Generalaudienzen 2005-2013 10020

Mittwoch, 10. Februar 2010: Antonius von Padua

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Liebe Brüder und Schwestern!

Vor zwei Wochen habe ich die Gestalt des hl. Franz von Assisi vorgestellt. Heute vormittag möchte ich über einen weiteren Heiligen sprechen, der der ersten Generation der Minderbrüder angehörte: Antonius von Padua oder von Lissabon, wie er unter Bezugnahme auf seine Geburtsstadt auch genannt wird. Es handelt sich um einen der populärsten Heiligen in der ganzen katholischen Kirche, der nicht nur in Padua, wo eine prächtige Basilika errichtet wurde, in der seine sterblichen Überreste ruhen, sondern in der ganzen Welt verehrt wird. Beliebt sind bei den Gläubigen Bilder und Statuen, die ihn mit der Lilie, Symbol für seine Reinheit, oder mit dem Jesuskind auf dem Arm zeigen, zur Erinnerung an eine wunderbare Erscheinung, die von einigen literarischen Quellen erwähnt wird.

Antonius hat mit seinen ausgeprägten intellektuellen Gaben, seiner Ausgeglichenheit, seinem apostolischen Eifer und vor allem mit seiner mystischen Leidenschaft maßgebend zur Entwicklung der franziskanischen Spiritualität beigetragen.

Er wurde um das Jahr 1195 in einer Adelsfamilie in Lissabon geboren und auf den Namen Fernando getauft. Er trat bei den Chorherren ein, die der Regel des hl. Augustinus folgten, zunächst im Kloster St. Vinzenz in Lissabon und dann im Heilig-Kreuz-Kloster in Coimbra, einem angesehenen Kulturzentrum Portugals. Mit Interesse und Eifer widmete er sich dem Studium der Bibel und der Kirchenväter und eignete sich jenes theologische Wissen an, das er dann in seiner Lehr- und Predigttätigkeit fruchtbringend anwandte. In Coimbra ereignete sich jene Episode, die eine entscheidende Wende in seinem Leben bewirkte: Hier wurden im Jahr 1220 die Reliquien der ersten fünf franziskanischen Missionare ausgestellt, die in Marokko den Märtyrertod erlitten hatten. Ihr Schicksal weckte in dem jungen Fernando das Verlangen, sie nachzuahmen und fortzuschreiten auf dem Weg der christlichen Vollkommenheit: Er bat daher um Entlassung bei den Augustiner-Chorherren, um Franziskaner zu werden. Seiner Bitte wurde entsprochen, und nachdem er den Namen Antonius angenommen hatte, brach auch er nach Marokko auf, doch die göttliche Vorsehung fügte es anders. Infolge einer Krankheit war er gezwungen, nach Italien zurückzukehren. Er nahm 1221 an dem berühmten »Mattenkapitel« in Assisi teil, wo er auch dem hl. Franziskus begegnete. Danach lebte er eine Zeitlang in völliger Abgeschiedenheit in einem Kloster bei Forlì in Norditalien, wo ihn der Herr zu einer anderen Sendung berief. Ganz durch Zufall wurde er eingeladen, bei einer Priesterweihe zu predigen; er bewies hierbei, mit einem solchen Wissen und einer solchen Redekunst begabt zu sein, daß die Oberen ihn zum Predigtdienst bestimmten. Somit begann er in Italien und Frankreich eine so intensive und wirksame apostolische Tätigkeit, daß er viele Menschen, die sich von der Kirche getrennt hatten, dazu anregte, auf den rechten Weg zurückzukehren. Antonius gehörte auch zu den ersten Theologielehrern der Minderbrüder, wenn er nicht sogar als der erste bezeichnet werden kann. Er begann seine Lehrtätigkeit in Bologna mit dem Segen des hl. Franziskus, der Antonius in Anerkennung seiner Tugend einen kurzen Brief sandte, den er mit den Worten begann: »Es freut mich, daß du die Brüder Theologie lehrst.« Antonius legte die Grundlagen der franziskanischen Theologie, die von anderen berühmten Denkern gepflegt wurde und dann mit dem hl. Bonaventura von Bagnoregio und dem sel. Duns Scotus ihren Höhepunkt erreichen sollte.

Nachdem er Provinzoberer der Minderbrüder Norditaliens geworden war, setzte er den Verkündigungs- und Predigtdienst abwechselnd mit den Leitungsaufgaben fort. Nach Beendigung des Provinzialsamtes zog er sich in die Nähe von Padua zurück, wohin er sich schon mehrmals zurückgezogen hatte. Kaum ein Jahr später starb er vor den Toren der Stadt am 13. Juni 1231. Padua, das ihn im Leben mit Liebe und Verehrung aufgenommen hatte, zollte ihm für immer Ehre und Verehrung. Derselbe Papst Gregor IX., der ihn, nachdem er ihn predigen gehört hatte, als »Arche des Testaments« bezeichnete, sprach ihn, auch infolge der auf seine Fürsprache hin eingetretenen Wunder, im Jahr 1232 - nur ein Jahr nach seinem Tod - heilig.

