ANSPRACHE 2009 183

BEGEGNUNG MIT DEN KÜNSTLERN

Sixtinische Kapelle - Samstag, 21. November 2009

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Meine Herren Kardinäle,
ehrwürdige Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
verehrte Künstler,
sehr geehrte Damen und Herren!

Mit großer Freude empfange ich euch an diesem festlichen Ort, der so reich an Kunst und Geschichte ist. Ich grüße jeden von euch sehr herzlich und danke euch, daß ihr meiner Einladung gefolgt seid. Durch diese Begegnung möchte ich die Freundschaft der Kirche mit der Welt der Kunst ausdrücken und erneuern, eine Freundschaft, die durch die Zeiten hindurch immer enger geworden ist. Seit seinen Anfängen hat das Christentum den Wert der Kunst erkannt und klugen Gebrauch gemacht von den verschiedenen Ausdrucksformen der Kunst, um die unveränderliche Botschaft der Erlösung zu übermitteln. Diese Freundschaft muß fortwährend gefördert und genährt werden, so daß sie authentisch und fruchtbringend ist, angepaßt an die verschiedenen historischen Epochen und aufmerksam gegenüber sozialen und kulturellen Verschiedenheiten. Das ist der Grund für unser heutiges Treffen. Ich bin Erzbischof Gianfranco Ravasi, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Kultur und der Päpstlichen Kommission für die Kulturgüter der Kirche, und seinen Mitarbeitern zutiefst dankbar, daß sie dieses Treffen ermöglicht und organisiert haben, und ich danke ihm für die freundlichen Worte. Ich grüße die Herren Kardinäle und Bischöfe, die Priester und die geschätzten Persönlichkeiten, die hier anwesend sind. Ich danke auch dem Päpstlichen Chor »Cappella Sistina« für seinen Beitrag zu diesem Treffen. Im Mittelpunkt dieser Begegnung steht ihr, verehrte und hochgeschätzte Künstler aus verschiedenen Ländern, Kulturen und Religionen, wobei einige von euch dem religiösen Leben eher fernstehen, aber dennoch interessiert sind, die Kommunikation mit der katholischen Kirche lebendig zu halten und die Horizonte der menschlichen Existenz nicht auf materielle Realitäten, nicht auf eine verengte und vereinfachende Sichtweise zu reduzieren. Ihr repräsentiert die mannigfaltige Welt der Kunst, und daher möchte ich durch euch allen Künstlern meine Einladung zu Freundschaft, Dialog und Zusammenarbeit aussprechen.

In diesen Tagen finden einige bedeutende Jahrestage statt. Zehn Jahre sind seit dem Brief meines verehrten Vorgängers, des Dieners Gottes Papst Johannes Paul II., an die Künstler vergangen. Erstmalig hat damals, unmittelbar vor Beginn des Heiligen Jahres 2000, der Papst, der selbst ein Künstler war, einen Brief an die Künstler geschrieben, der die Feierlichkeit eines päpstlichen Dokuments mit dem freundschaftlichen Ton eines Gespräches verband zwischen all jenen, die, wie wir in der Anrede lesen, »mit leidenschaftlicher Hingabe nach neuen ›Epiphanien‹ der Schönheit suchen«. Vor 25 Jahren hat derselbe Papst Fra Angelico zum Patron der Künstler erklärt als ein Vorbild der vollkommenen Harmonie zwischen Glauben und Kunst. Ich erinnere mich auch, wie sich am 7. Mai 1964, vor 45 Jahren, hier an diesem Ort ein historischer Moment ereignete, auf ausdrücklichen Wunsch von Papst Paul VI., der die Freundschaft zwischen Kirche und Kunst bekräftigen wollte. Seine Worte bei dieser Gelegenheit erklingen heute erneut unter dem Gewölbe der Sixtinischen Kapelle und berühren unsere Herzen und Gedanken. »Wir brauchen euch«, sagte er damals. »Wir brauchen eure Mitarbeit, um unseren Dienst ausüben zu können, ein Dienst, der, wie ihr wißt, darin besteht, die geistlichen Dinge, das Unsichtbare, Unaussprechliche, die Dinge Gottes, zu verkünden, zugänglich und verstehbar zu machen für den Geist und die Herzen der Menschen. In dieser Tätigkeit … seid ihr Meister. Es ist eure Aufgabe, eure Mission, und eure Kunst besteht darin, Schätze aus dem himmlischen Bereich des Geistes zu ergreifen und sie in Worte, Farben, Formen zu kleiden, sie zugänglich zu machen« (Insegnamenti II, [1964], 313). Paul VI. schätzte die Künstler so sehr, daß er gewagte Worte gebrauchte. »Wenn wir auf eure Hilfe verzichten müßten«, fuhr er fort, »würde unser Dienst ins Stocken geraten und unsicher werden, und es bräuchte eine besondere Anstrengung - um es so auszudrücken -, um ihn künstlerisch, ja sogar prophetisch zu machen. Um die Höhen der lyrischen Ausdruckskraft der intuitiven Schönheit zu erklimmen, muß das Priestertum mit der Kunst in Einklang gebracht werden« (ebd., 314). Bei dieser Gelegenheit ging Paul VI. die Verpflichtung ein, die »Freundschaft zwischen Kirche und Künstlern neu zu gründen«, und er lud die Künstler ein, ein ähnliches, gemeinsames Engagement einzugehen, die Gründe für die gestörte Beziehung ernsthaft und objektiv zu analysieren und persönlich die Verantwortung zu übernehmen, mutig und leidenschaftlich einen neuen und tieferen Weg des gemeinsamen Kennenlernens und Dialoges zu gehen, um eine authentische »Renaissance« der Kunst im Kontext eines neuen Humanismus zu erreichen.

