ANSPRACHE 2007 Januar 2007 74

BEGEGNUNG MIT DEN KLARISSEN - GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI.

Fazenda da Esperança, Guaratinguetá - Samstag, 12. Mai 2007

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»Gelobt seist du, Herr, für alle deine Geschöpfe«.


Mit diesem Lob an den allmächtigen und guten Herrn bekannte der heilige »Poverello« von Assisi die einzigartige Güte des Schöpfergottes und die Zartheit, die Kraft und die Schönheit, die sich sanft in allen Geschöpfen ausbreiten und sie zum Spiegel der Allmacht des Schöpfers machen.

Unsere Begegnung, liebe Schwestern, Töchter der hl. Klara, hier in der »Fazenda da Esperança« soll eine Geste der Zuneigung des Nachfolgers Petri an die Klausurschwestern sein und auch eine ruhige und heitere Liebesbekundung, die hier über den Hügeln und Tälern des Gebirgszuges von Mantiqueira erklingt und sich auf der ganzen Erde verbreitet: »Ohne Worte und ohne Reden, unhörbar bleibt ihre Stimme. Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus, ihre Kunde bis zu den Enden der Erde« (
Ps 19,4-5). Von diesem Ort aus verkünden die Töchter der hl. Klara: »Gelobt seist du, Herr, für alle deine Geschöpfe!«.

Wo die Gesellschaft keine Zukunft oder Hoffnung mehr sieht, sind die Christen aufgerufen, die Kraft der Auferstehung zu verkünden: Hier, in dieser »Fazenda da Esperança«, wo viele Menschen leben, vor allem viele junge Menschen, die versuchen, das Problem der Drogen, des Alkohols und der Abhängigkeit von chemischen Substanzen zu überwinden, wird inmitten einer konsumistischen und gottfernen Gesellschaft Zeugnis gegeben vom Evangelium Christi. Wie anders ist doch die Sichtweise des Schöpfers bei seinem Werk! Die Klarissen und die anderen in Klausur lebenden Ordensleute - die im kontemplativen Leben die Größe Gottes erforschen und auch die Schönheit der Geschöpfe entdecken - können zusammen mit dem heiligen Verfasser Gott selbst betrachten, der verzückt und bewundernd vor seinem Werk steht, vor seinem geliebten Geschöpf: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Gn 1,31).

Als die Sünde in die Welt kam und mit ihr der Tod, verlor das von Gott geliebte Geschöpf trotz seiner Verletzung seine Schönheit nicht ganz: Im Gegenteil, es empfing eine größere Liebe: »O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!« - verkündet die Kirche in der geheimnisvollen und hellen Osternacht (Exultet). Es ist der auferstandene Christus, der die Wunden heilt und die Söhne und Töchter Gottes rettet, der die Menschheit rettet aus dem Tod, aus der Sünde und aus der Knechtschaft der Leidenschaften. Das Ostern Christi eint Himmel und Erde. Hier in der »Fazenda da Esperança« vereinen sich die Gebete der Klarissen und die schwierige medizinische und ergotherapeutische Arbeit, um die Kerker zu überwinden und die Ketten der Drogen zu sprengen, die Leiden bringen über die geliebten Kinder Gottes.

So wird die Schönheit der Geschöpfe, die ihren Schöpfer in Bewunderung und Staunen versetzt, wiederhergestellt. Dieser Schöpfer ist der allmächtige Vater, der einzige, dessen Wesen die Liebe und dessen Herrlichkeit der lebendige Mensch ist, wie der hl. Irenäus sagt. Er »hat die Welt so sehr geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab« (Jn 3,16), um denjenigen aufzuheben, der auf dem Weg gestürzt ist, der von Räubern überfallen und verletzt wurde auf der Straße von Jerusalem nach Jericho. Auf den Straßen der Welt ist Jesus »die Hand, die der Vater den Sündern entgegenstreckt, der Weg, auf dem sein Friede zu uns kommt« (vgl. Eucharistisches Hochgebet). Ja, hier entdecken wir, daß die Schönheit der Geschöpfe und die Liebe Gottes untrennbar sind. Franziskus und Klara von Assisi entdecken auch dieses Geheimnis und bieten ihren geliebten Söhnen und Töchtern nur eines an, etwas sehr Einfaches: das Evangelium zu leben. Das ist ihre Verhaltensnorm und ihre Lebensregel. Klara hat dies sehr schön zum Ausdruck gebracht, als sie zu ihren Mitschwestern sagte: »Meine Töchter, liebt einander mit derselben Liebe, mit der Christus euch geliebt hat« (Testament).

Mit dieser Liebe lud Bruder Hans sie ein, die Garantinnen der ganzen Arbeit zu sein, die in der »Fazenda da Esperança« getan wird. In der Kraft des stillen Gebets, im Fasten und in der Buße leben die Töchter der hl. Klara das Gebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten, in der höchsten Geste der Liebe bis zum Äußersten.

Das bedeutet, daß man die Hoffnung nie verlieren darf! Daher kommt der Name dieses Werkes von Bruder Hans: »Fazenda da Esperança«. In der Tat muß man die Hoffnung schaffen, sie aufbauen, um das entsprechende Gewebe herzustellen in einer Gesellschaft, die im Spannen der Fäden des Lebens den wahren Sinn der Hoffnung verliert. Dieser Verlust ist - nach dem hl. Paulus - ein Fluch, den der Mensch selbst über sich bringt: »Menschen ohne Liebe« (vgl. Rm 1,31).

Liebe Schwestern, seid diejenigen, die verkünden: »Die Hoffnung aber läßt nicht zugrunde gehen« (Rm 5,5). Der Schmerz des Gekreuzigten, der die Seele Marias zu Füßen des Kreuzes durchdrang, möge die Herzen vieler Mütter und Väter trösten, die vor Schmerz um ihre noch drogenabhängigen Kinder weinen. Verkündet durch die selbstlose Stille des Gebets - einer beredten Stille, die der Vater hört -; verkündet die Botschaft der Liebe, die den Schmerz, die Drogen und den Tod besiegt. Verkündet Jesus Christus, Mensch wie wir, der gelitten hat wie wir und der unsere Sünden auf sich genommen hat, um uns von ihnen zu befreien!

Morgen werden wir die V. Generalversammlung des lateinamerikanischen und karibischen Episkopats im Heiligtum von Aparecida eröffnen, das so nahe an der »Fazenda da Esperança« liegt. Ich vertraue auch auf euer Gebet, damit unsere Völker Leben in Jesus Christus haben und wir alle seine Jünger und Missionare seien. Ich bitte Maria - die Mutter »Aparecida«, die Jungfrau von Nazaret -, die in der Nachfolge Christi alles in ihrem Herzen bewahrte, daß sie euch in der fruchtbaren Stille des Gebets bewahre.

Allen Klausurschwestern, insbesondere den in diesem Werk anwesenden Klarissen, gilt mein Segen zusammen mit meiner Zuneigung.


BESUCH DES DROGENREHABILITATIONSZENTRUMS

Fazenda da Esperança, Guaratinguetá - Samstag, 12. Mai 2007

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Liebe Freunde und Freundinnen!


Endlich bin ich hier in der »Fazenda da Esperança«!

1. Mit besonderer Zuneigung grüße ich Pater Hans Stapel, den Gründer des Sozialwerks »Nossa Senhora da Glória«, das auch unter dem Namen »Fazenda da Esperança« bekannt ist. Vor allem möchte ich mich zusammen mit euch darüber freuen, daß ihr an das Ideal des Guten und des Friedens geglaubt habt, das diesen Ort kennzeichnet.

Euch allen, die ihr noch in der Phase der Entwöhnung seid, sowie auch denen, denen es wieder gut geht, den freiwilligen Helfern, den Familien, den ehemaligen Bewohnern und den Wohltätern aller bei dieser Begegnung mit dem Papst vertretenen »Fazendas« möchte ich zurufen: Friede und Heil!

Ich weiß, daß hier die Vertreter verschiedener Länder zusammengekommen sind, in denen die »Fazenda da Esperança« Niederlassungen hat. Ihr seid hier, um den Papst zu sehen. Ihr seid gekommen, um das zu hören und aufzunehmen, was er euch sagen möchte.

2. Die Kirche von heute muß sich aufs neue dessen bewußt werden, daß sie die Aufgabe hat, der Welt die Stimme dessen hören zu lassen, der sagte: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben« (
Jn 8,12). Der Papst hat seinerseits den Auftrag, in den Herzen dieses Licht neu zu entzünden, das nicht getrübt wird, weil es das Innerste der Seelen erhellen will, die das wahre Gut und den Frieden suchen, den die Welt nicht geben kann. Ein solches Licht bedarf einzig eines Herzens, das offen ist für die Sehnsucht nach Gott. Gott übt keinen Zwang aus, er unterdrückt die individuelle Freiheit nicht; er fordert nur die Offenheit unseres Gewissens, jenes Heiligtums, in dem alle edelsten Wünsche, aber auch die ungeordneten Neigungen und Leidenschaften, welche die Botschaft des Allerhöchsten verdunkeln, verborgen sind.

