verfälscht werden vor allem die grundlegenden Beziehungen: jene mit Gott, jene zwischen Mann und Frau, jene zwischen dem Menschen und der Erde. Wir haben gesagt, daß diese Verunreinigung unserer Geschichte sich auf ihr ganzes Gefüge ausbreitet und daß dieser ererbte Mangel sich vermehrt hat und jetzt überall sichtbar ist. Das war die erste Tatsache. Die zweite ist folgendes: Vom hl. Paulus haben wir gelernt, daß es einen neuen Anfang »in« der Geschichte gibt und einen neuen Anfang »der« Geschichte in Jesus Christus, in dem, der Mensch und Gott ist. Mit Jesus, der von Gott kommt, beginnt eine neue Geschichte, die durch sein Ja zu seinem Vater Gestalt erhält und daher nicht auf den Stolz einer falschen Emanzipation, sondern auf die Liebe und die Wahrheit gegründet ist.

Jetzt stellt sich aber die Frage: Wie können wir in diesen neuen Anfang, in diese neue Geschichte eintreten? Wie gelangt diese neue Geschichte zu mir? Mit der ersten verunreinigten Geschichte sind wir unvermeidlich durch unsere biologische Abstammung verbunden, da wir alle zum einen Leib der Menschheit gehören. Aber die Gemeinschaft mit Jesus, die neue Geburt, durch die wir teilhaben an der neuen Menschheit - wie verwirklicht sie sich? Wie kommt Jesus in mein Leben, in mein Sein? Die grundlegende Antwort des hl. Paulus und des ganzen Neuen Testaments ist: Er kommt durch den Heiligen Geist. Wenn die erste Geschichte sozusagen mit der Biologie beginnt, so beginnt die zweite im Heiligen Geist, dem Geist des auferstandenen Christus. Dieser Geist hat zu Pfingsten den Anfang der neuen Menschheit geschaffen, der neuen Gemeinschaft, die Kirche, den Leib Christi.

Wir müssen jedoch noch konkreter werden: Wie kann dieser Geist Christi, der Heilige Geist, zu meinem Geist werden? Die Antwort lautet, daß dies auf drei verschiedene Weisen geschieht, die eng miteinander verbunden sind. Die erste ist folgende: Der Geist Christi klopft an die Tür meines Herzens, berührt mich innerlich. Da aber die neue Menschheit ein wahrer Leib sein muß, da der Geist uns vereinen und wirklich eine Gemeinschaft schaffen soll, da es ein Kennzeichen des neuen Anfangs ist, die Spaltungen zu überwinden und die Zusammenführung der Zerstreuten zu bewirken, bedient sich dieser Geist Christi zweier Elemente sichtbarer Zusammenführung: des Wortes der Verkündigung und der Sakramente, besonders der Taufe und der Eucharistie. Im Brief an die Römer sagt der hl. Paulus: »Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: ›Jesus ist der Herr‹ und in deinem Herzen glaubst: ›Gott hat ihn von den Toten auferweckt‹, so wirst du gerettet werden« (10,9), wirst du also in die neue Geschichte eintreten, die Geschichte des Lebens und nicht des Todes ist. Dann fährt der hl. Paulus fort: »Wie sollen sie nun den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündigt? Wie soll aber jemand verkündigen, wenn er nicht gesandt ist? Darum heißt es in der Schrift: Wie sind die Freudenboten willkommen, die Gutes verkündigen!« (
Rm 10,14-15). In einem folgenden Abschnitt sagt er noch: »Der Glaube kommt vom Hören« (vgl. Rm 10,17). Der Glaube ist kein Produkt unseres Denkens, unserer Reflexion, er ist etwas Neues, das wir nicht erfinden, sondern nur als Geschenk, als eine von Gott hervorgebrachte Neuheit empfangen können. Und der Glaube kommt nicht vom Lesen, sondern vom Hören. Er ist nicht nur etwas Innerliches, sondern eine Beziehung zu Jemandem. Er setzt eine Begegnung mit der Verkündigung voraus, er setzt die Existenz des anderen voraus, der verkündet und Gemeinschaft schafft.