Dieses historische Treffen hat, wie ich bereits erwähnt habe, hier in diesem Heiligtum des Glaubens und der menschlichen Kreativität stattgefunden. Es ist also kein Zufall, daß wir an diesem Ort zusammenkommen, der besonders kostbar ist dank seiner Architektur und seines Symbolgehalts, und natürlich dank seiner Fresken, die ihn einzigartig machen, angefangen bei den Meisterwerken von Perugino und Botticelli, Ghirlandaio und Cosimo Rosselli, Luca Signorelli und anderen, bis hin zu den Szenen der Schöpfungsgeschichte und dem Jüngsten Gericht des Michelangelo Buonarroti, der uns hier eine der außergewöhnlichsten Kreationen der gesamten Kunstgeschichte geschenkt hat. Die universelle Sprache der Musik ist hier häufig erklungen, dank des Genies der großen Musiker, die ihre Kunst in den Dienst der Liturgie gestellt haben, um dem Geist bei seinem Aufstieg zu Gott zu helfen. Zugleich ist die Sixtinische Kapelle voller lebendiger Geschichte, denn es ist der feierliche und ernste Ort von Ereignissen, welche die Geschichte der Kirche und der Menschheit kennzeichnen. Wie ihr wißt, wählt das Kardinalskollegium hier den Papst. Hier habe ich selbst mit banger Sorge, aber auch mit vollem Vertrauen in den Herrn den unvergeßlichen Moment meiner Wahl zum Nachfolger des Apostels Petrus erlebt.

Liebe Freunde, lassen wir diese Fresken heute zu uns sprechen, und lassen wir uns durch sie dem letzten Ziel menschlicher Geschichte näherbringen. Das Jüngste Gericht, das hinter mir zu sehen ist, erinnert uns daran, daß die menschliche Geschichte Bewegung und Aufstieg ist, ein dauerndes Streben nach Erfüllung, nach menschlichem Glück, auf einen Horizont hin, der stets die Gegenwart übersteigt, auch wenn er sie durchdringt. Mit dramatischer Ausdruckskraft stellt uns dieses Fresko aber auch die Gefahr des endgültigen menschlichen Scheiterns vor Augen, eine Gefahr, die der Menschheit droht, wenn sie sich von den Mächten des Bösen verführen läßt. Das Fresko stößt einen lauten prophetischen Ruf aus gegen das Böse und gegen jede Form von Unrecht. Für Gläubige ist der auferstandene Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben. Für jene, die ihm gläubig nachfolgen, ist er die Tür, durch die wir zur Schau »von Angesicht zu Angesicht « angeregt werden, zur Schau Gottes, der das grenzenlose, volle und endgültige Glück entspringt. So bietet Michelangelo unserem Blick das Alpha und das Omega, den Anfang und das Ende der Geschichte, und er lädt uns ein, unseren Lebensweg mit Freude, Mut und Hoffnung zu gehen. Die dramatische Schönheit der Gemälde Michelangelos mit all ihren Farben und Formen wird zu einer Verkündigung der Hoffnung, einer machtvollen Einladung, unseren Blick zum letzten Horizont zu erheben. Das tiefe Band zwischen Schönheit und Hoffnung war der entscheidende Inhalt der bewegenden Botschaft, die Papst Paul VI. am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, am 8. Dezember 1965, an die Künstler richtete: »Euch allen«, erklärte er feierlich, »verkündet die Kirche des Konzils durch unsere Stimme: wenn ihr Freunde echter Kunst seid, seid ihr auch unsere Freunde« (Enchiridion Vaticanum
1S 305). Und er ergänzte: »Diese Welt, in der wir leben, braucht Schönheit, um nicht in Verzweiflung zu versinken. Die Schönheit, wie auch die Wahrheit, bringt dem menschlichen Herz Freude, und es ist diese kostbare Frucht, die dem Zahn der Zeit widersteht, die Generationen vereint und sie befähigt, in Bewunderung miteinander zu kommunizieren. Und all dies geschieht durch das Werk eurer Hände … Vergeßt nicht, daß ihr die Hüter des Schönen in der Welt seid« (ebd.).

