ANSPRACHE 2008 Januar 2008 152

152 Liebe Mitbrüder im Bischofsamt!

1. Sehr herzlich und mit großer Freude empfange ich euch zu dieser Begegnung, die euren »Ad-limina«-Besuch abschließt. Er gibt euch Gelegenheit, eure Bande der Gemeinschaft mit dem Nachfolger des Petrus noch stärker zu festigen und an den Gräbern der Apostel gemeinsam euren Glauben an den auferstandenen Jesus Christus, die wahre Hoffnung aller Menschen, zu erneuern.

Ich möchte dem Bischof von Encarnación und Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Ignacio Gogorza Izaguirre, aufrichtig für die freundlichen Worte danken, die er im Namen aller an mich gerichtet hat. Bewegt von der Sorge für alle Gemeinden (vgl.
2Co 11,28), schließe ich mich euren Sorgen und Wünschen als Hirten Christi an und bitte den Herrn, allen euren Priestern, Ordensmännern, Ordensfrauen, Seminaristen und gläubigen Laien, die sich mit wahrer Liebe dem Evangelium weihen, beizustehen.

2. Die pastoralen Herausforderungen, denen ihr gegenübersteht, sind in der Tat groß und komplex. In einem kulturellen Umfeld, das Gott aus dem menschlichen und gesellschaftlichen Bereich ausgrenzen will oder ihn als Hindernis beim Erlangen des eigenen Glücks betrachtet, sind große missionarische Anstrengungen nötig, die Jesus Christus in den Mittelpunkt der ganzen Pastoralarbeit stellen und so allen Menschen die Schönheit und Wahrheit seines Lebens und seiner Heilsbotschaft vermitteln. Die Menschen brauchen diese persönliche Begegnung mit dem Herrn, die ihnen ein Leben eröffnet, das von der Gnade und der Liebe Gottes erleuchtet ist. Die Forderung nach der Anwesenheit wahrer Zeugen eines wirklich christlichen Lebens und nach der Heiligkeit der Hirten bleibt in diesem Sinne sowohl in der Kirche als auch in der Welt stets aktuell. Daher ermutige ich euch, liebe Brüder, durch ein heiligmäßiges, von der Liebe Gottes durchwirktes Leben kirchlicher Treue und großherziger Hingabe an das Evangelium wahre Vorbilder für eure Herde zu werden (vgl. 1P 5,3), im Bewußtsein, daß eines der kostbarsten Geschenke, die ihr euren Gemeinschaften geben könnt, euer bischöflicher Dienst ist.

3. Gemeinsam mit dem Papst und unter seiner Autorität sind die Bischöfe gesandt, das Werk Christi durch alle Zeiten fortzusetzen (vgl. Christus Dominus CD 2). Der Bischof ist sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit der eigenen Teilkirche und ebenfalls das Band der kirchlichen Gemeinschaft. Er steht zugleich in Beziehung zu seiner Teilkirche und zur Universalkirche (vgl. Pastores gregis ). Als Nachfolger des Apostels Petrus fordere ich euch auf, auch weiterhin mit allen euren Kräften daran zu arbeiten, die Einheit sowohl in euren Diözesangemeinschaften als auch mit dem Apostolischen Stuhl zu festigen. Diese Einheit, für die Jesus, der Herr, betete, insbesondere beim Letzten Abendmahl (vgl. Jn 17,20-21), ist Quelle wahrer pastoraler und geistlicher Fruchtbarkeit.

4. Aus gutem Grund nehmen die Priester einen besonderen Platz in eurem Herzen ein. Durch die Handauflegung sind sie dem Guten Hirten noch stärker gleichgestaltet und haben Anteil an seinem Priestertum als wahre Verwalter der Geheimnisse Gottes (vgl. 1Co 4,1) für das Wohl ihrer Brüder. Ich fordere euch auf, ihnen nahe zu sein und Anerkennung für ihre Arbeit zu zeigen. Gleichzeitig sollt ihr ihnen eine angemessene ständige Weiterbildung ermöglichen, die ihrem geistlichen Leben neue Kraft verleiht (vgl. 1Tm 4,14-16), damit sie, bewegt von einem tiefen Gefühl der Liebe und des Gehorsams gegenüber der Kirche, sich unermüdlich dafür einsetzen, allen die einzige Nahrung zu bieten, die das Verlangen des Menschen nach Erfüllung stillen kann - Jesus Christus, unseren Erlöser. Gleichzeitig werden die Freude, die Überzeugung und die Treue, mit der die Priester tagtäglich ihre Berufung leben, bei vielen jungen Männern den Wunsch wecken, Christus im Priestertum nachzufolgen und großherzig auf seinen Ruf zu antworten. Ich stelle mit großer Freude fest, daß eine eurer Prioritäten in der Tat die Jugend- und Berufungspastoral ist. Im Hinblick darauf müssen den Seminaristen die nötigen menschlichen und materiellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die ihnen zu einem gefestigten inneren Leben sowie zu einer angemessenen Ausbildung im intellektuellen Bereich und dem der Lehre verhelfen, besonders hinsichtlich des Wesens und der Identität des Priesteramts.

Meine Anerkennung und mein Dank gelten auch den Ordensleuten für den Eifer und die Liebe, mit denen sie seit den Anfängen der Evangelisierung eures Landes den christlichen Glauben verkündet haben. Ich fordere sie auf, auch weiterhin durch ihre Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams Zeugen eines Lebens zu sein, das wirklich dem Evangelium entspricht.

5. Damit die christliche Botschaft auch in die entlegensten Winkel der Welt gelangen kann, ist die Mitarbeit der gläubigen Laien unverzichtbar. Ihre besondere Berufung besteht darin, die zeitliche Ordnung mit christlichem Geist zu durchdringen und sie nach dem göttlichen Plan zu verwandeln (vgl. Lumen gentium LG 31). Die Hirten haben ihrerseits die Pflicht, ihnen alle notwendigen Mittel für das geistliche Leben und für ihre Bildung zur Verfügung zu stellen (vgl. ebd., 37), damit sie ihren christlichen Glauben konsequent leben und so wirklich das Licht der Welt und das Salz der Erde sein können (vgl. Mt 5,13).

Ein bedeutender Aspekt der den Laien eigenen Sendung ist der Dienst an der Gesellschaft durch die politische Tätigkeit. Es gehört zur Lehre der Kirche, daß die unmittelbare Aufgabe, für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu wirken, eigens den gläubigen Laien zukommt (vgl. Deus caritas est ). Sie müssen daher angehalten werden, die wichtige Dimension der sozialen Liebe mit Verantwortungsbewußtsein und Hingabe zu leben, damit die menschliche Gemeinschaft, deren vollberechtigter Teil sie sind, fortschreiten kann in Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und der Verteidigung der wahren und echten Werte wie dem Schutz des menschlichen Lebens, der Ehe und der Familie. Auf diese Weise tragen sie zum wahren menschlichen und geistlichen Wohl der ganzen Gesellschaft bei.

6. Ich weiß, wieviele Anstrengungen ihr unternehmt, um die Nöte eures Volkes zu lindern, die eurem Hirtenherzen Sorge bereiten. Im Bewußtsein, daß die christliche Liebeshandlung der Kirche »hier und jetzt Vergegenwärtigung der Liebe [ist], deren der Mensch immer bedarf« (ebd., 31), bitte ich euch, in eurem Dienst ein lebendiges Abbild der Liebe Christi für alle eure Brüder zu sein und ihnen nahezustehen - besonders den Leidtragenden, den Ausgegrenzten, den alten und kranken Menschen und den Häftlingen.

