Generalaudienzen 2005-2013 16060

Mittwoch, 16. Juni 2010: Hl. Thomas von Aquin (2)

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich damit fortfahren, den hl. Thomas von Aquin vorzustellen, einen Theologen von derartigem Wert, daß das Studium seines Denkens ausdrücklich vom II. Vatikanischen Konzil in zwei Dokumenten empfohlen worden ist: im Dekret Optatam totius über die Ausbildung der Priester und in der Erklärung Gravissimum educationis, die von der christlichen Erziehung handelt. Im übrigen hat Papst Leo XIII., der ihn sehr schätzte und die thomistischen Studien förderte, den hl. Thomas bereits 1880 zum Schutzpatron der katholischen Schulen und Universitäten erklärt.

Der Hauptgrund für diese Wertschätzung liegt nicht nur im Inhalt seiner Lehre, sondern auch in der von ihm angewandten Methode, vor allem in seiner neuen Synthese und Unterscheidung von Philosophie und Theologie. Die Kirchenväter mußten sich mit verschiedenen platonisch geprägten Philosophien auseinandersetzen, in denen eine vollständige Welt- und Lebensanschauung vorgelegt wurde, einschließlich der Frage nach Gott und der Religion. In der Auseinandersetzung mit diesen Philosophien hatten sie selbst eine vollständige Sicht der Wirklichkeit erarbeitet, die vom Glauben ausging und Elemente des Platonismus benutzte, um auf die wesentlichen Fragen der Menschen zu antworten. Diese Sicht, die auf der biblischen Offenbarung gründete und mit einem im Licht des Glaubens berichtigten Platonismus erarbeitet worden war, nannten sie »unsere Philosophie«. Das Wort »Philosophie« war also nicht Ausdruck für ein rein rationales und als solches vom Glauben unterschiedenes System, sondern es zeigte eine umfassende Sicht der Wirklichkeit an, die im Licht des Glaubens aufgebaut worden war, die sich aber die Vernunft denkend angeeignet hatte. Gewiß ging diese Sichtweise über die Fähigkeiten der Vernunft hinaus, sie war jedoch als solche auch für diese zufriedenstellend. Für den hl. Thomas öffnete die Begegnung mit der vorchristlichen Philosophie des Aristoteles (dieser starb um das Jahr 322 vor Christus) eine neue Perspektive. Die aristotelische Philosophie war natürlich eine Philosophie, die ohne Kenntnis des Alten und des Neuen Testaments erarbeitet worden war, eine Erklärung der Welt ohne Offenbarung, allein durch die Vernunft. Und diese konsequente Vernünftigkeit war überzeugend. So funktionierte die alte Form - »unsere Philosophie« - der Väter nicht mehr. Die Beziehung zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Glauben und Vernunft mußte neu bedacht werden. Es gab eine vollständige und in sich selbst überzeugende »Philosophie«, eine dem Glauben vorangehende Vernünftigkeit, und dann die »Theologie«, ein Denken mit dem Glauben und im Glauben. Die vordringliche Frage war folgende: Sind die Welt der Rationalität, die ohne Christus gedachte Philosophie, und die Welt des Glaubens miteinander vereinbar? Oder schließen sie einander aus? Es fehlte nicht an Elementen, die für die Unvereinbarkeit der beiden Welten sprachen, aber der hl. Thomas war fest davon überzeugt, daß sie miteinander vereinbar seien - ja, daß die ohne die Kenntnis Christi erarbeitete Philosophie gleichsam das Licht Christi erwartete, um vollständig zu sein. Dies war die große »Überraschung« des hl. Thomas, die seinen Denkweg bestimmt hat. Der Beweis dieser Unabhängigkeit zwischen Philosophie und Theologie und gleichzeitig ihrer gegenseitigen Bezogenheit war die historische Sendung des großen Meisters. Und so versteht man, warum Leo XIII. im 19. Jahrhundert, als die Unvereinbarkeit von moderner Vernunft und Glauben nachdrücklich behauptet wurde, auf den hl. Thomas als eine Leitfigur im Dialog zwischen den beiden verwies. In seiner theologischen Arbeit setzt der hl. Thomas diese Bezogenheit voraus und legt sie konkret dar. Der Glaube festigt, ergänzt und erleuchtet das Erbe der Wahrheit, das die menschliche Vernunft erwirbt. Das Vertrauen, das der hl. Thomas in diese beiden Werkzeuge der Erkenntnis - Glaube und Vernunft - legt, kann auf die Überzeugung zurückgeführt werden, daß beide der einen Quelle der Wahrheit entspringen, dem göttlichen »Logos«, der sowohl im Bereich der Schöpfung als auch in dem der Erlösung wirkt.

Mit der Übereinstimmung von Glauben und Vernunft muß man andererseits zugleich erkennen, daß sie sich unterschiedlicher erkenntnismäßiger Vorgehensweisen bedienen. Die Vernunft nimmt eine Wahrheit kraft ihrer inneren, mittelbaren oder unmittelbaren Offensichtlichkeit an; der Glaube dagegen übernimmt eine Wahrheit aufgrund der Autorität des Wortes Gottes, der sich offenbart. Der hl. Thomas schreibt zu Beginn seiner Summa theologiae: »»Aber es gibt eine doppelte Art von Wissenschaft. Die eine stützt sich auf Prinzipien, die durch das natürliche Licht des Verstandes einsichtig sind, wie z. B. die Zahlenlehre, die Geometrie u. a.; eine zweite Art auf Prinzipien, die durch das Licht einer höheren, übergeordneten Wissenschaft einsichtig werden. So gründet z. B. die Lehre von der Perspektive in Prinzipien, die durch die Geometrie, die Musik in solchen, die durch die Arithmetik einsichtig sind. Und zu dieser zweiten Art von Wissenschaft zählt die heilige Lehre, weil sie sich auf Prinzipien stützt, die durch das Licht einer höheren Wissenschaft erkannt werden, nämlich der Wissenschaft Gottes und der Seligen« (
I 1,2).