Bedauerlicherweise ist unsere gegenwärtige Zeit nicht nur durch negative Phänomene auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet geprägt, sondern auch durch den Schwund der Hoffnung und durch ein Fehlen von Vertrauen in menschliche Beziehungen, wodurch die Zeichen von Resignation, Aggression und Verzweiflung zunehmen. Die Welt, in der wir leben, läuft Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu werden, weil unkluge menschliche Handlungsweisen, anstatt die Schönheit zu pflegen, skrupellos ihre Ressourcen für das Wohl einiger weniger ausbeuten und dadurch nicht selten die Wunder der Natur entstellen. Was kann uns wieder mit Begeisterung und Zuversicht erfüllen, was kann den menschlichen Geist ermutigen, seinen Weg zu finden, seine Augen zum Horizont zu erheben, von einem Leben, das seiner Berufung würdig ist, zu träumen - wenn nicht die Schönheit? Liebe Freunde, als Künstler wißt ihr nur allzu gut, daß die Erfahrung der Schönheit, einer Schönheit, die authentisch ist, nicht nur vergänglich und künstlich ist, nicht nur etwas Zusätzliches oder Zweitrangiges für unsere Suche nach Sinn und Glück. Die Erfahrung der Schönheit entfernt uns nicht von der Wirklichkeit, im Gegenteil, sie führt zu einer direkten Begegnung mit den täglichen Wirklichkeiten unseres Lebens. Sie befreit die Wirklichkeit von der Dunkelheit, verklärt sie und macht sie strahlend und schön.

Eine wesentliche Aufgabe der wahren Schönheit besteht darin, wie Platon betont, daß sie im Menschen eine heilsame Erschütterung bewirkt, ihn aus sich selbst herausholt, ihn der Resignation und der Gewöhnung an das Alltägliche entreißt - sie läßt ihn sogar leiden, durchbohrt ihn wie ein Pfeil und »weckt ihn auf«, indem sie ihm die Augen des Herzens und des Geistes neu öffnet, ihm Flügel verleiht und ihn emporzieht. Dostojewskis Worte, die ich jetzt zitieren möchte, sind gewagt und paradox, aber sie laden zum Nachdenken ein. Er sagt: »Die Menschheit kann ohne Wissenschaft leben, sie kann ohne Brot leben, aber sie kann nicht ohne Schönheit leben, weil man dann nichts mehr für die Welt tun könnte. Hierin liegt das ganze Geheimnis, hierin liegt die ganze Geschichte.« Der Maler Georges Braque nimmt diesen Gedanken auf: »Kunst soll stören, die Wissenschaft hingegen beruhigt.« Die Schönheit läßt uns nicht in Ruhe, aber dadurch erinnert sie uns an unsere letzte Bestimmung, sie führt uns zurück auf unseren Weg, erfüllt uns mit neuer Hoffnung, gibt uns den Mut, ganz und gar das Geschenk des Lebens zu leben. Die Suche nach Schönheit, die ich hier beschreibe, meint natürlich nicht die Flucht ins Irrationale oder in einen reinen Ästhetizismus.