3. »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (Ap 3,20). Dies sind göttliche Worte, die in das Innerste der Seele eindringen und ihre tiefsten Wurzeln berühren.

In einem gewissen Augenblick des Lebens kommt Jesus und klopft leise an, tief im Innern der wohl geneigten Herzen. In eurem Fall hat er das durch einen Freund oder Priester getan, oder vielleicht auch durch eine Reihe von Fügungen, um euch verstehen zu lassen, daß ihr Gegenstand der Liebe Gottes seid. Durch die Institution, die euch Aufnahme gewährt, hat der Herr euch diese Erfahrung der körperlichen und geistlichen Regeneration möglich gemacht, die für euch und eure Familienangehörigen lebenswichtig ist. Infolgedessen erwartet die Gesellschaft, daß ihr es versteht, dieses wertvolle Gut der Gesundheit unter den Freunden und den Mitgliedern der ganzen Gemeinschaft zu verbreiten.

Ihr müßt Botschafter der Hoffnung sein! Brasilien hat eine der markantesten Statistiken im Hinblick auf die Abhängigkeit von Drogen und Rauschgiften. Und Lateinamerika steht dem nicht nach. Daher fordere ich die Drogenhändler auf, über das Böse nachzudenken, das sie zahlreichen Jugendlichen und Erwachsenen aller sozialen Schichten zufügen: Gott wird sie für das, was sie getan haben, zur Rechenschaft ziehen. Die menschliche Würde darf nicht auf diese Weise mit Füßen getreten werden. Das verursachte Böse verdient dieselbe Verurteilung, die Jesus gegenüber denen aussprach, die die »Kleinsten«, die Bevorzugten Gottes, verführten (vgl. Mt 18,7-10).

4. Durch eine Therapie, die ärztliche, psychologische und pädagogische Betreuung, aber auch viel Gebet, manuelle Arbeit und Disziplin einschließt, ist es bereits zahlreichen, vor allem jungen Menschen gelungen, sich von der Abhängigkeit von chemischen Substanzen oder vom Alkohol zu befreien und den Sinn des Lebens wiederzuerlangen.

Ich möchte meine Wertschätzung für dieses Werk zum Ausdruck bringen, dessen geistliches Fundament das Charisma des hl. Franziskus und die Spiritualität der Fokolarbewegung ist.

Die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ist zweifellos ein Beweis für die Wirksamkeit eurer Initiative. Was aber die meiste Aufmerksamkeit weckt und den Wert der Arbeit bestätigt, sind die Bekehrungen, das Zurückfinden zu Gott und die aktive Teilnahme am kirchlichen Leben. Es genügt nicht, allein den Leib zu pflegen; es muß die Seele mit den wertvollsten göttlichen Gaben geschmückt werden, die wir in der Taufe empfangen haben.

Danken wir Gott dafür, daß er so viele Seelen mit Hilfe des Sakraments der Vergebung und der Feier der Eucharistie auf den Weg einer erneuerten Hoffnung geführt hat.

77 5. Liebe Freunde, ich kann mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, um auch all jenen zu danken, die materiell und spirituell mitarbeiten, um dem Sozialwerk »Nossa Senhora da Glória« Kontinuität zu verleihen. Gott segne P. Hans Stapel und Nelson Giovanelli Ros, die seinem Ruf gefolgt sind, euch ihr Leben zu widmen. Der Herr segne auch all jene, die in diesem Werk arbeiten: die geweihten Männer und Frauen, die freiwilligen Helfer und Helferinnen. Ein besonderer Segen geht auch an alle Freunde, die es unterstützen: an die Obrigkeiten, die Wohltäter und an alle, die Christus lieben, der in diesen seinen geliebten Kindern zugegen ist.

Mein Gedanke geht jetzt zu den vielen anderen Institutionen in aller Welt, die dafür arbeiten, diesen unseren Brüdern, die es in unserer Gesellschaft gibt und für die Gott eine besondere Vorliebe hat, das Leben, ein neues Leben, zurückzugeben. Ich denke auch an die vielen Gruppen der anonymen Alkoholiker und der anonymen Drogenabhängigen sowie an die Pastoral der Nüchternheit, die bereits in vielen Gemeinschaften arbeitet und ihre großherzige Unterstützung zugunsten des Lebens bietet.

6. Die Nähe des Heiligtums Unserer Lieben Frau von Aparecida gibt uns die Gewißheit, daß die »Fazenda da Esperança« unter ihrem Segen und mütterlichen Blick entstanden ist. Seit langem bitte ich die Mutter, Königin und Patronin Brasiliens, ihren Schutzmantel über jene auszubreiten, die an der V. Generalversammlung des lateinamerikanischen und karibischen Episkopats teilnehmen werden. Eure Anwesenheit stellt eine beachtenswerte Hilfe für den Erfolg dieser bedeutenden Versammlung dar. Legt eure Gebete, die Opfer und Entbehrungen auf den Altar der Kapelle in der Gewißheit, daß im heiligen Altarsakrament diese Opfergaben wie süßer Duft vor das Antlitz des Allerhöchsten zum Himmel steigen werden. Ich zähle auf eure Hilfe. Der hl. Frei Galvão und die hl. Creszentia mögen über euch wachen und einen jeden von euch beschützen. Ich segne euch alle im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.


ROSENKRANZGEBET UND BEGEGNUNG MIT DEN PRIESTERN, ORDENSLEUTEN, SEMINARISTEN UND DIAKONEN

Basilika des Heiligtums von Aparecida - Samstag, 12. Mai 2007

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Meine Herren Kardinäle,

verehrte Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst,
liebe Ordensleute und alle, die ihr, von der Stimme Jesu Christi angespornt, ihm aus Liebe gefolgt seid,
liebe Seminaristen, die ihr euch auf das Priesteramt vorbereitet,
liebe Vertreter der kirchlichen Bewegungen und liebe Laien,
die ihr alle die Kraft des Evangeliums in die Welt der Arbeit und der Kultur,
in den Schoß der Familien und in eure Pfarreien tragt!

1. Wie die Apostel zusammen mit Maria in das Obergemach hinaufgingen und dort einmütig im Gebet verharrten (vgl.
Ac 1,13-14), so haben auch wir uns heute hier im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida versammelt, das in dieser Stunde für uns das »Obergemach« ist, wo Maria, die Mutter des Herrn, unter uns ist. Sie ist es, die heute unsere Meditation leitet; sie ist es, die uns beten lehrt. Sie ist es, die uns zeigt, wie wir unsere Sinne und unsere Herzen der Macht des Heiligen Geistes öffnen sollen, der kommt, um der ganzen Welt mitgeteilt zu werden.

Wir haben soeben den Rosenkranz gebetet. Durch dessen Meditationszyklen will uns der göttliche Tröster in die Erkenntnis Christi einführen, die aus der klaren Quelle des Textes des Evangeliums strömt. Die Kirche des dritten Jahrtausends nimmt sich ihrerseits vor, den Christen die Fähigkeit zu bieten, »das göttliche Geheimnis zu erkennen, das Christus ist, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind« (Col 2,2-3), wie der Apostel Paulus sagt. Maria, die reine und unbefleckte Jungfrau, ist für uns Schule des Glaubens, die dazu bestimmt ist, uns zu leiten und uns Kraft zu geben auf dem Weg, der zum Schöpfer des Himmels und der Erde führt. Der Papst ist mit großer Freude nach Aparecida gekommen, um euch vor allem zu sagen: »Bleibt in der Schule Marias«. Inspiriert euch an ihren Lehren; versucht in eurem Herzen das Licht aufzunehmen und zu bewahren, das sie euch in göttlichem Auftrag von oben sendet.

Wie schön ist es, hier im Namen Christi, im Glauben, in der Geschwisterlichkeit, in der Freude, im Frieden und »im Gebet mit Maria, der Mutter Jesu« (Ac 1,14), vereint zu sein. Wie schön ist es, liebe Priester, Diakone, geweihte Männer und Frauen, Seminaristen und christliche Familien, hier, im Nationalheiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida zu weilen, das die Wohnung Gottes ist, das Haus Marias und das Haus der Brüder und das sich in diesen Tagen auch in den Sitz der V. Generalversammlung der Bischöfe von Lateinamerika und der Karibik verwandelt. Wie schön ist es, hier in dieser Marienbasilika zu sein, auf die sich in diesem Moment die Blicke und die Hoffnungen der christlichen Welt, insbesondere von Lateinamerika und der Karibik, richten!

