Generalaudienzen 2005-2013 13100

Mittwoch, 13. Oktober 2010: Sel. Angela von Foligno

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über die sel. Angela von Foligno sprechen, eine große Mystikerin des Mittelalters, die im 13. Jahrhundert gelebt hat. Man ist gewöhnlich fasziniert von den Höhen der Vereinigung mit Gott, die sie erreicht hat, zieht aber vielleicht zu wenig die ersten Schritte in Betracht: ihre Bekehrung und den langen Weg, der sie von ihrem Ausgangspunkt, der »großen Furcht vor der Hölle«, bis ans Ziel, zur völligen Vereinigung mit der Dreifaltigkeit, geführt hat. Im ersten Teil ihres Lebens war Angela gewiß keine eifrige Jüngerin des Herrn. Sie wurde um 1248 in einer wohlhabenden Familie geboren und, nachdem sie den Vater verloren hatte, von ihrer Mutter recht oberflächlich erzogen. Schon bald wurde sie in die höchsten Kreise der Stadt Foligno eingeführt, wo sie einen Mann kennenlernte, den sie mit 20 Jahren heiratete und mit dem sie Kinder hatte. Ihr Leben war so unbeschwert, daß sie es sich sogar erlaubte, die sogenannten »Büßer«, die in jener Zeit sehr verbreitet waren, zu verachten: jene also, die, um Christus nachzufolgen, ihr Hab und Gut verkauften und im Gebet, im Fasten, im Dienst an der Kirche und in der Nächstenliebe lebten.

Einige Ereignisse, wie das schwere Erdbeben von 1279, ein Orkan und der langjährige Krieg gegen Perugia mit seinen gravierenden Folgen, wirken sich auf Angelas Leben aus. Sie wird sich allmählich ihrer Sünden bewußt und unternimmt schließlich einen entscheidenden Schritt: Sie betet zum hl. Franziskus, der ihr in einer Vision erscheint, und bittet ihn um Rat, um eine gute Generalbeichte abzulegen. Wir befinden uns im Jahr 1285; Angela beichtet bei einem Ordensbruder in San Feliciano. Drei Jahre später erfährt ihr Weg der Bekehrung eine weitere Wende: die Loslösung von den familiären Bindungen, als innerhalb von wenigen Monaten erst ihre Mutter und dann ihr Ehemann und all ihre Kinder sterben. Danach verkauft sie ihren Besitz und schließt sich 1291 dem Dritten Orden des hl. Franziskus an. Sie stirbt in Foligno am 4. Januar 1309.

Das Buch der seligen Angela von Foligno (Beatae Angelae de Fuligneo visionum et instructionum liber), in dem die Dokumentation über unsere Selige zusammengefaßt ist, berichtet über diese Bekehrung; es nennt die dafür notwendigen Mittel: Buße, Demut und Leiden; es legt die verschiedenen Schritte und die Abfolge von Angelas Erfahrungen dar, die 1285 begonnen haben. Sie rief sich das Erlebte in Erinnerung und wollte es durch den Ordensbruder, ihren Beichtvater, wiedergeben. Dieser schrieb es wahrheitsgetreu auf und versuchte, es in Abschnitte zu ordnen, die er »Schritte« oder »Verwandlungen« nannte, wobei es ihm jedoch nicht gelang, es ganz zu ordnen (vgl. ebd.). Denn die sel. Angela erfährt die Vereinigung unter Einbeziehung aller geistlichen und leiblichen Sinne, und von dem, was sie in ihren Ekstasen »erfaßt«, bleibt sozusagen nur ein »Schatten« in ihrem Gedächtnis. Nach einer mystischen Entrückung bekennt sie: »Ich hörte wahrhaftig diese Worte, aber was ich sah und erfaßte, was er [Gott] mir zeigte, weiß ich auf keine Weise und kann es nicht sagen, obgleich ich gerne darlegen würde, was ich durch die Worte verstand, die ich vernahm. Es war jedoch ein unsagbarer Abgrund.« Angela von Foligno spricht über ihr mystisches »Erleben«, ohne es durch den Verstand zu überarbeiten, denn es sind göttliche Erleuchtungen, die ihrer Seele plötzlich und unerwartet mitgeteilt werden. Auch der Ordensbruder, ihr Beichtvater, hat Schwierigkeiten, diese Ereignisse wiederzugeben, »auch aufgrund ihrer großen und bewundernswerten Zurückhaltung in bezug auf die göttlichen Gaben« (ebd.). Zu Angelas Schwierigkeiten, ihre mystische Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, kommt noch hinzu, daß ihre Zuhörer Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen. Diese Situation zeigt deutlich, daß der einzige und wahre Meister, Jesus, im Herzen eines jeden Gläubigen wohnt und es ganz in Besitz nehmen will. So ist es auch bei Angela, die an einen geistlichen Sohn schrieb: »Mein Sohn, wenn du mein Herz sehen würdest, so wärst du gezwungen, alles zu tun, was Gott will, denn mein Herz ist Gottes Herz und Gottes Herz ist mein Herz.« Hier klingen die Worte des hl. Paulus an: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir« (
Ga 2,20).

Wir wollen daher nur einige »Schritte« des reichen geistlichen Weges unserer Seligen betrachten. Der erste Schritt ist in Wirklichkeit eine Vorbedingung. Sie berichtet: »Infolge der Erkenntnis der Sünde hatte die Seele große Furcht, in Verdammnis zu geraten; in diesem Schritt weinte sie bitterlich« (ebd.). Diese »Furcht« vor der Hölle entspricht dem Glauben, den Angela im Augenblick ihrer »Bekehrung« hatte: einen Glauben, der noch arm war an Liebe zu Gott. Reue, Furcht vor der Hölle, Buße eröffnen Angela die Perspektive des schmerzhaften »Weges des Kreuzes«, der sie dann vom achten bis zum fünfzehnten Schritt auf den »Weg der Liebe« bringen wird. Der Ordensbruder, ihr Beichtvater, berichtet: »Die Gläubige sagte zu mir: Ich hatte diese göttliche Offenbarung: ›Nach den Dingen, die ihr geschrieben habt, sollst du schreiben lassen, daß jeder, der die Gnade bewahren will, die Augen der Seele nicht vom Kreuz abwenden darf, weder in der Freude noch in der Trübsal, die ich ihm sende oder gewähre‹« (ebd.). Aber in dieser Phase »fühlt« Angela noch keine Liebe; sie sagt: »Die Seele verspürt Scham und Bitterkeit und fühlt noch keine Liebe, sondern Schmerz« (ebd.), und ist damit nicht zufrieden.