Diese Unterscheidung gewährleistet die Unabhängigkeit sowohl der Humanwissenschaften als auch der theologischen Wissenschaften. Sie kommt jedoch nicht einer Trennung gleich, sondern schließt vielmehr eine gegenseitige und vorteilhafte Zusammenarbeit ein. Der Glaube nämlich schützt die Vernunft vor jeglicher Versuchung des mangelnden Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten; er spornt sie an, sich immer weiteren Horizonten zu öffnen; er hält in ihr die Suche nach den Grundlagen lebendig; und wenn die Vernunft selbst auf die übernatürliche Sphäre der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen angewandt wird, bereichert er ihre Tätigkeit. Dem hl. Thomas zufolge kann zum Beispiel die menschliche Vernunft ohne weiteres zur Bejahung der Existenz eines einzigen Gottes gelangen, aber nur der Glaube, der die göttliche Offenbarung annimmt, ist in der Lage, aus dem Geheimnis der Liebe des einen und dreifaltigen Gottes zu schöpfen.

Andererseits hilft nicht nur der Glaube der Vernunft. Auch die Vernunft kann mit ihren Mitteln etwas Wichtiges für den Glauben tun und ihm einen dreifachen Dienst leisten, den der hl. Thomas im Vorwort seines Kommentars zu De Trinitate des Boethius zusammenfaßt: »Die Grundlagen des Glaubens aufzeigen; durch Vergleiche die Wahrheit des Glaubens erklären; die Einwände, die sich gegen den Glauben erheben, zurückweisen« (q. 2, a. 2). Die gesamte Geschichte der Theologie ist im Grunde die Übung dieses Einsatzes der vernünftigen Einsicht, welche die Intelligibilität des Glaubens, seine Ausprägung und innere Harmonie, seine Vernünftigkeit und seine Fähigkeit zeigt, das Wohl des Menschen zu fördern. Die Korrektheit der theologischen Argumentationen und ihre wahre erkenntnismäßige Bedeutung gründen auf dem Wert der theologischen Sprache, die dem hl. Thomas zufolge in erster Linie eine analogische Sprache ist. Der Abstand zwischen Gott, dem Schöpfer, und dem Sein seiner Geschöpfe ist unendlich; die Unähnlichkeit ist stets größer als die Ähnlichkeit (vgl. DS 806). Trotz aller Verschiedenheit zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht jedoch gleichwohl eine Analogie zwischen dem geschaffenen Sein und dem Sein des Schöpfers, die es uns gestattet, mit menschlichen Worten über Gott zu sprechen.

Der hl. Thomas hat die Lehre von der Analogie außer auf ausgesucht philosophische Argumentationen auch auf die Tatsache gegründet, daß durch die Offenbarung Gott selbst zu uns gesprochen und uns somit gestattet hat, von ihm zu sprechen. Ich halte es für wichtig, diese Lehre in Erinnerung zu rufen. Sie hilft uns nämlich, einige Einwände des zeitgenössischen Atheismus zu überwinden, der das Vorhandensein einer objektiven Bedeutung der religiösen Sprache verneint und vielmehr die Auffassung vertritt, daß sie nur einen subjektiven oder einfach nur gefühlsmäßigen Wert besitzt. Dieser Einwand kommt aus der Tatsache, daß das positivistische Denken davon überzeugt ist, daß der Mensch nicht das Sein, sondern nur die erfahrbaren Funktionen der Wirklichkeit erkennt. Zusammen mit dem hl. Thomas und mit der großen philosophischen Überlieferung sind wir der Überzeugung, daß der Mensch in Wirklichkeit nicht nur die Funktionen erkennt, die Gegenstand der Naturwissenschaften sind, sondern daß er etwas vom Sein selbst erkennt - er erkennt zum Beispiel die Person, das Du des anderen und nicht nur den physischen und biologischen Aspekt seines Seins.

Im Licht dieser Lehre des hl. Thomas sagt die Theologie, daß die religiöse Sprache, so begrenzt sie auch ist, mit einem Sinn ausgestattet ist - da wir an das Sein rühren -, wie ein Pfeil, der auf die Wirklichkeit ausgerichtet ist, auf die er verweist. Diese grundlegende Übereinstimmung zwischen der menschlichen Vernunft und dem christlichen Glauben wird in einem weiteren Grundprinzip des Denkens des Aquinaten ersichtlich: Die göttliche Gnade hebt die menschliche Natur nicht auf, sondern setzt sie voraus und bringt sie zur Vollendung. Auch nach dem Sündenfall ist letztere nämlich nicht vollkommen verdorben, sondern verwundet und geschwächt. Die von Gott geschenkte und durch das Geheimnis des fleischgewordenen Wortes mitgeteilte Gnade ist ein absolut unentgeltliches Geschenk, das die Natur heilt und stärkt und ihr hilft, dem Verlangen nachzugehen, das im Herzen eines jeden Mannes und einer jeden Frau vorhanden ist: der Glückseligkeit. Alle Fähigkeiten des menschlichen Seins werden durch die göttliche Gnade gereinigt, verwandelt und erhoben.