In seinem letzten Lebensabschnitt schrieb Antonius zwei Zyklen von Predigten nieder, die die Titel Sonntagspredigten bzw. Predigten über die Heiligen tragen und für die Prediger und Lehrer der theologischen Studien des Franziskanerordens bestimmt sind. In diesen Predigten kommentiert er die von der Liturgie vorgelegten Texte der Heiligen Schrift, wobei er sich der patristisch-mittelalterlichen Auslegungsmethode der vier Schriftsinne bedient: des wörtlichen oder geschichtlichen, des allegorischen oder christologischen, des tropologischen oder moralischen und des anagogischen Sinnes, der auf das ewige Leben ausrichtet. Heute hat man von neuem erkannt, daß diese Schriftsinne verschiedene Dimensionen des einen Sinnes der Heiligen Schrift sind, und daß es richtig ist, bei der Auslegung der Heiligen Schrift nach den vier Dimensionen seines Wortes zu suchen. Diese Predigten des hl. Antonius sind theologisch-homiletische Texte, die die lebendige Predigt anklingen lassen, in der Antonius einen regelrechten Weg christlichen Lebens vorschlägt. Der Reichtum der in den Predigten enthaltenen geistlichen Lehren ist so groß, daß der ehrwürdige Papst Pius XII. im Jahr 1946 Antonius zum Kirchenlehrer erklärte und ihm den Titel »Doctor Evangelicus« verlieh, da aus diesen Schriften die Frische und Schönheit des Evangeliums zutage tritt; noch heute können wir sie mit großem geistlichen Gewinn lesen.

In diesen Predigten spricht der hl. Antonius vom Gebet als einer Liebesbeziehung, die den Menschen dazu bringt, vertraut mit dem Herrn zu reden, und die auf diese Weise eine unaussprechliche Freude hervorbringt, welche die im Gebet verharrende Seele voller Milde umfängt. Antonius ruft uns in Erinnerung, daß das Gebet einer Atmosphäre der Stille bedarf, mit der nicht nur der Abstand vom äußerlichen Lärm gemeint ist, sondern eine innere Erfahrung, die darauf abzielt, die von den Sorgen der Seele hervorgerufenen Zerstreuungen zu überwinden, indem sie in der Seele Stille schafft. Nach der Lehre dieses berühmten franziskanischen Kirchenlehrers ist das Gebet in vier unverzichtbare Haltungen gegliedert, die im Latein des Antonius als obsecratio, oratio, postulatio und gratiarum actio bestimmt werden. Wir könnten sie so übersetzen: sein Herz vertrauensvoll Gott öffnen; der erste Schritt des Gebets besteht also darin, daß man nicht einfach ein Wort aufnimmt, sondern sein Herz auf die Gegenwart Gottes hin öffnet; sodann soll man liebevoll mit ihm ins Gespräch treten und ihn dabei als unter uns gegenwärtig erkennen; des weiteren sollen wir ihm - was ganz selbstverständlich ist - unsere Nöte vorbringen; und schließlich sollen wir ihn loben und ihm danken.

In dieser Lehre des hl. Antonius über das Gebet erkennen wir eines der spezifischen Merkmale der franziskanischen Theologie, deren Initiator er gewesen ist, nämlich die der göttlichen Liebe zugewiesene Rolle, die in die Sphäre der Gefühle, des Willens, des Herzens eintritt und auch die Quelle ist, der eine geistliche Erkenntnis entspringt, die jede Erkenntnis übersteigt. Denn wir gelangen durch die Liebe zur Erkenntnis.

Antonius schreibt weiter: »Die Liebe ist die Seele des Glaubens, sie macht ihn lebendig; ohne die Liebe stirbt der Glaube« (Sermones Doninicales et Festivi II).

Nur eine Seele, die betet, kann im geistlichen Leben Fortschritte machen: das ist der bevorzugte Gegenstand der Verkündigung des hl. Antonius. Er kennt die Mängel der menschlichen Natur gut, unsere Neigung, in die Sünde zu verfallen, weshalb er ständig dazu ermahnt, die Neigung zu Habsucht, Stolz, Unreinheit zu bekämpfen und dagegen die Tugenden der Armut und der Hochherzigkeit, der Demut und des Gehorsams, der Keuschheit und Reinheit zu üben. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wuchs im Zusammenhang mit der Neuerstehung der Städte und dem Aufblühen des Handels die Zahl der Menschen, die gefühllos gegenüber den Bedürfnissen der Armen waren. Aus diesem Grund forderte Antonius die Gläubigen mehrmals dazu auf, an den wahren Reichtum zu denken, den Reichtum des Herzens, der dadurch, daß er gut und barmherzig macht, Schätze für das Himmelreich ansammeln läßt. »O, ihr Reichen« - so mahnt er - »macht euch die Armen … zu Freunden, nehmt sie in euren Häuser auf: Sie, die Armen, werden es dann sein, die euch in den ewigen Wohnstätten aufnehmen werden, wo die Schönheit des Friedens herrscht, das Vertrauen der Sicherheit und die üppige Ruhe der ewigen Sattheit« (ebd.).

Liebe Freunde, ist dies etwa nicht eine sehr wichtige Lehre auch heute, wo die Finanzkrise und die schwerwiegenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte nicht wenige Menschen verarmen lassen und Notsituationen schaffen? In meiner Enzyklika Caritas in veritate rufe ich in Erinnerung: »Die Wirtschaft braucht für ihr korrektes Funktionieren die Ethik; nicht irgendeine Ethik, sondern eine menschenfreundliche Ethik« ().

Antonius stellt in der Schule des Denkens des Franziskus immer Christus in den Mittelpunkt des Lebens und Denkens, des Handelns und der Predigt. Das ist ein weiterer typischer Zug der franziskanischen Theologie: der Christozentrismus. Gern betrachtet diese die Geheimnisse der Menschheit Jesu, des Herrn, besonders das Geheimnis der Geburt des Herrn, jenes Gottes, der Kind geworden ist und sich in unsere Hände begeben hat: es ist ein Geheimnis, das Gefühle der Liebe und Dankbarkeit gegenüber der göttlichen Güte weckt.