Zum Abschluß möchte ich euch, liebe Brüder, noch einmal für eure täglichen Bemühungen im Dienst der Kirche meinen herzlichen Dank aussprechen. Ich bitte den Herrn, daß diese Begegnung die Gemeinschaft unter euch festige und euch stärke im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe. Ebenso möchte ich euch den Auftrag geben, euren Priestern, Ordensmännern, Ordensfrauen, Seminaristen und allen Gläubigen eurer Diözesen den Gruß, die Nähe und das Gebet des Papstes zu überbringen.

153 Indem ich euch, eure Anliegen und pastoralen Pläne der Fürbitte Unserer Lieben Frau von Caacupé anvertraue, erteile ich euch von ganzem Herzen einen besonderen Apostolischen Segen.

APOSTOLISCHE REISE

NACH FRANKREICH ANLÄSSLICH DES 150. JAHRESTAGES

DER ERSCHEINUNGEN VON LOURDES

(12. - 15. SEPTEMBER 2008)


INTERVIEW MIT BENEDIKT XVI. AUF DEM FLUG NACH PARIS

Freitag, 12. September 2008

FRAGE: »Frankreich, willst du deinem Taufversprechen treu sein?«, hat Papst Johannes Paul II. bei seiner ersten Frankreichreise gefragt. Was ist heute Ihre Botschaft an die Franzosen? Sind Sie der Meinung, daß Frankreich heute aufgrund der Laizität seine christliche Identität verliert?

BENEDIKT XVI.: Mit scheint es heute offenkundig zu sein, daß die Laizität an sich nicht im Gegensatz zum Glauben steht. Ich würde sogar sagen, sie ist eine Frucht des Glaubens, weil der christliche Glaube von Anfang an eine universale Religion war, das heißt nicht mit einem Staat identifizierbar, eine Religion, die in allen Staaten gegenwärtig und zugleich verschieden von jedem Staat war. Für die Christen war immer klar, daß Religion und Glauben nicht in den Bereich der Politik gehören, sondern zu einem anderen Bereich des menschlichen Lebens… Die Politik, der Staat sind keine Religion, sondern eine weltliche Realität mit einem spezifischen Auftrag. Die beiden Realitäten müssen füreinander offen sein. In diesem Sinn würde ich sagen, daß es heute für die Franzosen - und nicht nur für die Franzosen, sondern für uns Christen in der säkularisierten Welt von heute - wichtig ist, mit Freude die Freiheit unseres Glaubens zu leben, die Schönheit des Glaubens zu leben und in der Welt von heute sichtbar zu machen, daß es schön ist, Gott zu kennen, Gott, der in Jesus Christus ein menschliches Antlitz hat… Das heißt also zu zeigen, daß es möglich ist, heute gläubig zu sein, und auch die Notwendigkeit zu zeigen, daß es in der heutigen Gesellschaft Menschen gibt, die Gott kennen und die deshalb gemäß den Werten, die er uns gegeben hat, leben können. So können sie zur Vergegenwärtigung dieser Werte beitragen, die für den Aufbau und das Überleben unserer Staaten und unserer Gesellschaften grundlegend sind.

FRAGE: Sie kennen und lieben Frankreich. Was verbindet sie besonders mit diesem Land? Welche französischen Autoren, weltliche oder christliche, haben Sie besonders beeindruckt, und was sind die bewegendsten Erinnerungen, die Sie an Frankreich haben?

BENEDIKT XVI.: Ich würde nicht zu behaupten wagen, daß ich Frankreich gut kenne. Ich kenne es nur wenig, aber ich liebe Frankreich, die große französische Kultur vor allem, natürlich die großen Kathedralen und auch die große französische Kunst … die große Theologie, die mit dem hl. Irenäus von Lyon beginnt, bis hin zum XIII. Jahrhundert. Ich habe mich in meinen Studien mit der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert beschäftigt: dem hl. Bonaventura, dem hl. Thomas von Aquin. Diese Theologie war entscheidend für die Entwicklung der Theologie im Abendland… Und natürlich die Theologie des Jahrhunderts, in dem das Zweite Vatikanische Konzil stattgefunden hat. Ich hatte die große Ehre und die Freude, ein Freund von Pater de Lubac zu sein, einer der größten Gestalten des vergangenen Jahrhunderts, aber es gab auch gute Kontakte der Zusammenarbeit mit Pater Congar, Jean Daniélou und anderen.

Ich hatte sehr gute persönliche Beziehungen zu Étienne Gilson, Henri-Irénée Maroux. Ich stand wirklich in einem sehr tiefen, persönlichen und bereichernden Kontakt zur großen theologischen und philosophischen Kultur Frankreichs. Sie war entscheidend für die Entwicklung meines Denkens. Aber auch die Wiederentdeckung der ursprünglichen Gregorianik mit Solesmes, die große monastische Kultur… und natürlich die große Poesie. Als barocker Menschentyp gefällt mir Paul Claudel sehr mit seiner Lebensfreude und auch Bernanos sowie die großen Dichter Frankreichs aus dem vergangenen Jahrhundert. Es ist eine Kultur, die wirklich meine persönliche, theologische, philosophische und menschliche Entwicklung geprägt hat.

FRAGE: Was würden Sie denen sagen, die in Frankreich fürchten, daß das Motu proprio Summorum pontificum ein Zeichen des Rückschritts angesichts der großen Intuitionen des Zweiten Vatikanischen Konzils ist? Wie können Sie sie beruhigen?

BENEDIKT XVI.: Das ist eine unbegründete Furcht, denn dieses Motu proprio ist einfach ein Akt der Toleranz aus pastoraler Absicht, für Menschen, die in dieser Liturgie geformt wurden, sie lieben, kennen und mit dieser Liturgie leben wollen. Es ist eine zahlenmäßig begrenzte Gruppe, denn das setzt eine Bildung in der lateinischen Sprache voraus, die Ausbildung in einer gewissen Kultur. Diesen Menschen Liebe und Toleranz entgegenzubringen, ihnen zu erlauben, mit dieser Liturgie zu leben, erscheint als normales Erfordernis des Glaubens und der Pastoral eines Bischofs unserer Kirche. Es gibt keinen Gegensatz zwischen der vom Zweiten Vatikanum erneuerten Liturgie und dieser Liturgie.

Täglich haben die Konzilsväter die Messe nach dem alten Ritus gefeiert und zugleich haben sie eine natürliche Entwicklung für die Liturgie in diesem Jahrhundert entworfen, denn die Liturgie ist eine lebendige Realität, die sich entwickelt und dabei in ihrer Entwicklung ihre Identität bewahrt. Es gibt sicherlich unterschiedliche Akzente, aber dennoch eine grundlegende Identität, die einen Widerspruch, einen Gegensatz zwischen der erneuerten Liturgie und der vorangegangenen ausschließt. Ich denke, es gibt in jedem Fall, die Möglichkeit einer gegenseitigen Bereicherung. Einerseits können und müssen die Freunde der alten Liturgie die neuen Heiligen, die neuen Präfationen etc. kennen. Andererseits unterstreicht die neue Liturgie stärker die tätige Teilnahme, aber sie ist nicht nur die Versammlung einer bestimmten Gemeinschaft, sondern immer ein Akt der universalen Kirche, in Gemeinschaft mit allen Gläubigen aller Zeiten und ein Akt der Anbetung. In diesem Sinn scheint es mir eine gegenseitige Bereicherung zu geben, und es ist klar, daß die erneuerte Liturgie die ordentliche Form der Liturgie unserer Zeit ist.