Angela spürt, daß sie Gott als Wiedergutmachung für ihre Sünden etwas geben muß, aber langsam versteht sie, daß sie nichts hat, was sie ihm geben kann, ja daß sie vor ihm »nichts ist«. Sie versteht, daß nicht ihr Wille ihr die Liebe Gottes geben wird, denn ihr Wille kann ihr nur ihr »Nichts«, die »Nicht-Liebe« geben. Sie sagt: Nur »die wahre und reine Liebe, die von Gott kommt, ist in der Seele und führt zur Erkenntnis der eigenen Fehler und der göttlichen Güte […] Diese Liebe bringt die Seele zu Christus, und sie versteht ganz sicher, daß sie sich nicht täuschen kann. Unter diese Liebe läßt sich keine weltliche Liebe mischen« (ebd.). Um sich einzig und vollkommen für die Liebe Gottes zu öffnen, die ihren größten Ausdruck in Christus hat, betet sie: »O mein Gott, mach mich würdig, das höchste Geheimnis zu erkennen, das deine glühende und unsagbare Liebe zusammen mit der Liebe der Dreifaltigkeit gewirkt hat: das höchste Geheimnis deiner allerheiligsten Menschwerdung für uns. […] O unergründliche Liebe! Es gibt keine größere Liebe als die, durch die mein Gott Mensch geworden ist, um mich zu Gott zu machen « (ebd.). Dennoch trägt Angelas Herz noch immer die Wunden der Sünde, denn nach einer guten Beichte war sie im Zustand der Vergebung, aber noch immer durch die Sünde betrübt; frei, aber noch unter dem Einfluß der Vergangenheit; von der Sünde losgesprochen, aber der Buße bedürftig. Und auch der Gedanke an die Hölle begleitet sie, denn je mehr die Seele auf dem Weg christlicher Vollkommenheit voranschreitet, desto mehr ist sie davon überzeugt, nicht nur »unwürdig« zu sein, sondern die Hölle verdient zu haben.

So versteht Angela auf ihrem mystischen Weg zutiefst die zentrale Wirklichkeit: Was sie von ihrer »Unwürdigkeit« und davon, »die Hölle verdient zu haben«, erretten wird, ist nicht ihre »Vereinigung mit Gott« und ihr Besitz der »Wahrheit«, sondern der gekreuzigte Jesus, »seine Kreuzigung für mich«, seine Liebe. Im achten Schritt sagt sie: »Noch wußte ich nicht, ob das größere Gut meine Befreiung von den Sünden und von der Hölle und die Bekehrung zur Buße war oder seine Kreuzigung für mich« (ebd.). Es ist das labile Gleichgewicht zwischen Liebe und Schmerz, das sie auf ihrem ganzen schwierigen Weg zur Vollkommenheit wahrnimmt. Gerade deshalb betrachtet sie am liebsten den gekreuzigten Christus, denn darin erblickt sie das vollkommene Gleichgewicht: Am Kreuz befindet sich der Gottmensch, in der höchsten Leidenstat, die die höchste Liebestat ist. In der dritten Instructio spricht die Selige noch einmal über diese Betrachtung und sagt: »Je vollkommener und reiner unsere Betrachtung ist, desto vollkommener und reiner lieben wir. […] Je mehr wir also den Gott und Menschen Jesus Christus betrachten, desto mehr werden wir in ihm durch die Liebe verwandelt. […] Was ich über die Liebe gesagt habe […], das sage ich auch über den Schmerz: Je mehr die Seele den unsagbaren Schmerz des Gottes und Menschen Jesus Christus betrachtet, desto mehr leidet sie und wird in Schmerz verwandelt« (ebd.). Die Liebe und das Leiden des gekreuzigten Christus verinnerlichen, sich darin verwandeln, sich mit ihm identifizieren: Angelas Bekehrung, die mit der Beichte von 1285 begann, kommt erst dann zur Reife, als Gottes Vergebung ihrer Seele als die unentgeltliche Liebesgabe des Vaters, des Quells der Liebe, erscheint. Sie sagt: »Niemand kann einen Vorwand geltend machen, denn jeder kann Gott lieben, und er verlangt von der Seele nichts anderes als daß sie ihn liebt, denn er liebt sie, und es ist seine Liebe« (ebd.).

Auf Angelas geistlichem Weg findet der Übergang von der Bekehrung zur mystischen Erfahrung, vom Sagbaren zum Unsagbaren durch den Gekreuzigten statt. Er ist der »Gottmensch, der gelitten hat« und zu ihrem »Meister der Vollkommenheit« wird. Ihre ganze mystische Erfahrung besteht also darin, eine vollkommene »Ähnlichkeit« mit ihm anzustreben, durch immer tiefere und radikalere Reinigungen und Verwandlungen. Diesem wunderbaren Unterfangen gibt sich Angela ganz hin, mit Leib und Seele, ohne sich Buße und Schmerz zu ersparen, von Anfang bis zum Ende, in dem Wunsch, mit allen Schmerzen zu sterben, die der gekreuzigte Gottmensch erlitten hat, um ganz in ihn verwandelt zu werden. Sie riet: »O Kinder Gottes, verwandelt euch ganz in den Gottmenschen, der gelitten hat, der euch so sehr geliebt hat, daß er für euch einen schändlichen und unfaßbar schmerzhaften, qualvollen und bitteren Tod auf sich genommen hat. Dies geschah nur aus Liebe zu dir, o Mensch!« (ebd.).