Die Geburt des Herrn, jener zentrale Aspekt der Liebe Christi zu den Menschen, aber auch der Blick auf den Gekreuzigten inspiriert Antonius zu Gedanken der Dankbarkeit gegenüber Gott und der Hochschätzung der Würde der menschlichen Person, so daß alle, Gläubige und Nichtgläubige, im Gekreuzigten und in seinem Bilde einen Sinn finden können, der das Leben bereichert. Der hl. Antonius schreibt: »Christus, der dein Leben ist, hängt hier vor dir, damit du auf das Kreuz wie in einen Spiegel schaust. Dort wirst du erkennen können, wie tödlich deine Wunden waren, die keine Arznei heilen kann, außer jene des Blutes des Gottessohnes. Wenn du gut hinschaust, wirst du dir bewußt werden können, wie groß deine Menschenwürde und dein Wert sind… An keinem anderen Ort kann sich der Mensch besser dessen bewußt werden, wie viel er wert ist, als wenn er sich im Spiegel des Kreuzes betrachtet« (Sermones Dominicales et Festivi III).

Durch die Betrachtung dieser Worte können wir besser die Bedeutung des Bildes des Gekreuzigten für unsere Kultur und für unseren Humanismus verstehen, der aus dem christlichen Glauben hervorgegangen ist. Gerade durch den Blick auf den Gekreuzigten sehen wir - wie der hl. Antonius sagt -, wie groß die Würde und der Wert des Menschen sind. Nirgendwo sonst kann man erkennen, welchen Wert der Mensch hat, da Gott uns eine so große Bedeutung beimißt und uns als so wichtig ansieht, daß wir für ihn seines Leidens würdig sind; so erscheint die ganze menschliche Würde im Spiegel des Gekreuzigten, und der auf ihn gerichtete Blick ist stets Quelle für die Anerkennung der Menschenwürde.

Liebe Freunde, möge der von den Gläubigen so sehr verehrte Antonius von Padua für die ganze Kirche und vor allem für all jene Fürsprache halten, die sich der Verkündigung widmen; bitten wir den Herrn, er möge uns helfen, etwas von dieser Kunst des hl. Antonius zu lernen. Die in der Verkündigung Tätigen mögen sich von seinem Vorbild inspirieren lassen und dafür Sorge tragen, die feste und gesunde Lehre, eine aufrichtige und leidenschaftliche Frömmigkeit und die Einprägsamkeit in der Kommunikation miteinander zu verbinden. Im derzeitigen Priester-Jahr beten wir darum, daß die Priester und Diakone diesen Dienst der Verkündigung und der Aktualisierung des Wortes Gottes für die Gläubigen verrichten, vor allem durch die Predigten in den Sonntagsgottesdiensten. Sie sollen eine wirksame Darbietung der ewigen Schönheit Christi sein, genauso wie es Antonius empfahl: »Wenn du Jesus predigst, löst er die harten Herzen; wenn du ihn anrufst, versüßt er die bitteren Versuchungen; wenn du an ihn denkst, erleuchtet er dir das Herz; wenn du ihn liest, sättigt er dir den Geist« (Sermones Dominicales et Festivi III).

Der heilige Antonius von Padua ist zweifelsohne einer der beliebtesten Volksheiligen der Kirche. Antonius gehörte noch zur ersten Generation der Franziskaner und hat entscheidend an der Entwicklung der franziskanischen Spiritualität und Theologie mitgewirkt. Ursprünglich stammte Fernando - so hieß Antonius mit Taufnamen - aus Lissabon und wurde zunächst Augustiner-Chorherr. Unter dem Eindruck der Überführung der sterblichen Überreste der ersten franziskanischen Märtyrer aus Marokko trat er in den Franziskanerorden ein und erhielt den Namen Antonius. 1221 nahm er am Generalkapitel der Franziskaner in Assisi teil und begegnete dort auch dem heiligen Franziskus. Später wurde man eher zufällig auf seine große Predigtgabe aufmerksam wurde. So wurde Antonius nach Oberitalien und Südfrankreich gesandt, wo er viele Irrgläubige zur Umkehr und Rückkehr in die Kirche bewegen konnte. Als erster theologischer Lehrer seines Ordens legte er in solider Kenntnis der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, vornehmlich des heiligen Augustinus, die Grundlagen für die spätere franziskanische Theologie. Antonius starb am 13. Juni 1231 bei Padua und wurde ein Jahr später heiliggesprochen. Seine beiden Predigtsammlungen zeugen von seiner tiefen und lebendigen Verkündigung, aus denen die Frische und Schönheit des Evangeliums spricht. So erhielt Antonius 1946 als Kirchenlehrer den Titel „doctor evangelicus“. Besonderen Wert legte der Heilige auf das Gebet, das unabdingbar ist für den Fortschritt im geistlichen Leben, auf die göttliche Liebe, die erst ein tieferes Erkennen möglich macht, und auf die Nächstenliebe, die die Seele des Glaubens ist. Dabei steht im Mittelpunkt seiner Verkündigung stets Christus. Die Betrachtung der Geheimnisse der Menschheit Jesu, vor allem seiner Geburt und seines Todes am Kreuz, weckt in uns die Liebe und die Dankbarkeit gegenüber Gott.
* * *


Mit Freude grüße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Der heilige Antonius helfe uns, in der Liebe zu Christus und zum Nächsten zu wachsen. Bitten wir ihn in diesem Priesterjahr um seine Fürsprache, daß es den Priestern und Diakonen heute gelingt, die Botschaft Christi freudig zu verkünden und die Herzen der Menschen für den Herrn zu öffnen. Gerne begleite ich euch alle mit meinem Segen.