Eine wichtige Anwendung dieser Beziehung zwischen Natur und Gnade wird in der Moraltheologie des hl. Thomas von Aquin ersichtlich, die sich als sehr zeitgemäß erweist. In den Mittelpunkt seiner Lehre auf diesem Gebiet stellt er das neue Gesetz, das Gesetz des Heiligen Geistes. Mit einem zutiefst am Evangelium ausgerichteten Blick sagt er immer wieder, daß dieses Gesetz die Gnade des Heiligen Geistes ist, die all jenen geschenkt wird, die an Christus glauben. Mit dieser Gnade vereint sich die schriftliche und mündliche Lehre der doktrinalen und sittlichen Wahrheiten, die von der Kirche weitergegeben wird. Der hl. Thomas hebt die grundlegende Rolle des Wirkens des Heiligen Geistes im sittlichen Leben hervor, der Gnade, aus der die theologalen und sittlichen Tugenden hervorgehen. So macht er deutlich, daß jeder Christ die hohen Ziele der »Bergpredigt« erreichen kann, wenn er in einer wahren Beziehung des Glaubens an Christus lebt, wenn er sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet. Der Aquinat fügt jedoch hinzu: »Auch wenn die Gnade wirksamer ist als die Natur, so ist dennoch die Natur wesentlicher für den Menschen « (Summa theologiae, I-II 94,6, ad 2). Es gibt daher in der christlichen Perspektive der Moral einen Platz für die Vernunft, die fähig ist, das natürliche Sittengesetz zu erkennen. Die Vernunft kann es erkennen, indem sie darüber nachdenkt, was zu tun und was zu vermeiden ist, um jene Glückseligkeit zu erlangen, die einem jeden Menschen am Herzen liegt und die auch eine Verantwortung gegenüber den anderen und somit die Suche nach dem Gemeinwohl auferlegt. Mit anderen Worten: sowohl die theologalen als auch die sittlichen Tugenden des Menschen sind in der menschlichen Natur verwurzelt. Die göttliche Gnade begleitet, stützt und drängt das ethische Bemühen, aber an sich sind dem hl. Thomas zufolge alle Menschen, Gläubige und Nichtgläubige, aufgerufen, die Erfordernisse der menschlichen Natur, die im Naturrecht zum Ausdruck kommen, zu erkennen und sich an diesem bei der Formulierung der positiven Gesetze auszurichten, also der Gesetze, die von den zivilen und politischen Autoritäten erlassen werden, um das menschliche Zusammenleben zu regeln.

Wenn das Naturrecht und die Verantwortung, die es mit sich bringt, geleugnet werden, öffnet sich dramatisch der Weg zum ethischen Relativismus auf individueller Ebene und zum Totalitarismus des Staates auf politischer Ebene. Die Verteidigung der universalen Rechte des Menschen und die Bejahung des absoluten Wertes der Würde der Person erfordern eine Grundlage. Ist nicht das Naturrecht diese Grundlage, mit den nicht verhandelbaren Werten, auf die es verweist? Der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. schrieb in seiner Enzyklika Evangelium vitae Worte, die auch heute noch große Aktualität besitzen: »Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher, angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit des menschlichen Seins selbst entspringen und die Würde der Person zum Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können, sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen« (EV 71).

Abschließend läßt sich sagen, daß der hl. Thomas uns eine weite und vertrauensvolle Auffassung von der menschlichen Vernunft bietet: Sie ist »weit«, weil sie sich nicht auf die Räume der sogenannten empirisch-wissenschaftlichen Vernunft beschränkt, sondern offen gegenüber dem ganzen Sein und daher auch gegenüber den grundlegenden und unverzichtbaren Fragen des menschlichen Lebens ist; sie ist »vertrauensvoll«, weil die menschliche Vernunft, besonders dann, wenn sie die Inspirationen des christlichen Glaubens annimmt, eine Zivilisation fördert, die die Würde der Person, die Unantastbarkeit ihrer Rechte und die zwingende Notwendigkeit ihrer Pflichten erkennt. Es ist nicht erstaunlich, daß die Lehre über die Würde der Person, die für die Anerkennung der Unantastbarkeit der Menschenrechte grundlegend ist, in geistigen Umfeldern herangereift ist, die das Erbe des hl. Thomas von Aquin, der eine sehr hohe Auffassung vom menschlichen Geschöpf besaß, aufgegriffen haben. In seiner streng philosophischen Sprache bezeichnete er dieses als »das Vollkommenste in der ganzen Natur, nämlich das Für-Sich-Bestehende vernunftbegabter Natur« (Summa theologiae, I 29,3).

Die Tiefe des Denkens des hl. Thomas von Aquin entspringt - das dürfen wir nie vergessen - seinem lebendigen Glauben und seiner eifrigen Frömmigkeit, die er durch geisterfüllte Gebete zum Ausdruck brachte, wie durch dieses, in dem er Gott bittet: »Schenk mir, o Gott, Verstand, der dich erkennt, Eifer, der dich sucht, Weisheit, die dich findet, einen Wandel, der dir gefällt, Beharrlichkeit, die gläubig dich erwartet, Vertrauen, das am Ende dich umfängt.«
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Ganz herzlich begrüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Bei aller Bewunderung für die denkerische Leistung von Thomas von Aquin dürfen wir nicht vergessen, daß er zuerst ein gläubiger und betender Ordensmann war. So bringt es eines seiner Gebete zum Ausdruck: „Schenk mir, o Gott, Verstand, der dich erkennt, Eifer, der dich sucht, Weisheit, die dich findet, einen Wandel, der dir gefällt, Beharrlichkeit, die gläubig dich erwartet, Vertrauen, das am Ende dich umfängt.“ Dazu erbitte ich euch und euren Familien Gottes reichen Segen.





Audienzhalle

Mittwoch, 23. Juni 2010: Hl. Thomas von Aquin (3)

23060

Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich mit einem dritten Teil meine Katechesen über den hl. Thomas von Aquin beenden. Auch über 700 Jahre nach seinem Tod können wir viel von ihm lernen, wie schon mein Vorgänger Papst Paul VI. in Erinnerung gerufen hat. In einer Ansprache, die er am 14. September 1974 in Fossanova anläßlich des 700. Todestages des hl. Thomas hielt, fragte er sich: »Meister Thomas, welche Lehre kannst du uns geben?«. Und er antwortete: »Das Vertrauen in die Wahrheit des religiösen katholischen Denkens, das von ihm verteidigt, entfaltet und der Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes erschlossen worden ist« (Predigt in der Abtei von Fossanova, 14. September 1974; in O.R. dt., Nr. 39, 27.9.1974, S. 4). Und am selben Tag sagte er in Aquino, wieder in bezug auf den hl. Thomas: »Wir alle können und müssen als gläubige Söhne und Töchter der Kirche zumindest in gewisser Weise seine Schüler sein« (Predigt in Aquino, 14. September 1974; in O.R. dt., Nr. 39, 27.9.1974, S. 5).