Eine solche Identifizierung bedeutet auch, das zu leben, was Jesus gelebt hat: Armut, Verachtung, Schmerz, denn - wie sie sagt - »durch die zeitliche Armut wird die Seele ewige Reichtümer finden; durch Verachtung und Schande wird sie zu höchsten Ehren und größter Herrlichkeit gelangen; durch geringe Buße, die sie mit Mühe und Schmerz auf sich nimmt, wird sie mit unendlicher Wonne und Trost das höchste Gut besitzen, den ewigen Gott« (ebd.).

Von der Bekehrung zur mystischen Vereinigung mit dem gekreuzigten Christus, zum Unsagbaren: ein erhabener Weg, dessen Geheimnis das unablässige Gebet ist. Sie sagt: »Je mehr du betest, desto mehr wirst du erleuchtet werden; je mehr du erleuchtet wirst, desto gründlicher und klarer wirst du das höchste Gut erkennen, das in höchstem Maße gute Sein; je gründlicher und klarer du ihn erkennen wirst, desto mehr wirst du ihn lieben; je mehr du ihn lieben wirst, desto mehr wird er dich erfreuen; und je mehr er dich erfreuen wird, desto besser wirst du ihn erfassen und in der Lage sein, ihn zu verstehen. Danach wirst du zur Fülle des Lichts gelangen, weil du verstehen wirst, daß du ihn nicht erfassen kannst« (ebd.).

Liebe Brüder und Schwestern, das Leben der sel. Angela beginnt mit einem weltlichen Dasein, das recht weit von Gott entfernt ist. Aber dann weckt die Begegnung mit der Gestalt des hl. Franziskus und schließlich die Begegnung mit dem gekreuzigten Christus die Seele für die Gegenwart Gottes, denn nur mit Gott wird das Leben zu wahrem Leben, weil es im Schmerz um die Sünde zu Liebe und Freude wird. Das sagt uns die sel. Angela. Heute sind wir alle in Gefahr, so zu leben, als ob es Gott nicht gäbe: Er scheint dem heutigen Leben so fern zu sein. Aber Gott hat tausenderlei Weisen - für jeden die seine -, um sich in der Seele zu vergegenwärtigen, um zu zeigen, daß es ihn gibt und daß er mich kennt und mich liebt. Und die sel. Angela will uns auf diese Zeichen aufmerksam machen, mit denen der Herr unsere Seele berührt, sie will uns aufmerksam auf die Gegenwart Gottes machen, damit wir so den Weg mit Gott und zu Gott erlernen, in der Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus. Bitten wir den Herrn, uns aufmerksam zu machen auf die Zeichen seiner Gegenwart, uns zu lehren, wirklich zu leben. Danke.
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Von Herzen grüße ich alle Pilger deutscher Sprache, heute besonders die Ministranten aus dem Erzbistum Köln, die sich mit Kardinal Meisner nach Rom aufgemacht haben, und ebenso die Meßdiener aus Borken in Westfalen. Ich grüße auch die Neupriester aus dem Germanikum mit ihren Gästen und nicht zuletzt die Schwestern der heiligen Elisabeth. Der Aufenthalt in Rom schenke euch geistliche Kraft für euren Alltag. Gott segne euch alle.







Petersplatz

Mittwoch, 20. Oktober 2010: Hl. Elisabeth von Ungarn

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Liebe Brüder und Schwestern!

Heute möchte ich über eine Frau des Mittelalters sprechen, die höchste Bewunderung hervorgerufen hat: die hl. Elisabeth von Ungarn, auch Elisabeth von Thüringen genannt.

Sie wurde 1207 geboren; über den Ort sind sich die Historiker uneinig. Ihr Vater war Andreas II., der reiche und mächtige König von Ungarn. Um die politischen Verbindungen zu festigen, hatte er die deutsche Gräfin Gertrud von Andechs-Meranien geheiratet, die Schwester der hl. Hedwig, Gemahlin des Herzogs von Schlesien. Elisabeth verbrachte nur die ersten vier Jahre ihrer Kindheit am ungarischen Hof, zusammen mit einer Schwester und drei Brüdern. Sie liebte Spiel, Musik und Tanz, sprach treu ihre Gebete und zeigte schon damals besondere Aufmerksamkeit gegenüber den Armen, denen sie mit einem guten Wort oder einer liebevollen Geste half.

Ihre glückliche Kindheit wurde jäh unterbrochen, als Ritter aus dem fernen Thüringen kamen, um sie auf ihren neuen Sitz in Mitteldeutschland zu bringen. Den damaligen Sitten entsprechend hatte ihr Vater nämlich bestimmt, daß Elisabeth Prinzessin von Thüringen werden sollte. Der Landgraf dieser Region war einer der reichsten und einflußreichsten Herrscher Europas zu Beginn des 13. Jahrhunderts, seine Burg war ein Zentrum der Pracht und der Kultur. Aber hinter den Festlichkeiten und der scheinbaren Herrlichkeit verbargen sich die ehrgeizigen Bestrebungen der Feudalfürsten, die oft im Krieg miteinander und im Konflikt mit den königlichen und kaiserlichen Autoritäten standen. Vor diesem Hintergrund begrüßte Landgraf Hermann die Verlobung zwischen seinem Sohn Ludwig und der ungarischen Prinzessin sehr. Elisabeth verließ ihre Heimat mit reicher Mitgift und großem Gefolge, zu dem auch ihre Kammerfrauen gehörten. Zwei von ihnen sollten ihr bis zum Ende treue Freundinnen bleiben. Sie haben uns wertvolle Nachrichten über die Kindheit und das Leben der Heiligen hinterlassen.

