Generalaudienzen 2005-2013 16099

Mittwoch, 16. September 2009: Symeon der Neue Theologe

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich mich bei der Gestalt eines Mönchs der Ostkirche, Symeon dem Neuen Theologen, aufhalten, dessen Schriften einen beachtlichen Einfluß auf die Theologie und Spiritualität des Ostens ausgeübt haben, und dies besonders hinsichtlich der Erfahrung der mystischen Vereinigung mit Gott. Symeon der Neue Theologe wurde 949 in Galatea in Paphlagonien (Kleinasien) geboren und stammte aus einer adeligen Familie der Provinz. Bereits in jungen Jahren übersiedelte er nach Konstantinopel, um seine Studien aufzunehmen und in den Dienst des Kaisers einzutreten. Doch fühlte er sich zur weltlichen Laufbahn, die sich ihm anbot, wenig hingezogen und begab sich unter dem Einfluß der inneren Erleuchtungen, die er erfuhr, auf die Suche nach einem Menschen, der ihm in dem von Zweifeln und Ratlosigkeit erfüllten Augenblick, den er durchlebte, Orientierung geben und ihm helfen würde, auf dem Weg des Einswerdens mit Gott voranzuschreiten. Er fand diesen geistlichen Begleiter in Symeon dem Frommen (Eulabes), einem einfachen Mönch des Studiosklosters in Konstantinopel, der ihm den Traktat »Über das geistliche Gesetz« von Markos dem Mönch zu lesen gab. In diesem Text fand Symeon der Neue Theologe eine Lehre, die ihn sehr beeindruckte: »Wenn du geistliche Heilung suchst« - so las er dort- »achte auf dein Gewissen. Tu alles, was es dir sagt, und du wirst finden, was dir zum Nutzen gereicht«. Von jenem Augenblick an - so berichtet er selbst - ging er niemals schlafen, ohne sich zu fragen, ob das Gewissen ihm nicht etwas vorzuwerfen habe.

Symeon trat ins Kloster der Studiten ein, wo ihm allerdings seine mystischen Erfahrungen und seine außergewöhnliche Verehrung für seinen geistlichen Begleiter Schwierigkeiten verursachten. Er übersiedelte in das kleine Kloster des Heiligen Mamas, das sich gleichfalls in Konstantinopel befand und dessen Vorsteher (»Hegumenos«) er nach drei Jahren wurde. Dort vertiefte er sich intensiv in die Suche nach der geistlichen Vereinigung mit Christus, die ihm großes Ansehen einbrachte. Interessant ist, daß man ihm den Beinamen »Neuer Theologe« gegeben hat, obwohl die Tradition den Titel »Theologe« zwei Persönlichkeiten vorbehielt: dem Evangelisten Johannes und Gregor von Nazianz. Symeon erlitt Anfeindungen und wurde verbannt, aber dann von Patriarch Sergios II. von Konstantinopel rehabilitiert.

Den letzten Abschnitt seines Lebens verbrachte Symeon der Neue Theologe im Kloster der Heiligen Marina, wo er einen Großteil seiner Werke schrieb, während er wegen seiner Lehren und seiner Wunder immer berühmter wurde. Er starb am 12. März 1022.

Der bekannteste seiner Schüler, Niketas Stethatos, der die Schriften Symeons sammelte und abschrieb, besorgte deren posthume Ausgabe und verfaßte später die Biographie. Das Werk des Symeon umfaßt neun Bände, die sich in »theologische, gnostische und praktische Kapitel«, drei Bände mit »Katechesen für Mönche«, zwei Bände mit »theologischen und ethischen Traktaten« und einen Band mit »Hymnen« aufteilen. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen »Briefe«. Alle diese Werke haben bis in unsere Tage einen bedeutenden Platz in der monastischen Tradition der Ostkirche gefunden.

Symeon konzentriert seine Betrachtung auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Getauften und auf das Bewußtsein, das sie von dieser geistlichen Wirklichkeit haben sollen. Das christliche Leben - so unterstreicht er - ist eine tiefe und persönliche Gemeinschaft mit Gott, die göttliche Gnade erleuchtet das Herz des Gläubigen und führt ihn zur mystischen Schau des Herrn. Auf dieser Linie besteht Symeon der Neue Theologe darauf, daß die wahre Kenntnis Gottes nicht von den Büchern kommt, sondern von der geistlichen Erfahrung, vom geistlichen Leben. Die Kenntnis Gottes entsteht aus einem Weg der inneren Läuterung, die mit der Umkehr des Herzens beginnt, durch die Kraft des Glaubens und der Liebe; sie verläuft über eine tiefe Reue und aufrichtigen Schmerz über die eigenen Sünden, um zur Vereinigung mit Christus, Quell der Freude und des Friedens, zu gelangen, erfüllt vom Licht seiner Gegenwart in uns. Für Symeon stellt diese Erfahrung der göttlichen Gnade kein außergewöhnliches Geschenk für einige wenige Mystiker dar, sondern ist die Frucht der Taufe im Leben jedes ernsthaft bemühten Gläubigen.