Begeben also auch wir uns in die Schule des hl. Thomas und seines Hauptwerkes, der Summa theologiae. Sie ist unvollendet geblieben, und dennoch ist sie ein monumentales Werk: Sie enthält 512 Fragen und 2669 Artikel. Es handelt sich um eine in sich schlüssige Argumentation, in der die Anwendung der menschlichen Intelligenz auf die Geheimnisse des Glaubens mit Klarheit und Tiefe geschieht, indem Fragen und Antworten miteinander verknüpft werden, in denen der hl. Thomas die Lehre der Heiligen Schrift und der Kirchenväter, vor allem des hl. Augustinus, vertieft. Bei diesen Überlegungen, in der Begegnung mit echten Fragen seiner Zeit, die oft auch unsere Fragen sind, gelangt der hl. Thomas - auch unter Anwendung der Methode und des Denkens der antiken Philosophen, insbesondere des Aristoteles - zu genauen, klaren Formulierungen, welche die Glaubenswahrheiten betreffen, wo die Wahrheit Geschenk des Glaubens ist, aufleuchtet und für uns, für unsere Reflexion zugänglich wird. Dieses Bemühen des menschlichen Geistes ist jedoch - so ruft der Aquinat durch sein eigenes Leben in Erinnerung - stets vom Gebet erleuchtet, vom Licht, das aus der Höhe kommt. Nur wer mit Gott und mit den Geheimnissen lebt, kann auch verstehen, was sie sagen.

In der Summa der Theologie geht der hl. Thomas davon aus, daß es drei verschiedene Seins- und Wesensarten Gottes gibt: Gott existiert in sich selbst, er ist der Anfang und das Ende aller Dinge, daher gehen alle Geschöpfe von ihm aus und hängen von ihm ab; dann ist Gott durch seine Gnade im Leben und im Handeln des Christen, der Heiligen, gegenwärtig; schließlich ist Gott auf ganz besondere Weise gegenwärtig in der Person Christi. Hier ist er wirklich mit dem Menschen Jesus vereint und wirkt in den Sakramenten, die seinem Erlösungswerk entspringen. Der Aufbau dieses monumentalen Werkes (vgl. Jean-Pierre Torrell, La »Summa« di San Tommaso, Mailand 2003, S. 29-75; ital. Übers. des franz. Originals: La »Somme de théologie« de saint Thomas d’Aquin, Paris 1998), eine Untersuchung der Fülle Gottes mit »theologischem Blick« (vgl. Summa theologiae,
I 1,7), ist in drei Teile gegliedert und wird vom »Doctor communis« - dem hl. Thomas - folgendermaßen erläutert: »Die Hauptaufgabe dieser heiligen Lehre liegt also darin, uns Gott erkennen zu lassen, nicht nur wie er in sich ist, sondern auch soweit er Ursprung und Ziel der Dinge und im besonderen der vernünftigen Geschöpfe ist. Wir handeln also: 1. über Gott; 2. über die Bewegung der vernünftigen Schöpfung zu Gott hin; 3. über Christus, der als Mensch für uns der Weg zu Gott ist« (ebd., I 2,0). Es ist ein in sich geschlossener Kreis: Gott an sich kommt aus sich heraus und nimmt uns an der Hand, so daß wir mit Christus zu Gott zurückkehren, mit Gott vereint sind und Gott alles in allem sein wird.

Der erste Teil der Summa theologiae ist also eine Untersuchung über Gott an sich, über das Geheimnis der Dreifaltigkeit und über Gottes Schöpferwirken. In diesem Teil finden wir auch eine tiefe Reflexion über die echte Wirklichkeit des Menschen, der aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen ist, als Frucht seiner Liebe. Einerseits sind wir geschaffene, abhängige Wesen und kommen nicht aus uns selbst; anderseits jedoch haben wir eine wahre Autonomie, so daß wir nicht nur etwas Scheinbares sind - wie einige platonische Philosophen sagen -, sondern eine von Gott als solche gewollte Wirklichkeit, die in sich selbst einen Wert besitzt.

Im zweiten Teil betrachtet der hl. Thomas den von der Gnade gedrängten Menschen in seinem Streben, Gott zu kennen und zu lieben, um in Zeit und Ewigkeit glücklich zu sein. Als erstes legt der Autor die theologischen Prinzipien des sittlichen Handelns dar und untersucht, wie bei der freien Entscheidung des Menschen, Gutes zu tun, die Vernunft, der Wille und die Leidenschaften einander ergänzen. Hinzu kommt die Kraft, die die Gnade Gottes durch die Tugenden und die Gaben des Heiligen Geistes schenkt, ebenso wie die Hilfe, die auch durch das Sittengesetz geboten wird. Der Mensch ist also ein dynamisches Wesen: Er sucht sich selbst, er strebt danach, er selbst zu werden, und in diesem Sinne strebt er danach, Dinge zu tun, die ihn erbauen, ihn wirklich zum Menschen machen. Und hier kommen das Sittengesetz ins Spiel, die Gnade und die eigene Vernunft, der Wille und die Leidenschaften. Auf dieser Grundlage zeichnet der hl. Thomas das Erscheinungsbild des Menschen auf, der nach dem Heiligen Geist lebt und so zu einer Ikone Gottes wird. Hier befaßt sich der Aquinat mit den drei theologalen Tugenden - Glaube, Hoffnung und Liebe -, gefolgt von einer eingehenden Untersuchung von über 50 sittlichen Tugenden, die um die vier Kardinaltugenden herum angeordnet sind - Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit. Er endet dann mit einer Reflexion über die verschiedenen Berufungen in der Kirche.