2. Ich bin glücklich, hier bei euch, mitten unter euch zu sein! Der Papst liebt euch! Der Papst grüßt euch herzlich! Er betet für euch! Und er erbittet vom Herrn reichsten Segen für die kirchlichen Bewegungen, die Vereinigungen und für die neuen kirchlichen Initiativen, die lebendiger Ausdruck der immerwährenden Jugend der Kirche sind! Seid wahrhaft gesegnet! Von hier aus richte ich meinen herzlichen Gruß an euch Familien, die ihr hier in Vertretung aller lieben christlichen Familien in der ganzen Welt versammelt seid. Ich freue mich ganz besonders mit euch, und ich entbiete euch meinen Friedensgruß.

Ich danke für die Aufnahme und für die Gastfreundschaft des brasilianischen Volkes. Von meiner Ankunft an bin ich mit viel Liebe empfangen worden! Die vielen Bekundungen der Hochschätzung und die Grüße beweisen, wie sehr ihr den Nachfolger des Apostels Petrus liebt, schätzt und achtet. Mein Vorgänger, der Diener Gottes Johannes Paul II., hat mehrmals eure Sympathie und den Geist der brüderlichen Aufnahme erwähnt. Er hatte wirklich recht!

3. Ich grüße die hier anwesenden lieben Priester, während ich an alle Priester denke, die in der ganzen Welt und besonders in Lateinamerika und in der Karibik verstreut sind - unter ihnen auch die »Fidei-donum«-Priester -, und ich bete für sie. Wie viele Herausforderungen, wie viele schwierige Situationen, die bewältigt wurden, wieviel Hochherzigkeit, wieviel Entsagung, wie viele Opfer und Verzichte! Die Treue in der Ausübung des Dienstes und im Gebetsleben, die Suche nach der Heiligkeit, die totale Hingabe an Gott im Dienst an den Brüdern und Schwestern, wenn ihr euer Leben und eure Kräfte aufzehrt, indem ihr die Gerechtigkeit, die Brüderlichkeit, die Solidarität und das Teilen fördert - das alles spricht mit lauter Stimme zu meinem Herzen als Hirte. Das Zeugnis eines gut gelebten Priestertums adelt die Kirche, ruft unter den Gläubigen Bewunderung hervor, ist Quelle des Segens für die Gemeinschaft, ist die beste Förderung der Berufungen, die herzlichste Einladung, damit auch die anderen Jugendlichen auf den Ruf des Herrn positiv antworten. Es ist die beste Mitarbeit im Hinblick auf die Errichtung des Reiches Gottes!

Ich danke euch aufrichtig, und ich rufe euch auf, die Berufung, die ihr empfangen habt, in würdiger Weise zu leben. Der missionarische Eifer, die Leidenschaft für eine immer aktuelle Evangelisierung, der wahre apostolische Geist und der Eifer für die Seelen sollen in euren Leben stets gegenwärtig sein! Meine Zuneigung, mein Gebet und mein Dank gelten auch den alten und kranken Priestern. Eure Ähnlichkeit mit dem leidenden und auferstandenen Christus ist das fruchtbarste Apostolat! Vielen Dank!

4. Liebe Diakone und Seminaristen, an euch, die ihr im Herzen des Papstes einen besonderen Platz einnehmt, richte ich ebenfalls einen sehr herzlichen, brüderlichen Gruß. Die Liebenswürdigkeit, der Enthusiasmus, der Idealismus, die Ermutigung, um den neuen Herausforderungen entschlossen zu begegnen, erneuern die Bereitschaft des Volkes Gottes, machen die Gläubigen dynamischer und lassen die Gemeinde wachsen, Fortschritte machen und vertrauensvoller, freudiger und optimistischer sein. Ich danke für das Zeugnis, das ihr gebt, indem ihr mit euren Bischöfen in den pastoralen Tätigkeiten der Diözesen zusammenarbeitet. Habt immer die Gestalt Jesu, des guten Hirten, vor Augen, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mt 20,28). Seid wie die ersten Diakone der Kirche: Männer von gutem Ruf, erfüllt vom Heiligen Geist, von Weisheit und vom Glauben (vgl. Ac 6,3-5). Und ihr Seminaristen, dankt Gott für den Ruf, den er an euch richtet. Denkt daran, daß das Priesterseminar die »Wiege eurer Berufung und der Übungsplatz der ersten Erfahrung von Gemeinschaft« ist (Direktorium für den Dienst und das Leben der Priester, 32). Ich bete, daß ihr mit Gottes Hilfe heilige, treue Priester seid und daß ihr glücklich seid, der Kirche zu dienen!

5. Jetzt wende ich meinen Blick und meine Aufmerksamkeit euch zu, liebe gottgeweihte Männer und Frauen, die ihr hier im Heiligtum der Mutter, der Königin und Patronin des brasilianischen Volkes, versammelt seid, und auch denen, die in allen Teilen der Welt verstreut sind.

Ihr Ordensmänner und Ordensfrauen seid eine Opfergabe, ein Geschenk, eine göttliche Gabe, die die Kirche von ihrem Herrn empfangen hat. Ich sage Gott Dank für euer Leben und für das Zeugnis, das ihr vor der Welt von einer treuen Liebe zu Gott und den Mitmenschen gebt. Diese vorbehaltlose, totale, endgültige, bedingungslose und leidenschaftliche Liebe zeigt sich in der Stille, in der Betrachtung, im Gebet und in den unterschiedlichsten Tätigkeiten, die ihr in euren Ordensfamilien zugunsten der Menschheit und hauptsächlich der Ärmsten und Verlassenen ausübt. All das weckt in den Herzen der jungen Menschen den Wunsch, Christus, dem Herrn, aus der Nähe und radikal nachzufolgen und das Leben hinzugeben, um vor den Menschen unserer Zeit Zeugnis abzulegen von der Tatsache, daß Gott Liebe ist und daß es sich lohnt, sich erobern und faszinieren zu lassen, um sich ausschließlich ihm zu widmen (vgl. Apostolisches Schreiben Vita consecrata VC 15).

79 Seit Beginn der Kolonisation war das Ordensleben in Brasilien immer von großer Bedeutung und spielte eine wichtige Rolle im Werk der Evangelisierung. Erst gestern hatte ich die große Freude, der Eucharistiefeier vorzustehen, in der der sel. Antônio de Sant’Ana Galvão, Priester und Franziskaner, heiliggesprochen wurde. Es ist der erste in Brasilien geborene Heilige . Ein anderes bewundernswertes Zeugnis einer geweihten Person ist neben ihm die hl. Paulina, Gründerin der Kleinen Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis. Ich könnte noch viele andere Beispiele nennen. Mögen sie alle zusammen euch als Anregung dienen, damit ihr eine vollkommene Weihe leben könnt. Gott segne euch!

6. Heute, am Vorabend der Eröffnung der V. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik, der ich zu meiner Freude vorstehen werde, habe ich den Wunsch, euch allen zu sagen, wie wichtig der Sinn unserer Zugehörigkeit zur Kirche ist, die die Christen anleitet, als Brüder und Schwestern, als Kinder desselben Gottes und Vaters zu wachsen und zu reifen. Liebe Männer und Frauen von Lateinamerika, ich weiß, daß ihr einen großen Durst nach Gott habt. Ich weiß, daß ihr jenem Jesus nachfolgt, der gesagt hat: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich« (
Jn 14,6). Deshalb will der Papst euch allen sagen: Die Kirche ist unser Haus! Das ist unser Haus! In der katholischen Kirche finden wir alles, was gut ist, alles, was Grund zu Sicherheit und Erleichterung ist! Wer Christus, »den Weg, die Wahrheit und das Leben«, in seiner Gesamtheit annimmt, sichert sich den Frieden und die Glückseligkeit in diesem und im kommenden Leben! Darum ist der Papst hierhergekommen, um mit euch allen zu beten und zu bekennen: Es lohnt sich, zu glauben; es lohnt sich, am eigenen Glauben festzuhalten! Die Kohärenz im Glauben erfordert aber auch eine solide Bildung in der Lehre und Spiritualität, um so zum Aufbau einer gerechteren, menschlicheren und christlicheren Gesellschaft beizutragen. Der Katechismus der Katholischen Kirche, auch in seiner verkürzten, mit dem Titel Kompendium veröffentlichten Ausgabe, wird helfen, klare Kenntnisse von unserem Glauben zu haben. Schon jetzt bitten wir, daß die Herabkunft des Heiligen Geistes für alle ein neues Pfingsten werde, damit er mit dem Licht, das aus der Höhe kommt, unsere Herzen und unseren Glauben erleuchte.