Ein Punkt, liebe Brüder und Schwestern, über den man nachdenken sollte! Dieser heilige Mönch der Ostkirche ruft uns alle zu einer Aufmerksamkeit gegenüber dem geistlichen Leben, der verborgenen Gegenwart Gottes in uns, der Aufrichtigkeit des Gewissens und der Läuterung, der Umkehr des Herzens auf, so daß der Heilige Geist in uns wirklich gegenwärtig werde und uns leite. Wenn wir uns nämlich zu Recht um unser leibliches, menschliches und intellektuelles Wachstum kümmern, so ist es noch wichtiger, das innere Wachstum nicht zu vernachlässigen, das in der Kenntnis Gottes besteht, in der wahren Kenntnis, die nicht nur aus den Büchern gelernt wird, sondern innerlich und in der Gemeinschaft mit Gott, um in jedem Augenblick und in jeder Situation seine Hilfe zu erfahren. Das ist im Grund, was Symeon beschreibt, wenn er von seiner eigenen mystischen Erfahrung erzählt. Schon als junger Mann, noch vor seinem Eintritt ins Kloster, hatte er eines Nachts, als er seine Gebete ausdehnte und Gott um Hilfe im Kampf gegen die Versuchungen anrief, das Zimmer von hellem Licht erfüllt gesehen. Als er dann ins Kloster eintrat, wurden ihm geistliche Bücher geboten, anhand derer er sich bilden sollte, doch deren Lektüre brachte ihm nicht den Frieden, den er suchte. Er fühlte sich - so berichtet er - wie ein armseliger kleiner Vogel ohne Flügel. Demütig nahm er diese Situation an, ohne aufzubegehren, und da begannen sich dann von neuem die Lichtvisionen zu mehren. Da er sich deren Echtheit versichern wollte, wandte sich Symeon direkt an Christus und fragte: »Herr, bist wirklich du selbst hier?« Im Herzen fühlte er die bestätigende Antwort widerhallen und fühlte sich dadurch äußerst getröstet. »Das, Herr« - wird er später schreiben - »war das erste Mal, daß du mich, den verlorenen Sohn, für würdig befunden hast, deine Stimme zu hören.« Dennoch ließ ihn auch diese Offenbarung nicht völlig ruhig werden. Vielmehr fragte er sich, ob jene Erfahrung nicht für eine Illusion gehalten werden sollte. Eines Tages ereignete sich endlich etwas, das für seine mystische Erfahrung grundlegend war. Er begann sich als »ein Armer« zu fühlen, »der die Brüder liebt« (»ptochós philádelphos«). Er sah um sich herum so viele Feinde, die ihm Fallen stellen und Böses antun wollten, aber trotzdem spürte er in sich ein intensives Gefühl der Liebe zu ihnen. Wie sollte man das erklären? Offensichtlich konnte eine solche Liebe nicht von ihm selbst kommen, sondern mußte einer anderen Quelle entspringen. Symeon begriff, daß sie von Christus stammte, der in ihm gegenwärtig war, und da wurde ihm alles klar: Er hatte den sicheren Beweis dafür, daß die Quelle der Liebe in ihm die Gegenwart Christi war, und in sich eine Liebe zu haben, die über meine persönlichen Intentionen hinausgeht, weist darauf hin, daß sich die Quelle der Liebe in mir befindet. So können wir einerseits sagen: Ohne eine gewisse Öffnung für die Liebe tritt Christus nicht in uns ein, anderseits aber wird Christus zur Quelle der Liebe und verwandelt uns. Liebe Freunde, diese Erfahrung ist für uns heute äußerst bedeutsam, um die Kriterien zu finden, die uns anzeigen, ob wir wirklich Gott nahe sind, ob Gott in uns zugegen ist und lebt. Gottes Liebe wächst in uns, wenn wir durch das Gebet und das Hören seines Wortes, durch die Öffnung des Herzens mit ihm vereint bleiben. Allein die göttliche Liebe läßt uns unser Herz für die anderen öffnen und macht uns für ihre Bedürfnisse empfänglich, weil sie uns alle als Brüder und Schwestern betrachten läßt und uns dazu anhält, auf den Haß mit Liebe und auf die Beleidigung mit Vergebung zu antworten.

Wenn wir über diese Gestalt Symeons des Neuen Theologen nachdenken, können wir noch ein weiteres Element seiner Spiritualität feststellen. Auf dem von ihm vorgeschlagenen und durchlaufenen Weg asketischen Lebens mißt die starke Aufmerksamkeit und Konzentration des Mönchs auf die innere Erfahrung dem Spiritual des Klosters eine wesentliche Bedeutung bei. Wie wir gesagt haben, hatte der junge Symeon selbst einen geistlichen Begleiter gefunden, der ihm sehr helfen sollte und an den er größte Achtung bewahrte, so sehr, daß er ihn nach seinem Tod sogar öffentlich verehrte. Und ich würde sagen, daß für alle - Priester, geweihte Personen, Laien und besonders für die jungen Menschen - die Aufforderung gültig bleibt, auf den Rat eines guten geistlichen Begleiters zurückzugreifen, der fähig ist, jeden bei der tiefgehenden Erkenntnis seiner selbst zu begleiten und ihn zur Vereinigung mit dem Herrn zu führen, damit sich sein Leben immer mehr nach dem Evangelium richtet. Auf unserem Weg zum Herrn brauchen wir immer eine Führung, einen Dialog. Mit unseren Überlegungen allein können wir das nicht schaffen. Und das ist auch der Sinn der Kirchlichkeit unseres Glaubens, nämlich diese Führung zu finden.