Und schließlich die Verkündigung: Derjenige, der verkündet, spricht nicht von sich aus, sondern ist gesandt. Er befindet sich in einer Sendungsstruktur, die mit Jesus beginnt, der vom Vater gesandt ist, auf die Apostel übergeht - das Wort Apostel bedeutet »Gesandte« - und sich im Dienst, in den von den Aposteln übertragenen Sendungen fortsetzt. Das neue Gefüge der Geschichte erscheint in dieser Struktur von Sendungen, in der wir letztlich Gott selbst sprechen hören; sein persönliches Wort, der Sohn, spricht zu uns, kommt zu uns. Jesus, das Wort, ist Fleisch geworden, um wirklich eine neue Menschheit zu schaffen. Deshalb wird das Wort der Verkündigung in der Taufe Sakrament, Neugeburt aus dem Wasser und dem Geist, wie der hl. Johannes sagen wird. Im 6. Kapitel des Briefes an die Römer spricht der hl. Paulus sehr tiefgehend von der Taufe. Wir haben den Text gehört. Aber vielleicht ist es nützlich, ihn zu wiederholen: »Wißt ihr denn nicht, daß wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben« (6,3-4).

In dieser Katechese kann ich natürlich nicht eine detaillierte Interpretation dieses nicht leichten Textes vornehmen. Ich möchte nur kurz drei Dinge anmerken. Als erstes: »Wir sind getauft worden« ist ein Passivum. Keiner kann sich selbst taufen, er braucht den anderen. Keiner kann sich selbst zum Christen machen. Christwerden ist ein passiver Vorgang. Nur von einem anderen können wir zu Christen gemacht werden. Und dieser »andere«, der uns zu Christen macht, uns das Geschenk des Glaubens macht, ist in erster Instanz die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche. Von der Kirche empfangen wir den Glauben, die Taufe. Ohne uns von dieser Gemeinschaft formen zu lassen, werden wir nicht zu Christen. Ein autonomes, selbstgemachtes Christentum ist ein Widerspruch in sich. In erster Instanz ist dieser andere die Gemeinschaft der Gläubigen, die Kirche, aber in zweiter Instanz handelt auch diese Gemeinschaft nicht von sich aus, entsprechend ihren eigenen Ideen und Wünschen. Auch die Gemeinschaft lebt in demselben passiven Prozeß: Allein Christus kann die Kirche aufbauen. Christus ist der wahre Spender der Sakramente. Das ist der erste Punkt: Keiner tauft sich selbst, keiner macht sich selbst zum Christen. Zu Christen »werden« wir.

Das Zweite ist: Die Taufe ist mehr als eine Waschung. Sie ist Tod und Auferstehung. Paulus selbst beschreibt sie im Brief an die Galater, wo er von der Wende seines Lebens spricht, die sich in der Begegnung mit dem auferstandenen Christus vollzogen hat, mit dem Wort: Ich bin gestorben. In jenem Augenblick beginnt wirklich ein neues Leben. Christwerden ist mehr als eine kosmetische Operation, die einer bereits mehr oder weniger vollständigen Existenz etwas Schönes hinzufügen würde. Es ist ein neuer Anfang, es ist Wiedergeburt: Tod und Auferstehung. Natürlich kommt in der Auferstehung all das wieder zum Vorschein, was im vorhergehenden Dasein gut war.

Das Dritte ist: Die Materie ist Teil des Sakraments. Das Christentum ist keine rein geistliche Wirklichkeit. Es schließt den Leib ein. Es schließt den Kosmos ein. Es weitet sich zur neuen Erde und zu den neuen Himmeln aus. Wir kehren zum letzten Wort des Textes des hl. Paulus zurück: So - sagt er - können »auch wir als neue Menschen leben«. Das ist ein Element der Gewissenserforschung für uns alle: als neue Menschen leben. Soweit zur Taufe.