7. Ich wende mich mit großer Hoffnung an euch alle, die ihr in dieser imposanten Basilika versammelt seid und an all jene, die draußen am Rosenkranzgebet teilgenommen haben; ich möchte euch einladen, zutiefst Missionare zu werden und die Frohe Botschaft des Evangeliums in alle Himmelsrichtungen Lateinamerikas und der Welt zu tragen.

Bitten wir die Mutter Gottes, Unsere Liebe Frau von Aparecida, daß sie das Leben aller Christen behüte. Sie, die der Stern der Evangelisierung ist, lenke unsere Schritte auf dem Weg zum himmlischen Reich.

»Unsere Mutter, beschütze die brasilianische und lateinamerikanische Familie!

Behüte unter deinem Schutzmantel die Kinder dieses geliebten Vaterlandes, das uns beherbergt.

Du bist Anwältin bei deinem Sohn Jesus, gib dem brasilianischen Volk beständigen Frieden und vollen Wohlstand;

Gieße in unsere Brüder und Schwestern aller Länder Lateinamerikas wahren missionarischen Eifer ein, der den Glauben und die Hoffnung verbreitet;

gib, daß dein Ruf, der in Fatima zur Bekehrung der Sünder erklang, Wirklichkeit werde und das Leben unserer Gesellschaft verwandle,

und Du, die du vom Heiligtum von Guadalupe aus für das Volk des Kontinents der Hoffnung Fürsprache einlegst, segne seine Länder und all seine Familien.

Amen«.



ERÖFFNUNG DER ARBEITEN DER V. GENERALKONFERENZ DER BISCHOFSKONFERENZEN VON LATEINAMERIKA UND DER KARIBIK

Konferenzsaal, Heiligtum von Aparecida - Sonntag, 13. Mai 2007

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Liebe Brüder im Bischofsamt, geliebte Priester, Ordensmänner, Ordensfrauen und Laien,

liebe Beobachter anderer religiöser Bekenntnisse!

Es ist ein Grund großer Freude, heute hier bei euch zu sein, um die V. Generalversammlung der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik zu eröffnen, die nahe dem Heiligtum Unserer Lieben Frau von Aparecida, der Schutzpatronin Brasiliens, abgehalten wird. Meine ersten Worte sollen Danksagung und Lob an Gott sein für das große Geschenk des christlichen Glaubens an die Völker dieses Kontinents.

1. Der christliche Glaube in Lateinamerika

Der Glaube an Gott beseelt seit mehr als fünf Jahrhunderten das Leben und die Kultur dieser Länder. Aus der Begegnung jenes Glaubens mit den Urvölkern ist die reiche christliche Kultur dieses Kontinents entstanden, die in der Kunst, in der Musik, in der Literatur und vor allem in den religiösen Traditionen und in der Lebensweise seiner Völker Ausdruck gefunden hat, die durch ein und dieselbe Geschichte und ein und denselben Glauben so verbunden sind, daß sie selbst bei der Vielfalt von Kulturen und Sprachen einen tiefen Einklang entstehen lassen.

Zur Zeit muß sich dieser Glaube ernsten Herausforderungen stellen, weil die harmonische Entwicklung der Gesellschaft und die katholische Identität ihrer Völker auf dem Spiel stehen. In diesem Zusammenhang schickt sich die V. Generalversammlung an, über diese Situation nachzudenken, um den christlichen Gläubigen zu helfen, daß sie ihren Glauben freudig und konsequent leben und sich bewußt werden können, Jünger und Missionare Christi zu sein, die von ihm in die Welt gesandt wurden, um von unserem Glauben und unserer Liebe Kunde und Zeugnis zu geben.

Welche Bedeutung hatte aber die Annahme des christlichen Glaubens für die Länder Lateinamerikas und der Karibik? Es bedeutete für sie, Christus kennenzulernen und anzunehmen, Christus, den unbekannten Gott, den ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen religiösen Traditionen suchten. Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten. Es bedeutete auch, mit dem Taufwasser das göttliche Leben empfangen zu haben, das sie zu Adoptivkindern Gottes gemacht hat; außerdem den Heiligen Geist empfangen zu haben, der gekommen ist, ihre Kulturen zu befruchten, indem er sie reinigte und die unzähligen Keime und Samen, die das fleischgewordene Wort in sie eingesenkt hatte, aufgehen ließ und sie so auf die Wege des Evangeliums ausrichtete. Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur. Echte Kulturen sind weder in sich selbst verschlossen noch in einem bestimmten Augenblick der Geschichte erstarrt, sondern sie sind offen, mehr noch, sie suchen die Begegnung mit anderen Kulturen, hoffen, zur Universalität zu gelangen in der Begegnung und im Dialog mit anderen Lebensweisen und mit den Elementen, die zu einer neuen Synthese führen können, in der man die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und ihrer konkreten kulturellen Verwirklichung respektiert.

Letzten Endes eint allein die Wahrheit, und der Beweis für sie ist die Liebe. Aus diesem Grund ist Christus, da er wirklich der fleischgewordene »Logos«, »die Liebe bis zur Vollendung« ist, weder irgendeiner Kultur noch irgendeinem Menschen fremd; im Gegenteil, die im Herzen der Kulturen ersehnte Antwort ist jene, die ihnen ihre letzte Identität dadurch gibt, daß sie die Menschheit eint und gleichzeitig den Reichtum der Vielfalt respektiert und alle dem Wachstum in der wahren Humanisierung, im echten Fortschritt öffnet. Das Wort Gottes ist, als es in Jesus Christus Fleisch wurde, auch Geschichte und Kultur geworden.

Die Utopie, den präkolumbischen Religionen durch die Trennung von Christus und von der Gesamtkirche wieder Leben zu geben, wäre kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Sie wäre in Wirklichkeit eine Rückentwicklung zu einer in der Vergangenheit verankerten geschichtlichen Periode.

81 Ihre Weisheit brachte die Urvölker glücklicherweise dazu, eine Synthese zwischen ihren Kulturen und dem christlichen Glauben zu bilden, den ihnen die Missionare anboten. Daraus wurde die reiche und tiefe Volksfrömmigkeit geboren, in der die Seele der lateinamerikanischen Völker zum Vorschein kommt:

- Die Liebe zum leidenden Christus, dem Gott des Mitleids, der Vergebung und der Versöhnung; dem Gott, der uns so geliebt hat, daß er sich für uns ausgeliefert hat;
- Die Liebe zu dem in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn, dem Gott, der Fleisch geworden, gestorben und auferstanden ist, um Brot des Lebens zu sein;
- Zu dem Gott, der den Armen und Leidenden nahe ist;
- Die tiefe Verehrung der allerseligsten Jungfrau von Guadalupe, der Aparecida, der Jungfrau mit verschiedenen nationalen und lokalen Titeln. Als die Jungfrau von Guadalupe dem hl. Juan Diego, einem Indio, erschien, sprach sie zu ihm die bedeutsamen Worte: »Bin ich nicht hier, um deine Mutter zu sein? Stehst du nicht unter meinem Schirm und Schutz? Bin ich nicht die Quelle deiner Freude? Bist du nicht in meinen Mantel gehüllt, in meinen Armen geborgen?« (Nican Mopohua, Nr. 118-119)..

Zum Ausdruck kommt diese Frömmigkeit auch in der Verehrung der Heiligen mit ihren Patronatsfesten, in der Liebe zum Papst und zu den anderen Hirten, in der Liebe zur Universalkirche als großer Familie Gottes, die ihre Kinder niemals allein oder im Elend lassen kann noch darf. Das alles bildet das große Mosaik der Volksfrömmigkeit, die der kostbare Schatz der katholischen Kirche in Lateinamerika ist und den sie schützen, fördern und, wenn nötig, auch reinigen muß.

2. Kontinuität mit den anderen Generalversammlungen

Diese V. Generalversammlung wird in Kontinuität mit den anderen vier Konferenzen abgehalten, die ihr in Rio de Janeiro, Medellin, Puebla und Santo Domingo vorausgegangen sind. Mit demselben Geist, der diese Versammlungen beseelt hat, wollen die Bischöfe nun der Evangelisierung einen neuen Impuls geben, damit diese Völker weiter im Glauben wachsen und reifen, um durch ihr Leben Licht der Welt und Zeugen Jesu Christi zu sein.

Seit der IV. Generalversammlung in Santo Domingo hat sich in der Gesellschaft vieles verändert. Die Kirche, die an den Bestrebungen und Hoffnungen, an den Leiden und Freuden ihrer Kinder teilnimmt, will in dieser Zeit so vieler Herausforderungen an ihrer Seite gehen, um ihnen stets Hoffnung und Trost einzuflößen (vgl. II. Vat. Konzil, Konstitution Gaudium et spes
GS 1).