Abschließend können wir die Lehre und die mystische Erfahrung Symeons des Neuen Theologen so zusammenfassen: Er ließ sich bei seiner unablässigen Suche nach Gott - auch in den Schwierigkeiten, auf die er stieß, und bei der Kritik, deren Ziel er war - letzten Endes immer von der Liebe leiten. Er verstand es, das, was er seine Mönche lehrte, selbst zu leben, nämlich daß das Wesentliche eines jeden Jüngers Jesu darin besteht, in der Liebe zu wachsen, und so wachsen wir in der Erkenntnis Christi selbst, um mit dem hl. Paulus sagen zu können: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (
Ga 2 Ga 20).

In dieser Katechese möchte ich Symeon den Neuen Theologen vorstellen, einen bedeutenden geistlichen Schriftsteller und Mystiker der Ostkirche. Symeon wurde 949 in Kleinasien geboren und kam zum Studium und zum Dienst am Kaiserhof nach Konstantinopel. Dort trat er in das bekannte Studioskloster ein. Später lebte und wirkte er in den Klöstern Sankt Mamas und Sankt Marina, wo er im Jahr 1022 starb. Seine zahlreichen Schriften hatten großen Einfluß auf die Theologie und die Spiritualität des Ostens. Für Symeon ist das christliche Leben in erster Linie eine tiefe persönliche Gemeinschaft mit Gott, dessen Gnade das Herz des Menschen erleuchtet und zur inneren Begegnung, zum inneren Sehen Gottes führt. Diese Erkenntnis Gottes und Christi lernt der Getaufte nicht aus Büchern, sondern auf seinem geistlichen Weg, indem geistliche Erfahrung wächst, die ihn auf dem Weg der inneren Begegnung mit Gott, der Vereinigung mit ihm durch die Öffnung des Herzens und durch die Reinigung des Gewissens durchschreiten läßt. Eine Entscheidende Hilfe für das geistliche Wachstum ist zum einen das Hinhören auf das Gewissen. Ausgangspunkt seines neuen Weges war, daß er in einem Buch las: »Wenn du geheilt werden willst, achte auf dein Gewissen« - und daß er von da an niemals schlafen ging, ohne vorher sein Gewissen befragt zu haben, und von da an unter den Augen Gottes lebte. Und damit Gewissen nicht Selbstbespiegelung wird, ist das zweite der Beistand eines erfahrenen geistlichen Begleiters, das Erleben und Erfahren des Gewissens in der Gemeinschaft der Kirche. Die schönste Frucht und der Garant für die Authentizität des Wirkens Gottes im Inneren war für Symeon eine tief empfundene Liebe zu seinen Brüdern, die auch in Zeiten der Anfeindungen und Verfolgung nicht nachließ und ihm zur Gewißheit wurde, daß Christus in ihm da ist. Denn nur von ihm kann Liebe kommen, solche Liebe als Zeichen des Einsseins mit Christus.
* * *


Von Herzen grüße ich die vielen Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich die Vertreter der europäischen Priesterräte willkommen. Mit Blick auf den Mönch Symeon stellt sich uns die Frage, ob auch wir uns ernsthaft darum bemühen, auf unser Gewissen zu hören, Gott im Herzen zu begegnen und nicht nur äußerlich, sondern in unserem geistlichen Leben, in unserem Leben mit Gott zu wachsen. Wir haben alle in der Taufe und in der Firmung den Heiligen Geist empfangen, und was wir heute Mystik nennen, ist für Symeon den Neuen Theologen einfach Frucht des wirklichen Lebens aus Taufe und Firmung. So sollten wir uns von ihm anregen lassen, die Gnade der Taufe und der Firmung in uns lebendiger wirksam werden zu lassen, indem wir vor allem auf Gottes Wort hören und uns von seiner Liebe führen lassen. Euch allen wünsche ich einen gesegneten Aufenthalt in Rom.



Mittwoch, 23. September 2009: Hl. Anselm von Canterbury

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Liebe Brüder und Schwestern!

Auf dem Aventinhügel in Rom befindet sich die Benediktinerabtei »Sant’Anselmo«. Als Sitz eines Instituts für höhere Studien und des Abt-Primas der benediktinischen Konföderation ist die Abtei ein Ort, der in sich das Gebet, das Studium und die Leitung vereint, also die drei Aktivitäten, die das Leben des Heiligen kennzeichnen, dem sie gewidmet ist: Anselm von Aosta, dessen 900. Todestag in diesem Jahr begangen wird. Die vielfältigen Initiativen, die zu diesem frohen Anlaß besonders von der Diözese Aosta gefördert werden, haben deutlich gemacht, welches Interesse dieser mittelalterliche Denker noch immer weckt. Er ist auch als Anselm von Bec und Anselm von Canterbury bekannt: das waren die Städte, mit denen er in Beziehung stand. Wer ist diese Persönlichkeit, mit der sich drei voneinander weit entfernte und in drei verschiedenen Nationen - Italien, Frankreich, England - gelegene Städte besonders verbunden fühlen? Ein Mönch von intensivem geistlichen Leben, ein herausragender Erzieher der Jugend, ein Theologe mit einer außerordentlichen spekulativen Begabung, ein weiser Mann der Leitung und ein unnachgiebiger Verteidiger der »libertas Ecclesiae«, der Freiheit der Kirche. Anselm ist eine der herausragenden Persönlichkeiten des Mittelalters, die es verstand, dank einer tiefen mystischen Erfahrung, die stets sein Denken und Handeln leitete, alle diese Eigenschaften in Einklang zu bringen.