185 Allzu oft ist die Schönheit, die uns vorgelegt wird, illusorisch und täuschend, oberflächlich und blendend und betäubt den Betrachter. Anstatt die Menschen aus sich selbst herauszuführen und sie auf Horizonte echter Freiheit hin zu öffnen, indem sie sie nach oben zieht, schließt sie sie in sich selbst ein und macht sie noch mehr zu Sklaven, die ohne Hoffnung und Freude sind. Es ist eine verführerische, aber heuchlerische Schönheit, die Begehren, den Willen zur Macht, zum Besitz und zur Herrschaft über andere weckt. Es ist eine Schönheit, die schnell in ihr Gegenteil umschlägt, indem sie die Gestalt des Obszönen, des Grenzüberschreitenden und der Provokation um ihrer selbst willen annimmt. Die authentische Schönheit aber öffnete das menschliche Herz für die Sehnsucht, für das tiefe Verlangen zu erkennen, zu lieben, auf den anderen zuzugehen, die Hände nach dem Anderen, dem, was uns übersteigt, auszustrecken. Wenn wir es zulassen, daß die Schönheit uns zuinnerst berührt, daß sie uns verwundet, daß sie unsere Augen öffnet, dann entdecken wir die Freude des Sehens neu und verstehen die tiefe Bedeutung unserer Existenz, das Geheimnis, dessen Teil wir sind. Von diesem Geheimnis können wir die ganze Fülle erwarten, die Freude, die Leidenschaft, sich diesem Geheimnis täglich zuzuwenden. In diesem Zusammenhang zitiert Papst Johannes Paul II. in seinem Brief an die Künstler die folgenden Zeilen des polnischen Dichters Cyprian Norwid: »Die Schönheit ist dazu da, für das Werk zu begeistern, / das Werk, um aufblühen zu lassen « (Nr. 3). Und später fügt er hinzu: »Als Suche nach dem Schönen, Frucht einer das Alltägliche übersteigenden Einbildungskraft, ist sie ihrer Natur nach eine Art Anruf an das Mysterium. Selbst wenn er die dunkelsten Tiefen der Seele oder die erschütterndsten Seiten des Bösen ergründet, wird der Künstler gewissermaßen zur Stimme der universalen Erlösungserwartung« (Nr. 10). Und zum Abschluß stellt er fest: »Die Schönheit ist Chiffre des Geheimnisses und Hinweis auf das Ewige« (Nr. 16).

Diese Worte spornen uns an, in unserer Reflexion einen Schritt weiter zu gehen. Die Schönheit, sowohl die des Kosmos und der Natur als auch die durch Kunstwerke zum Ausdruck gebrachte, kann ein Weg zum Transzendenten werden, zum letzten Geheimnis, zu Gott, weil sie die Horizonte des menschlichen Bewußtseins öffnet und weitet, es auf diese Weise über sich selbst hinaus verweist und es mit dem Abgrund der Ewigkeit konfrontiert. Die Kunst kann in jeder Form eine religiöse Qualität annehmen, wo sie den großen Fragen unserer Existenz begegnet, den fundamentalen Themen, die dem Leben Sinn geben. Dadurch wird sie zu einem Weg tiefer innerer Reflexion und Spiritualität. Diese große Nähe, diese Harmonie zwischen dem Weg des Glaubens und dem Weg des Künstlers wird durch unzählige Kunstwerke bezeugt, die sich auf die Personen, Geschichten und Symbole des immensen Schatzes von »Bildern« - im weitesten Sinn des Wortes - nämlich die Bibel, die Heilige Schrift, stützen. Die großen biblischen Erzählungen, Themen, Bilder und Gleichnisse haben unzählige Meisterwerke in jedem Bereich der Kunst inspiriert, genauso wie sie zu den Herzen der Gläubigen jeder Generation durch handwerkliche Arbeiten und die Volkskunst gesprochen haben, die nicht weniger beredsam und bewegend sind.