In der heutigen Welt gibt es das Phänomen der Globalisierung als ein weltumspannendes Beziehungsgeflecht. Wenngleich die Globalisierung unter gewissen Aspekten ein Gewinn für die große Menschheitsfamilie und ein Zeichen ihrer Sehnsucht nach Einheit sein mag, bringt sie jedoch zweifellos auch das Risiko der großen Monopole und damit die Umdeutung des Gewinns zum höchsten Wert mit sich. Wie in allen Bereichen menschlichen Tuns muß auch die Globalisierung von der Ethik geleitet sein, so daß sie alles in den Dienst der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffenen menschlichen Person stellt.

In Lateinamerika und in der Karibik wie auch in anderen Regionen sind Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie zu verzeichnen, obschon es Anlaß zur Sorge gibt angesichts von Regierungsformen, die autoritär oder Ideologien unterworfen sind, die man eigentlich für überholt hielt und die nicht der christlichen Sicht des Menschen und der Gesellschaft, wie sie die Soziallehre der Kirche lehrt, entsprechen. Andererseits muß die liberale Wirtschaft mancher lateinamerikanischer Länder auch die Gerechtigkeit berücksichtigen, da die sozialen Bereiche, die sich immer mehr von einer enormen Armut unterdrückt oder sogar ihrer natürlichen Güter beraubt sehen, weiter zunehmen.

82 Beachtlich ist in den kirchlichen Gemeinschaften Lateinamerikas die Glaubensreife vieler engagierter und dem Herrn ergebener Laien, Männer und Frauen, zusammen mit der Präsenz vieler hochherziger Katecheten, zahlreicher Jugendlicher, neuer kirchlicher Bewegungen und in jüngster Zeit gegründeter Institute des geweihten Lebens. Als äußerst wichtig erweisen sich die vielen katholischen Erziehungs- und Hilfswerke. Es stimmt, daß eine gewisse Schwächung des christlichen Lebens in der Gesellschaft insgesamt und der Teilnahme am Leben der katholischen Kirche wahrzunehmen ist; die Ursachen dafür sind der Säkularismus, der Hedonismus, die Gleichgültigkeit und der Proselytismus zahlreicher Sekten, animistischer Religionen und neuer pseudoreligiöser Ausdrucksformen.

Das alles stellt eine neue Situation dar, die hier in Aparecida analysiert werden wird. Angesichts der neuen schwierigen Entscheidungen erhoffen die Gläubigen von dieser V. Generalversammlung eine Erneuerung und Wiederbelebung ihres Glaubens an Christus, unseren einzigen Lehrer und Retter, der uns die einzigartige Erfahrung der grenzenlosen Liebe Gottes, des Vaters, zu den Menschen offenbart hat. Aus dieser Quelle werden neue Wege und kreative pastorale Vorhaben entstehen können, die eine feste Hoffnung einzuflößen vermögen, um den Glauben verantwortungsvoll und mit Freude zu leben und ihn so in die Umgebung ausstrahlen zu lassen.

3. Jünger und Missionare

Diese Generalkonferenz hat als Thema: »Jünger und Missionare Jesu Christi, damit unsere Völker in ihm das Leben haben - Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (
Jn 14,6)«.

Die Kirche hat die große Aufgabe, den Glauben des Volkes Gottes zu bewahren und zu nähren und auch die Gläubigen dieses Kontinents daran zu erinnern, daß sie kraft ihrer Taufe dazu berufen sind, Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein. Das schließt ein, daß sie ihm folgen, in Vertrautheit mit ihm leben, sein Beispiel nachahmen und Zeugnis geben. Jeder Getaufte erhält, wie die Apostel, von Christus den Missionsauftrag: »Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen! Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet« (Mc 16,15f.). Jünger und Missionare Jesu Christi zu sein und das Leben »in ihm« zu suchen, setzt voraus, daß man tief in ihm verwurzelt ist.

Was gibt uns Christus wirklich? Warum wollen wir Jünger Christi sein? Die Antwort lautet: Weil wir hoffen, in der Gemeinschaft mit ihm das Leben zu finden, das wahre Leben, das diesen Namen verdient, und deshalb wollen wir die anderen mit ihm bekannt machen, ihnen das Geschenk kundtun, das wir in ihm gefunden haben. Aber ist es wirklich so? Sind wir wirklich überzeugt, daß Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist?

Gegenüber der Priorität des Glaubens an Christus und des Lebens »in ihm«, wie sie im Titel dieser V. Konferenz formuliert ist, könnte auch eine andere Frage auftauchen: Könnte diese Priorität nicht vielleicht eine Flucht in den Kult der Innerlichkeit, in den religiösen Individualismus, eine Preisgabe der Dringlichkeit der großen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme Lateinamerikas und der Welt und eine Flucht aus der Wirklichkeit in eine spirituelle Welt sein?

Als ersten Schritt können wir auf diese Frage mit einer anderen Frage antworten: Was ist diese »Wirklichkeit«? Was ist das Wirkliche? Sind »Wirklichkeit« nur die materiellen Güter, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme? Hierin liegt genau der große Irrtum der im letzten Jahrhundert vorherrschenden Tendenzen, ein zerstörerischer Irrtum, wie die Ergebnisse sowohl der marxistischen wie der kapitalistischen Systeme beweisen. Sie verfälschen den Wirklichkeitsbegriff durch die Abtrennung der grundlegenden und deshalb entscheidenden Wirklichkeit, die Gott ist. Wer Gott aus seinem Blickfeld ausschließt, verfälscht den Begriff »Wirklichkeit« und kann infolgedessen nur auf Irrwegen enden und zerstörerischen Rezepten unterliegen.

Die erste grundlegende Aussage ist also folgende: Nur wer Gott kennt, kennt die Wirklichkeit und kann auf angemessene und wirklich menschliche Weise auf sie antworten. Angesichts des Scheiterns aller Systeme, die Gott ausklammern wollen, erweist sich die Wahrheit dieses Satzes als offenkundig.

Aber sogleich erhebt sich eine weitere Frage: Wer kennt Gott? Wie können wir ihn kennenlernen? Wir können hier nicht in eine umfassende Erläuterung dieser fundamentalen Frage eintreten. Für den Christen ist der Kern der Antwort einfach: Nur Gott kennt Gott, nur sein Sohn, der Gott von Gott, wahrer Gott ist, kennt ihn. Und er, »der am Herzen des Vaters ruht, hat Kunde [von ihm] gebracht« (Jn 1,18). Daher rührt die einzige und unersetzliche Bedeutung Christi für uns, für die Menschheit. Wenn wir nicht Gott in Christus und durch Christus kennen, verwandelt sich die ganze Wirklichkeit in ein unerforschliches Rätsel; es gibt keinen Weg, und da es keinen Weg gibt, gibt es weder Leben noch Wahrheit.

Gott ist die grundlegende Wirklichkeit, nicht ein nur gedachter oder hypothetischer Gott, sondern der Gott mit dem menschlichen Antlitz; er ist der Gott-mit-uns, der Gott der Liebe bis zum Kreuz. Wenn der Jünger zum Verständnis dieser Liebe Christi »bis zur Vollendung« gelangt, kann er nicht umhin, auf diese Liebe nur mit einer ähnlichen Liebe zu antworten: »Ich will dir folgen, wohin du auch gehst« (Lc 9,57).

83 Wir können uns noch eine andere Frage stellen: Was gibt uns der Glaube an diesen Gott? Die erste Antwort darauf ist: Er gibt uns eine Familie, die universale Familie Gottes in der katholischen Kirche. Der Glaube befreit uns von der Isolation des Ich, weil er uns zur Gemeinschaft führt: Die Begegnung mit Gott ist in sich selbst und als solche Begegnung mit den Brüdern, ein Akt der Versammlung, der Vereinigung, der Verantwortung gegenüber dem anderen und den anderen. In diesem Sinn ist die bevorzugte Option für die Armen im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten, der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen (vgl. 2Co 8,9).

Aber bevor wir uns mit dem auseinandersetzen, was der Realismus des Glaubens an den Mensch gewordenen Gott mit sich bringt, müssen wir die Frage vertiefen: Wie kann man Christus wirklich kennenlernen, um ihm folgen und mit ihm leben zu können, um in ihm das Leben zu finden und dieses Leben den anderen, der Gesellschaft und der Welt mitzuteilen? Christus gibt sich uns vor allem in seiner Person, in seinem Leben und in seiner Lehre durch das Wort Gottes zu erkennen. Für den Beginn des neuen Wegabschnittes, den die missionarische Kirche Lateinamerikas und der Karibik ab dieser V. Generalkonferenz in Aparecida einzuschlagen beabsichtigt, ist die gründliche Kenntnis des Wortes Gottes unerläßliche Voraussetzung.