Der hl. Anselm wurde im Jahr 1033 (oder Anfang 1034) in Aosta als erstgeborener Sohn einer Adelsfamilie geboren. Der Vater war ein grobschlächtiger Mann, der sich den Vergnügungen des Lebens hingab und sein Vermögen verschwendete; die Mutter hingegen war eine Frau von gehobenen Sitten und tiefer Religiosität (vgl. Eadmer, Vita s. Anselmi, PL 159,
Col 49). Sie war es, die sich um die erste menschliche und religiöse Bildung des Sohnes kümmerte, den sie dann den Benediktinern eines Priorats in Aosta anvertraute. Anselm, der sich - wie sein Biograph erzählt - als Kind vorstellte, daß der liebe Gott zwischen den hohen und verschneiten Alpengipfeln wohnte, träumte eines Nachts, in diesen prächtigen Palast von Gott selbst eingeladen worden zu sein, der sich lange und freundlich mit ihm unterhielt und ihm schließlich »ein strahlendweißes Brot« zum Essen anbot (ebd. , col. Col 51). Dieser Traum hinterließ in ihm die Überzeugung, zur Erfüllung einer hohen Sendung berufen zu sein. Im Alter von 15 Jahren bat er um die Aufnahme in den Benediktinerorden, der Vater jedoch widersetzte sich dem mit seiner ganzen Autorität und gab selbst dann nicht nach, als sich der schwer erkrankte Sohn dem Tod nahe fühlte und um das Ordenskleid als letzten Trost flehte. Nach seiner Genesung und dem vorzeitigen Tod der Mutter machte er eine Zeit moralischer Ausschweifungen durch: Er vernachlässigte das Studium und wurde, überwältigt von irdischen Leidenschaften, taub für den Ruf Gottes. Er verließ das Elternhaus und zog auf der Suche nach neuen Erfahrungen durch Frankreich. Nach drei Jahren erreichte er die Normandie und begab sich in die Benediktinerabtei von Bec, angezogen vom Ruf des Priors des Klosters, Lanfrank von Pavia. Es war für ihn eine von der Vorsehung bestimmte und für sein weiteres Leben entscheidende Begegnung. Unter der Leitung von Lanfrank nahm Anselm in der Tat mit Nachdruck die Studien wieder auf und wurde in kurzer Zeit nicht nur zum Lieblingsschüler, sondern auch zum Vertrauten des Lehrers. Seine Berufung zum monastischen Leben entbrannte von neuem, und nach sorgfältiger Abwägung trat er im Alter von 27 Jahren in den Orden ein und wurde zum Priester geweiht. Die Askese und das Studium eröffneten ihm neue Horizonte und ließen ihn jene Vertrautheit mit Gott, die er als Kind gehabt hatte, in weit höherem Grad wiederentdecken.

Als Lanfrank 1063 Abt von Caen wurde, wurde Anselm nach knapp drei Jahren klösterlichen Lebens zum Prior des Klosters von Bec und zum Lehrer an der Klosterschule ernannt, wo er seine Gaben eines hervorragenden Erziehers erkennen ließ. Er war kein Freund autoritärer Methoden; er verglich die Jugendlichen mit kleinen Pflanzen, die sich besser entwickeln, wenn sie nicht im Treibhaus eingeschlossen werden, und gewährte ihnen eine »gesunde« Freiheit. Hinsichtlich der Einhaltung des monastischen Lebens war er sich selbst und den anderen gegenüber sehr streng, aber anstatt die Disziplin mit Härte aufzuerlegen, bemühte er sich, ihre Befolgung durch Überzeugung zu erreichen. Nach dem Tod von Abt Herluin, dem Gründer der Abtei von Bec, wurde Anselm einstimmig zu seinem Nachfolger gewählt: das war im Februar 1079. Inzwischen waren zahlreiche Mönche nach Canterbury gerufen worden, um den Brüdern jenseits des Ärmelkanals mit der Erneuerung, die auf dem Festland im Gange war, bekanntzumachen. Ihre Arbeit wurde so gut angenommen, daß Lanfrank von Pavia, Abt von Caen, neuer Erzbischof von Canterbury wurde und Anselm bat, einige Zeit mit ihm zu verbringen, um die Mönche zu unterweisen und ihm in der schwierigen Situation zu helfen, in der sich seine Kirchengemeinde nach der Invasion der Normannen befand. Anselms Aufenthalt erwies sich als sehr fruchtbar; er gewann solche Sympathie und Wertschätzung, daß er nach Lanfranks Tod zu dessen Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Canterbury gewählt wurde. Die feierliche Bischofsweihe empfing er im Dezember 1093.