Mittwoch, 17. Februar 2010: Aschermittwoch

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Liebe Brüder und Schwestern!

Am heutigen Aschermittwoch beginnen wir den Weg der Fastenzeit: einen Weg, der sich über vierzig Tage erstreckt und uns zur Freude des Pascha des Herrn führt. Auf diesem geistlichen Weg sind wir aber nicht allein, weil uns die Kirche begleitet und uns von Anfang an mit dem Wort Gottes, das ein Programm des geistlichen Lebens und des Bemühens um Buße einschließt, und mit der Gnade der Sakramente beisteht.

Die Worte des Apostels Paulus geben uns eine klare Anweisung: »Als Mitarbeiter Gottes ermahnen wir euch, daß ihr seine Gnade nicht vergebens empfangt … Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung!« (
2Co 6,1-2). In Wahrheit muß in der christlichen Lebensauffassung jeder Augenblick als begnadet gelten und jeder Tag ein Tag des Heils genannt werden; aber die Liturgie der Kirche bezieht diese Worte in ganz besonderer Weise auf die Fastenzeit. Und daß die vierzig Tage in Vorbereitung auf Ostern eine Zeit der Gnade sind, können wir gerade in dem Aufruf verstehen, den der strenge Ritus der Aschenauflegung an uns richtet und der in der Liturgie mit zwei Formeln ausgedrückt wird: »Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium!«, »Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst«.

Der erste Aufruf gilt der Umkehr, ein Wort, das in seiner außerordentlichen Ernsthaftigkeit wahrgenommen werden muß, wenn man die überraschende Neuheit begreift, die es freisetzt. Der Aufruf zur Umkehr deckt nämlich anklagend die leichtfertige Oberflächlichkeit auf, die unser Leben sehr oft kennzeichnet. Umkehren bedeutet, die Richtung auf dem Lebensweg zu ändern: freilich nicht durch eine kleine Korrektur, sondern durch eine echte Richtungsänderung. Umkehr heißt, gegen den Strom zu schwimmen, wobei der »Strom« der oberflächliche, inkonsequente und trügerische Lebensstil ist, der uns oft mit sich reißt, uns beherrscht und zu Knechten des Bösen oder jedenfalls zu Gefangenen moralischer Mittelmäßigkeit macht. Mit der Umkehr hingegen strebt man nach dem hohen Maßstab des christlichen Lebens, vertraut sich dem lebendigen und persönlichen Evangelium an, das Christus Jesus ist. Seine Person ist das Endziel und der tiefe Sinn der Umkehr; er ist der Weg, auf dem zu gehen alle im Leben berufen sind, indem sie sich von seinem Licht erleuchten und von seiner Kraft, die unsere Schritte lenkt, stützen lassen. Auf diese Weise zeigt die Umkehr ihr wunderbares und faszinierendes Gesicht: Sie ist keine bloße moralische Entscheidung, die unsere Lebensführung berichtigt, sondern eine Glaubensentscheidung, die uns vollständig in die tiefe Gemeinschaft mit der lebendigen und konkreten Person Jesu Christi einbezieht. Sich zu bekehren und an das Evangelium zu glauben sind nicht zwei verschiedene oder lediglich nebeneinandergestellte Dinge, sondern Ausdruck ein und derselben Wirklichkeit. Die Umkehr ist das totale »Ja« dessen, der sein Dasein dem Evangelium übereignet und so frei Christus antwortet, der sich zuerst dem Menschen als der Weg, die Wahrheit und das Leben anbietet, als derjenige, der allein ihn befreit und ihn rettet. Genau das ist der Sinn der ersten Worte, mit denen Jesus nach dem Evangelisten Markus die Verkündigung des »Evangeliums Gottes« aufnimmt: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium« (Mc 1,15).

Das Wort »Kehrt um und glaubt an das Evangelium« steht nicht nur am Beginn des christ - lichen Lebens, sondern begleitet alle seine Schritte, erneuert sich ständig und verbreitet sich durch Verzweigungen in allen seinen Äußerungen. Jeder Tag ist eine Zeit der Gnade, weil uns jeder Tag dazu auffordert, uns Jesus zu überlassen, Vertrauen in ihn zu haben, in ihm zu bleiben, seinen Lebensstil zu teilen, von ihm die wahre Liebe zu lernen, ihm in der täglichen Erfüllung des Willens des Vaters, des einzigen großen Lebensgesetzes, zu folgen. Jeder Tag, auch dann, wenn es an Schwierigkeiten und Mühen, Ermüdungen und Niederlagen nicht fehlt, auch wenn wir versucht sind, den Weg der Nachfolge Christi zu verlassen und uns in uns selbst, in unseren Egoismus zu verschließen, ohne uns Rechenschaft über die Notwendigkeit zu geben, uns der Liebe Gottes in Christus zu öffnen, um dessen Logik der Gerechtigkeit und Liebe zu leben. In der jüngsten Botschaft zur Fastenzeit habe ich daran erinnert, daß es »Demut braucht, um anzunehmen, daß ich jemand anderen nötig habe, der mich aus dem ›Meinen‹ befreit, der mir freigiebig das ›Seine‹ schenkt. Das geschieht in besonderer Weise in den Sakramenten der Buße und der Eucharistie. Dank der Erlösungstat Christi wird uns die ungleich größere Gerechtigkeit zuteil, jene, die aus der Liebe erwächst (vgl. Röm 13,8-10), in der man sich stets mehr als Empfänger denn als Gebender fühlt, weil man mehr empfangen hat, als man eigentlich erwarten kann« (O.R. dt Dt 12 dt Dt 2 dt Dt 2010, Dt 7).