Deshalb muß das Volk zum Lesen und zur Betrachtung des Wortes Gottes erzogen werden, auf daß es zu seiner Nahrung werde, damit die Gläubigen durch eigene Erfahrung sehen, daß die Worte Jesu Geist und Leben sind (vgl. Jn 6,63). Denn wie sollten sie eine Botschaft verkünden, deren Inhalt und Geist sie nicht gründlich kennen? Wir müssen unseren missionarischen Einsatz und unser ganzes Leben auf den Fels des Wortes Gottes gründen. Ich ermutige daher die Hirten, sich zu bemühen, das Wort Gottes bekannt zu machen.

Ein hervorragendes Mittel, das Volk Gottes in das Geheimnis Christi einzuführen, ist die Katechese. In ihr wird die Botschaft Christi auf einfache und gehaltvolle Weise weitergegeben. Man wird daher die Katechese und die Glaubensbildung sowohl der Kinder und Jugendlichen wie der Erwachsenen intensivieren müssen. Das reife Nachdenken über den Glauben ist Licht für den Weg des Lebens und Kraft, um Zeugen Christi zu sein. Dafür verfügt man über sehr wertvolle Werkzeuge, wie den Katechismus der Katholischen Kirche und seine Kurzfassung, das Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche.

In diesem Bereich darf man sich nicht nur auf Predigten, Vorträge, Bibelkurse und Theologie beschränken, sondern soll auch die Medien einsetzen: Presse, Rundfunk und Fernsehen, Internetseiten, Foren und viele andere Systeme, um einer großen Zahl von Menschen die Botschaft Christi wirksam zu vermitteln.

Bei diesem Bemühen, die Botschaft Christi kennenzulernen und zum Leitbild des eigenen Lebens zu machen, gilt es daran zu erinnern, daß sich die Evangelisierung immer zusammen mit der Förderung des Menschen und der echten christlichen Befreiung entfaltet hat. »Gottes- und Nächstenliebe verschmelzen: Im Geringsten begegnen wir Jesus selbst, und in Jesus begegnen wir Gott selbst« (Enzyklika Deus caritas est ). Aus demselben Grund wird auch eine soziale Katechese und eine entsprechende Unterweisung in der Soziallehre der Kirche erforderlich sein, wofür das Kompendium der Soziallehre der Kirche sehr nützlich ist. Das christliche Leben drückt sich nicht nur in den persönlichen, sondern auch in den sozialen und politischen Tugenden aus.

Der Jünger, der auf diese Weise fest auf dem Felsen des Wortes Gottes steht, fühlt sich dazu angespornt, seinen Brüdern die gute Nachricht vom Heil zu bringen. Jüngerschaft und Mission sind gleichsam die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Wenn der Jünger in Christus verliebt ist, kann er nicht aufhören, der Welt zu verkünden, daß allein Christus uns rettet (vgl. Ac 4,12). Der Jünger weiß nämlich, daß es ohne Christus kein Licht, keine Hoffnung, keine Liebe und keine Zukunft gibt.

4. »Damit sie in ihm das Leben haben«

Die Völker Lateinamerikas und der Karibik haben das Recht auf ein erfülltes Leben unter menschlicheren Verhältnissen, wie es den Kindern Gottes zukommt: frei von den Bedrohungen durch Hunger und jeglicher Form von Gewalt. Für diese Völker müssen ihre Hirten eine Kultur des Lebens fördern, die ihnen, wie mein Vorgänger Paul VI. sagte, »den Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen … den Erwerb von Bildung … die Zusammenarbeit zum Wohle aller … bis hin zur Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und zur Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles« (Enzyklika Populorum progressio PP 21) ermöglicht.

In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an die Enzyklika Populorum progressio, deren Veröffentlichung vor 40 Jahren wir heuer gedenken. Dieses päpstliche Dokument hebt hervor, daß echte Entwicklung umfassend sein, das heißt die Förderung des ganzen Menschen und aller Menschen im Auge haben muß (vgl. ebd., PP 14), und fordert alle auf, die schwerwiegenden sozialen Ungleichheiten und die enormen Unterschiede beim Zugang zu den Gütern zu beseitigen. Diese Völker sehnen sich vor allem nach der Fülle des Lebens, die uns Christus gebracht hat: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10). Mit diesem göttlichen Leben entfaltet sich auch voll das menschliche Dasein in seiner persönlichen, familiären, sozialen und kulturellen Dimension.

Um den Jünger auszubilden und den Missionar in seiner großen Aufgabe zu unterstützen, bietet ihnen die Kirche außer dem Brot des Wortes das Brot der Eucharistie. In diesem Zusammenhang inspiriert und erleuchtet uns der Abschnitt des Evangeliums über die Emmaus- Jünger. Als diese sich zu Tisch setzen und von Jesus Christus das gesegnete und gebrochene Brot empfangen, gehen ihnen die Augen auf, es enthüllt sich ihnen das Antlitz des Auferstandenen, sie fühlen in ihrem Herzen, daß alles, was er gesagt und getan hat, wahr ist und daß die Erlösung der Welt bereits begonnen hat. Jeder Sonntag und jede Eucharistie ist eine persönliche Begegnung mit Christus. Beim Hören des göttlichen Wortes brennt uns das Herz, weil er es ist, der es erklärt und verkündet. Wenn in der Eucharistie das Brot gebrochen wird, ist er es, den wir persönlich empfangen. Die Eucharistie ist die für das Leben des Jüngers und des Missionars Christi unverzichtbare Nahrung.

84 Die Sonntagsmesse, Mittelpunkt des christlichen Lebens

Daraus folgt die Notwendigkeit, in den Pastoralprogrammen der Aufwertung der Sonntagsmesse Vorrang zu geben. Wir müssen die Christen dazu motivieren, daß sie aktiv und, wenn möglich, am besten mit der Familie an ihr teilnehmen. Die Anwesenheit der Eltern mit ihren Kindern bei der sonntäglichen Eucharistiefeier ist eine wirksame Pädagogik für die Vermittlung des Glaubens und ein enges Band, das die Einheit zwischen ihnen aufrechterhält. Der Sonntag hatte im Leben der Kirche immer die Bedeutung des bevorzugten Augenblicks der Begegnung der Gemeinden mit dem auferstandenen Herrn.

Die Christen müssen erfahren, daß sie nicht einer Persönlichkeit der vergangenen Geschichte folgen, sondern dem lebendigen Christus, der im Hier und Jetzt ihres Lebens gegenwärtig ist. Er ist der Lebendige, der an unserer Seite geht, uns den Sinn der Ereignisse, des Schmerzes und des Todes, der Freude und des Festes enthüllt, in unsere Häuser eintritt und in ihnen bleibt, während er uns mit dem Brot nährt, das Leben schenkt. Die sonntägliche Eucharistiefeier muß deshalb das Zentrum des christlichen Lebens sein.

Die Begegnung mit Christus in der Eucharistie löst das Engagement für die Evangelisierung aus und gibt der Solidarität Auftrieb; sie weckt im Christen den starken Wunsch, das Evangelium zu verkünden und von ihm in der Gesellschaft Zeugnis zu geben, um sie gerechter und menschlicher zu machen. Aus der Eucharistie ist im Laufe der Jahrhunderte ein unermeßlicher Reichtum an Nächstenliebe, Anteilnahme an den Schwierigkeiten der anderen, an Liebe und Gerechtigkeit hervorgegangen. Nur aus der Eucharistie wird die Zivilisation der Liebe hervorkeimen, die Lateinamerika und die Karibik verwandeln wird, so daß sie außer dem Kontinent der Hoffnung auch der Kontinent der Liebe sind!

Die sozialen und politischen Probleme

Nachdem wir an diesem Punkt angekommen sind, können wir uns fragen: Wie kann die Kirche zur Lösung der dringenden sozialen und politischen Probleme beitragen und auf die große Herausforderung der Armut und des Elends antworten? Die Probleme Lateinamerikas und der Karibik wie der heutigen Welt überhaupt sind vielfältig und komplex und können nicht mit allgemeinen Programmen in Angriff genommen werden. Die grundlegende Frage, wie die vom Glauben an Christus erleuchtete Kirche angesichts dieser Herausforderungen reagieren solle, betrifft zweifellos uns alle. In diesem Zusammenhang ist es unvermeidlich, das Problem der Strukturen, vor allem jener, die Ungerechtigkeit verursachen, anzusprechen. Tatsächlich sind die gerechten Strukturen eine Voraussetzung, ohne die eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft nicht möglich ist. Aber wie entstehen sie? Wie funktionieren sie? Sowohl der Kapitalismus als auch der Marxismus haben versprochen, den Weg zur Schaffung gerechter Strukturen zu finden, und behaupteten, diese würden, sobald sie festgelegt seien, von allein funktionieren; sie behaupteten, sie würden nicht nur keiner vorausgehenden Sittlichkeit des Individuums bedürfen, sondern würden die allgemeine Sittlichkeit fördern. Und dieses ideologische Versprechen hat sich als falsch erwiesen. Die Fakten haben das offenkundig gemacht. Das marxistische System hat dort, wo es zur Herrschaft gelangt war, nicht nur ein trauriges Erbe ökonomischer und ökologischer Zerstörungen, sondern auch eine schmerzliche geistige Zerstörung hinterlassen. Und dasselbe sehen wir auch im Westen, wo der Abstand zwischen Armen und Reichen beständig wächst und wo durch Drogen, Alkohol und trügerische Vorspiegelungen von Glück eine beunruhigende Zersetzung der persönlichen Würde vor sich geht.