Wir kommen jetzt zum Sakrament der Eucharistie. Ich habe schon in anderen Katechesen gezeigt, mit welch tiefer Ehrfurcht der hl. Paulus die Überlieferung über die Eucharistie, die er von den Zeugen der letzten Nacht (des Letzten Abendmahls) selbst empfangen hat, wörtlich weitergibt. Er gibt diese Worte als einen kostbaren Schatz weiter, der seiner Treue anvertraut ist. Und so hören wir in diesen Worten wirklich die Zeugen der letzten Nacht. Hören wir die Worte des Apostels: »Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!« (1Co 11,23-25). Das ist ein unerschöpflicher Text. Auch dazu in dieser Katechese nur zwei kurze Bemerkungen. Paulus überliefert die Worte des Herrn über den Kelch so: Dieser Kelch »ist der Neue Bund in meinem Blut«. In diesen Worten ist ein Hinweis auf zwei grundlegende Texte des Alten Testaments verborgen. Der erste Hinweis bezieht sich auf die Verheißung eines neuen Bundes im Buch des Propheten Jeremia. Jesus sagt den Jüngern und uns: Jetzt, in dieser Stunde verwirklicht sich mit mir und mit meinem Tod der neue Bund; von meinem Blut her beginnt in der Welt diese neue Geschichte der Menschheit. Aber in diesen Worten ist auch ein Hinweis auf den Bund des Sinai vorhanden, wo Mose gesagt hatte: »Das ist das Blut des Bundes, den der Herr aufgrund all dieser Worte mit euch geschlossen hat« (Ex 24,8). Dort handelte es sich um das Blut von Tieren. Das Blut der Tiere konnte nur Ausdruck eines Wunsches sein, Erwartung des wahren Opfers, des wahren Kultes. Mit dem Geschenk des Kelches schenkt uns der Herr das wahre Opfer. Das einzige wahre Opfer ist die Liebe des Sohnes. Mit dem Geschenk dieser Liebe, der ewigen Liebe, tritt die Welt in den neuen Bund ein. Die Eucharistie zu feiern bedeutet, daß Christus sich selbst uns gibt, seine Liebe, um uns ihm selbst gleichförmig zu machen und so die neue Welt zu schaffen.

Der zweite wichtige Aspekt der Lehre über die Eucharistie erscheint gleichfalls im Ersten Brief an die Korinther, wo der hl. Paulus sagt: »Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe am Leib Christi? Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot« (10,16-17). In diesen Worten erscheint in gleicher Weise der personale und der soziale Charakter des Sakraments der Eucharistie. Christus vereint sich persönlich mit einem jeden von uns, aber derselbe Christus vereint sich auch mit dem Mann und der Frau neben mir. Und das Brot ist für mich und auch für den anderen bestimmt. So vereint Christus uns alle mit sich und uns alle untereinander, einen mit dem anderen. Wir empfangen in der Kommunion Christus. Aber Christus vereint sich in gleicher Weise mit meinem Nächsten: Christus und der Nächste sind in der Eucharistie untrennbar. Und so sind wir alle ein Brot, ein Leib. Eine Eucharistie ohne Solidarität mit den anderen ist eine mißbrauchte Eucharistie. Und hier befinden wir uns an der Wurzel und gleichzeitig im Zentrum der Lehre über die Kirche als Leib Christi, als Leib des auferstandenen Christus.