FRAGE: Mit welcher inneren Haltung beginnen Sie Ihre Wallfahrt nach Lourdes, und waren sie schon einmal in Lourdes?

154 BENEDIKT XVI.: Ich war aus Anlaß des Internationalen Eucharistischen Kongresses 1981 in Lourdes, nach dem Attentat auf den Papst. Und Kardinal Gantin war der Päpstliche Gesandte. Für mich ist es eine wunderschöne Erinnerung.

Das Fest der hl. Bernadette ist auch mein Geburtstag. Und schon das ist für mich ein Grund, mich der kleinen Heiligen sehr nahe zu fühlen, jenem jungen, reinen, demütigen Mädchen, mit dem die Muttergottes gesprochen hat.

Dieser Wirklichkeit, dieser Gegenwart der Muttergottes in unserer Zeit zu begegnen, die Spuren jenes jungen Mädchens zu sehen, die eine Freundin der Muttergottes war, und andererseits der Muttergottes, ihrer Mutter, zu begegnen ist für mich ein wichtiges Ereignis. Natürlich gehen wir dort nicht hin, um Wunder zu sehen.

Ich gehe nach Lourdes, um dort die Liebe der Mutter zu finden, die die wahre Heilung für alle Krankheiten, alle Schmerzen ist. Ich gehe dorthin aus Solidarität mit allen, die leiden, ich gehe im Zeichen der Liebe der Mutter. Mir scheint dies ein sehr wichtiges Zeichen für unsere Zeit zu sein.


BEGRÜSSUNGSZEREMONIE

Paris, Elisée

Freitag, 12. September 2008



Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
liebe Freunde!

Zum ersten Mal, seitdem die Vorsehung mich auf den Stuhl Petri berufen hat, setze ich nun meinen Fuß auf französischen Boden. Dabei bin ich innerlich bewegt und fühle mich durch den warmherzigen Empfang, den Sie mir bereitet haben, geehrt. Ihnen, Herr Präsident, bin ich besonders dankbar für Ihre herzliche Einladung, Ihr Land zu besuchen, sowie für die freundlichen Begrüßungsworte, die Sie an mich gerichtet haben. Unvergeßlich ist mir der Besuch, den Eure Exzellenz mir vor neun Monaten im Vatikan abgestattet haben. Durch Sie grüße ich alle Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes mit einer Jahrtausende alten Geschichte, einer ereignisreichen Gegenwart und einer hoffnungsvollen Zukunft. Sie sollen wissen, daß Frankreich sehr oft im Mittelpunkt des Gebetes des Papstes steht, der all das, was dieses Land im Laufe von zwanzig Jahrhunderten der Kirche gegeben hat, nicht vergessen kann. Der Hauptgrund meiner Reise ist die Feier des 150. Jahrestags der Erscheinungen der Jungfrau Maria in Lourdes. Ich möchte mich der Schar der unzähligen Pilger aus aller Welt anschließen, die im Laufe dieses Jahres, von Glaube und Liebe bewegt, in diesem Marienwallfahrtsort zusammenströmen. Es ist ein Glaube, es ist eine Liebe, die ich in Ihrem Land während der vier gnadenreichen Tage, die ich hier verbringen darf, feiern werde.

Meine Pilgerfahrt nach Lourdes sollte über Paris führen. Ihre Hauptstadt ist mir vertraut, und ich kenne sie gut. Ich bin oft hier gewesen und habe in ihr im Laufe der Jahre anläßlich meiner Studien und meiner vorigen Aufgaben gute menschliche und geistige Freundschaften geschlossen. Mit Freude komme ich wieder und bin glücklich über die Gelegenheit, die sich mir so geboten hat, das reiche Erbe an Kultur und Glauben zu würdigen, das über Jahrhunderte hin Ihr Land in strahlender Weise geformt und der Welt große Gestalten von Dienern der Nation und der Kirche geschenkt hat. Ihre Lehre und ihr Beispiel haben auf ganz natürliche Weise die geographischen und nationalen Grenzen überschritten, um den Lauf der Welt zu prägen. Bei Ihrem Besuch in Rom haben Sie, Herr Präsident, daran erinnert, daß die Wurzeln Frankreichs - wie die Europas - christlich sind. Es genügt die Geschichte, um das zu zeigen: Seit seinen Anfängen hat Ihr Land die Botschaft des Evangeliums empfangen. Wenn auch manchmal die Dokumente fehlen, kann doch zumindest der Bestand christlicher Gemeinden in Gallien zu einem sehr frühen Zeitpunkt nachgewiesen werden: Es ist ergreifend, wenn man bedenkt, daß die Stadt Lyon bereits in der Mitte des zweiten Jahrhunderts einen Bischof hatte und daß der heilige Irenäus, der Verfasser von Adversus haereses, darin ein beredtes Zeugnis für die Kraft des christlichen Denkens gibt. Nun, der heilige Irenäus war aus Smyrne gekommen, um den Glauben an den auferstandenen Christus zu verkünden. Lyon hatte also einen Bischof, dessen Muttersprache Griechisch war: Gibt es ein schöneres Zeichen für die universale Natur und Bestimmung der christlichen Botschaft? Bereits seit alter Zeit ist die Kirche in Ihr Land eingepflanzt und hat eine kulturstiftende Rolle gespielt, der ich an diesem Ort gerne meine Anerkennung zolle. Sie haben in Ihrer Rede im Lateranpalast im vergangenen Dezember selbst darauf angespielt. Die Weitergabe der antiken Kultur durch die Mönche - die Lehrmeister und Kopisten waren -, die Erziehung von Herz und Geist zur Liebe gegenüber dem Armen, die Hilfe für die Bedürftigen durch die Gründung zahlreicher Ordensgemeinschaften, der Beitrag der Christen zur Festigung der Institutionen Galliens und dann Frankreichs sind allzu bekannt, als daß ich darauf länger eingehen müßte. Die Tausenden Kapellen, Kirchen, Abteien und Kathedralen, welche die Zentren Ihrer Städte oder abgeschiedene Gegenden zieren, besagen zu genüge, wie sehr Ihre Väter im Glauben den ehren wollten, der ihnen das Leben geschenkt hatte und der uns im Sein erhält.

155 Viele Menschen, auch hier in Frankreich, haben ausführlich über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat nachgedacht. In Wirklichkeit hatte zum Problem der Beziehung zwischen dem politischen und dem religiöse Bereich bereits Christus den Grundsatz für die Findung einer gerechten Lösung geliefert, als er auf eine ihm gestellte Frage antwortete: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Mc 12,17). Gegenwärtig erfreut sich die Kirche in Frankreich einer Ordnung der Freiheit. Das Mißtrauen der Vergangenheit hat sich allmählich in einen sachlichen und positiven Dialog verwandelt, der sich zunehmend festigt. Seit dem Jahr 2002 besteht ein neues Organ für den Dialog, und ich bin sehr zuversichtlich hinsichtlich seiner Arbeit, denn auf beiden Seiten ist guter Wille vorhanden. Wir wissen, daß einige Bereiche des Dialogs noch offen sind, die wir mit Entschiedenheit und Geduld nach und nach in Angriff nehmen und bereinigen müssen. Sie, Herr Präsident, haben im übrigen den Ausdruck der „positiven Laizität“ benutzt, um dieses offenere Verständnis zu bezeichnen. Ich bin überzeugt, daß in dieser geschichtlichen Zeit, in der die Kulturen sich immer mehr verflechten, ein neues Nachdenken über den wahren Sinn und die Bedeutung der Laizität notwendig geworden ist. In der Tat ist es grundlegend, einerseits auf die Unterscheidung zwischen politischem und religiösem Bereich zu bestehen, um sowohl die Religionsfreiheit der Bürger als auch die Verantwortung des Staates, die er ihnen gegenüber hat, zu gewährleisten, und sich andererseits deutlicher der unersetzlichen Funktion der Religion für die Gewissensbildung bewußt zu werden und des Beitrags, den die Religion gemeinsam mit anderen zur Bildung eines ethischen Grundkonsenses innerhalb der Gesellschaft erbringen kann,.