Anselm setzte sich sogleich in einem energischen Kampf für die Freiheit der Kirche ein und unterstützte mutig die Unabhängigkeit der geistlichen Macht von der zeitlichen. Er verteidigte die Kirche gegen die unangemessenen Einmischungen der politischen Autoritäten, vor allem seitens der Könige William II. Rufus und Heinrichs I., wofür er Ermutigung und Unterstützung beim Papst fand, für den Anselm stets eine mutige und herzliche Anhänglichkeit an den Tag legte. Diese Treue brachte ihm im Jahr 1103 auch die bittere Erfahrung der Verbannung von seinem Bischofssitz Canterbury ein. Und erst 1106, als König Heinrich I. auf den Anspruch, die kirchlichen Ämtereinsetzungen (Investitur) vorzunehmen, sowie auf die Einhebung von Steuern und auf die Beschlagnahmung der kirchlichen Güter verzichtet hatte, konnte Anselm nach England zurückkehren, wo Klerus und Volk ihn freudig empfingen. So hatte der lange Kampf, der von ihm mit den Waffen der Beharrlichkeit, des Stolzes und der Güte ausgefochten worden war, ein glückliches Ende gefunden. Dieser heilige Erzbischof, der überall, wohin er kam, soviel Bewunderung um sich verbreitete, widmete die letzten Jahre seines Lebens vor allem der sittlichen Bildung des Klerus und der intellektuellen Forschung zu theologischen Themen. Er starb am 21. April 1109, begleitet von den Worten des Evangeliums, das an jenem Morgen in der Heiligen Messe verkündet worden war: »In allen meinen Prüfungen habt ihr bei mir ausgeharrt. Darum vermache ich euch das Reich, wie es mein Vater mir vermacht hat: Ihr sollt in meinem Reich mit mir an meinem Tisch essen und trinken…« (Lc 22,28-30). So kam der Traum von jenem geheimnisvollen Mahl, den er als Kind gerade zu Beginn seines geistlichen Weges hatte, zu seiner Erfüllung. Jesus, der ihn eingeladen hatte, an seinem Tisch Platz zu nehmen, nahm den hl. Anselm bei seinem Tod in das ewige Reich des Vaters auf.

»Ich bitte, Gott, laß mich dich erkennen, laß mich dich lieben, um mich an dir zu erfreuen. Und wenn ich es in diesem Leben nicht bis zur Vollendung kann, so laß mich wenigstens Tag für Tag voranschreiten, bis es zur Vollendung kommt« (Proslogion, Kap. 26). Dieses Gebet läßt uns die mystische Seele dieses großen Heiligen des Mittelalters erfassen, des Begründers der scholastischen Theologie, dem die christliche Überlieferung den Beinamen »Doctor Magnificus « gegeben hat, weil er den intensiven Wunsch hegte, die göttlichen Geheimnisse zu vertiefen, allerdings in dem vollen Wissen darum, daß der Weg der Gottsuche zumindest hier auf Erden niemals abgeschlossen ist. Die Klarheit und logische Strenge seines Denkens hatten immer zum Ziel, »den Geist zur Betrachtung Gottes zu erheben« (ebd., Prooemium). Er sagt mit aller Klarheit: Wer Theologie betreiben will, kann nicht allein auf seinen Verstand zählen, sondern muß gleichzeitig eine tiefe Glaubenserfahrung pflegen. Die Tätigkeit des Theologen entfaltet sich nach dem hl. Anselm somit in drei Stufen: der Glaube, unentgeltliches Geschenk Gottes, das mit Demut angenommen werden soll; die Erfahrung, die in der Umsetzung des Wortes Gottes in das eigene tägliche Leben besteht; und schließlich die wahre Erkenntnis, die niemals Ergebnis steriler Überlegungen, sondern Frucht einer kontemplativen Anschauung ist. In diesem Zusammenhang bleiben für eine gesunde theologische Forschung und für jeden, der die Wahrheiten des Glaubens vertiefen will, seine berühmten Worte auch heute nützlicher denn je: »Herr, ich versuche nicht, in deine Höhe vorzudringen; mein Verstand kann dich ja auf keine Weise erreichen. Ich wünsche nur, einigermaßen deine Wahrheit zu begreifen, die mein Herz glaubt und liebt. Denn ich suche nicht zu begreifen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu begreifen« (ebd., 1).

Liebe Brüder und Schwestern, die Liebe zur Wahrheit und der ständige Durst nach Gott, die das ganze Dasein des hl. Anselm geprägt haben, mögen ein Ansporn für jeden Christen sein, unermüdlich eine immer innigere Einheit mit Christus, dem Weg, der Wahrheit und dem Leben, zu suchen. Darüber hinaus sei der mutige Eifer, der sein pastorales Wirken ausgezeichnet hat und ihm mitunter Unverständnis, Bitterkeit und sogar die Verbannung eingetragen hat, eine Ermutigung für die Hirten, für die geweihten Personen und für alle Gläubigen, die Kirche Christi zu lieben, für sie zu beten, zu arbeiten und zu leiden, ohne sie jemals zu verlassen oder zu verraten. Diese Gnade erlange uns die Jungfrau und Mutter Gottes, für die der hl. Anselm eine zärtliche und kindliche Verehrung hegte. »Maria, dich will mein Herz lieben«, schreibt der hl. Anselm, »mein Mund sehnt sich brennend danach, dich zu preisen«.