Die gnadenreiche Zeit der Fastenzeit zeigt uns die eigentliche geistliche Bedeutung auch durch die alte Formel: »Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst«, die der Priester spricht, wenn er ein wenig Asche auf unser Haupt legt. Auf diese Weise werden wir zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückgeführt, als der Herr nach dem Sündenfall zu Adam sprach: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden, von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück« (Gn 3,19). Hier erinnert uns das Wort Gottes an unsere Gebrechlichkeit, ja an unseren Tod als deren äußerste Form. Angesichts der angeborenen Angst vor dem Ende und noch mehr im Bereich einer Kultur, die auf so viele Weisen die Wirklichkeit und die menschliche Erfahrung des Sterbens zu zensurieren versucht, erinnert uns die Liturgie der Fastenzeit einerseits an den Tod und lädt uns zum Realismus und zur Weisheit ein; andererseits aber drängt sie uns vor allem dazu, die unerwartete Neuheit anzunehmen und zu leben, die der christliche Glaube in der Wirklichkeit des Todes selbst ausströmt.

Der Mensch ist Staub und wird zum Staub zurückkehren; aber er ist in den Augen Gottes kostbarer Staub, weil Gott den Menschen geschaffen und ihn zur Unsterblichkeit bestimmt hat. So findet die liturgische Formel »Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst«, ihre volle Bedeutung in bezug auf den neuen Adam: Christus. Auch Jesus, der Herr, hat aus freiem Willen mit jedem Menschen das Los der Gebrechlichkeit teilen wollen, besonders durch seinen Tod am Kreuz; aber gerade dieser von seiner Liebe zum Vater und zur Menschheit erfüllte Tod war der Weg zur glorreichen Auferstehung. Durch sie ist Christus Quell einer Gnade geworden, die allen geschenkt ist, die an ihn glauben und am göttlichen Leben selbst Anteil erhalten. Dieses Leben, das kein Ende haben wird, ist bereits in der irdischen Phase unseres Daseins wirklich, wird aber erst nach der »Auferstehung des Fleisches« vollendet werden. Die kleine Geste der Aschenauflegung enthüllt uns den einzigartigen Reichtum ihrer Bedeutung: Sie ist eine Einladung, die Fastenzeit als ein bewußteres und innigeres Eintauchen in das Ostergeheimnis Christi, in seinen Tod und seine Auferstehung zu begehen, durch die Teilnahme an der Eucharistie und am Leben der Nächstenliebe, das aus der Eucharistie entsteht und in der es seine Erfüllung findet. Mit der Aschenauflegung erneuern wir unseren Einsatz, Jesus nachzufolgen, uns von seinem Ostergeheimnis verwandeln zu lassen, um das Böse zu besiegen und das Gute zu tun, um unseren »alten Menschen«, der an die Sünde gebunden ist, sterben zu lassen und unseren »neuen Menschen«, der durch die Gnade Gottes verwandelt ist, geboren werden zu lassen.

Liebe Freunde! Während wir uns anschicken, den strengen Weg der Fastenzeit einzuschlagen, wollen wir mit besonderem Vertrauen den Schutz und die Hilfe der Jungfrau Maria erbitten. Sie, die erste, die an Christus geglaubt hat, möge uns in diesen vierzig Tagen intensiven Gebets und aufrichtiger Buße begleiten, damit wir schließlich, geläutert und geistig wie seelisch vollkommen erneuert, das große Geheimnis des Paschas ihres Sohnes feiern können.

Allen eine gute Fastenzeit!

Wir hören heute in der Liturgie das Wort des heiligen Paulus: »Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung« (2Co 6,2). Diese Worte gelten in gewisser Hinsicht immer. Immer bietet uns Gott die Gnade an, aber sie gelten in ganz besonderer Weise für die Fastenzeit als eine ganz spezifische Einladung, uns wieder auf Gott zu besinnen. Das Aschenkreuz und die Schriftzitate, die diesen Ritus begleiten, weisen uns die Richtung auf dem vierzigtägigen Weg zum Osterfest. Bei der Auflegung der Asche können zwei Formeln verwendet werden. Die eine lautet: »Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mc 1,15). Es ist das Wort, mit dem nach Markus die Verkündigung Jesu überhaupt begonnen hat. Umkehr und Glaube an das Evangelium sind nicht zwei getrennte Vorgänge. Christliche Bekehrung ist nicht einfach ein Moralismus, sondern ist die Hinkehr zu dem, was der Herr uns sagt, ist Glaube an das Evangelium, Hineintreten in die Botschaft des Evangeliums und Sich-umwandeln-Lassen durch das Evangelium. Deswegen ist aber auch die Umkehr nicht ein einmaliger Akt, und dann geht alles gut weiter, sondern ein Prozeß, der unser ganzes Leben durchzieht. Immer neu müssen wir uns aus der Mittelmäßigkeit, in die wir immer wieder hinunterfallen, herausreißen lassen in die Größe des Evangeliums hinein, in das eigentliche Maß, das Gott unserem Menschsein zugedacht hat. Der Glaube an das Evangelium führt uns zu der Liebe, die in Christus wirksam wird. Ich erwähne noch kurz die zweite Formel, die möglich ist bei der Aschenauflegung: Mensch, du bist Staub. »Bedenke, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst.« Es ist das Wort, das Gott nach dem Sündenfall zu Adam gesprochen hatte, wo er den Menschen an seine Vergänglichkeit erinnert. Aber die Vergänglichkeit des Menschen, die uns immer wieder neu aufrufen soll, über den Augenblick hinauszuschauen, ist zugleich überwunden durch den Tod Christi, der sie in Auferstehung umgewandelt hat, so daß wir diesen Ruf der Vergänglichkeit zugleich als Einladung und als Wegweisung zur Auferstehung mit Christus hin sehen dürfen. In diesem Sinn wollen wir uns anrühren lassen vom Wort des Herrn: Kehrt um, und glaubt! Werdet neu, geht auf die Auferstehung zu!
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Liebe Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, liebe Diakone aus dem Bistum Würzburg, aus dem Blick auf Christus erhält dieser zweite Aufruf des Aschenkreuzritus seine volle Bedeutung: »Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehren wirst« (vgl. Gn 3,19). Ja, wir sind Staub, zerbrechlich, unser irdisches Leben wird vergehen, aber die Auferstehung Christi schenkt uns Hoffnung auf ein neues, wirklicheres Leben. Mit diesem Vertrauen gehen wir auf Ostern zu. Euch allen wünsche ich in diesem Sinn: Gesegnete Fastenzeit!