So kann man durchaus von einer »via pulchritudinis« sprechen, einem Weg der Schönheit, der gleichzeitig ein künstlerischer, ästhetischer Weg ist und ein Weg des Glaubens, eine theologische Suche. Der Theologe Hans Urs von Balthasar beginnt sein großes Werk Herrlichkeit - Eine Theologische Ästhetik mit diesen bezeichnenden Beobachtungen: »Schönheit heißt das Wort, das unser erstes sein soll. Schönheit ist das letzte, woran der denkende Verstand sich wagen kann, weil es nur als unfaßbarer Glanz das Doppelgestirn des Wahren und Guten und sein unauflösbares Zueinander umspielt.« Er fügt dann hinzu: »Schönheit, die interesselose, ohne die die alte Welt sich nicht selbst nicht verstehen wollte, die aber von der neuen Welt der Interessen unmerklich- merklich Abschied genommen hat, um sie ihrer Gier und ihrer Traurigkeit zu überlassen. Schönheit, die auch von der Religion nicht mehr geliebt und gehegt wird.« Und er schließt: »Wer bei ihrem Namen die Lippen schürzt, als sei sie das Zierstück einer bürgerlichen Vergangenheit, von dem kann man sicher sein, daß er - heimlich oder offen zugestanden - schon nicht mehr beten und bald nicht mehr lieben kann.« Der Weg der Schönheit führt uns also dazu, das Ganze im Teil zu ergreifen, das Unendliche im Endlichen, Gott in der Geschichte der Menschheit. Simone Weil schrieb dazu: »In allem, was in uns den reinen und authentischen Sinn für das Schöne weckt, dort ist Gott wahrhaft anwesend. Es gibt eine Art Inkarnation Gottes in der Welt, für die die Schönheit das Zeichen ist. Schönheit ist er experimentelle Beweis dafür, daß Inkarnation möglich ist. Deswegen ist jede echte Kunst ihrem Wesen nach religiös.« Hermann Hesse drückt dies noch direkter aus: »Kunst bedeutet, Gott in allem, was existiert, zu zeigen.« Die Worte von Papst Paul VI. wiederaufnehmend hat der Diener Gottes Papst Johannes Paul II. den Wunsch der Kirche nach einem neuen Dialog und nach Zusammenarbeit mit den Künstlern vorgebracht: »Um die Botschaft weiterzugeben, die ihr von Christus anvertraut wurde, braucht die Kirche die Kunst« (Brief an die Künstler, 12). Aber gleichzeitig fragt er: »Braucht die Kunst die Kirche?«, und er lädt durch diese Frage die Künstler ein, eine Quelle frischer und gut begründeter Inspiration in der religiösen Erfahrung zu finden, in der christlichen Offenbarung und im »großen Kodex«, der Bibel.

Liebe Künstler, abschließend möchte auch ich wie mein Vorgänger eine herzliche, freundschaftliche und leidenschaftliche Bitte an euch richten. Ihr seid Hüter der Schönheit: dank eures Talentes habt ihr die Möglichkeit, zu den Herzen der Menschen zu sprechen, einzelne und gemeinsame Sensibilitäten zu berühren, Träume und Hoffnungen wachzurufen und Horizonte von Wissen und menschlichem Engagement zu erweitern. Seid dankbar für diese Gaben, die ihr empfangen habt, und seid euch eurer großen Verantwortung bewußt, Schönheit mitzuteilen, durch die Schönheit und in der Schönheit zu kommunizieren! Durch eure Kunst seid ihr selbst Boten und Zeugen der Hoffnung für die Menschheit! Und fürchtet euch nicht, euch der ersten und letzten Quelle der Schönheit zu nähern und in den Dialog mit den Gläubigen zu treten, mit denen, die wie ihr auch glauben, daß sie Pilger in dieser Welt und in der Geschichte sind, auf dem Weg zu unendlicher Schönheit! Der Glaube nimmt nichts von eurem Genie oder eurer Kunst weg: im Gegenteil, er erhöht sie und nährt sie, er ermutigt sie, die Schwelle zu überschreiten und mit fasziniertem und innerlich bewegtem Blick das letzte und endgültige Ziel zu betrachten, die Sonne, die niemals untergeht, die Sonne, die die Gegenwart erleuchtet und sie schön macht.

Der hl. Augustinus, der ein von Liebe erfülltes Loblied auf die Schönheit anstimmte, hat die folgenden Worte niedergeschrieben, als er die letzte Bestimmung des Menschen betrachtete und vorwegnehmend die Szene des Jüngsten Gerichts beschrieb, die uns heute vor Augen steht: »Wir werden also etwa schauen, meine Brüder, was kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört und kein Herz je ergriffen hat: eine Schau, die alle weltliche Schönheit übertrifft, sei es die von Gold und Silber, Wäldern und Feldern, Meer und Himmel, Sonne und Mond, oder Sternen und Engeln. Der Grund ist der: sie ist die Quelle aller anderen Schönheit« (In Ep. Jo. Tr. 4,5: PL 35, 2008). Mein Wunsch für euch alle, liebe Künstler, ist, daß ihr diese Vision stets vor Augen haben mögt, in euren Händen und in euren Herzen, daß sie euch Freude bringe und weiterhin großartige Werke inspiriere. Von Herzen segne ich euch und, wie Paul VI., grüße ich euch mit einem einzigen Wort: Auf Wiedersehen!