Im dritten Teil der Summa untersucht der hl. Thomas das Geheimnis Christi - Weg und Wahrheit -, durch den wir uns wieder mit Gott vereinigen können. In diesem Abschnitt schreibt er nahezu unübertroffene Texte über das Geheimnis der Menschwerdung und des Leidens Jesu und fügt dann eine umfassende Abhandlung über die sieben Sakramente hinzu. Denn in ihnen schenkt das menschgewordene göttliche Wort die Wohltaten der Menschwerdung für unser Heil, für unseren Weg des Glaubens zu Gott und zum ewigen Leben, es bleibt unter den geschaffenen Wirklichkeiten gleichsam materiell gegenwärtig und berührt uns so im Innersten.

Wenn der hl. Thomas von den Sakramenten spricht, verweilt er insbesondere beim Geheimnis der Eucharistie, für das er eine große Verehrung hegte, die so weit ging, daß er - den älteren Biographen zufolge - oft sein Haupt an den Tabernakel legte, als wolle er das göttliche und menschliche Herz Jesu schlagen hören. In einem seiner Schriftkommentare hilft uns der hl. Thomas, die große Erhabenheit des Sakraments der Eucharistie zu verstehen, wenn er schreibt: »Da die Eucharistie das Sakrament des Leidens unseres Herrn ist, enthält sie in sich Jesus Christus, der für uns gelitten hat. Alles, was aus dem Leiden unseres Herrn hervorgeht, geht daher auch aus diesem Sakrament hervor, denn es ist nichts anderes als die Umsetzung des Leidens des Herrn in uns« (In Ioannem, c. 6, lect. 6, Nr. 963). Wir können gut verstehen, warum der hl. Thomas und andere Heilige bei der Feier der Heiligen Messe Tränen des Mitleids vergossen haben für den Herrn, der sich für uns als Opfer darbringt, Tränen der Freude und der Dankbarkeit.

Liebe Brüder und Schwestern, verlieben wir uns in der Schule der Heiligen in dieses Sakrament! Nehmen wir mit innerer Sammlung an der heiligen Messe teil, um ihre geistlichen Früchte zu erlangen, nähren wir uns am Leib und am Blut des Herrn, um unablässig von der göttlichen Gnade gespeist zu werden! Laßt uns gerne und häufig, von Angesicht zu Angesicht, beim Allerheiligsten Sakrament verweilen.

Was der hl. Thomas in seinen großen theologischen Werken, wie der Summa theologiae und der Summa contra gentiles, mit wissenschaftlicher Strenge erläutert hat, ist auch in seinen Predigten dargelegt, die an die Studenten und Gläubigen gerichtet sind. 1273, ein Jahr vor seinem Tod, predigte er die ganze Fastenzeit hindurch in der Kirche »San Domenico Maggiore« in Neapel. Der Inhalt dieser Predigten wurde gesammelt und aufbewahrt: Es sind die opuscula, in denen er das Apostolische Glaubensbekenntnis erklärt, das Vaterunser auslegt, die Zehn Gebote erläutert und das Ave-Maria kommentiert. Der Inhalt der Predigten des »Doctor angelicus« entspricht fast völlig dem Aufbau des Katechismus der Katholischen Kirche. In einer Zeit wie der unseren, in der man sich um die Neuevangelisierung bemüht, sollten nämlich in der Katechese und in der Predigt folgende grundlegende Themen nie fehlen: was »wir glauben«, also das Glaubensbekenntnis; was »wir beten«, also das Vaterunser und das Ave-Maria; und was »wir leben«, wie uns die biblische Offenbarung lehrt, also das Gesetz der Gottes- und Nächstenliebe und die Zehn Gebote als Entfaltung dieses Liebesgebots.

Ich möchte einige Beispiele aus dem - einfachen, wesentlichen und überzeugenden - Inhalt der Lehre des hl. Thomas anführen. In seinem Opusculum zum Apostolischen Glaubensbekenntnis legt er den Wert des Glaubens dar. Durch ihn, so sagt er, vereint sich die Seele mit Gott; es entsteht gleichsam eine Keimzelle des ewigen Lebens. Das Leben erhält eine sichere Ausrichtung, und wir überwinden leicht die Versuchungen. Wer einwendet, daß der Glaube eine Torheit ist, weil er an etwas glauben läßt, was nicht mit den Sinnen erfahrbar ist, dem gibt der hl. Thomas eine sehr ausgearbeitete Antwort. Er ruft in Erinnerung, daß dieser Einwand unhaltbar ist, da die menschliche Intelligenz beschränkt ist und nicht alles erkennen kann. Nur wenn wir alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge vollkommen erkennen könnten, wäre es eine wahre Torheit, Wahrheiten aus reinem Glauben anzunehmen. Im übrigen, so der hl. Thomas, könne man nicht leben, ohne dort, wohin die persönliche Erkenntnis nicht gelangt, der Erfahrung anderer zu vertrauen. Es ist also vernünftig, dem sich offenbarenden Gott Glauben zu schenken, ebenso wie dem Zeugnis der Apostel: Sie waren nur wenige, sie waren einfach und arm, betrübt über die Kreuzigung ihres Meisters, und dennoch haben sich viele kluge, edle und reiche Menschen innerhalb kurzer Zeit bekehrt, als sie ihre Verkündigung hörten. In der Tat handelt es sich um ein außerordentliches Phänomen in der Geschichte, auf das man schwerlich eine andere vernünftige Antwort geben kann als die der Begegnung der Apostel mit dem auferstandenen Herrn.