Der Papst bemüht sich als Zeuge eines liebenden und rettenden Gottes, ein Sämann der Liebe und der Hoffnung zu sein. Jede menschliche Gesellschaft braucht Hoffnung, und dieses Bedürfnis ist in der heutigen Welt, die wenig geistliche Bestrebungen aufweist und wenig materielle Sicherheiten bietet, noch stärker. Die jungen Menschen sind meine größte Sorge. Einige von ihnen haben Mühe, eine ihnen angemessene Orientierung zu finden, oder leiden unter dem Verlust von Bezugspunkten in ihrem Familienleben. Andere wieder erfahren die Grenzen von religiösen Gemeinden und Gruppen. Bisweilen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und häufig sich selbst überlassen, sind sie anfällig und müssen sich allein mit einer Wirklichkeit auseinandersetzen, die sie überfordert. Darum ist es notwendig, ihnen gute Rahmenbedingungen für die Erziehung zu bieten und sie zu gegenseitiger Achtung und Hilfe zu ermutigen, damit sie unbeschwert das Erwachsenenalter erreichen. Die Kirche kann auf diesem Gebiet ihren spezifischen Beitrag leisten. Ebenfalls besorgt bin ich über die soziale Situation der westlichen Welt, die leider durch eine schleichend wachsende Distanz zwischen Reichen und Armen gekennzeichnet ist. Ich bin sicher, daß es möglich ist, gerechte Lösungen zu finden, die über die notwendige unmittelbare Hilfe hinaus zum Kern des Problems vordringen, um die Schwachen zu schützen und ihre Würde zu fördern. Durch ihre zahlreichen Institutionen und Aktivitäten versucht die Kirche - ebenso wie viele Vereinigungen in Ihrem Land - häufig, unmittelbar Abhilfe zu schaffen, aber es ist Sache des Staates, Gesetze zu erlassen, um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen. In einem wesentlich weiteren Rahmen, Herr Präsident, beunruhigt mich auch der Zustand unseres Planeten. In enormer Großzügigkeit hat Gott uns die von ihm erschaffene Welt anvertraut. Wir müssen lernen, sie besser zu bewahren und zu schützen. Mir scheint der Moment gekommen, konstruktivere Vorschläge zu machen, um das Wohl der kommenden Generationen zu gewährleisten.

Die Präsidentschaft der Europäischen Gemeinschaft stellt für Ihr Land eine Gelegenheit dar, die Bedeutung, die Frankreich gemäß seiner edlen Tradition den Menschenrechten und ihrer Förderung zum Wohl der einzelnen wie der Gesellschaft zumißt, zu bezeugen. Wenn der Europäer sieht und persönlich erfährt, daß die unveräußerlichen Rechte des Menschen von seiner Zeugung bis zu seinem natürlichen Tod sowie jene, die seine Erziehungsfreiheit, sein Familienleben, seine Arbeit und, selbstverständlich nicht zu vergessen, seine religiösen Rechte betreffen - wenn also der Europäer begreift, daß seine Rechte, die ein unteilbares Ganzes bilden, gefördert und respektiert werden, dann wird er vollends die Größe des Bauwerks der Union verstehen und aktiv daran mitbauen. Die Aufgabe, die Ihnen, Herr Präsident, zukommt, ist nicht leicht. Die Zeiten sind ungewiß, und es ist ein schwieriges Unterfangen, im Gewirr des sozialen und wirtschaftlichen, nationalen und internationalen Alltags den rechten Weg zu finden. Insbesondere angesichts der Gefahr eines Wiedererstehens alten Mißtrauens, von Spannungen und Gegensätzen zwischen den Nationen, was wir heute mit Sorge beobachten, ist Frankreich, das von seiner Geschichte her ein feines Gespür für die Versöhnung der Völker hat, dazu berufen, Europa zu helfen, innerhalb seiner Grenzen und auf der ganzen Welt den Frieden aufzubauen. In dieser Hinsicht ist es wichtig, eine Einheit zu fördern, die weder Einförmigkeit sein kann noch sein will, sondern die imstande ist, die Achtung vor den nationalen Unterschieden und den verschiedenen kulturellen Traditionen zu gewährleisten, die einen Reichtum innerhalb der europäischen Symphonie darstellen. Dabei ist andererseits daran zu erinnern, daß „die nationale Identität selbst nur durch die Öffnung zu anderen Völkern und durch die Solidarität mit ihnen verwirklicht werden kann“ (Nachsynodales Schreiben Ecclesia in Europa, Nr. 112). Ich äußere meine Zuversicht, daß Ihr Land immer mehr dazu beitragen wird, daß dieses Jahrhundert sich auf Ruhe, Harmonie und Frieden hin entwickelt.

Herr Präsident, liebe Freunde, noch einmal möchte ich Ihnen meinen Dank für diese Begegnung zum Ausdruck bringen. Ich versichere Sie meines inständigen Gebetes für Ihre schöne Nation, auf daß Gott ihr Frieden und Wohlergehen, Freiheit und Einheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewähre. Diese Wünsche vertraue ich der mütterlichen Fürsprache der Jungfrau Maria, der Hauptpatronin Frankreichs, an. Gott segne Frankreich und alle Franzosen!


BEGEGNUNG MIT VERTRETERN DES JUDENTUMS

Paris - Freitag, 12. September 2008



Mit Freude empfange ich Euch heute abend, liebe Freunde. Es ist eine glückliche Fügung, daß unser Treffen am Vorabend der wöchentlichen Feier des Shabbat stattfindet, am Tag, der seit undenklichen Zeiten einen so bedeutenden Platz im religiösen und kulturellen Leben des Volkes Israel einnimmt. Jeder fromme Jude heiligt den Shabbat, indem er die Schriften liest und die Psalmen betet. Liebe Freunde, Ihr wißt, daß auch das Gebet Jesu sich aus den Psalmen nährte. Regelmäßig begab er sich in den Tempel und in die Synagoge. Dort ergriff er an einem Sabbat auch das Wort an einem Sabbat. Dort wollte er unterstreichen, mit welcher Güte der ewige Gott sich des Menschen annimmt, auch in der Organisation der Zeit. Sagt nicht etwa der Talmud Yoma (85b): „Der Sabbat ist euch gegeben, nicht ihr dem Sabbat“? Christus hat das Volk des Bundes aufgerufen, immer die unerhörte Größe und Liebe des Schöpfers aller Menschen anzuerkennen. Liebe Freunde, aufgrund dessen, was uns eint, und aufgrund dessen, was uns trennt, haben wir eine Brüderschaft, die wir stärken und leben müssen. Und wir wissen, daß die Brüderschaftsbande eine ständige Einladung darstellen, sich besser kennenzulernen und sich zu respektieren.