Nach einer langen Reise kam sie in Eisenach an, um dann zur Wartburg hinaufzugehen, zur mächtigen Festung oberhalb der Stadt. Hier wurde die Verlobung von Ludwig und Elisabeth gefeiert. In den folgenden Jahren lernte Ludwig den Beruf des Ritters, während Elisabeth und ihre Gefährtinnen in Deutsch, Französisch, Latein, Musik, Literatur und Stickerei unterwiesen wurden. Obwohl die Verlobung aus politischen Gründen entschieden worden war, entstand zwischen den beiden jungen Menschen eine aufrichtige Liebe, die beseelt war vom Glauben und von dem Wunsch, den Willen Gottes zu tun. Im Alter von 18 Jahren übernahm Ludwig die Herrschaft über Thüringen. Elisabeth wurde jedoch Gegenstand verhaltener Kritik, weil ihre Lebensweise nicht dem höfischen Leben entsprach. Auch die Hochzeitsfeier war nicht prunkvoll, und die für das Mahl vorgesehenen Ausgaben wurden teilweise den Armen zugewendet. In ihrer tiefen Sensibilität erkannte Elisabeth die Widersprüche zwischen dem Glauben, den man bekannte, und der christlichen Praxis. Sie duldete keine Kompromisse. Einmal nahm sie, als sie am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel die Kirche betrat, die Krone ab, legte sie vor dem Kreuz nieder und warf sich mit verhülltem Gesicht zu Boden. Als ihre Schwiegermutter sie deswegen tadelte, antwortete sie: »Ferne sei mir, im Angesicht meines Gottes und Königs Jesus Christus, den ich mit Dornen gekrönt erblicke, selbst ein geringes und aus Erde gebildetes Geschöpf, mit eitler Überheblichkeit gekrönt zu erscheinen!« (Elisabeth von Thüringen.Herausgegeben und eingeleitet von Walter Nigg, Düsseldorf 1963, S. 116). So wie sie sich vor Gott verhielt, verhielt sie sich auch gegenüber den Untertanen. Im Büchlein über die Aussagen der vier Dienerinnen finden wir folgendes Zeugnis: »Sie griff [bei Tisch] nur zu, wenn sie wußte, daß die Speisen von den rechtmäßigen Gütern ihres Gemahls kamen… Sie verzichtete nicht nur auf unrechtmäßige Einkünfte, sondern sorgte auch nach Möglichkeit dafür, daß den ungerecht Behandelten Ersatz geleistet wurde« (ebd., S. 74 und 76). Ein wahres Vorbild für alle, die Führungsrollen bekleiden: Die Autorität muß auf jeder Ebene als Dienst an der Gerechtigkeit und an der Liebe ausgeübt werden, im unablässigen Streben nach dem Gemeinwohl.

Elisabeth übte unermüdlich Werke der Barmherzigkeit: Sie gab allen, die an ihr Tor klopften, zu trinken und zu essen, sie beschaffte Kleidung, beglich Schulden, sorgte für die Kranken und begrub die Toten. Oft stieg sie von ihrer Burg herab und ging mit ihren Dienerinnen in die Häuser der Armen, brachte ihnen Brot, Fleisch, Mehl und andere Nahrungsmittel. Sie übergab die Speisen persönlich und überprüfte aufmerksam die Kleidung und Bettstatt der Armen. Als dieses Verhalten ihrem Gemahl hinterbracht wurde, mißfiel es diesem jedoch ganz und gar nicht, sondern er antwortete den Anklägern sogar: »Laßt sie Gutes tun und für Gott geben, was sie mag! Erhaltet meiner Herrschaft nur die Wartburg und Neuenburg!« (ebd., S. 128). In diesem Zusammenhang ist das Wunder vom Brot, das zu Rosen wird, anzusiedeln: Als Elisabeth mit der Schürze voll Brot für die Armen die Straße hinunterging, begegnete sie ihrem Gemahl, und er fragte sie, was sie bei sich trug. Sie öffnete die Schürze, und anstelle des Brotes kamen wunderschöne Rosen zum Vorschein. Dieses Symbol der Nächstenliebe findet sich oft in den Darstellungen der hl. Elisabeth.

Ihre Ehe war zutiefst glücklich: Elisabeth half ihrem Gemahl, seine menschlichen Eigenschaften auf eine übernatürliche Ebene zu erheben, und er schützte im Gegenzug seine Gemahlin in ihrer Freigebigkeit gegenüber den Armen und in ihren Frömmigkeitsübungen. Ludwig bewunderte den großen Glauben seiner Ehefrau immer mehr und sagte in bezug auf ihre Fürsorge für die Armen zu ihr: »Liebe Elisabeth, es ist Christus, den du gewaschen und gespeist und für den du Sorge getragen hast.« Dies ist ein klares Zeugnis dafür, daß der Glaube und die Liebe zu Gott und zum Nächsten das Familienleben stärken und den Ehebund noch tiefer machen.

Das junge Paar fand geistlichen Beistand durch die Minderbrüder, die sich ab 1222 in Thüringen verbreiteten. Unter ihnen wählte Elisabeth Bruder Rüdiger als geistlichen Leiter. Als er ihr von der Bekehrung des jungen und reichen Händlers Franz von Assisi berichtete, erwachte in Elisabeth noch größere Begeisterung für ihren christlichen Lebensweg. Von jenem Augenblick an folgte sie mit noch größerer Entschlossenheit dem armen und gekreuzigten Christus nach, der in den Armen gegenwärtig ist. Auch als ihr erstes Kind geboren wurde, auf das später noch zwei weitere folgten, vernachlässigte unsere Heilige nie ihre Liebeswerke. Außerdem half sie den Minderbrüdern, in Halberstadt ein Kloster zu gründen, dessen Oberer Bruder Rüdiger wurde. So übernahm Konrad von Marburg Elisabeths geistliche Leitung.