Wir sehen auch den ganzen Realismus dieser Lehre. Christus schenkt uns in der Eucharistie seinen Leib und macht uns so zu seinem Leib, vereint uns mit seinem auferstandenen Leib. Wenn der Mensch normales Brot ißt, wird dieses Brot, wenn es durch den Verdauungsvorgang in Substanz für das menschliche Leben verwandelt wird, Teil seines Leibes. Aber in der heiligen Kommunion verwirklicht sich der umgekehrte Prozeß. Christus, der Herr, nimmt uns in sich auf, er führt uns in seinen glorreichen Leib ein, und so werden wir alle zusammen sein Leib. Wer nur das 12. Kapitel des Ersten Briefes an die Korinther oder nur das 12. Kapitel des Briefes an die Römer liest, könnte meinen, daß das Wort vom Leib Christi als Organismus der Charismen nur eine Art soziologisch-theologisches Gleichnis sei. Tatsächlich wurde dieses Gleichnis vom Leib mit seinen verschiedenen Gliedern, die eine Einheit bilden, in der römischen Politologie als Bild für den Staat gebraucht, um zu sagen, daß der Staat ein Organismus ist, in dem ein jeder seine Funktion hat und die Vielfalt und Verschiedenheit der Funktionen einen Leib bilden und jeder seinen Platz hat. Wenn man nur das 12. Kapitel des Ersten Briefes an die Korinther liest, könnte man meinen, daß sich Paulus darauf beschränke, dies lediglich auf die Kirche zu übertragen, daß es sich also auch hier nur um eine Soziologie der Kirche handle. Doch unter Berücksichtigung dieses 10. Kapitels sehen wir, daß der Realismus der Kirche ein ganz anderer ist, viel tiefer und wahrer als jener eines Staatsorganismus. Denn Christus gibt wirklich seinen Leib und macht uns zu seinem Leib. Wir werden wirklich mit dem auferstandenen Leib Christi vereint und so miteinander vereint. Die Kirche ist nicht nur eine Körperschaft wie der Staat, sie ist ein Leib. Sie ist nicht nur eine Organisation, sondern ein echter Organismus.

Zum Schluß noch ein kurzes Wort über das Sakrament der Ehe. Im Ersten Brief an die Korinther finden sich nur einige Andeutungen, während der Brief an die Epheser wirklich eine tiefe Theologie der Ehe entwickelt hat. Paulus definiert hier die Ehe als »großes Geheimnis«. Er sagt das in bezug »auf Christus und die Kirche« (Ep 5,32). In diesem Abschnitt ist eine Gegenseitigkeit festzustellen, die sich in einer vertikalen Dimension gestaltet. Die gegenseitige Unterordnung muß die Sprache der Liebe anwenden, die ihr Vorbild in der Liebe Christi zur Kirche hat. Diese Beziehung zwischen Christus und der Kirche macht den theologalen Aspekt der ehelichen Liebe vorrangig und erhöht die affektive Beziehung zwischen den Eheleuten. Eine echte Ehe wird gut gelebt werden, wenn sie sich im beständigen menschlichen und affektiven Wachsen darum bemüht, immer an die Wirksamkeit des Wortes und an die Bedeutung der Taufe gebunden zu bleiben. Christus hat die Kirche geheiligt, indem er sie durch die vom Wort begleitete Waschung mit Wasser gereinigt hat. Die Teilhabe am Leib und Blut des Herrn tut nichts anderes, als eine durch Gnade unauflöslich gemachte Verbindung nicht nur sichtbar zu machen, sondern zu stärken.

Und abschließend hören wir das Wort des Paulus an die Philipper: »Der Herr ist nahe« (Ph 4,5). Wir haben, wie mir scheint, verstanden, daß durch das Wort und durch die Sakramente uns der Herr in unserem ganzen Leben nahe ist. Bitten wir ihn, daß wir im Innersten unseres Seins immer mehr von dieser seiner Nähe berührt werden können, damit die Freude entstehe - jene Freude, die entsteht, wenn Jesus wirklich nahe ist!