Eine der herausragenden Gestalten des Mittelalters ist der heilige Anselm von Canterbury, dessen 900. Todestag wir in diesem Jahr begehen. Wie seine Lebensstationen deutlich machen, war der Mönch und Bischof Anselm ein europäischer Mensch: Er wurde um 1033 in Aosta in Norditalien geboren, wirkte dann als Lehrer und Abt im französischen Benediktinerkloster Bec und wurde schließlich Erzbischof von Canterbury in England, wo er am 21. April 1109 gestorben ist. Als Erzbischof trat Anselm in Treue zum Nachfolger Petri mutig für die Freiheit der Kirche gegenüber den weltlichen Herrschern ein. Das brachte ihn in Konflikt mit den englischen Königen, und er mußte auch die bittere Erfahrung der Verbannung machen. Vor allem aber war Anselm ein großer Theologe und Denker. Er gilt als Vater der scholastischen Theologie und erhielt später den Ehrentitel „doctor magnificus“. Die strenge Logik seines Denkens ist ganz darauf ausgerichtet, den Geist zur Betrachtung Gottes zu erheben. Zugleich muß die Theologie aber in einer tiefen Erfahrung des Glaubens gründen, die den Glauben als unentgeltliches Geschenk Gottes mit Demut annimmt und das Wort Gottes in das tägliche Leben hinein umsetzt. In einem Gebet bringt Anselm diese theologische Suche zum Ausdruck: „Herr, ich versuche nicht, in deine Höhe vorzudringen; meine Verstand kann dich ja auf keine Weise erreichen. Ich wünsche nur, einigermaßen deine Wahrheit zu begreifen, die mein Herz glaubt und liebt. Denn ich suche nicht zu begreifen, um zu glauben, sondern ich glaube, um zu begreifen“ (Proslogion, 1).
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Mit Freude grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher, besonders die Prälaten des Prämonstratenser-Ordens und die vielen Schüler und Jugendlichen. Das Beispiel des heiligen Anselm ermutige uns, immer mehr eine tiefe Einheit mit Christus zu suchen, aus dieser Verbundenheit zu leben, daraus dann auch den Glauben verstehen zu lernen und so den Menschen Gott und die Liebe Gottes zu bringen. Der Herr schenke euch allen seine Gnaden.



Mittwoch, 30. September 2009

Apostolische Reise in die Tschechische Republik

Liebe Brüder und Schwestern!

38 Wie es nach den internationalen Apostolischen Reisen üblich ist, nütze ich die Gelegenheit der heutigen Generalaudienz, um über die Pilgerreise zu sprechen, die ich in den vergangenen Tagen in die Tschechische Republik unternommen habe. Ich tue das vor allem als Dank an Gott, der mir gestattet hat, diesen Besuch zu machen, und ihn reichlich gesegnet hat. Es ist eine echte Pilgerreise und gleichzeitig eine Mission im Herzen Europas gewesen: eine Pilgerreise, weil Böhmen und Mähren seit über einem Jahrtausend Boden des Glaubens und der Heiligkeit sind; eine Mission, weil es für Europa notwendig ist, in Gott und in seiner Liebe das feste Fundament der Hoffnung wiederzufinden. Es ist kein Zufall, wenn die Heiligen, die jenen Völkern das Evangelium gebracht haben, Cyrill und Methodius, zusammen mit dem hl. Benedikt Patrone Europas sind. »Die Liebe Christi ist unsere Kraft«: Das war das Leitwort der Reise, eine Aussage, in der der Glaube so vieler heldenhafter Zeugen der fernen und jüngsten Vergangenheit widerhallt - ich denke dabei insbesondere an das letzte Jahrhundert -, die aber vor allem die Gewißheit der Christen von heute darstellen möchte. Ja, unsere Kraft ist die Liebe Christi! Eine Kraft, welche die wahren, friedlichen und befreienden Revolutionen inspiriert und beseelt und uns in den Augenblicken der Krise stützt, indem sie uns gestattet, uns wiederaufzurichten, wenn die mühsam wiedergewonnene Freiheit Gefahr läuft, sich selbst, die ihr eigene Wahrheit, zu verlieren.

Die Aufnahme, die ich erfahren habe, ist herzlich gewesen. Der Präsident der Republik, dem ich noch einmal meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringe, wollte bei verschiedenen Gelegenheiten anwesend sein und hat mich zusammen mit meinen Mitarbeitern in seiner Residenz, der historischen Burg der Hauptstadt, mit großer Herzlichkeit empfangen. Die ganze Bischofskonferenz, insbesondere der Kardinalerzbischof von Prag und der Bischof von Brünn, haben mich mit großer Wärme das tiefe Band spüren lassen, das die tschechische katholische Gemeinde mit dem Nachfolger des hl. Petrus vereint. Ihnen danke ich auch dafür, daß sie die liturgischen Feiern so sorgfältig vorbereitet haben. Ich danke auch allen zivilen und militärischen Autoritäten und allen, die auf unterschiedliche Weise zum guten Gelingen meines Besuchs zusammengearbeitet haben.

Die Liebe Christi hat ihre Offenbarung im Gesicht eines Kindes begonnen. Nach der Ankunft in Prag war meine erste Etappe die Kirche St. Maria »vom Siege«, wo das Jesuskind verehrt wird, das als »Prager Jesulein« bekannt ist. Jenes Bild verweist auf das Geheimnis des menschgewordenen Gottes, auf den »nahen Gott«, Grund unserer Hoffnung. Vor dem »Prager Jesulein« habe ich für alle Kinder, für die Eltern, für die Zukunft der Familie gebetet. Der wahre »Sieg«, um den wir heute Maria bitten, ist der Sieg der Liebe und des Lebens in der Familie und in der Gesellschaft!