Die gerechten Strukturen sind, wie ich schon gesagt habe, eine unerläßliche Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft; aber weder entstehen sie, noch funktionieren sie ohne ein moralisches Einvernehmen der Gesellschaft über die Grundwerte und über die Notwendigkeit, diese Werte mit dem nötigen Verzicht, selbst gegen das persönliche Interesse, zu leben.

Wo Gott fehlt - Gott mit dem menschlichen Antlitz Jesu Christi -, zeigen sich diese Werte nicht mit ihrer ganzen Kraft und es kommt auch nicht zu einem Einvernehmen über sie. Ich will damit nicht sagen, daß Nichtgläubige keine hohe und vorbildliche Sittlichkeit leben können; ich sage nur, daß eine Gesellschaft, in der Gott nicht vorkommt, nicht das notwendige Einvernehmen über die sittlichen Werte und nicht die Kraft findet, um - auch gegen die eigenen Interessen - nach dem Vorbild dieser Werte zu leben.

Andererseits müssen die gerechten Strukturen gesucht und im Licht der grundlegenden Werte mit dem ganzen Einsatz der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vernunft ausgearbeitet werden. Sie sind eine Frage der »recta ratio« und haben ihren Ursprung weder in Ideologien noch in deren Versprechungen. Gewiß gibt es einen reichen Schatz an politischen Erfahrungen und Erkenntnissen über die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die grundlegende Elemente eines gerechten Zustandes und die Wege markieren, die vermieden werden müssen. Aber in verschiedenen kulturellen und politischen Situationen und bei der fortschreitenden Veränderung der Technologien und der weltgeschichtlichen Wirklichkeit müssen in vernünftiger Weise die entsprechenden Antworten gesucht und - mit den unerläßlichen Verpflichtungen - das Einvernehmen über die festzulegenden Strukturen hergestellt werden.

Diese politische Arbeit fällt nicht in die unmittelbare Zuständigkeit der Kirche. Die Respektierung einer gesunden Laizität - einschließlich der Vielfalt politischer Einstellungen - hat in der authentischen christlichen Tradition ihren wesentlichen Platz. Wenn die Kirche sich direkt in ein politisches Subjekt zu verwandeln begänne, würde sie für die Armen und für die Gerechtigkeit nicht mehr tun, sondern weniger, weil sie ihre Unabhängigkeit und ihre moralische Autorität verlieren würde, wenn sie sich mit einem einzigen politischen Weg und mit diskutierbaren Parteipositionen identifiziert. Die Kirche ist Anwältin der Gerechtigkeit und der Armen, eben weil sie sich weder mit den Politikern noch mit Parteiinteressen identifiziert. Nur wenn sie unabhängig ist, kann sie die großen Grundsätze und unabdingbaren Werte lehren, den Gewissen Orientierung geben und eine Lebensoption anbieten, die über den politischen Bereich hinausgeht. Die Gewissen zu bilden, Anwältin der Gerechtigkeit und der Wahrheit zu sein, zu den individuellen und politischen Tugenden zu erziehen - das ist die grundlegende Berufung der Kirche in diesem Bereich. Und die katholischen Laien müssen sich ihrer Verantwortung im öffentlichen Leben bewußt sein; sie müssen in der notwendigen Konsensbildung und im Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten präsent sein.

Die gerechten Strukturen werden nie endgültig verwirklicht sein; wegen der ständigen Evolution der Geschichte müssen sie immer wieder erneuert und aktualisiert werden; sie müssen immer von einem politischen und humanen Ethos beseelt sein, für dessen Vorhandensein und Effizienz immer gearbeitet werden muß. Mit anderen Worten: Die Gegenwart Gottes, die Freundschaft mit dem menschgewordenen Sohn Gottes, das Licht seines Wortes sind immer Grundvoraussetzungen für das Vorhandensein und die Wirksamkeit der Gerechtigkeit und der Liebe in unseren Gesellschaften.

85 Da es sich um einen Kontinent der Getauften handelt, wird man im Bereich der Politik, der Kommunikation und der Universität das beträchtliche Fehlen von Stimmen und Initiativen katholischer Führungskräfte mit starker Persönlichkeit und hochherziger Hingabe - Initiativen, die mit deren ethischen und religiösen Überzeugungen übereinstimmen - auffüllen müssen. Die kirchlichen Bewegungen haben hier ein breites Feld, um die Laien an ihre Verantwortung und ihre Sendung zu erinnern, das Licht des Evangeliums in das öffentliche, kulturelle, wirtschaftliche und politische Leben hineinzutragen.

5. Andere vordringliche Bereiche

Um die Erneuerung der euch anvertrauten Kirche in diesen Ländern zum Abschluß zu bringen, möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige Bereiche lenken, die ich auf dieser neuen Etappe als vordringlich ansehe.

Die Familie

Die Familie, »Erbe der Menschheit«, stellt einen der bedeutendsten Schätze der lateinamerikanischen Länder dar. Sie war und ist die Schule des Glaubens, Übungsplatz menschlicher und ziviler Werte, das Zuhause, in dem das menschliche Leben geboren und hochherzig und verantwortungsvoll angenommen wird. Die Familie leidet heute zweifellos unter widrigen Verhältnissen, hervorgerufen vom Säkularismus und vom ethischen Relativismus, von den verschiedenen inneren und äußeren Migrantenströmen, von der Armut, von der sozialen Instabilität und von den gegen die Ehe gerichteten Zivilgesetzgebungen, die durch Förderung empfängnisverhütender Maßnahmen und der Abtreibung die Zukunft der Völker bedrohen.

In manchen Familien Lateinamerikas herrscht unglücklicherweise noch immer eine chauvinistische Mentalität, die die Neuartigkeit des Christentums ignoriert, in dem die gleiche Würde und Verantwortlichkeit der Frau und des Mannes anerkannt und verkündet wird.

Die Familie ist für das persönliche Wohlergehen und für die Erziehung der Kinder unersetzlich. Die Mütter, die sich ganz der Erziehung ihrer Kinder und dem Dienst an der Familie widmen wollen, müssen die notwendigen Voraussetzungen vorfinden, um das auch tun zu können, und haben daher ein Recht, auf die Hilfe des Staates zählen zu können. Die Rolle der Mutter ist in der Tat von grundlegender Bedeutung für die Zukunft der Gesellschaft.

Der Vater hat seinerseits die Pflicht, wirklich ein Vater zu sein, der seine unentbehrliche Verantwortung und Mitarbeit bei der Erziehung der Kinder ausübt. Die Kinder haben das Recht, für ihre Gesamtentwicklung auf Vater und Mutter zählen zu können, die sich um sie kümmern und sie auf ihrem Weg zu einem erfüllten Leben begleiten. Notwendig ist daher eine intensive und starke Familienpastoral. Unerläßlich ist auch die Förderung beglaubigter familienpolitischer Zeichen, die den Rechten der Familie als unabdingbares soziales Subjekt entsprechen. Die Familie gehört zum Gut der Völker und der ganzen Menschheit.

Die Priester

Die ersten Förderer der Jüngerschaft und der Mission sind jene, die berufen worden sind, »um bei Jesus zu sein und dann ausgesandt zu werden, damit sie predigten« (
Mc 3,14), das heißt die Priester. Ihnen muß vorrangig die Aufmerksamkeit und die väterliche Sorge ihrer Bischöfe gelten, weil sie die ersten sind, die eine echte Erneuerung des christlichen Lebens im Volk Gottes bewirken. An sie will ich ein Wort väterlicher Liebe richten mit dem Wunsch, »der Herr möge ihnen das Erbe geben und den Becher reichen« (vgl. Ps 16,5). Wenn der Priester Gott als Fundament und Mittelpunkt seines Lebens hat, wird er die Freude und Fruchtbarkeit seiner Berufung erfahren. Der Priester muß vor allem »ein Mann Gottes« (1Tm 6,11) sein, der Gott direkt kennt, der eine tiefe persönliche Freundschaft zu Jesus hat, der den anderen gegenüber so gesinnt ist wie Christus (vgl. Ph 2,5). Nur so wird der Priester fähig sein, die Menschen zu Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist, hinzuführen und Repräsentant seiner Liebe zu sein. Um seine hohe Aufgabe zu erfüllen, muß der Priester ein solides geistliches Gerüst besitzen und sein ganzes Leben beseelt vom Glauben, von der Hoffnung und von der Liebe leben. Er muß wie Jesus ein Mensch sein, der durch das Gebet das Angesicht und den Willen Gottes sucht und sich auch um seine kulturelle und intellektuelle Formung kümmert.