Die Lehre des heiligen Paulus über Christus als unseren Erlöser führt uns zur Frage, wie die Erlösung zu uns gelangt. Das Heil ist Ergebnis des Zusammenwirkens der Gnade Gottes und unserer freien Zustimmung zu ihr durch unseren Glauben. Der Glaube, der in der Verkündigung des Wortes Christi gründet, bewirkt eine „neue Schöpfung“. Diese nimmt in der Gemeinschaft der Gläubigen Gestalt an. Paulus entfaltet hier eine sakramentale Sicht der Heilsordnung. In den Sakramenten kommt die grundlegende Dynamik der Wirksamkeit des Wortes Gottes zur Ausführung. Am Anfang steht die Taufe, die den glaubenden Menschen in die Kirche als den mystischen Leib Christi eingliedert und am Tod und an der Auferstehung des Herrn teilhaben läßt. So ist sie Beginn und Keim des neuen Lebens in Christus: Die Gläubigen haben gleichsam Christus angezogen, werden in Ihm zu einer „neuen Schöpfung“ und erneuert durch den Heiligen Geist. Der Getaufte ist dann gerufen, die Gemeinschaft mit Christus - und durch Ihn mit seinem Leib, der Kirche - im Sakrament der Eucharistie zu leben. Jesus Christus hat die Eucharistie am Vorabend seines Leidens und Sterbens eingesetzt zum Zeichen seiner Hingabe für uns. Er gibt sich selbst, damit wir zu einem einzigen Leib werden, indem wir an dem einen Brot teilhaben. Schließlich entwickelt Paulus die christliche Ehe als lebendiges Bild der Gemeinschaft zwischen Christus und seiner Kirche. Zum einen ist die Ehe ein Geschenk und Ausdruck, das Mann und Frau einander gehören. Zum anderen ist sie ein tiefes Geheimnis in bezug auf die Liebe Christi zur Kirche. Die Ehe gelingt, wenn sie mit dem wirksamen Wort Gottes und der Bedeutung der Taufe verbunden bleibt und wenn ihr Bund durch die Teilhabe am Leib und am Blut des Herrn gefestigt wird.
* * *


Gerne grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Gottes Wort ist wirkmächtig. Wir wollen seine Botschaft in unsere Herzen aufnehmen und als Kinder Gottes mitwirken, daß sein Heil zu den Menschen gelangt. Gottes Segen begleite euch durch diese Zeit des Advents.



Mittwoch, 17. Dezember 2008

17128

Liebe Brüder und Schwestern!

Genau heute beginnen die Tage des Advents, die uns unmittelbar auf das Geburtsfest des Herrn vorbereiten: Wir stehen in der Weihnachtsnovene, die in vielen christlichen Gemeinden mit Gottesdiensten gefeiert wird, die reich an biblischen Texten und alle darauf ausgerichtet sind, die Erwartung der Geburt des Erlösers zu stärken. Die ganze Kirche konzentriert in der Tat den Blick ihres Glaubens auf dieses nun nahe Fest, indem sie sich wie jedes Jahr darauf vorbereitet, sich dem Freudengesang der Engel anzuschließen, die inmitten der Nacht den Hirten das außerordentliche Ereignis der Geburt des Erlösers verkündigen und sie einladen werden, sich in die Grotte von Betlehem zu begeben. Dort liegt der Emmanuel, der Schöpfer, der sich zum Geschöpf gemacht hat, in Windeln gewickelt und in eine armselige Futterkrippe gelegt (vgl.
Lc 2,13-14).