Mittwoch, 3 März 2010: Hl. Bonaventura

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über den hl. Bonaventura von Bagnoregio sprechen. Ich muß gestehen, daß ich eine gewisse Nostalgie verspüre, während ich euch dieses Thema unterbreite, da ich an die Nachforschungen zurückdenke, die ich als junger Gelehrter gerade zu diesem, mir besonders teuren Autor durchgeführt habe. Die Kenntnis seines Denkens hat meinen Ausbildungsgang in nicht geringem Maße beeinflußt. Mit großer Freude habe ich vor einigen Monaten eine Pilgerreise zu seinem Geburtsort, Bagnoregio, unternommen, einer kleinen italienischen Stadt in Latium, die voll Verehrung die Erinnerung an ihn bewahrt.

Er wurde wahrscheinlich 1217 geboren und starb 1274, lebte also im 13. Jahrhundert, einem Zeitalter, in dem der christliche Glaube, der tief in die Kultur und Gesellschaft Europas eingedrungen war, im Bereich der Literatur, der darstellenden Künste, der Philosophie und der Theologie unvergängliche Werke inspirierte. Unter den großen christlichen Gestalten, die zur Herausbildung dieser Harmonie zwischen Glaube und Kultur beigetragen haben, ragt Bonaventura hervor, ein Mann des Handelns und der Kontemplation, von tiefer Frömmigkeit und Klugheit in der Leitung.

Er hieß Giovanni da Fidanza. Eine Episode, die sich noch in seiner Kindheit ereignete, hat sein Leben tief geprägt, wie er selbst erzählt. Er war schwer erkrankt, und nicht einmal sein Vater, der Arzt war, hatte noch Hoffnung, ihn vor dem Tod zu retten. Da bat seine Mutter um die Fürsprache des kurz vorher heiliggesprochenen Franziskus von Assisi. Und Giovanni wurde wieder gesund.

Noch vertrauter wurde ihm die Gestalt des »Poverello« von Assisi einige Jahre später, als er sich in Paris aufhielt, wohin er sich für seine Studien begeben hatte. Er hatte das Diplom des »Magister artium« erlangt, das wir mit dem Abschluß an einem angesehenen Gymnasium unserer Zeit vergleichen könnten. An diesem Punkt stellte sich Giovanni wie viele junge Menschen der Vergangenheit und auch heute eine entscheidende Frage: »Was soll ich aus meinem Leben machen?« Fasziniert vom Zeugnis des Feuereifers und der vom Evangelium inspirierten Radikalität der Minderbrüder, die 1219 nach Paris gekommen waren, klopfte Giovanni an die Tür des Franziskanerkonvents der Stadt und bat, in die große Familie der Schüler des hl. Franziskus aufgenommen zu werden. Viele Jahre später erklärte er die Gründe für seine Entscheidung: Im hl. Franziskus und in der von ihm begonnenen Bewegung erkannte er das Wirken Christi. So schrieb er in einem an einen anderen Minderbruder gerichteten Brief: »Ich gestehe vor Gott, daß der Grund, der mich das Leben des seligen Franziskus vor jedem anderen lieben ließ, darin besteht, daß es den Anfängen und dem Werden der Kirche ähnlich ist. Die Kirche begann mit einfachen Fischern und wurde in der Folge durch sehr berühmte und weise Lehrer bereichert; die Frömmigkeit des seligen Franziskus ist nicht von der Klugheit der Menschen, sondern von Christus bestimmt worden« (Epistula de tribus quaestionibus ad magistrum innominatum, in: Opere di San Bonavenura, Introduzione generale,
Rm 1990, S. 29).

Daher legte Giovanni um das Jahr 1243 die Franziskanerkutte an und wählte den Namen Bonaventura. Er wurde sofort zum Studium bestimmt und besuchte die Theologische Fakultät der Pariser Universität, wo er eine Reihe sehr anspruchsvoller Kurse absolvierte. Er erlangte die verschiedenen, von der akademischen Laufbahn verlangten Titel, wie den des »baccalaureus biblicus « und des »baccalaureus sententiarum«. Bonaventura studierte also gründlich die Heilige Schrift, die Sentenzen des Petrus Lombardus, das Handbuch für Theologie jener Zeit und die wichtigsten theologischen Schriftsteller. Im Kontakt mit den Lehrern und Studenten, die aus ganz Europa in Paris zusammenströmten, reiften sein persönliches Nachdenken und eine spirituelle Sensibilität von großem Wert heran, die er im Lauf der nachfolgenden Jahre in seine Werke und Predigten einfließen zu lassen verstand; so wurde er zu einem der wichtigsten Theologen der Kirchengeschichte. Es ist wichtig, an den Titel der Doktorarbeit zu erinnern, die er verteidigte, um als Lehrer der Theologie für die »licentia ubique docendi« zugelassen zu werden, wie man damals sagte. Der Titel seiner Dissertation lautete Quaestiones disputatae de scientia Christi (Untersuchungen über das Wissen Christi). Dieses Thema zeigt die zentrale Rolle, die Christus immer im Leben und in der Lehre des Bonaventura gehabt hat. Wir können ohne weiteres sagen, daß sein ganzes Denken zutiefst christozentrisch war.