Als er den Artikel des Glaubensbekenntnisses über die Menschwerdung des göttlichen Wortes kommentiert, stellt der hl. Thomas einige Überlegungen an. Er sagt, daß der christliche Glaube durch die Betrachtung des Geheimnisses der Menschwerdung gestärkt wird; die Hoffnung erhebt sich vertrauensvoller bei dem Gedanken, daß der Sohn Gottes zu uns gekommen ist, als einer von uns, um den Menschen seine Göttlichkeit mitzuteilen; die Liebe wird belebt, denn es gibt kein deutlicheres Zeichen der Liebe Gottes zu uns, als wenn man sieht, daß der Schöpfer des Universums selbst zum Geschöpf wird, zu einem von uns. Durch die Betrachtung des Geheimnisses der Menschwerdung entzündet sich schließlich in uns das Verlangen, zu Christus in die Herrlichkeit einzugehen. Mit einem einfachen und eindrucksvollen Vergleich sagt der hl. Thomas: »Wenn der Bruder eines Königs in der Ferne wäre, würde er sich danach sehnen, bei ihm zu sein. Für uns ist Christus der Bruder. Wir müssen also seine Nähe wünschen, danach streben, ein Herz und eine Seele mit ihm zu werden« (Opuscoli teologico-spirituali , Rom Rm 1976, S. 64).

Bei der Darlegung des Gebets des Vaterunser zeigt der hl. Thomas, daß es in sich vollkommen ist, da es alle fünf Merkmale hat, die ein gutes Gebet besitzen sollte: vertrauensvolle und ruhige Hingabe, angemessenen Inhalt - denn der hl. Thomas sagt, daß »es sehr schwierig ist, genau zu wissen, worum man bitten soll und worum nicht, da wir Schwierigkeiten haben, zwischen unseren Wünschen zu unterscheiden« (ebd., S. 120); und dann die rechte Ordnung der Bitten, die eifrige Nächstenliebe und die aufrichtige Demut. Wie alle Heiligen brachte der hl. Thomas der Gottesmutter große Verehrung entgegen. Er gab ihr den wunderschönen Namen »Triclinium totius Trinitatis«: Triclinium, also Ort, an dem die Dreifaltigkeit ruhen kann. Denn aufgrund der Menschwerdung wohnen die drei göttlichen Personen in ihr wie in keinem anderen Geschöpf und verspüren Wonne und Freude, in ihrer gnadenerfüllten Seele zu leben. Durch ihre Fürsprache können wir jede Hilfe erhalten.

Durch ein Gebet, das die Überlieferung dem hl. Thomas zuschreibt und das in jedem Fall die Elemente seiner tiefen Marienverehrung widerspiegelt, sagen auch wir: »O allerseligste und liebreiche Jungfrau Maria, Mutter Gottes…, deinem erbarmungsvollen Herzen vertraue ich mein ganzes Leben an… Erwirke mir, o meine liebreiche Herrin, wahre Liebe, mit der ich aus ganzem Herzen deinen heiligsten Sohn und nach ihm dich über alles lieben kann, und den Nächsten in Gott und durch Gott«.
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Von Herzen heiße ich alle Pilger und Besucher deutscher Sprache willkommen. Euch alle ermutige ich, wie Thomas von Aquin - jeder nach seiner Art - aus der Kraft des Heiligen Geistes zu leben, sich vom Wort Gottes und den Sakramenten zu nähren und so auf dem Weg des rechten Lebens, auf dem Weg zur Gemeinschaft mit Gott und mit den Nächsten voranzuschreiten. Der Segen Gottes begleite euch alle!







Petersplatz

Mittwoch, 30. Juni 2010: Hl. Giuseppe Cafasso

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Liebe Brüder und Schwestern!

Vor kurzem haben wir das Priester-Jahr abgeschlossen: eine Zeit der Gnade, die für die Kirche wertvolle Früchte getragen hat und tragen wird, und eine Gelegenheit, im Gebet an all jene zu denken, die auf diese besondere Berufung geantwortet haben. Auf diesem Weg haben uns als Vorbilder und Fürsprecher der heilige Pfarrer von Ars und andere heilige Priester begleitet, wahre Lichtgestalten in der Kirchengeschichte. Wie am vergangenen Mittwoch angekündigt, möchte ich heute eine weitere Gestalt vorstellen, die in der Gruppe der »Sozialheiligen« im Turin des 19. Jahrhunderts eine herausragende Stellung einnimmt: den hl. Giuseppe Cafasso.

Die Erinnerung an ihn bietet sich an, denn vor genau einer Woche haben wir seinen 150. Todestag begangen; er starb in der Hauptstadt von Piemont am 23. Juni 1860 im Alter von 49 Jahren. Ich möchte auch daran erinnern, daß Papst Pius XI. am 1. November 1924, als er die Wunder für die Heiligsprechung von Johannes Maria Vianney approbierte und das Dekret veröffentlichte, mit dem er die Seligsprechung von Giuseppe Cafasso genehmigte, diese beiden Priester mit folgenden Worten einander annäherte: »Es geschieht nicht ohne besondere Fügung und das Wohlwollen der göttlichen Güte, daß wir erleben durften, wie neue Sterne am Horizont der katholischen Kirche erschienen sind: der Pfarrer von Ars und der Ehrwürdige Diener Gottes Giuseppe Cafasso. Gerade diese beiden schönen, lieben, von der Vorsehung gesandten Gestalten sollen heute vor uns stehen: die kleine und demütige, arme und bescheidene, aber nicht minder herrliche Gestalt des Pfarrers von Ars, und auf der anderen Seite die schöne, große, komplexe, reiche Gestalt eines Priesters, Lehrmeisters und Ausbilders von Priestern: der Ehrwürdige Diener Gottes Giuseppe Cafasso«. All das gibt uns Gelegenheit, die lebendige und zeitgemäße Botschaft kennenzulernen, die das Leben dieses Heiligen uns vermittelt. Anders als der Pfarrer von Ars war er kein Pfarrer, sondern vor allem Ausbilder von Pfarrern und Diözesanpriestern, ja sogar von heiligen Priestern, darunter der hl. Johannes Bosco. Er gründete - im Unterschied zu den anderen heiligen Priestern im Piemont des 19. Jahrhunderts - kein Ordensinstitut, denn seine »Gründung« war die »Schule des Lebens und der Heiligkeit der Priester«, die er mit seinem Vorbild und seiner Lehre im kirchlichen Konvikt »San Francesco d’Assisi« in Turin errichtete.