Die Prager Burg, die unter einem historischem und architektonischem Gesichtspunkt außerordentlich ist, regt zu einer weiteren und allgemeineren Überlegung an: Sie umfaßt auf ihrem sehr großen Gelände vielfältige Monumente, Bereiche und Einrichtungen, so daß sie gleichsam eine »polis« darstellt, in der die Kathedrale und der Palast, der Platz und der Garten harmonisch miteinander leben. So konnte in eben jenem Rahmen mein Besuch den zivilen und den religiösen Bereich berühren, die einander nicht entgegengesetzt sind, sondern sich in harmonischer Nähe voneinander unterscheiden. Als ich meine Ansprache an die politischen und zivilen Autoritäten und an das Diplomatische Korps richtete, wollte ich daher die Aufmerksamkeit auf das unauflösliche Band richten, das immer zwischen Freiheit und Wahrheit bestehen muß. Vor der Wahrheit braucht man keine Angst zu haben, weil sie dem Menschen und seiner Freiheit wohlgesonnen ist; ja, allein in der aufrichtigen Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen kann man den jungen Menschen von heute und den kommenden Generationen eine Zukunft bieten. Im übrigen, was zieht so viele Menschen nach Prag, wenn nicht seine Schönheit, eine Schönheit, die nicht nur ästhetisch, sondern auch historisch, religiös und in einem weiten Sinn menschlich ist? Wer im Bereich der Politik und der Erziehung Verantwortung ausübt, muß es verstehen, aus dem Licht jener Wahrheit zu schöpfen, die der Widerschein der ewigen Weisheit des Schöpfergottes ist; und er ist dazu berufen, davon selbst mit dem eigenen Leben Zeugnis zu geben. Nur ein ernsthafter Einsatz intellektueller und moralischer Redlichkeit ist des Opfers all derer würdig, die einen teuren Preis für die Freiheit gezahlt haben!

Symbol dieser Synthese zwischen Wahrheit und Freiheit ist die herrliche Kathedrale von Prag, die den heiligen Vitus, Wenzel und Adalbert geweiht ist, wo die Feier der Vesper mit den Priestern, Ordensleuten, Seminaristen und einer Vertretung der in den kirchlichen Vereinen und geistlichen Bewegungen engagierten Laien stattgefunden hat. Für die Gemeinschaften des östlichen Mitteleuropa ist dies ein schwieriger Moment: Zu den Folgen des langen Winters des atheistischen Totalitarismus kommen die schädlichen Auswirkungen eines gewissen westlichen Säkularismus und Konsumismus hinzu. Daher habe ich alle dazu ermuntert, immer neue Energien aus dem auferstandenen Herrn zu schöpfen, um Sauerteig des Evangeliums in der Gesellschaft zu sein, und sich, wie dies bereits geschieht, in karitativen und zunehmend in erzieherischen und schulischen Aktivitäten zu engagieren.

Diese Botschaft der Hoffnung, die auf den Glauben an Christus gegründet ist, habe ich an das ganze Volk Gottes in den beiden großen Eucharistiefeiern gerichtet, die in Brünn, der Hauptstadt Mährens, und in Altbunzlau, dem Ort des Martyriums des hl. Wenzel, des ersten Patrons der Nation, stattgefunden haben. Mähren läßt uns unmittelbar an die hll. Cyrill und Methodius denken, die den slawischen Völkern das Evangelium gebracht haben, und somit an die unerschöpfliche Kraft des Evangeliums, das wie ein Fluß heilkräftiger Wasser die Geschichte und die Kontinente durchquert und überall Leben und Heil hinbringt. Über dem Eingangsportal der Kathedrale von Brünn stehen die Worte Christi: »Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen« (
Mt 11,28). Dieselben Worte erklangen am vergangenen Sonntag in der Liturgie, während sie die ewige Stimme des Heilands, Hoffnung der Völker gestern, heute und immer, widerhallen ließen. Beredtes Zeichen der Herrschaft Christi, Herrschaft der Gnade und Barmherzigkeit, ist das Leben der Schutzheiligen der verschiedenen christlichen Nationen, wie eben das Leben Wenzels, eines jungen Königs Böhmens im 10. Jahrhundert, der sich durch sein beispielhaftes christliches Zeugnis auszeichnete und von seinem Bruder getötet wurde. Wenzel hat das Himmelreich dem Reiz weltlicher Macht vorgezogen und ist für immer im Herzen des tschechischen Volkes als Vorbild und Schutzherr in den Wechselfällen der Geschichte geblieben. An die zahlreichen Jugendlichen, die bei der Messe des hl. Wenzel anwesend waren und auch aus den Nachbarnationen kamen, habe ich die Einladung gerichtet, in Christus den wahrsten Freund zu erkennen, der die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens erfüllt.