Eine harte Prüfung war der Abschied von ihrem Gemahl Ende Juni 1227, als Ludwig IV. sich dem Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. anschloß. Er erinnerte seine Gemahlin daran, daß dies eine Tradition der Herrscher von Thüringen war. Elisabeth antwortete: »Ich halte dich nicht zurück. Ich habe mich ganz Gott hingeschenkt, und jetzt muß ich auch dich hergeben«. Das Fieber raffte jedoch die Truppen hinweg, und auch Ludwig wurde krank und starb, bevor er an Bord gehen konnte, im September 1227 in Otranto im Alter von 27 Jahren. Als Elisabeth die Nachricht überbracht wurde, war sie davon so schmerzlich getroffen, daß sie sich in die Einsamkeit zurückzog. Dann aber, gestärkt vom Gebet und getröstet durch die Hoffnung, ihn im Himmel wiederzusehen, begann sie wieder, sich um die Herrschaftsbelange zu kümmern. Aber es erwartete sie eine weitere Prüfung: Ihr Schwager riß die Herrschaft über Thüringen an sich, indem er sich zum wahren Erben Ludwigs erklärte und Elisabeth anklagte, eine fromme Frau zu sein, die nicht fähig sei, die Herrschaft zu führen. Die junge Witwe wurde zusammen mit den drei Kindern von der Wartburg vertrieben und machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft. Nur zwei ihrer Dienerinnen blieben bei ihr, begleiteten sie und vertrauten die drei Kinder der Obhut von Ludwigs Freunden an. Elisabeth zog von einem Dorf zum anderen. Sie arbeitete, wo immer sie Aufnahme fand, pflegte die Kranken, spann und nähte. Während dieses Leidensweges, den sie mit großem Glauben, Geduld und Gottvertrauen auf sich nahm, wurde sie durch einige Verwandte, die ihr treu geblieben waren und die Herrschaft des Schwagers als unrechtmäßig betrachteten, rehabilitiert. So bekam Elisabeth Anfang 1228 angemessenen Unterhalt und konnte sich auf den Sitz der Familie in Marburg zurückzuziehen, wo auch ihr geistlicher Leiter Konrad lebte. Er teilte Papst Gregor IX. folgendes mit: »Am Karfreitag … legte sie ihre Hände auf den Altar einer Kapelle ihrer Stadt, die sie den Minderbrüdern übergeben hatte, und verzichtete in Gegenwart einiger Brüder auf Eltern und Kinder und auf den eigenen Willen, auf allen Glanz der Welt. … Als sie nun auch auf ihren Besitz verzichten wollte, hielt ich sie zurück … wegen der Armen, denen sie … Almosen spenden sollte… Dort erbaute sie in der Stadt [Marburg] ein Hospital und gewährte darin Kranken und Schwachen Aufnahme. Die Elendsten und Verachtetesten setzte sie an ihren eigenen Tisch, und als ich sie deshalb tadelte, erwiderte sie mir, sie empfange von ihnen sonderliche Gnade und Demut« (Epistula magistri Conradi, 14-17; in ebd., S. 63).

Wir können in diesen Worten eine gewisse mystische Erfahrung erkennen, die der des Franz von Assisi ähnlich ist: Der »Poverello« von Assisi sagte nämlich in seinem Testament, daß durch den Dienst an den Aussätzigen das, was ihm vorher bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt wurde (Testamentum, 1-3). Elisabeth verbrachte die letzten drei Jahre in dem von ihr gegründeten Hospital, wo sie den Kranken diente und bei den Sterbenden wachte. Sie versuchte stets, die niedrigsten Dienste und abstoßende Arbeiten zu verrichten. Sie wurde das, was wir als geweihte Frau in der Welt (»soror in saeculo«) bezeichnen könnten und bildete zusammen mit einigen Freundinnen, die grau gekleidet waren, eine Schwesterngemeinschaft. Nicht ohne Grund ist sie die Patronin der Regulierten Franziskaner-Tertiaren (TOR) und der Franziskanischen Gemeinschaft (OFS).

Im November 1231 bekam sie hohes Fieber. Als sich die Nachricht von ihrer Krankheit verbreitete, kamen sehr viele Menschen, um sie zu sehen. Nach etwa zehn Tagen bat sie darum, die Tore zu schließen, um allein zu bleiben mit Gott. In der Nacht auf den 17. November entschlief sie sanft im Herrn. Aufgrund der zahlreichen Zeugnisse von ihrer Heiligkeit sprach Papst Gregor IX. sie nur vier Jahre später heilig, und im selben Jahr wurde die schöne Kirche geweiht, die ihr zu Ehren in Marburg erbaut wurde.

Liebe Brüder und Schwestern, in der Gestalt der hl. Elisabeth sehen wir, wie der Glaube, die Freundschaft mit Christus den Sinn für Gerechtigkeit, für die Gleichheit aller Menschen, für die Rechte der anderen hervorbringen, wie sie Liebe, Nächstenliebe hervorbringen. Und aus dieser Liebe entsteht auch die Hoffnung, die Gewißheit, daß wir von Christus geliebt werden und daß die Liebe Christi uns erwartet. Sie macht uns fähig, Christus nachzuahmen und Christus in den anderen zu sehen. Die hl. Elisabeth lädt uns ein, Christus neu zu entdecken, ihn zu lieben, Glauben zu haben und so die wahre Gerechtigkeit und die Liebe zu finden, ebenso wie die Freude, daß wir eines Tages hineingenommen werden in die göttliche Liebe, in die Freude der Ewigkeit bei Gott. Danke.
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Ganz herzlich grüße ich die deutschsprachigen Pilger und Besucher. Liebe Brüder und Schwestern, die Gestalt der heiligen Elisabeth zeigt uns, daß eine große Liebe zu Gott und zum Nächsten, besonders zu den materiell und auch geistlich Bedürftigen, dem Leben einen tiefen Sinn schenkt. Diese große heilige Frau soll uns eine Fürsprecherin sein, in der Nachfolge Christi voranzuschreiten. Euch allen wünsche ich schöne Tage in Rom und Gottes reichen Segen.
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ANKÜNDIGUNG EINES KONSISTORIUMS ZUR KREIERUNG NEUER KARDINÄLE


Mit Freude kündige ich nun an, daß ich am kommenden 20. November ein Konsistorium abhalte, bei dem ich neue Mitglieder des Kardinalskollegiums ernennen werde. Die Kardinäle haben die Aufgabe, den Nachfolger des Apostels Petrus bei der Ausübung seines Sendungsauftrags als immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft zu unterstützen (vgl. Lumen gentium
LG 18).