Die Katholische Kirche wünscht von ihrer Natur her, den Bund, den der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs geschlossen hat, zu achten. Denn auch sie ist eingeschrieben in den ewigen Bund des Allmächtigen, der sich seiner Ratschüsse nicht reut, und sie achtet die Söhne der Verheißung, die Söhne des Bundes, ihre geliebten Brüder im Glauben. Kraftvoll wiederholt sie durch meine Stimme die Worte meines verehrten Vorgängers, des großen Papstes Pius XI.: „Geistlich sind wir Semiten“ (Ansprache an Pilger aus Belgien, 6. 9. 1938). So erhebt sich die Kirche gegen jede Form von Antisemitismus, für den es keine annehmbare theologische Rechtfertigung gibt. Der Theologe Henri de Lubac begriff in einer Stunde „der Finsternis“, wie Pius XII. sagte (Summi Pontificatus, 20. 10. 1939), daß antisemitisch sein auch antichristlich sein bedeutet (vgl. Un nouveau front religieux, veröffentlicht 1942 in: Israël et la Foi Chrétienne, S. 136). Noch einmal liegt mir daran, denen tiefe Ehrerbietung zu erweisen, die zu Unrecht gestorben sind, und denen, die dafür tätig waren, daß die Namen der Opfer in der Erinnerung lebendig bleiben. Gott vergißt nicht!

Bei einer Gelegenheit wie dieser kann ich nicht die hervorragende Rolle, die die Juden in Frankreich beim Aufbau der ganzen Nation gespielt haben, und deren namhaften Beitrag zu ihrem geistigen Erbe nicht unerwähnt lassen. Sie haben der Welt der Politik, der Kultur, der Kunst große Gestalten geschenkt - und tun dies weiterhin. Respektvolle und herzliche Wünsche richte ich an einen jeden von ihnen und rufe mit Inbrunst auf Eure Familien und alle Eure Gemeinden einen besonderen Segen des Herrn der Zeit und der Geschichte herab. Shabbat shalom!


BEGEGNUNG MIT VERTRETERN AUS DER WELT DER KULTUR

Paris, Collège des Bernardins

Freitag, 12. September 2008



Herr Kardinal,
156 Frau Kulturminister,
Herr Bürgermeister,
Herr Kanzler des Institut de France,
liebe Freunde!

Danke, Herr Kardinal, für Ihre freundlichen Worte. Wir befinden uns hier an einem historischen Ort, der von den Söhnen des heiligen Bernhard von Clervaux erbaut wurde und den Ihr Vorgänger, der verstorbene Kardinal Jean-Marie Lustiger, als Zentrum des Dialogs zwischen dem christlichen Denken und den intellektuellen und künstlerischen Strömungen der heutigen Gesellschaft wollte. Ich begrüße im besonderen die Frau Kulturminister, die die Regierung vertritt, sowie die Herren Giscard d’Estaig und Chirac. Desgleichen grüße ich die anwesenden Minister, die Vertreter der UNESCO, den Herrn Bürgermeister von Paris und alle anderen Amtsträger. Ich möchte nicht meine Kollegen des Institut de France vergessen, die um meine Wertschätzung ihnen gegenüber wissen, und danke Prinz de Broglie für seine herzlichen Worte. Wir werden uns morgen vormittag wiedersehen. Ich danke den Vertretern der muslimischen Gemeinde Frankreichs, daß sie die Einladung zur Teilnahme an dieser Begegnung angenommen haben. Ihnen entbiete ich meine besten Wünsche in dieser Zeit des Ramadan. Mein warmherziger Gruß gilt nun natürlich der gesamten vielfältigen Welt der Kultur, die Sie, liebe Gäste, so würdig vertreten.

Heute abend möchte ich zu Ihnen über die Ursprünge der abendländischen Theologie und die Wurzeln der europäischen Kultur sprechen. Eingangs habe ich erwähnt, daß wir uns an einem emblematischen Ort befinden. Er ist an die Mönchskultur gebunden. Junge Mönche haben hier gelebt, um ihre Berufung tiefer verstehen und ihren Auftrag besser leben zu lernen. Dies ist ein Ort, der mit der Kultur des Mönchtums zu tun hat. Geht uns das heute noch etwas an, oder begegnen wir dabei bloß einer vergangenen Welt? Um darauf antworten zu können, müssen wir uns einen Augenblick auf das Wesen des abendländischen Mönchtums selbst besinnen. Worum ging es da? Von der Wirkungsgeschichte des Mönchtums her können wir sagen, daß im großen Kulturbruch der Völkerwanderung und der sich bildenden neuen staatlichen Ordnungen die Mönchsklöster der Ort waren, an dem die Schätze der alten Kultur überlebten und zugleich von ihnen her eine neue Kultur langsam geformt wurde. Aber wie ging das zu? Was hat die Menschen bewegt, die sich an diesen Orten zusammenfanden? Was wollten sie? Wie haben sie gelebt?

Da ist zunächst und als erstes ganz nüchtern zu sagen, daß es nicht ihre Absicht war, Kultur zu schaffen oder auch eine vergangene Kultur zu erhalten. Ihr Antrieb war viel elementarer. Ihr Ziel hieß: quaerere Deum. In der Wirrnis der Zeiten, in der nichts standzuhalten schien, wollten sie das Wesentliche tun - sich bemühen, das immer Gültige und Bleibende, das Leben selber zu finden. Sie waren auf der Suche nach Gott. Sie wollten aus dem Unwesentlichen zum Wesentlichen, zum allein wirklich Wichtigen und Verläßlichen kommen. Man sagt darüber, daß sie „eschatologisch“ ausgerichtet waren. Aber das ist nicht in einem zeitlichen Sinn zu verstehen, als ob sie auf das Ende der Welt oder auf ihren eigenen Tod hingeschaut hätten, sondern in einem existentiellen Sinn: Sie suchten das Endgültige hinter dem Vorläufigen. Quaerere Deum: Weil sie Christen waren, war dies nicht eine Expedition in eine weglose Wüste, eine Suche ins völlige Dunkel hinein. Gott hatte selbst Wegzeichen ausgesteckt, ja, einen Weg gebahnt, den zu finden und zu gehen die Aufgabe war. Dieser Weg war sein Wort, das in den Büchern der heiligen Schriften vor den Menschen aufgeschlagen war. Die Suche nach Gott verlangt so von innen her eine Kultur des Wortes oder - wie Jean Leclercq es ausgedrückt hat: Eschatologie und Grammatik sind im abendländischen Mönchtum inwendig miteinander verbunden (vgl. L’amour des lettres et le désir de Dieu, S. 14). Das Verlangen nach Gott, der désir de Dieu, schließt den amour des lettres, die Liebe zum Wort mit ein, das Eindringen in alle seine Dimensionen. Weil im biblischen Wort Gott unterwegs ist zu uns und wir zu ihm, darum muß man lernen, in das Geheimnis der Sprache einzudringen, sie in ihrem Aufbau und in der Weise ihres Ausdrucks zu begreifen. So werden gerade durch die Gottsuche die profanen Wissenschaften wichtig, die uns den Weg zur Sprache zeigen. Weil die Suche nach Gott die Kultur des Wortes verlangte, daher gehört zum Kloster die Bibliothek, die die Wege zum Wort aufzeigt. Daher gehört zu ihm auch die Schule, in der die Wege konkret geöffnet werden. Benedikt nennt das Kloster eine dominici servitii schola. Das Kloster dient der eruditio, der Formung und Bildung des Menschen - Formung letztlich darauf hin, daß der Mensch Gott zu dienen lerne. Aber dies schließt gerade auch die Formung des Verstandes, die Bildung ein, durch die der Mensch in den Wörtern das eigentliche Wort wahrzunehmen lernt.