In jenen Jahren entbrannte in Paris, der Wahlheimatstadt Bonaventuras, eine heftige Polemik gegen die Minderbrüder des hl. Franziskus von Assisi und gegen die Predigerbrüder des hl. Dominikus de Guzmán. Man machte ihnen das Recht streitig, an der Universität zu lehren, und bezweifelte sogar die Echtheit ihres geweihten Lebens. Gewiß, die von den Bettelorden in das Verständnis des Ordenslebens eingeführten Änderungen, von denen ich in früheren Katechesen gesprochen habe, waren so innovativ, daß es nicht allen gelang, sie zu verstehen. Dazu kamen dann, wie dies mitunter auch unter aufrichtig religiösen Menschen geschieht, Motive menschlicher Schwäche, wie Neid und Eifersucht. Obwohl Bonaventura von der Ablehnung der anderen Universitätslehrer umgeben war, hatte er bereits auf dem theologischen Lehrstuhl der Franziskaner zu lehren begonnen und verfaßte als Antwort an diejenigen, welche die Bettelorden bekämpften, eine Schrift mit dem Titel Über die evangelische Vollkommenheit. In dieser Schrift zeigt er, daß die Bettelorden und insbesondere die Minderbrüder dadurch, daß sie die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams praktizierten, die evangelischen Räte selbst befolgten. Jenseits dieser historischen Umstände bleibt die von Bonaventura in diesem seinem Werk und in seinem Leben vertretene Lehre immer aktuell: Die Kirche wird durch die Treue zur Berufung jener ihrer Söhne und Töchter heller und schöner, die nicht nur die Gebote des Evangeliums in die Praxis umsetzen, sondern durch Gottes Gnade dazu berufen sind, dessen Räte zu befolgen und auf diese Weise mit ihrem armen, keuschen und gehorsamen Lebensstil davon Zeugnis zu geben, daß das Evangelium Quelle der Freude und der Vollkommenheit ist.

Der Konflikt wurde wenigstens für einige Zeit beigelegt, und durch das persönliche Eingreifen Papst Alexanders IV. wurde Bonaventura 1257 offiziell als »doctor« und »magister« der Universität von Paris anerkannt. Er mußte jedoch auf diese angesehene Aufgabe verzichten, weil ihn das Generalkapitel des Ordens im selben Jahr zum Generalminister wählte.

Er erfüllte dieses Amt 17 Jahre lang mit Weisheit und Hingabe, besuchte die Provinzen, schrieb an die Brüder, griff manchmal mit einer gewissen Strenge ein, um Mißbräuche zu beseitigen. Als Bonaventura diesen Dienst aufnahm, hatte sich der Orden der Minderbrüder erstaunlich entwickelt: Mehr als 30.000 Brüder waren über das ganze Abendland verstreut und waren in Missionen in Nordafrika, im Nahen Osten und auch in Peking anwesend. Es galt, diese Expansion zu festigen und ihr vor allem in voller Treue zum Charisma des Franziskus Einheit im Handeln und im Geist zu verleihen. Tatsächlich waren unter den Nachfolgern des Heiligen aus Assisi verschiedene Arten der Auslegung seiner Botschaft zu verzeichnen, und es bestand tatsächlich die Gefahr eines inneren Bruchs. Um diese Gefahr zu vermeiden, nahm das Generalkapitel des Ordens 1260 in Narbonne einen von Bonaventura vorgelegten Text an und ratifizierte ihn, in dem die Normen gesammelt und vereinheitlicht wurden, die das tägliche Leben der Minderbrüder regelten. Dennoch ahnte Bonaventura, daß die gesetzlichen Bestimmungen, so sehr sie auch von Weisheit und Mäßigung inspiriert waren, nicht ausreichten, um die Gemeinschaft des Geistes und der Herzen sicherzustellen. Es war notwendig, dieselben Ideale und Überzeugungen zu teilen. Aus diesem Grund wollte Bonaventura das echte Charisma des Franziskus, sein Leben und seine Lehre vorlegen. Daher sammelte er mit großem Eifer Dokumente, die den »Poverello« betrafen, und hörte sich aufmerksam die Erinnerungen derer an, die Franziskus direkt gekannt hatten. Daraus entstand eine historisch gut fundierte Biographie des Heiligen aus Assisi mit dem Titel Legenda Maior, die auch in einer kürzeren Form abgefaßt wurde und deshalb Legenda Minor betitelt ist. Das lateinische Wort legenda bezeichnet im Unterschied zum deutschen Wort nicht eine Frucht der Phantasie, sondern legenda bedeutet im Gegenteil einen maßgeblichen Text, der offiziell »zu lesen ist«. Tatsächlich erkannte das Generalkapitel der Minderbrüder 1263 in Pisa in der Biographie des hl. Bonaventura das getreueste Bild des Gründers, und so wurde sie zur offiziellen Biographie des Heiligen.