Ihre Namen sind:

1. Angelo Amato SDB, Präfekt der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse;
2. Seine Seligkeit Antonios Naguib, Patriarch von Alexandrien der Kopten (Ägypten);
3. Robert Sarah, Präsident des Päpstlichen Rats »Cor Unum«;
4. Francesco Monterisi, Erzpriester der Päpstlichen Basilika St. Paul vor den Mauern;
5. Fortunato Baldelli, Großpönitentiar;
6. Raymond Leo Burke, Präfekt des Obersten Gerichtshofes der Apostolischen Signatur;
7. Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderung der Einheit der Christen;
8. Paolo Sardi, Vizecamerlengo der Heiligen Römischen Kirche;
9. Mauro Piacenza, Präfekt der Kongregation für den Klerus;
10. Velasio De Paolis CS, Präsident der Präfektur für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls;
11. Gianfranco Ravasi, Präsident des Päpstlichen Rates für die Kultur;
12. Medardo Joseph Mazombwe, emeritierter Erzbischof von Lusaka (Sambia);
13. Raúl Eduardo Vela Chiriboga, emeritierter Erzbischof von Quito (Ecuador);
14. Laurent Monsengwo Pasinya, Erzbischof von Kinshasa (Demokratische Republik Kongo);
15. Paolo Romeo, Erzbischof von Palermo (Italien);
16. Donald William Wuerl, Erzbischof von Washington (Vereinigte Staaten von Amerika);
17. Raymundo Damasceno Assis, Erzbischof von Aparecida (Brasilien);
18. Kazimierz Nycz, Erzbischof von Warschau (Polen);
19. Albert Malcolm Ranjith Patabendige Don, Erzbischof von Colombo (Sri Lanka);
20. Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising (Bundesrepublik Deutschland).

Zudem möchte ich zwei Bischöfe und zwei Geistliche, die sich durch ihren großherzigen Dienst an der Kirche besondere Verdienste erworben haben, mit der Kardinalswürde auszeichnen.

Es sind:

1. José Manuel Estepa Llaurens, emeritierter Militärerzbischof (Spanien);
2. Bischof Elio Sgreccia, ehemaliger Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben (Italien);
3. Prälat Walter Brandmüller, ehemaliger Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften (Bundesrepublik Deutschland);
4. Domenico Bartolucci, ehemaliger Leiter des Päpstlichen Chors »Cappella Sistina« (Italien).

Die Schar der neuen Purpurträger spiegelt die Universalität der Kirche wider. Sie kommen aus verschiedenen Teilen der Welt und üben verschiedene Ämter aus im Dienst am Heiligen Stuhl oder im direkten Kontakt mit dem Volk Gottes als Väter und Hirten ihrer Ortskirchen.

Ich lade euch ein, für die neuen Kardinäle zu beten und bitte um die Fürsprache der seligen Gottesmutter Maria, damit sie ihren Dienst in der Kirche fruchtbringend erfüllen.







Petersplatz

Mittwoch, 27. Oktober 2010: Hl. Birgitta von Schweden

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Liebe Brüder und Schwestern!

Im erwartungsvollen Vorfeld des Großen Jubiläums des Jahres 2000 hat der Ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. die hl. Birgitta von Schweden zur Mitpatronin von ganz Europa erklärt. Am heutigen Vormittag möchte ich ihre Person und ihre Botschaft vorstellen sowie die Gründe, aus denen heraus diese heilige Frau der Kirche und der Welt auch heute noch viel zu sagen hat.

Wir sind über die Ereignisse des Lebens der hl. Birgitta gut unterrichtet, da ihre geistlichen Leiter ihren Lebenslauf niedergeschrieben haben, um sofort nach ihrem Tod im Jahre 1373 ihren Heiligsprechungsprozeß einzuleiten. Birgitta wurde 70 Jahre zuvor geboren, im Jahre 1303, in Finsta, in Schweden, einer Nation im Norden Europas, die seit drei Jahrhunderten den christlichen Glauben mit derselben Begeisterung angenommen hatte, mit der die Heilige ihn von ihren Eltern empfing. Sie waren sehr fromme Menschen und gehörten adligen Familien an, die dem Herrscherhaus nahestanden.

Wir können im Leben dieser Heiligen zwei Phasen unterscheiden.

Die erste ist gekennzeichnet durch ihren Lebensstand als glücklich verheiratete Frau. Ihr Gatte hieß Ulf und war Landvogt einer bedeutenden Region des Königreichs Schweden. Die Ehe dauerte 28 Jahre, bis zu Ulfs Tod. Acht Kinder gingen daraus hervor, von denen die Zweitgeborene, Karin (Katharina), als Heilige verehrt wird. Das ist ein beredtes Zeichen für Birgittas Bemühungen um die Erziehung ihrer Kinder. Ihre pädagogische Weisheit wurde übrigens so sehr geschätzt, daß der König von Schweden, Magnus, sie für eine gewisse Zeit an den Hof bestellte, um seine junge Gemahlin, Blanche von Namur, in die schwedische Kultur einzuführen.