Schließlich muß ich neben den anderen zwei weitere Begegnungen erwähnen: die ökumenische Begegnung und die Begegnung mit der akademischen Gemeinschaft. Die erste, die im Erzbischöflichen Palais von Prag stattfand, vereinte die Vertreter der verschiedenen christlichen Gemeinschaften der Tschechischen Republik sowie den Verantwortlichen der jüdischen Gemeinde. Wenn man an die Geschichte jenes Landes denkt, die leider erbitterte Konflikte unter Christen erlebt hat, ist es Grund zu lebhaftem Dank an Gott, daß wir uns als Jünger des einen Herrn zusammengefunden haben, um die Freude des Glaubens und die geschichtliche Verantwortung gegenüber den heutigen Herausforderungen zu teilen. Die Anstrengung, zu einer immer volleren und sichtbareren Einheit unter uns Christgläubigen voranzuschreiten, macht den gemeinsamen Einsatz für die Wiederentdeckung der christlichen Wurzeln Europas stärker und wirksamer. Dieser letztgenannte Aspekt, der meinem geliebten Vorgänger Johannes Paul II. sehr am Herzen lag, ist auch bei der Begegnung mit den Rektoren der Universitäten, den Vertretern der Dozenten und der Studenten und anderer im Kulturbereich bedeutender Persönlichkeiten zutage getreten. In diesem Rahmen wollte ich die Rolle der Einrichtung der Universität betonen, einer der tragenden Strukturen Europas, die in Prag eine der ältesten und angesehensten Universitäten des Kontinents hat, die Karlsuniversität, die nach Kaiser Karl IV. benannt ist, der sie zusammen mit Papst Clemens VI. gegründet hat. Die Universität ist ein für die Gesellschaft lebenswichtiger Bereich, Garant für Freiheit und Entwicklung, wie die Tatsache beweist, daß gerade von den Universitätskreisen in Prag die sogenannte »Samtene Revolution« ihren Ausgang genommen hat. Im Abstand von zwanzig Jahren von jenem historischen Ereignis habe ich das Konzept einer integralen Bildung vorgeschlagen, die auf der Einheit des auf der Wahrheit gegründeten Wissens basiert, um sich einer neuen Diktatur, der Diktatur des Relativismus im Bund mit der Herrschaft der Technik, zu widersetzen. Die humanistische und die wissenschaftliche Kultur können nicht getrennt werden, ja sie sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Daran erinnert uns einmal mehr das tschechische Land, die Heimat großer Schriftsteller wie Kafka und des Abts Mendel, Vorreiter der modernen Genetik.

Liebe Freunde, ich danke dem Herrn, da er mir mit dieser Reise die Möglichkeit gegeben hat, einem Volk und einer Kirche mit tiefen historischen und religiösen Wurzeln zu begegnen, die in diesem Jahr verschiedene Gedenktage von hohem geistlichen und sozialen Wert begehen. Den Brüdern und Schwestern der Tschechischen Republik erneuere ich eine Botschaft der Hoffnung und eine Einladung zum Mut für das Gute, um die Gegenwart und die Zukunft Europas aufzubauen. Ich empfehle die Früchte meines Pastoralbesuchs der Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria und aller heiligen Männer und Frauen Böhmens und Mährens. Danke.

Gemeinsam mit euch will ich Gott für das Geschenk der eindrucksvollen Apostolischen Reise in die Tschechische Republik danken. Der Besuch, den ich auch in Erinnerung an den Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa vor 20 Jahren unternommen habe, war eine Wallfahrt an die Orte des Glaubens und Wirkens von bedeutenden Heiligen. Zugleich wollte diese Reise ein Zeichen für ganz Europa setzen, für unseren Kontinent, der es nötig hat, sich neu in Christus zu verlieben und Hoffnung auf das wahre Leben zu schöpfen. Meine erste Station galt dem berühmten Prager Jesuskind, das uns so konkret das Geheimnis der Menschwerdung veranschaulicht. Das Bildnis steht in einer Kirche, die Maria vom Sieg geweiht ist. Von Maria wollen wir immer neu den wahren Sieg erbitten, den Sieg der Liebe und des Lebens für unsere Familien und für die gesamte Gesellschaft. Die Botschaft der Hoffnung, die im Glauben an Christus gründet, war das Thema der Eucharistiefeiern in Brünn und Stará Boleslav/Altbunzlau, die ich mit besonders vielen jungen Christen feiern konnte. In Altbunzlau habe ich am Grab des heiligen Märtyrers Wenzel gebetet, dessen Beliebtheit auch darin gründet, daß er das Reich Gottes jedem Anreiz weltlicher Macht vorgezogen hat. - Liebe Freunde, ich könnte von vielen weiteren schönen Begegnungen berichten: mit den Priestern und Ordensleuten, mit den Vertretern anderer christlicher Gemeinschaften sowie mit den Professoren und Studenten der Karls-Universität. Überall wurde mir eine herzliche Aufnahme zuteil, wofür ich allen Menschen in Tschechien danke. Gott helfe ihnen, die christlichen Wurzeln, die ihre Kultur geprägt haben, wieder neu zu entdecken und auf diesem Fundament ihr Leben zu gestalten.
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Mit Freude grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Wie die Heiligen, deren Spuren in unseren Ländern so reichlich zu finden sind, wollen auch wir Christus in unserem Leben Raum geben und seine Boten, die Boten der Liebe, der Wahrheit und des Guten sein. Gottes Geist helfe euch, das Gute zu vollbringen. Der Herr geleite uns auf allen unseren Wegen.




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