Liebe Priester dieses Kontinents und ihr, die ihr als Missionare gekommen seid, um hier zu arbeiten, der Papst begleitet euch bei eurer pastoralen Arbeit und wünscht euch, daß ihr voller Freude und Hoffnung seid, und vor allem betet er für euch.

86 Ordensmänner, Ordensfrauen und geweihte Laien

Ich will mich auch an die Ordensmänner, an die Ordensfrauen und an die geweihten Frauen und Männer aus dem Laienstand wenden. Die lateinamerikanische und karibische Gesellschaft hat euer Zeugnis nötig: In einer Welt, die so oft vor allem den Wohlstand, den Reichtum und das Vergnügen als Lebensziel sucht und an Stelle der Wahrheit des für Gott geschaffenen Menschen die Freiheit verherrlicht, seid ihr Zeugen dafür, daß es eine andere Form sinnvollen Lebens gibt; erinnert eure Brüder und Schwestern daran, daß das Reich Gottes schon angebrochen ist; daß Gerechtigkeit und Wahrheit möglich sind, wenn wir uns der liebevollen Gegenwart Gottes, unseres Vaters, Christi, unseres Bruders und Herrn, des Heiligen Geistes, unseres Trösters, öffnen. Ihr müßt - in Übereinstimmung mit dem Charisma eurer Gründer - mit Hochherzigkeit und auch mit Heldenmut weiterarbeiten, damit in der Gesellschaft die Liebe, die Gerechtigkeit, die Güte, der Dienst und die Solidarität herrschen. Bekennt euch mit tiefer Freude zu eurer Weihe, die Mittel der Heiligung für euch und der Erlösung für eure Brüder ist.

Die Kirche Lateinamerikas dankt euch für die großartige Arbeit, die ihr im Laufe der Jahrhunderte für das Evangelium Christi zugunsten eurer Brüder und Schwestern, vor allem der ärmsten und am meisten benachteiligten, geleistet habt. Ich lade euch ein, immer mit den Bischöfen zusammenzuarbeiten und vereint mit ihnen, die für die pastorale Tätigkeit verantwortlich sind, zu wirken. Ich ermahne euch auch zum aufrichtigen Gehorsam gegenüber der Autorität der Kirche. Habt kein anderes Ziel als die Heiligkeit, wie ihr es von euren Gründern gelernt habt.

Die Laien

In dieser Stunde, in der sich die Kirche dieses Kontinents voll und ganz ihrer missionarischen Berufung stellt, erinnere ich die Laien daran, daß auch sie Kirche, Versammlung sind, die von Christus zusammengerufen wird, um der ganzen Welt sein Zeugnis zu bringen. Alle getauften Männer und Frauen sollen sich bewußt werden, daß sie durch das gemeinsame Priestertum des Volkes Gottes Christus, dem Priester, Propheten und Hirten, gleichgestaltet sind. Sie sollen sich mitverantwortlich fühlen beim Aufbau der Gesellschaft nach den Kriterien des Evangeliums, an der sie in Gemeinschaft mit ihren Hirten mit Enthusiasmus und Mut mitwirken.

Viele von euch Gläubigen gehören kirchlichen Bewegungen an, in denen wir Zeichen der vielgestaltigen Gegenwart und des heiligmachenden Wirkens des Heiligen Geistes in der Kirche und in der heutigen Gesellschaft sehen können. Ihr seid gerufen, der Welt das Zeugnis von Jesus Christus zu bringen und Sauerteig der Liebe Gottes unter den anderen zu sein.

Die Jugendlichen und die Berufungspastoral

In Lateinamerika besteht die Mehrheit der Bevölkerung aus jungen Menschen. In diesem Zusammenhang müssen wir sie daran erinnern, daß es ihre Berufung ist, Freunde Christi, seine Jünger, zu sein. Die Jugendlichen fürchten sich nicht vor dem Opfer, wohl aber vor einem Leben ohne Sinn. Sie sind empfänglich für den Ruf Christi, der sie einlädt, ihm zu folgen. Sie können auf diesen Ruf als Priester, als Ordensmänner und Ordensfrauen oder als Familienväter und -mütter antworten, die sich mit ihrer ganzen Zeit und ihrer Hingabefähigkeit, mit ihrem ganzen Leben vollständig dem Dienst an ihren Brüdern und Schwestern widmen. Die jungen Menschen müssen sich dem Leben als einer ständigen Entdeckung stellen, ohne sich von den gängigen Modeerscheinungen oder Denkweisen umgarnen zu lassen, sondern indem sie mit einer tiefen Neugier auf den Sinn des Lebens und das Geheimnis Gottes, des Vaters und Schöpfers, und seines Sohnes, unseres Erlösers, innerhalb der menschlichen Familie vorangehen. Sie müssen sich auch um eine ständige Erneuerung der Welt im Lichte des Evangeliums bemühen. Mehr noch müssen sie sich den leichtfertigen Vorspiegelungen raschen Glücks und den trügerischen Lustgefilden der Droge, des Vergnügens, des Alkohols sowie jeder Form von Gewalt widersetzen.

6. »Bleib bei uns!«

Die Arbeiten dieser V. Generalversammlung veranlassen uns dazu, uns die Bitte der Emmaus- Jünger zu eigen zu machen: »Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt« (
Lc 24,29).

Bleib bei uns, Herr, begleite uns, obwohl wir dich nicht immer zu erkennen vermochten. Bleib bei uns, denn um uns herum verdichten sich die Schatten, und du bist das Licht; Entmutigung schleicht sich in unsere Herzen ein, und du läßt sie durch die Gewißheit von Ostern brennen. Wir sind müde vom Weg, aber du bestärkst uns durch das Brechen des Brotes, unseren Brüdern zu verkünden, daß du wirklich auferstanden bist und uns mit der Sendung betraut hast, Zeugen deiner Auferstehung zu sein.

87 Bleib bei uns, Herr, wenn rund um unseren katholischen Glauben die Nebel des Zweifels, der Müdigkeit oder der Schwierigkeiten aufziehen: Du, der du als Offenbarer des Vaters die Wahrheit selbst bist, erleuchte unseren Geist durch dein Wort; hilf uns, die Schönheit des Glaubens an dich zu empfinden.

Bleib in unseren Familien, erleuchte sie in ihren Zweifeln, hilf ihnen in ihren Schwierigkeiten, tröste sie in ihren Leiden und in der tagtäglichen Mühe, wenn sich um sie herum Schatten zusammenziehen, die ihre Einheit und ihre natürliche Identität bedrohen. Du, der du das Leben bist, bleibe in unseren Häusern und Wohnungen, damit sie weiterhin Stätten sind, wo das menschliche Leben selbstlos geboren wird, wo man das Leben empfängt, liebt und es von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende respektiert.

Bleib, Herr, bei denen, die in unseren Gesellschaften am verwundbarsten sind; bleib bei den Armen und Geringen, bei den Indigenen und Afroamerikanern, die nicht immer Raum und Unterstützung gefunden haben, um dem Reichtum ihrer Kultur und der Weisheit ihrer Identität Ausdruck zu verleihen. Bleib, Herr, bei unseren Kindern und unseren Jugendlichen, die die Hoffnung und der Reichtum unseres Kontinents sind, bewahre sie vor den großen Bedrohungen, die ihre Unschuld und ihre berechtigten Hoffnungen gefährden. O Guter Hirt, bleib bei unseren alten Menschen und bei unseren Kranken. Stärke alle im Glauben, damit sie deine Jünger und Missionare sind!

Schluß

Zum Abschluß meines Aufenthalts bei euch möchte ich den Schutz der Mutter Gottes und Mutter der Kirche auf euch persönlich und auf ganz Lateinamerika und die Karibik herabrufen. In besonderer Weise bitte ich Unsere Liebe Frau von Guadalupe, Schutzpatronin Amerikas, und von Aparecida, Schutzpatronin Brasiliens, daß sie euch bei eurer faszinierenden und anspruchsvollen pastoralen Arbeit begleite. Ihr vertraue ich das Volk Gottes auf dieser Etappe des dritten christlichen Jahrtausends an. Ich bitte sie auch darum, daß sie die Arbeiten und Überlegungen dieser Generalkonferenz leite und die lieben Völker dieses Kontinents mit reichen Gaben segne.



ANSPRACHE 2007 Januar 2007 74