Unter der geistlichen Leitung eines gebildeten Ordensmannes, der sie in das Studium der Heiligen Schrift einführte, übte Birgitta einen sehr positiven Einfluß auf ihre Familie aus, die dank ihrer Gegenwart zu einer wahren »Hauskirche« wurde. Zusammen mit ihrem Ehemann nahm sie die Regel des Dritten Ordens der Franziskaner an. Sie verrichtete großherzige Werke der Nächstenliebe gegenüber den Bedürftigen und gründete auch ein Hospital. An der Seite seiner Gemahlin lernte Ulf, seinen Charakter zu verbessern und im christlichen Leben voranzuschreiten. Bei der Rückkehr von einer langen Pilgerreise nach Santiago de Compostela, die sie 1341 zusammen mit anderen Familienangehörigen unternahmen, reifte in den Eheleuten das Vorhaben heran, in Enthaltsamkeit zu leben; aber kurz darauf beschloß Ulf im Frieden eines Klosters, in das er sich zurückgezogen hatte, sein irdisches Leben.

Dieser erste Abschnitt von Birgittas Leben hilft uns, das besser schätzen zu lernen, was wir heute als wahre »Ehespiritualität« bezeichnen könnten: Gemeinsam können die christlichen Eheleute einen Weg der Heiligkeit beschreiten, gestützt von der Gnade des Ehesakraments. Nicht selten ist es - wie im Leben der hl. Birgitta und des Ulf - die Frau, der es gelingt, mit ihrer religiösen Sensibilität, mit Einfühlsamkeit und Sanftheit den Ehemann einen Glaubensweg beschreiten zu lassen. Ich denke mit Anerkennung an die vielen Frauen, die Tag für Tag auch heute noch ihre Familien mit ihrem Zeugnis des christlichen Lebens erleuchten. Möge der Geist des Herrn auch heute die Heiligkeit der christlichen Eheleute erwecken, um der Welt die Schönheit der Ehe zu zeigen, die nach den Werten des Evangeliums gelebt wird: Liebe, Zärtlichkeit, gegenseitige Hilfe, Fruchtbarkeit in der Zeugung und Erziehung der Kinder, Öffnung und Solidarität gegenüber der Welt, Teilnahme am Leben der Kirche.

Als Birgitta Witwe wurde, begann der zweite Abschnitt ihres Lebens. Sie verzichtete auf eine Wiederverheiratung, um tiefer mit dem Herrn vereint zu sein durch Gebet, Buße und Werke der Nächstenliebe. Auch die christlichen Witwen können also in dieser Heiligen ein Vorbild finden, dem sie folgen können. Nach dem Tod ihres Ehemannes ließ sich Birgitta, nachdem sie ihren Besitz an die Armen verteilt hatte, beim Zisterzienserkloster von Alvastra nieder, ohne jemals die Ordensweihe zu empfangen. Hier begannen die göttlichen Offenbarungen, die sie ihr ganzes weiteres Leben hindurch begleiteten. Birgitta diktierte sie ihren Sekretären - ihren Beichtvätern -, die sie aus dem Schwedischen ins Lateinische übersetzten und in einer achtbändigen Ausgabe zusammenfaßten, die den Titel Revelationes (Offenbarungen) trägt. Zu diesen Büchern kommt ein Ergänzungsband hinzu, mit dem Titel Revelationes extravagantes (zusätzliche Offenbarungen).

Die Offenbarungen der hl. Birgitta sind vom Inhalt und Stil her sehr unterschiedlich. Manchmal zeigt sich die Offenbarung in Form von Gesprächen zwischen den göttlichen Personen, der Jungfrau Maria, den Heiligen und auch den Dämonen; auch Birgitta nimmt an diesen Gesprächen teil. Andere Male dagegen wird von einer besonderen Schau berichtet; wieder andere Male wird das wiedergegeben, was die Jungfrau Maria ihr über das Leben und die Geheimnisse ihres Sohnes offenbart. Den Wert der Offenbarungen der hl. Birgitta, der manchmal angezweifelt wird, erläutert der ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. im Apostolischen Schreiben Spes aedificandi, wo er sagt, daß »die Kirche, als sie die Heiligkeit Birgittas anerkannte, die Authentizität ihrer inneren Erfahrung insgesamt billigte, auch ohne sich zu den einzelnen Offenbarungen zu äußern« (Nr. 5).

Beim Lesen dieser Offenbarungen werden wir in der Tat vor Fragen gestellt, die viele wichtige Themen betreffen. Zum Beispiel wird immer wieder, mit sehr realistischen Einzelheiten, das Leiden Christi beschrieben, dem Birgitta stets eine besondere Verehrung entgegenbrachte, da sie in ihm die unendliche Liebe Gottes zu den Menschen erblickte. Kühn legt sie dem Herrn, der zu ihr spricht, diese bewegenden Worte in den Mund: »O meine Freunde, so zärtlich liebe ich die Schafe, daß ich, wenn es möglich wäre, noch einmal für jedes einzelne Schaf, um es nicht entbehren zu müssen, sondern wieder einzulösen, einen besonderen Tod sterben möchte, wie ich denselben schon einmal am Kreuze für alle erlitten habe« (Revelationes, Buch 1, Kap. 59). Auch die schmerzensreiche Mutterschaft Marias, die sie zur Mittlerin und Mutter der Barmherzigkeit machte, ist ein Thema, das in den Offenbarungen oft wiederkehrt.