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen, um der Kultur des Wortes ganz ansichtig zu werden, die zum Wesen der Suche nach Gott gehört. Das Wort, das den Weg der Gottsuche öffnet und selbst dieser Weg ist, ist ein gemeinsames Wort. Gewiß, es trifft jeden einzelnen mitten ins Herz (vgl.
Ac 2,37). Gregor der Große beschreibt dies wie einen jähen Stich, der unsere schläfrige Seele aufreißt und uns wachmacht für Gott (vgl. Leclercq, ebd., S. 35). Aber es macht uns so auch wach füreinander. Es führt nicht auf einen bloß individuellen Weg mystischer Versenkung, sondern in die Weggemeinschaft des Glaubens hinein. Und darum muß dieses Wort nicht nur bedacht, sondern auch recht gelesen werden. Wie in der Rabbinenschule, so ist auch bei den Mönchen das Lesen selbst des einzelnen ein zugleich körperlicher Vorgang. „Wenn aber legere und lectio ohne ein erläuterndes Beiwort gebraucht werden, dann bezeichnen sie meistens eine Tätigkeit, die wie Singen und Schreiben den ganzen Körper und den ganzen Geist ergreift“, sagt Jean Leclercq dazu (ebd., S. 21).

Und noch einmal ist ein weiterer Schritt zu tun. Das Wort Gottes bringt uns selber ins Gespräch mit Gott. Der Gott, der in der Bibel spricht, lehrt uns, wie wir selber mit ihm reden können. Besonders im Buch der Psalmen gibt er uns die Worte, mit denen wir ihn anreden können, unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen ins Gespräch mit ihm zu bringen vermögen, so daß dabei das Leben selbst Bewegung auf ihn hin wird. Die Psalmen enthalten immer wieder Anweisungen auch dafür, wie sie gesungen und mit Instrumenten begleitet werden sollen. Für das Beten vom Wort Gottes her reicht das Sprechen nicht aus, es verlangt Musik. Zwei Gesänge der christlichen Liturgie stammen von biblischen Texten, in denen sie im Mund der Engel erscheinen: das Gloria, das zuerst bei der Geburt Jesu von den Engeln gesungen wurde und das Sanctus, das nach Jesaja 6 der Ruf der Seraphine ist, die Gott unmittelbar nahestehen. Der christliche Gottesdienst bedeutet von daher die Einladung, mit den Engeln mitzusingen und so das Wort zu seiner höchsten Bestimmung zu führen. Noch einmal Jean Leclercq zu diesem Thema: „Die Mönche mußten Melodien finden, die die Zustimmung des erlösten Menschen zu den Geheimnissen, die er feiert, in Töne übersetzen. Die wenigen uns erhalten gebliebenen Kapitelle von Cluny zeigen so die christologischen Symbole der einzelnen Tonarten“ (vgl. ebd., S. 229).

Bei Benedikt steht als maßgebende Regel über dem Gebet und Gesang der Mönche das Psalmwort: Coram angelis psallam Tibi, Domine - im Angesicht der Engel psalliere ich vor dir (vgl. 138,1). Hier drückt sich das Bewußtsein aus, beim gemeinsamen Gebet in der Anwesenheit des ganzen himmlischen Hofes zu singen und damit dem höchsten Maßstab ausgesetzt zu sein: so zu beten und zu singen, daß man in die Musik der erhabenen Geister einstimmen kann, die als die Urheber der Harmonie des Kosmos, der Musik der Sphären galten. Von da aus kann man den Ernst einer Betrachtung des heiligen Bernhard von Clairvaux verstehen, der ein von Augustinus überliefertes Wort platonischer Tradition gebraucht, um über den schlechten Gesang von Mönchen zu urteilen, der für ihn offenbar keineswegs ein letztlich nebensächliches kleines Unglück war. Das Durcheinander eines schlecht durchgeführten Gesanges bezeichnet er als Absturz in die „Zone der Unähnlichkeit“ - die regio dissimilitudinis. Augustinus hatte dieses Wort der platonischen Philosophie entnommen, um seinen Zustand vor der Bekehrung zu bezeichnen (vgl. Bekenntnisse VII, 10,16): der Mensch, der zur Ähnlichkeit Gottes geschaffen ist, fällt in seiner Gottverlassenheit in die „Zone der Unähnlichkeit“ hinunter - in eine Entfernung von Gott, in der er diesen nicht mehr widerspiegelt und so nicht nur Gott, sondern sich selber, dem wahren Menschsein unähnlich geworden ist. Es ist gewiß drastisch, wenn Bernhard dieses Wort, das auf den Abfall des Menschen von sich selbst weg verweist, zur Bezeichnung schlechter Mönchsgesänge verwendet. Aber es zeigt auch, wie ernst ihm die Sache ist. Es zeigt, daß die Kultur des Singens auch Kultur des Seins ist und daß die Mönche mit ihrem Beten und Singen der Größe des ihnen übergebenen Wortes, seinem Anspruch auf wahre Schönheit entsprechen müssen. Aus diesem inneren Anspruch des Redens mit Gott und des Singens von Gott mit den von ihm selbst geschenkten Worten ist die große abendländische Musik entstanden. Es ging nicht um private „Kreativität“, in der das Individuum sich selbst ein Denkmal setzt und als Maßstab wesentlich die Darstellung des eigenen Ich nimmt. Es ging vielmehr darum, wachsam mit den „Ohren des Herzens“ die inneren Gesetze der Musik der Schöpfung selbst, die vom Schöpfer in seine Welt und in den Menschen gelegten Wesensformen der Musik zu erkennen und so die gotteswürdige Musik zu finden, die zugleich dann wahrhaft des Menschen würdig ist und seine Würde rein ertönen läßt.

Um die Kultur des Wortes einigermaßen zu verstehen, die sich im abendländischen Mönchtum aus der Suche nach Gott von innen her entwickelte, ist schließlich noch ein wenigstens kurzer Hinweis auf die Eigenart des Buches oder der Bücher nötig, in denen dieses Wort den Mönchen entgegenkam. Die Bibel ist rein historisch und literarisch betrachtet nicht einfach ein Buch, sondern eine Sammlung von Literatur, deren Entstehung sich über mehr als ein Jahrtausend hin erstreckt und deren einzelne Bücher man nicht ohne weiteres als eine innere Einheit erkennen kann; sie stehen vielmehr in erkennbaren Spannungen zueinander. Das gilt schon innerhalb der Bibel Israels, die wir Christen als Altes Testament benennen. Es gilt erst recht, wenn wir als Christen das Neue Testament mit seinen Schriften sozusagen als hermeneutischen Schlüssel mit der Bibel Israels verbinden und diese so als Weg auf Christus hin verstehen. Die Bibel wird im Neuen Testament im allgemeinen zurecht nicht als „die Schrift“, sondern als „die Schriften“ bezeichnet, die freilich zusammen dann doch als das eine Wort Gottes an uns angesehen werden. Aber schon dieser Plural macht sichtbar, daß Gottes Wort hier nur durch Menschenwort und Menschenwörter hindurch zu uns kommt, daß Gott nur durch Menschen hindurch, durch deren Worte und deren Geschichte zu uns redet. Dies wieder bedeutet, daß das Göttliche an dem Wort und an den Wörtern nicht einfach zutage liegt. Modern ausgedrückt: Die Einheit der biblischen Bücher und der göttliche Charakter ihrer Worte sind nicht rein historisch greifbar. Das Historische ist die Vielfalt und die Menschlichkeit. Von da aus versteht man die zunächst befremdlich erscheinende Formulierung eines mittelalterlichen Distichons: Littera gesta docet - quid credas allegoria … (vgl. Augustinus von Dänemark, Rotulus pugillaris, I). Der Buchstabe zeigt die Fakten an; was du zu glauben hast, sagt die Allegorie, das heißt die christologische und pneumatische Auslegung.