Welches Bild des hl. Franziskus tritt aus dem Herzen und aus der Feder seines ergebenen Sohnes und Nachfolgers, des hl. Bonaventura, hervor? Der wesentliche Punkt ist: Franziskus ist ein »alter Christus« (ein zweiter Christus), ein Mensch, der voll Leidenschaft Christus gesucht hat. In der Liebe, die zur Nachahmung drängt, hat er sich ganz ihm gleichgestaltet. Bonaventura verwies alle Schüler des Franziskus auf dieses lebendige Ideal. Dieses Ideal, das für jeden Christen - gestern, heute, immer - gültig ist, wurde auch für die Kirche des dritten Jahrtausends von meinem Vorgänger, dem ehrwürdigen Diener Gottes Johannes Paul II., als Programm gesehen. Dieses Programm, so schrieb er in seinem Apostolischen Schreiben Novo Millennio ineunte, »findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennenzulernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt« (NM 29).

Im Jahr 1273 erfuhr das Leben des hl. Bonaventura eine weitere Veränderung. Papst Gregor X. wollte ihn zum Bischof weihen und zum Kardinal ernennen. Er bat ihn auch, ein sehr wichtiges kirchliches Ereignis vorzubereiten: das II. Ökumenische Konzil von Lyon, das die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche zum Ziel hatte. Er widmete sich dieser Aufgabe mit aller Sorgfalt, konnte aber das Ende dieser ökumenischen Versammlung nicht mehr erleben, da er während ihres Ablaufs verstarb. Ein anonymer päpstlicher Notar verfaßte eine Lobrede auf Bonaventura, die uns ein abschließendes Bild dieses großen Heiligen und herausragenden Theologen bietet: »Ein guter, umgänglicher, frommer und barmherziger Mann, von Tugend erfüllt, geliebt von Gott und von den Menschen… Denn Gott hatte ihm eine solche Gnade geschenkt, daß alle, die ihn sahen, von einer Liebe durchdrungen wurden, die das Herz nicht verbergen konnte« (vgl. J.G. Bougerol, Bonaventura, in: A. Vauchez (Hg.), Storia dei santi e della santità cristiana. Bd. VI. L’epoca del rinnovamento evangelico, Mailand 1991, S. 91).

Nehmen wir das Erbe dieses heiligen Kirchenlehrers auf, der uns an den Sinn unseres Lebens mit den folgenden Worten erinnert: »Auf Erden … können wir die unermeßliche göttliche Größe durch die Vernunft und die Bewunderung betrachten; in der himmlischen Heimat hingegen werden wir durch die Schau, wenn wir Gott ähnlich sein werden, und durch die Ekstase … in die Freude Gottes eintreten« (Quaestiones disputatae de scientia Christi, q. 6, conclusio, in: Opere di San Bonaventura. Opuscoli Teologici/1, Rm 1993, S. 187).

Wenn ich bei der heutigen Katechese über den hl. Bonaventura spreche, tue ich es nicht ohne eine gewisse Nostalgie. Denn dieser Heilige ist mir im Studium und zu Beginn meiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein Vorbild und ein Begleiter geworden, dem ich Wesentliches für meine geistliche Prägung verdanke. Bonaventura wurde um 1217 in Bagnoregio etwa 80 km nördlich von Rom geboren. Seine Lebenszeit fällt mitten in jenes 13. Jahrhundert, das sich durch eine große Blüte des Glaubens, des Wissens und der Kultur auszeichnete. Schon früh wurde Bonaventura, der mit weltlichem Namen Giovanni Fidanza hieß, von der Gestalt des hl. Franz von Assisi berührt, den er persönlich allerdings nicht mehr erlebt hat. Bonaventura erzählt, daß er als Kind schwer erkrankte. Keiner konnte ihm helfen. Sein Vater, der Arzt war, hatte ihn schon aufgegeben. Da rief die Mutter in ihrer Not den gerade heiliggesprochenen Franziskus an, und der Knabe wurde wieder gesund. Er ging dann nach Paris zum Studium und begegnete dort den Franziskanerbrüdern, die auch als Professoren an der Universität wirkten. Er war von ihrem Glaubenseifer und vor allem von ihrer Bedürfnislosigkeit so fasziniert, daß er selbst in diesen Orden eintrat. Im Laufe seines Lebens hatte er hohe Ämter inne, er wurde zuerst selbst Professor in Paris, dann Generalminister seines Ordens und schließlich Kardinal. Aber bei allem blieb er dem Armutsideal seines Ordens verpflichtet. Die Leuchtkraft der Kirche, das war seine tiefe Überzeugung, gründet in der Berufungstreue gerade jener Söhne und Töchter, die nicht nur die Gebote Gottes in die Tat umsetzen, sondern die darüber hinausgehenden Ratschläge, die uns das Evangelium gibt, und durch ein Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam dafür Zeugnis ablegen, daß das Evangelium uns Quelle erfüllten Lebens und einer bleibenden inneren Freude ist. Als bedeutender Theologe nahm Bonaventura an den Vorbereitungen zum 2. Konzil von Lyon teil, dessen Ziel die Versöhnung zwischen griechischer und lateinischer Kirche, also der Ökumenismus in den damaligen Maßstäben war. Er konnte die Union noch erleben, die allerdings nicht haltbar war, ist aber 1274 während des Konzils gestorben.
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Von Herzen grüße ich alle deutschsprachigen Pilger und Besucher. Christus, das lernen wir von Bonaventura, gilt es immer mehr kennenzulernen, zu lieben und dann auch nachzuahmen. So finden wir die Mitte unseres Lebens und können der Geschichte in positiver Weise Gestalt geben. Dazu schenke uns allen Go






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