Birgitta war sich bewußt, daß sie durch den Empfang dieser Geistesgaben die Empfängerin eines Geschenks besonders großer Liebe von seiten des Herrn war. Im ersten Buch der Offenbarungen lesen wir: »Du aber, meine Tochter, die ich mir erwählet … sollst mich von ganzem Herzen lieben … mehr als irgend etwas in der Welt« (Kap. 1). Im Übrigen wußte Birgitta wohl und war fest davon überzeugt, daß jede Geistesgabe dazu bestimmt ist, die Kirche zu erbauen. Eben aus diesem Grund waren nicht wenige ihrer Offenbarungen an die Gläubigen ihrer Zeit gerichtet, einschließlich der religiösen und politischen Obrigkeiten, in Form manchmal strenger Ermahnungen, ihr christliches Leben konsequent zu leben; sie tat dies jedoch immer mit Respekt und in voller Treue zum Lehramt der Kirche, insbesondere zum Nachfolger des Apostels Petrus.

1349 verließ Birgitta Schweden für immer und unternahm eine Pilgerreise nach Rom. Sie wollte nicht nur am Heiligen Jahr 1350 teilnehmen, sondern hatte auch den Wunsch, vom Papst die Approbation der Regel eines Ordens zu erlangen, den sie gründen wollte, benannt nach dem Allerheiligsten Erlöser und zusammengesetzt aus Mönchen und Nonnen unter der Autorität der Äbtissin. Dieses Element darf uns nicht verwundern: Im Mittelalter gab es Klostergründungen mit einem männlichen und einem weiblichen Zweig, die derselben Ordensregel folgten, in der die Leitung durch eine Äbtissin vorgesehen war. In der großen christlichen Überlieferung wird der Frau in der Tat eine eigene Würde und - stets nach dem Vorbild Marias, Königin der Apostel - ein eigener Platz in der Kirche zuerkannt. Dieser entspricht nicht dem Weihepriestertum, ist aber für das geistliche Wachstum der Gemeinschaft ebenso wichtig. Außerdem ist die Zusammenarbeit von geweihten Männern und Frauen, stets unter Achtung ihrer besonderen Berufung, in der heutigen Welt von großer Bedeutung.

In Rom widmete sich Birgitta zusammen mit ihrer Tochter Karin einem Leben des intensiven Apostolats und des Gebets. Und von Rom aus pilgerte sie zu verschiedenen italienischen Heiligtümern, insbesondere nach Assisi, der Heimat des hl. Franziskus, dem Birgitta stets große Verehrung entgegenbrachte. 1371 ging schließlich ihr größter Wunsch in Erfüllung: die Reise ins Heilige Land. Sie begab sich dorthin in Begleitung ihrer geistlichen Kinder, einer Gruppe, die Birgitta die »Freunde Gottes« nannte.

In jenen Jahren waren die Päpste in Avignon, fern von Rom: Birgitta bat sie inständig, zum Sitz Petri, in die Ewige Stadt, zurückzukehren.

Sie starb 1373, bevor Papst Gregor XI. endgültig nach Rom zurückkehrte. Sie wurde vorübergehend in der römischen Kirche »San Lorenzo in Panisperna« bestattet, aber 1374 brachten ihre Kinder Birger und Karin sie in die Heimat zurück, in das Kloster Vadstena, Sitz des von der hl. Birgitta gegründeten Ordens, der sofort eine beachtliche Verbreitung erfuhr. 1391 erfolgte die feierliche Heiligsprechung durch Papst Bonifatius IX.

Birgittas Heiligkeit, die von der Vielfalt der Gaben und Erfahrungen gekennzeichnet ist, die ich in diesem kurzen biographisch-geistlichen Abriß in Erinnerung rufen wollte, macht sie zu einer herausragenden Gestalt in der Geschichte Europas. Durch ihre skandinavische Herkunft bezeugt die hl. Birgitta, daß das Christentum das Leben aller Völker dieses Kontinents zutiefst durchdrungen hat. Als Papst Johannes Paul II. sie zur Mitpatronin Europas erklärte, wünschte er, daß die hl. Birgitta - die im 14. Jahrhundert lebte, als die westliche Christenheit noch nicht durch die Spaltung verwundet war - bei Gott inständig Fürsprache halten möge, um die langersehnte Gnade der vollen Einheit aller Christen zu erlangen. Für eben dieses Anliegen, das uns sehr am Herzen liegt, und dafür, daß Europa sich stets aus seinen christlichen Wurzeln nähren möge, wollen wir beten, liebe Brüder und Schwestern, indem wir die mächtige Fürsprache der hl. Birgitta von Schweden anrufen, der treuen Jüngerin Gottes und Mitpatronin Europas. Danke für eure Aufmerksamkeit.

Gerne heiße ich alle deutschsprachigen Pilger und Gäste willkommen. Besonders grüße ich die katholischen Zeitungsverleger in Begleitung von Bischof Fürst, die Selbsthilfegruppe für krebskranke Menschen in Freising mit Weihbischof Haßlberger sowie die Pilger aus Innsbruck mit Bischof Scheuer. Bitten wir die heilige Birgitta um ihre Fürsprache, daß auch wir heute - sei es als Familie, Ordensleute oder Priester - uns wirklich vom Evangelium formen lassen und dann aus der Kraft des Glaubens die Gesellschaft gestalten können. Der Heilige Geist stärke uns alle in diesem Auftrag.
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Appell


Papst Benedikt XVI. hat zu internationaler Hilfe für die Opfer der Katastrophen in Indonesien sowie im westafrikanischen Benin aufgerufen. Im Rahmen der Generalaudienz bat er um Solidarität mit den von einem Tsunami und einem Vulkanausbruch betroffenen Menschen auf der indonesischen Insel Java. Den Familien der Toten und den Verletzten bekundete er seine Anteilnahme und versicherte sie seines Gebets. Zugleich äußerte Benedikt XVI. seine Verbundenheit mit den Opfern der Überschwemmungen in Benin. »Ich appelliere an die internationale Gemeinschaft, die notwendigste Hilfe zu leisten und die Leiden der von den Verwüstungen Betroffenen zu lindern«, so der Papst.



Audienzhalle

Mittwoch, 3. November 2010: Marguerite d’Oingt


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