157 Wir können es auch einfacher ausdrücken: Die Schrift bedarf der Auslegung, und sie bedarf der Gemeinschaft, in der sie geworden ist und in der sie gelebt wird. In ihr hat sie ihre Einheit, und in ihr öffnet sich der das Ganze zusammenhaltende Sinn. Noch einmal anders gewendet: Es gibt Dimensionen der Bedeutung des Wortes und der Wörter, die sich nur in der gelebten Gemeinschaft dieses Geschichte stiftenden Wortes öffnen. Durch das zunehmende Wahrnehmen der verschiedenen Sinndimensionen wird das Wort nicht entwertet, sondern erscheint erst in seiner ganzen Größe und Würde. Deswegen kann der „Katechismus der katholischen Kirche“ mit Recht sagen, daß das Christentum nicht einfach eine Buchreligion im klassischen Sinn darstellt (vgl. CEC 108). Es vernimmt in den Wörtern das Wort, den Logos selbst, der sein Geheimnis durch diese Vielfalt hindurch ausbreitet. Diese eigentümliche Struktur der Bibel ist eine immer neue Herausforderung an jede Generation. Sie schließt von ihrem Wesen her all das aus, was man heute Fundamentalismus nennt. Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wörtlichkeit des Textes da. Zu ihm zu gelangen verlangt eine Transzendierung und einen Prozeß des Verstehens, der sich von der inneren Bewegung des Ganzen leiten läßt und daher auch ein Prozeß des Lebens werden muß. Immer nur in der dynamischen Einheit des Ganzen sind die vielen Bücher ein Buch, zeigt sich im Menschenwort und in der menschlichen Geschichte Gottes Wort und Gottes Handeln in der Welt.

Die ganze Dramatik dieses Themas ist in den Schriften des heiligen Paulus ausgeleuchtet. Was die Überschreitung des Buchstabens und sein Verstehen allein vom Ganzen her bedeutet, hat er drastisch ausgedrückt in dem Satz: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2Co 3,6). Und weiter: „Wo der Geist … da ist Freiheit“ (2Co 3,17). Man kann aber das Große und Weite dieser Sicht des biblischen Wortes nur verstehen, wenn man Paulus ganz zuhört und dann erfährt, daß dieser freimachende Geist einen Namen hat und so die Freiheit ein inneres Maß: „Der Herr ist der Geist. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Co 3,17). Der befreiende Geist ist nicht einfach die eigene Idee, die eigene Ansicht des Auslegers. Der Geist ist Christus, und Christus ist Herr, der uns den Weg zeigt. Mit dem Wort von Geist und Freiheit ist ein weiter Horizont eröffnet, aber zugleich der Willkür der Subjektivität eine klare Grenze gesetzt, die den einzelnen wie die Gemeinschaft klar in die Pflicht nimmt und eine neue, höhere Bindung als die des Buchstabens, nämlich die Bindung von Einsicht und Liebe erschafft. Diese Spannung von Bindung und Freiheit, die weit über das literarische Problem der Schriftauslegung hinausreicht, hat auch Denken und Wirken des Mönchtums bestimmt und die abendländische Kultur zutiefst geprägt. Sie ist als Aufgabe auch unserer Generation gegenüber den Polen von subjektiver Willkür und fundamentalistischem Fanatismus neu gestellt. Es wäre ein Verhängnis, wenn die europäische Kultur von heute Freiheit nur noch als Bindungslosigkeit auffassen könnte und damit unvermeidlich dem Fanatismus und der Willkür in die Hand spielen würde. Bindungslosigkeit und Willkür sind nicht Freiheit, sondern deren Zerstörung.

Wir haben bisher beim Bedenken der „Schule des göttlichen Dienstes“, als die Benedikt das Mönchtum bezeichnet, nur auf ihre Orientierung auf das Wort - auf das „ora“ - geachtet. In der Tat wird von da aus die Richtung des Ganzen des mönchischen Lebens bestimmt. Aber unsere Betrachtung bliebe doch unvollständig, wenn wir nicht auch die mit „labora“ umschriebene zweite Komponente des Mönchtums wenigstens kurz ins Auge fassen würden. In der griechischen Welt galt die körperliche Arbeit als Sache der Unfreien. Der Weise, der wirklich Freie ist allein den geistigen Dingen hingegeben; er überläßt die körperliche Arbeit als etwas Niedriges den Menschen, die zu diesem höheren Dasein in der Welt des Geistes nicht fähig sind. Ganz anders die jüdische Tradition: Alle die großen Rabbinen übten zugleich auch einen handwerklichen Beruf aus. Paulus, der als Rabbi und dann als Verkünder des Evangeliums an die Völkerwelt auch Zeltmacher war und sich den Unterhalt mit der eigenen Arbeit seiner Hände verdiente, ist hier keine Ausnahme, sondern steht in der gemeinsamen Tradition des Rabbinentums. Das Mönchtum hat diese Überlieferung aufgenommen; der Hände Arbeit gehört konstitutiv zum christlichen Mönchtum. Benedikt spricht in seiner Regula nicht eigens über die Schule, obwohl Unterricht und Lernen praktisch darin vorausgesetzt sind, wie wir sahen. Aber er spricht ausdrücklich über die Arbeit (vgl. Kap. 48). Und genauso Augustinus, der der Mönchsarbeit ein eigenes Buch gewidmet hat. Die Christen, die damit in der vom Judentum vorgegebenen Tradition fortfuhren, mußten sich dazu noch zusätzlich angesprochen sehen durch das Wort Jesu im Johannes-Evangelium, mit dem er sein Wirken am Sabbat verteidigte: „Mein Vater arbeitet bis jetzt und auch ich arbeite“ (5, 17). Die griechisch-römische Welt kannte keinen Schöpfergott; die höchste Gottheit konnte sich ihrer Vision nach nicht mit der Erschaffung der Materie gleichsam die Hände schmutzig machen. Das „Machen“ der Welt war dem Demiurgen, einer untergeordneten Gottheit vorbehalten. Anders der christliche Gott: Er, der eine, der wirkliche und einzige Gott ist auch Schöpfer. Gott arbeitet; er arbeitet weiter in und an der Geschichte der Menschen. In Christus tritt er als Person in die mühselige Arbeit der Geschichte ein. „Mein Vater arbeitet bis jetzt und auch ich arbeite.“ Gott selbst ist der Weltschöpfer, und die Schöpfung ist nicht zu Ende. Gott arbeitet. So mußte nun das Arbeiten der Menschen als besondere Weise der Gottebenbildlichkeit des Menschen erscheinen, der sich damit am weltschöpferischen Handeln Gottes beteiligen kann und darf. Zum Mönchtum gehört mit der Kultur des Wortes eine Kultur der Arbeit, ohne die das Werden Europas, sein Ethos und seine Weltgestaltung nicht zu denken sind. Zu diesem Ethos müßte freilich gehören, daß Arbeit und Geschichtsgestaltung des Menschen Mit-Arbeiten mit dem Schöpfer sein will und von diesem Mit her ihr Maß nimmt. Wo dieses Maß fehlt und der Mensch sich selber zum gottartigen Schöpfer erhebt, kann Weltgestaltung schnell zur Weltzerstörung werden.