Aufgrund seiner charakteristischen Atmosphäre ist Weihnachten ein universales Fest. Auch wer sich nicht als gläubig bekennt, kann an diesem alljährlichen christlichen Feiertag etwas Außerordentliches und Transzendentes, etwas Inniges wahrnehmen, das zum Herzen spricht. Es ist das Fest, welches das Geschenk des Lebens besingt. Die Geburt eines Kindes sollte immer ein Ereignis sein, das Freude bereitet; die Umarmung eines Neugeborenen weckt normalerweise Gefühle der fürsorglichen Aufmerksamkeit, der Rührung und der Zärtlichkeit. Weihnachten ist die Begegnung mit einem Neugeborenen, das in einer armseligen Grotte weint. Wie könnte man bei seinem Anblick in der Krippe nicht an die zahlreichen Kinder denken, die noch heute in vielen Gegenden der Welt in großer Armut das Licht der Welt erblicken? Wie könnte man nicht an die Neugeborenen denken, die nicht angenommen, die abgelehnt werden, an jene, denen es wegen mangelnder Pflege und Aufmerksamkeit nicht gelingt zu überleben? Wie könnte man nicht auch an die Familien denken, die sich sehr über ein Kind freuen würden und diese ihre Erwartung nicht erfüllt sehen? Unter dem Druck eines hedonistischen Konsumdenkens läuft Weihnachten leider Gefahr, seine geistliche Bedeutung zu verlieren, um auf einen rein kommerziellen Anlaß für den Einkauf und Austausch von Geschenken reduziert zu werden! In Wirklichkeit aber können die Schwierigkeiten, die Unsicherheiten und selbst die Wirtschaftskrise, die in diesen Monaten so viele Familien erleben und die die ganze Menschheit betrifft, ein Ansporn sein, um die Wärme der Einfachheit, der Freundschaft und der Solidarität wiederzuentdecken, Werte, die bezeichnend für Weihnachten sind. Wenn es der konsumistischen und materialistischen Verkrustungen entkleidet ist, kann Weihnachten so zu einer Gelegenheit werden, die Botschaft der Hoffnung, die aus dem Geheimnis der Geburt Christi hervorströmt, als persönliches Geschenk anzunehmen.

All dies genügt jedoch nicht, um den Wert des Festes, auf das wir uns vorbereiten, in seiner Fülle zu erfassen. Wir wissen, daß es das zentrale Ereignis der Geschichte feiert: die Fleischwerdung des göttlichen Wortes zur Erlösung der Menschheit. Der hl. Leo der Große ruft in einer seiner zahlreichen Weihnachtspredigten aus: »Meine Lieben, laßt uns frohlocken im Herrn, laßt uns im Geiste vor Freude jauchzen; denn erschienen ist der Tag, der uns neue Erlösung bringt, auf den die alten Zeiten hinwiesen und der uns ewiges Glück beschert! Kehrt doch alljährlich das Geheimnis unseres Heiles wieder, jenes Geheimnis, das von Anfang an verheißen wurde, am Ende der festgesetzten Zeit in Erfüllung ging und endlos dauern soll« (Sermo XXII). Auf diese grundlegende Wahrheit kommt der hl. Paulus in seinen Briefen mehrmals zurück. An die Galater schreibt er zum Beispiel: »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit … wir die Sohnschaft erlangen« (4,4). Im Brief an die Römer verdeutlicht er die logischen und anspruchsvollen Folgen dieses heilbringenden Ereignisses: »Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden« (8,17). Es ist aber vor allem der hl. Johannes, der im Prolog des vierten Evangeliums tiefgründig über das Geheimnis der Fleischwerdung nachdenkt. Und deshalb ist der Prolog seit ältesten Zeiten Teil der Weihnachtsliturgie: Denn in ihm findet sich der echteste Ausdruck und die tiefste Synthese dieses Festes und des Grundes seiner Freude. Der hl. Johannes schreibt: »Et Verbum caro factum est et habitavit in nobis / Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Jn 1,14).