Giuseppe Cafasso wurde in Castelnuovo d’Asti, im selben Ort wie der hl. Johannes Bosco, am 15. Januar 1811 geboren. Er ist das dritte von vier Kindern. Das jüngste von ihnen, seine Schwester Marianna, wurde später die Mutter des sel. Giuseppe Allamano, des Gründers der Consolata-Missionare und der Consolata-Missionsschwestern. Er wird im Piemont des 19. Jahrhunderts geboren, das von schweren sozialen Problemen gekennzeichnet war, aber auch von vielen Heiligen, die sich bemühten, Abhilfe zu schaffen. Sie alle verband eine vollkommene Liebe zu Christus und eine tiefe Barmherzigkeit gegenüber den Armen: Die Gnade des Herrn versteht es, die Samen der Heiligkeit zu verbreiten und zu vermehren! Giuseppe Cafasso absolvierte die höhere Schule und das zweijährige Philosophiestudium im Internat von Chieri und trat 1830 in das theologische Seminar ein, wo er 1833 zum Priester geweiht wurde. Vier Monate später kam er an den Ort, der für ihn die grundlegende und einzige »Etappe« seines priesterlichen Lebens bleiben sollte: das kirchliche Konvikt »San Francesco d’Assisi« in Turin. Er war eingetreten, um sich in der Seelsorge weiterzubilden, und brachte hier seine Gaben als geistlicher Leiter und seinen großen Geist der Nächstenliebe nutzbringend ein. Das Konvikt war nämlich nicht nur eine Schule für Moraltheologie, in der die jungen Priester, die vor allem vom Land kamen, die Beichte abzunehmen und zu predigen lernten, sondern es war eine wahre Schule des priesterlichen Lebens, in der die Priester in der Spiritualität des hl. Ignatius von Loyola sowie in der Moral- und Pastoraltheologie des großen heiligen Bischofs Alfons Maria de’ Liguori unterwiesen wurden. Giuseppe Cafasso begegnete im Konvikt Priestern, die eine Wesensart besaßen, zu deren stärkerer Ausformung er selbst - vor allem als Rektor - beitrug: wahre Hirten mit reichem inneren Leben und großem Eifer in der Seelsorge, dem Gebet treu, tatkräftig in der Verkündigung und in der Katechese, hingebungsvoll in der Feier der Eucharistie und im Dienst der Beichte, nach dem Vorbild, das vom hl. Karl Borromäus und vom hl. Franz von Sales verkörpert und durch das Konzil von Trient gefördert wurde. Ein schönes Wort des hl. Johannes Bosco faßt den Sinn der Erziehungs- und Bildungsarbeit in dieser Gemeinschaft zusammen: »Im Konvikt lernte man, Priester zu sein«.

Der hl. Giuseppe Cafasso strebte nach der Umsetzung dieses Modells der Ausbildung junger Priester, damit diese ihrerseits andere Priester, Ordensleute und Laien ausbilden konnten - gleichsam eine Art Kettenwirkung. An seinem Lehrstuhl für Moraltheologie unterwies er die Priester, gute Beichtväter und geistliche Leiter zu sein, die für das wahre geistliche Wohl der Person Sorge tragen, beseelt von einem großen Gleichgewicht zwischen der Vermittlung der Barmherzigkeit Gottes und gleichzeitig eines starken und lebendigen Sündenbewußtseins. Als Lehrer besaß Giuseppe Cafasso vor allem drei Tugenden, wie der hl. Johannes Bosco in Erinnerung ruft: Ruhe, Sorgfalt und Besonnenheit. Prüfstein der übermittelten Lehre war für ihn der Dienst der Beichte, der er selbst viele Stunden am Tag widmete. Bischöfe, Priester, Ordensleute, hochrangige Laien und einfache Menschen kamen zu ihm, und allen konnte er die nötige Zeit schenken. Für viele spätere Heilige und Gründer von Ordensinstituten war er ein weiser geistlicher Ratgeber. Seine Lehre war niemals abstrakt und gründete nicht nur auf den Büchern, die in jener Zeit verbreitet waren, sondern sie entsprang der lebendigen Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes und der tiefen Kenntnis des menschlichen Herzens, die er in den langen Stunden im Beichtstuhl und in der geistlichen Leitung erworben hatte: Seine Schule war wirklich eines Schule des priesterlichen Lebens.