Wir sind davon ausgegangen, daß die Grundhaltung der Mönche im Zusammenbruch alter Ordnungen und Gewißheiten das quaerere Deum war - sich auf die Suche machen nach Gott. Wir könnten sagen, daß dies die eigentlich philosophische Haltung ist: Über das Vorletzte hinauszuschauen und sich auf die Suche nach dem Letzten und Eigentlichen zu machen. Wer Mönch wurde, machte sich auf einen weiten und hohen Weg, aber er hatte doch schon die Richtung gefunden: das Wort der Bibel, in dem er Gott selbst sprechen hörte. Er mußte nun versuchen, ihn zu verstehen, um auf ihn zugehen zu können. So ist der Weg der Mönche doch schon Weg im Inneren des angenommenen Wortes, auch wenn die Wegstrecke unermeßlich bleibt. Das Suchen der Mönche trägt in gewisser Hinsicht schon ein Finden in sich. Deshalb muß es vorher schon, damit dieses Suchen möglich werde, eine erste Bewegung geben, die nicht nur den Willen zum Suchen weckt, sondern auch glaubhaft macht, daß in diesem Wort der Weg verborgen ist oder besser: daß in diesem Wort Gott sich selbst auf den Weg zu den Menschen begeben hat und daher Menschen auf ihm zu Gott kommen können. Mit anderen Worten: Es muß Verkündigung geben, die den Menschen anredet und so Überzeugung schafft, die Leben werden kann. Damit sich ein Weg ins Innere des biblischen Wortes als Gotteswort öffne, muß dieses Wort selbst zunächst nach außen gesprochen werden. Klassischer Ausdruck für diese Notwendigkeit des christlichen Glaubens, sich für die anderen mitteilbar zu machen, ist ein Satz aus dem Ersten Petrus-Brief, das in der mittelalterlichen Theologie als biblische Begründung für die Arbeit der Theologen gewertet wurde: „Seid stets bereit, jedem, der euch nach der Vernunft (dem Logos) eurer Hoffnung fragt, Antwort zu geben“ (3, 15). (Logos muß Apo-logie, Wort muß Antwort werden). In der Tat haben die Christen der werdenden Kirche ihre missionarische Verkündigung nicht als Propaganda aufgefaßt, die dazu dienen sollte, ihre eigene Gruppe zu vergrößern, sondern als eine innere Notwendigkeit, die aus dem Wesen ihres Glaubens folgte: Der Gott, dem sie glaubten, war der Gott aller, der eine, wirkliche Gott, der sich in der Geschichte Israels und schließlich in seinem Sohn gezeigt und damit die Antwort gegeben hatte, die alle betraf und auf die alle Menschen im Innersten warten. Die Universalität Gottes und die Universalität der auf ihn hin offenen Vernunft ist für sie der Grund der Verkündigung und zugleich die Verpflichtung dazu. Für sie gehörte ihr Glaube nicht der kulturellen Gewohnheit zu, die je nach Völkern verschieden ist, sondern dem Bereich der Wahrheit, die alle gleichermaßen angeht.

Das grundlegende Schema der christlichen Verkündigung „nach außen“ - an die suchenden und fragenden Menschen - findet sich in der Rede des heiligen Paulus auf dem Areopag. Halten wir dabei gegenwärtig, daß der Areopag nicht eine Art Akademie war, auf der sich die erlauchtesten Geister zur Diskussion über die höchsten Dinge trafen, sondern ein Gerichtshof, der in Sachen Religion zuständig war und dem Import fremder Religionen entgegentreten sollte. Genau dies wird Paulus vorgeworfen: „Es scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein“ (Ac 17,18). Dem hält Paulus entgegen: Ich habe bei euch einen Altar gefunden mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch (17, 23). Paulus verkündet keine unbekannten Götter. Er verkündet den, den die Menschen nicht kennen und doch kennen - den Unbekannt-Bekannten; den, nach dem sie suchen, um den sie letztlich wissen und der doch wieder der Unbekannte und Unerkennbare ist. Das Tiefste menschlichen Denkens und Empfindens weiß irgendwie, daß es Ihn geben muß. Daß am Anfang aller Dinge nicht die Unvernunft, sondern die schöpferische Vernunft stehen muß; nicht der blinde Zufall, sondern die Freiheit. Aber obwohl alle Menschen dies irgendwie wissen, wie Paulus im Römer-Brief ausdrücklich sagt (1, 21), bleibt dieses Wissen unwirklich: Ein nur gedachter und erdachter Gott ist kein Gott. Wenn er sich nicht zeigt, dann reichen wir doch nicht bis zu ihm hin. Das Neue der christlichen Verkündigung ist, daß sie nun allen Völkern sagen darf: Er hat sich gezeigt. Er selbst. Und nun ist der Weg zu ihm offen. Die Neuheit der christlichen Verkündigung besteht in einem Faktum: Er hat sich gezeigt. Aber dies ist kein blindes Faktum, sondern ein Faktum, das selbst Logos - Gegenwart der ewigen Vernunft in unserem Fleisch ist. Verbum caro factum est (Jn 1,14). Gerade so ist im Faktum nun Logos, ist Logos unter uns. Das Faktum ist vernünftig. Freilich bedarf es immer der Demut der Vernunft, um es annehmen zu können; der Demut des Menschen, die der Demut Gottes antwortet.

Unsere heutige Situation ist von derjenigen in vieler Hinsicht verschieden, die Paulus in Athen vorfand, aber durch die Verschiedenheit hindurch ihr doch auch in vielem sehr verwandt. Unsere Städte sind nicht mehr mit Altären und mit Bildern vielfältiger Gottheiten angefüllt. Gott ist wirklich für viele der große Unbekannte geworden. Aber wie damals hinter den vielen Götterbildern die Frage nach dem unbekannten Gott verborgen und gegenwärtig war, so ist auch die gegenwärtige Abwesenheit Gottes im stillen von der Frage nach ihm bedrängt. Quaerere Deum - Gott suchen und sich von ihm finden lassen, das ist heute nicht weniger notwendig denn in vergangenen Zeiten. Eine bloß positivistische Kultur, die die Frage nach Gott als unwissenschaftlich ins Subjektive abdrängen würde, wäre die Kapitulation der Vernunft, der Verzicht auf ihre höchsten Möglichkeiten und damit ein Absturz der Humanität, dessen Folgen nur schwerwiegend sein könnten. Das, was die Kultur Europas gegründet hat, die Suche nach Gott und die Bereitschaft, ihm zuzuhören, bleibt auch heute Grundlage wahrer Kultur.

Vielen Dank.



ANSPRACHE 2008 Januar 2008 152