Zu Weihnachten beschränken wir uns also nicht darauf, der Geburt einer großen Persönlichkeit zu gedenken; wir feiern nicht einfach und abstrakt das Geheimnis der Geburt des Menschen oder das Geheimnis des Lebens im allgemeinen; noch viel weniger feiern wir bloß den Anfang einer neuen Jahreszeit. Zu Weihnachten gedenken wir etwas sehr Konkretem und Wichtigem für die Menschen, etwas Wesentlichem für den christlichen Glauben, einer Wahrheit, die der hl. Johannes in diesen knappen Worten zusammenfaßt: »Das Wort ist Fleisch geworden.« Es handelt sich um ein historisches Ereignis, das der Evangelist Lukas in einen ganz bestimmten Kontext hineinstellt: in jene Tage, als Kaiser Augustus den Befehl zur Eintragung aller Bewohner des Reiches in Steuerlisten erließ; damals war Quirinus schon Statthalter von Syrien (vgl. Lc 2,1-7). In einer historisch datierten Nacht geschah also das Heilsereignis, das Israel seit Jahrhunderten erwartete. Im Dunkel der Nacht von Betlehem entzündete sich wirklich ein großes Licht: Der Schöpfer des Universums hat Fleisch angenommen und sich untrennbar mit der menschlichen Natur verbunden, um so wirklich »Gott von Gott, Licht vom Licht« und gleichzeitig Mensch, wahrer Mensch zu sein. Das, was Johannes auf griechisch »ho logos« nennt - auf lateinisch mit »Verbum« und auf Deutsch mit »das Wort« übersetzt -, bedeutet auch »der Sinn«. Wir könnten also den Ausdruck des Johannes so verstehen: Der »ewige Sinn der Welt« hat sich für unsere Sinne und unseren Verstand berührbar gemacht: Jetzt können wir ihn anfassen und betrachten (vgl. 1Jn 1,1). Der »Sinn«, der Fleisch geworden ist, ist nicht einfach eine allgemeine, in der Welt angesiedelte Idee; er ist ein »Wort«, das an uns gerichtet ist. Der Logos kennt uns, ruft uns, führt uns. Er ist kein universales Gesetz, innerhalb dessen wir dann eine gewisse Rolle erfüllen, sondern er ist eine Person, die an jeder einzelnen Person Interesse hat: Es ist der Sohn des lebendigen Gottes, der in Betlehem Mensch geworden ist.

Vielen Menschen und in gewisser Weise uns allen scheint dies zu schön, um wahr zu sein. In der Tat, hier wird uns bestätigt: Ja, es gibt einen Sinn, und der Sinn ist kein ohnmächtiger Protest gegen das Absurde. Der Sinn hat Macht: Er ist Gott. Ein gütiger Gott, der nicht mit irgendeinem herausragenden und fernen Wesen zu verwechseln ist, zu dem zu gelangen uns nie möglich wäre, sondern ein Gott, der unser Nächster geworden und uns sehr nahe ist, der für jeden von uns Zeit hat und gekommen ist, um bei uns zu bleiben. Da fragt man sich spontan: »Kann so etwas möglich sein? Ist es Gottes würdig, Kind zu werden?« Um zu versuchen, das Herz für diese Wahrheit zu öffnen, die das ganze menschliche Dasein erhellt, ist es notwendig, den Verstand zu beugen und die Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens anzuerkennen. In der Grotte von Betlehem zeigt sich Gott uns als demütiges »Kind«, um unseren Hochmut zu besiegen. Vielleicht würden wir uns angesichts der Macht, angesichts der Weisheit leichter ergeben; aber er will nicht unsere Kapitulation; er appelliert vielmehr an unser Herz und an unsere freie Entscheidung, seine Liebe anzunehmen. Er ist klein geworden, um uns von jener menschlichen Anmaßung von Größe zu befreien, die dem Hochmut entspringt; er hat aus freien Stücken Fleisch angenommen, um uns wahrhaft frei zu machen, frei, um ihn zu lieben.