Sein Geheimnis war ganz einfach: ein Mann Gottes zu sein und in den kleinen Dingen des täglichen Lebens das zu tun, »was zur größeren Ehre Gottes dient und den Seelen nützt«. Er liebte den Herrn von ganzem Herzen, war von einem festverwurzelten Glauben beseelt, vom tiefen und langen Gebet getragen und er übte aufrichtige Nächstenliebe gegenüber allen. Er war mit der Moraltheologie vertraut, aber ebenso vertraut war er mit der Situation und dem Herzen der Menschen, um deren Wohl er sich kümmerte, wie der gute Hirt. Jene, die die Gnade erfuhren, ihm nahe zu sein, wurden ebenso zu guten Hirten und fähigen Beichtvätern. Er verwies alle Priester klar und deutlich auf die Heiligkeit, die es im eigenen Hirtendienst zu erlangen gilt. Der sel. Clemente Marchisio, der Gründer der »Figlie di San Giuseppe«, sagte: »Als ich in das Konvikt eintrat, war ich ein großer Schelm und ein Leichtfuß, der nicht wußte, was es bedeutet, Priester zu sein; ich verließ es ganz anders, völlig von der Würde des Priesters durchdrungen.« Wie viele Priester wurden von ihm im Konvikt ausgebildet und dann geistlich begleitet! Darunter war auch - wie schon gesagt - der hl. Johannes Bosco, der ihn 25 Jahre lang als geistlichen Leiter hatte, von 1835 bis 1860: erst als Seminarist, dann als Priester und schließlich als Ordensgründer. Bei allen grundlegenden Entscheidungen im Leben des hl. Johannes Bosco war der hl. Giuseppe Cafasso sein Ratgeber und Leiter, aber auf ganz bestimmte Weise: Giuseppe Cafasso versuchte nie, Don Bosco zu einem Schüler »nach seinem Abbild und Gleichnis« zu machen, und Don Bosco kopierte nicht Giuseppe Cafasso. Sicher ahmte er ihn in seinen priesterlichen und menschlichen Tugenden nach - er bezeichnete ihn als »Vorbild des priesterlichen Lebens« -, aber gemäß seiner persönlichen Begabung und seiner eigenen besonderen Berufung: ein Zeichen für die Weisheit des geistlichen Lehrers und für die Intelligenz des Schülers. Jener drängte sich diesem nicht auf, sondern achtete ihn in seiner Persönlichkeit und half ihm, den Willen Gottes für sein Leben zu verstehen.

Liebe Freunde, das ist eine wertvolle Lehre für alle, die in der Ausbildung und Erziehung der jungen Generationen tätig sind, und es ist auch ein starker Hinweis darauf, wie wichtig es ist, im eigenen Leben einen geistlichen Leiter zu haben, der uns hilft zu verstehen, was Gott von uns will. Unser Heiliger sagte mit einfachen und tiefen Worten: »Alle Heiligkeit, alle Vollkommenheit und aller Nutzen einer Person liegt darin, den Willen Gottes vollkommen zu erfüllen (…). Wie glücklich sind wir, wenn es uns gelingt, unser Herz so in das Herz Gottes auszugießen, unser Wünschen und Wollen so sehr mit dem seinen zu vereinen, daß wir ein Herz und ein Wille sind - das zu wollen, was Gott will, es auf die Weise, zu der Zeit, unter den Umständen zu wollen, die seinem Willen entsprechen, und all das aus nur deshalb zu wollen, weil Gott es will.«

Noch ein weiteres Element zeichnet jedoch den Dienst unseres Heiligen aus: Die Fürsorge für die Geringsten, insbesondere für die Gefangenen, die im Turin des 19. Jahrhunderts an unmenschlichen und entmenschlichenden Orten lebten. Auch in diesem heiklen Dienst, den er über 20 Jahre lang ausübte, war er stets der gute Hirt, verständnisvoll und mitfühlend. Die Häftlinge spürten dies und wurden schließlich erobert von seiner aufrichtigen Liebe, deren Ursprung Gott selbst war. Schon die Anwesenheit von Giuseppe Cafasso war eine Wohltat: Er heiterte sie auf und berührte die Herzen, die von den Wechselfällen des Lebens verhärtet waren; vor allem aber erleuchtete er das gleichgültig gewordene Gewissen und rüttelte es auf. In der ersten Zeit seines Dienstes unter den Gefangenen hielt er oft große Predigten, mit denen er fast alle Gefängnisinsassen erreichte. Später zog er die Katechese im kleinen Rahmen vor, durch Gespräche und persönliche Begegnungen. Mit Respekt gegenüber der Lebensgeschichte eines jeden griff er die großen Themen des christlichen Lebens auf und sprach über das Vertrauen zu Gott, die Treue zu seinem Willen sowie den Nutzen des Gebets und der Sakramente, deren Zielpunkt die Beichte ist, die Begegnung mit Gott, der für uns zur unendlichen Barmherzigkeit geworden ist. Den zum Tode Verurteilten brachte er ganz besondere menschliche und geistliche Fürsorge entgegen. Er begleitet 57 zum Tode Verurteilte zur Hinrichtung, nachdem er ihnen die Beichte abgenommen und die Eucharistie gespendet hatte. Er begleitete sie mit tiefer Liebe bis zum letzten Atemzug ihres irdischen Lebens.

Er starb am 23. Juni 1860, nachdem er sein ganzes Leben dem Herrn geweiht und für den Nächsten aufgeopfert hatte. Mein Vorgänger, der Ehrwürdige Diener Gottes Papst Pius XII., erklärte ihn am 9. April 1948 zum Schutzpatron der italienischen Gefängnisse und gab ihn durch das Apostolische Schreiben Menti nostrae allen Priestern zum Vorbild, die in der Beichte und in der geistlichen Leitung tätig sind.

Liebe Brüder und Schwestern, der hl. Giuseppe Cafasso möge alle dazu anspornen, den Weg zur Vollkommenheit des christlichen Lebens, zur Heiligkeit, intensiver zu gehen. Insbesondere erinnere ich die Priester daran, wie wichtig es ist, dem Sakrament der Versöhnung sowie der geistlichen Leitung Zeit zu widmen. Allen rufe ich die Fürsorge ins Gedächtnis, die wir den Notleidenden entgegenbringen müssen. Es helfe uns die Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria, die der hl. Giuseppe Cafasso sehr verehrte: Er nannte sie »unsere liebe Mutter, unser Trost, unsere Hoffnung«.


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Einen frohen Gruß richte ich an alle Pilger und Besucher deutscher Sprache. Der heilige Giuseppe Cafasso zeigt uns, wie wichtig die Beichte und geistliche Führung sind, um zu erkennen, was Gott konkret von einem jeden einzelnen von uns will. Bitten wir den Herrn um gute Priester, die auf dem Weg der Heiligkeit, auf dem Weg zu Gott weiterhelfen. Der Herr schenke euch allen seine Gnade und seine Liebe und die Freude, ihn zu kennen.





Audienzhalle

Mittwoch, 7. Juli 2010: Johannes Duns Scotus


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