Liebe Brüder und Schwestern, Weihnachten ist eine bevorzugte Gelegenheit, um über den Sinn und Wert unseres Daseins nachzudenken. Das Herannahen dieses Hochfestes hilft uns, einerseits über die Dramatik der Geschichte nachzudenken, in der die durch die Sünde verletzten Menschen ständig auf der Suche nach dem Glück und nach einem befriedigenden Sinn des Lebens und Sterbens sind; andererseits ermahnt es uns, über die barmherzige Güte Gottes nachzudenken, der dem Menschen entgegengekommen ist, um ihm direkt die rettende Wahrheit mitzuteilen und ihn an seiner Freundschaft und an seinem Leben teilhaben zu lassen. Bereiten wir uns daher in Demut und Einfachheit auf Weihnachten vor, indem wir uns darauf einstellen, das Licht, die Freude und den Frieden geschenkt zu bekommen, die von diesem Geheimnis ausstrahlen. Nehmen wir die Geburt Christi als ein Ereignis an, das heute unser Dasein zu erneuern vermag. Die Begegnung mit dem Jesuskind mache uns zu Menschen, die nicht nur an sich selbst denken, sondern sich den Erwartungen und Bedürfnissen der Brüder und Schwestern öffnen. Auf diese Weise werden auch wir zu Zeugen des Lichts, das Weihnachten auf die Menschheit des dritten Jahrtausends ausstrahlt. Bitten wir die allerseligste Jungfrau Maria, Tabernakel des fleischgewordenen Wortes, und den hl. Josef, den stillen Zeugen der Heilsereignisse, uns die Gefühle zu vermitteln, die sie hegten, während sie die Geburt Jesu erwarteten, so daß wir uns darauf vorbereiten können, das kommende Weihnachtsfest auf heilige Weise zu feiern, in der Freude des Glaubens und beseelt vom Bemühen um eine aufrichtige Umkehr.

Mit dem heutigen Tag treten wir in den zweiten Teil des Advents ein, der durch ein intensiveres Warten auf das Fest der Geburt Christi gekennzeichnet ist. Wir singen während dieser Zeit im Abendgebet der Kirche die O-Antiphonen, die uns verschiedene Merkmale des kommenden Erlösers vor Augen führen. Mit der Liturgie der Kirche wollen wir uns in diesen Tagen auf Weihnachten einstimmen und uns dabei fragen, was dieses Ereignis bedeutet. Zunächst einmal ist Weihnachten ein Fest, das heute überall auf der Welt, nicht nur in christlichen Gegenden, gefeiert wird. An Weihnachten begegnen wir einem neugeborenen Kind; es ist ein Fest, welches das Geschenk des Lebens besingt. Für uns Christen ist Weihnachten mehr: es ist das zentrale Ereignis der Geschichte, die Menschwerdung des Ewigen Wortes Gottes für die Erlösung der Menschheit. Der Schöpfer des Alls hat Fleisch angenommen, er hat sich unlöslich mit der menschlichen Natur vereint. Weil wir mit unserem Denken seine Größe nicht fassen können, hat er sich aus Liebe klein gemacht, daß wir ihn lieben können. Gott ist nicht fern, sondern einem jeden von uns nahe. Über die Dürftigkeit und Kälte einer von der Sünde verwundeten Menschheit hinaus offenbart das göttliche Kind in der Krippe die erbarmende Güte des Herrn. Er kommt uns entgegen, um uns die heilbringende Wahrheit zu schenken und uns teilhaben zu lassen an seiner Freundschaft und seinem Leben. Als so Beschenkte werden wir frei, auch den Erwartungen und Bedürfnissen unserer Mitmenschen zu Hilfe zu kommen. Christus schenkt uns sein Licht, und wir dürfen Zeugen des Lichtes sein, mit welchem die Heilige Nacht die Menschen erleuchtet.
* * *


Von Herzen grüße ich die Pilger und Besucher deutscher Sprache. Ein besonderes Willkommen sage ich den Gläubigen aus dem Bistum Speyer, die mithelfen, daß hier in Rom eine Kirche zu Ehren der heiligen Edith Stein errichtet wird. Herzlichen Dank! Für das kommende Christfest wünsche ich euch allen den Frieden Gottes, den die Engel den Hirten verkündet haben, das Frohwerden von innen her, das erlöst und das allen äußeren Gaben erst ihren Sinn, ihren rechten Zusammenhang gewährt. Gesegnete Weihnacht euch allen!






Generalaudienzen 2005-2013 31208