AN DIE DELEGATIONEN AUS ARGENTINIEN UND CHILE ANLÄSSLICH DES 25. JAHRESTAGES DES FRIEDENS- UND FREUNDSCHAFTSVERTRAGES

Samstag, 28. November 2009

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Sehr geehrte Präsidentinnen
von Argentinien und Chile,
meine Herren Kardinäle,
liebe Brüder im Bischofsamt,
verehrte Herren Botschafter,
liebe Freunde!

1. Mit großer Freude empfange ich Sie und heiße Sie anläßlich des 25. Jahrestages des Friedens- und Freundschaftsvertrags, der die Auseinandersetzung über Gebietsansprüche im Süden beendete, die Ihre beiden Länder über lange Zeit ausgetragen hatten, hier am Stuhl Petri willkommen. Es ist in der Tat ein angemessenes und freudiges Gedenken an jene intensiven Verhandlungen, die durch päpstliche Vermittlung mit einer würdigen, vernünftigen und gerechten Lösung zum Abschluß kamen, wodurch ein drohender bewaffneter Konflikt zwischen den beiden Brudervölkern gerade noch verhindert werden konnte.

2. Der Friedens- und Freundschaftsvertrag und die Vermittlung, die ihn ermöglicht hat, ist untrennbar mit der geliebten Person Papst Johannes Pauls II. verbunden, der von herzlichen Gefühlen für jene geliebten Nationen bewegt und im Einklang mit seiner unermüdlichen Arbeit als Bote und Baumeister des Friedens nicht zögerte, die heikle und entscheidende Aufgabe eines Vermittlers in jenem Streit zu übernehmen. Mit der unschätzbaren Hilfe von Kardinal Antonio Samorè verfolgte er persönlich sämtliche Wechselfälle jener langen und komplizierten Verhandlungen bis hin zur Formulierung des Vorentwurfs, der zur Unterschrift des Vertrags in Anwesenheit der Delegationen beider Länder und des damaligen Staatssekretärs Seiner Heiligkeit und Präfekt des Rates für die Öffentlichen Angelegenheiten der Kirche, Kardinal Agostino Casaroli, führte.

Die päpstliche Intervention war auch eine Antwort auf eine ausdrückliche Bitte der Bischöfe Chiles und Argentiniens, die in Gemeinschaft mit dem Heiligen Stuhl ihre entschlossene Mitarbeit für den Abschluß dieses Abkommens anboten. Dankbar sein muß man außerdem für die Bemühungen all jener Personen, die in den Regierungen und in den diplomatischen Delegationen beider Länder ihren positiven Beitrag dazu leisteten, jenen Weg der friedlichen Lösung voranzutreiben, und die so die tiefe Friedenssehnsucht der argentinischen und der chilenischen Bevölkerung erfüllten.

3. Im Abstand von 25 Jahren können wir mit Genugtuung feststellen, daß dieses historische Ereignis positiv dazu beigetragen hat, in beiden Ländern die Gefühle der Brüderlichkeit sowie auch eine entschlossenere Zusammenarbeit und Integration zu stärken, die in zahlreichen wirtschaftlichen Projekten, in Kulturaustauschprogrammen und wichtigen Infrastrukturmaßnahmen konkrete Gestalt erhält und auf diese Weise Vorurteile, Verdächtigungen und Vorbehalte aus der Vergangenheit überwindet. Chile und Argentinien sind ja in Wirklichkeit nicht nur zwei benachbarte Nationen, sondern viel mehr: Sie sind zwei Brudervölker mit einer gemeinsamen Berufung zur Brüderlichkeit, zu gegenseitiger Achtung und Freundschaft, die hauptsächlich Frucht der katholischen Tradition ist, die ihrer Geschichte und ihrem reichen kulturellen und geistlichen Erbe zugrunde liegt.

Dieses Ereignis, dessen wir heute gedenken, ist bereits Teil der großen Geschichte zweier edler Nationen, aber auch ganz Lateinamerikas. Der Friedens- und Freundschaftsvertrag ist ein leuchtendes Beispiel der Kraft des menschlichen Geistes und des Friedenswillens gegenüber der Barbarei und Sinnlosigkeit der Gewalt und des Krieges als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten. Wieder einmal muß man an die Worte denken, die mein Vorgänger, Papst Pius XII., in einem besonders schwierigen Augenblick der Geschichte gesprochen hat: »Nichts ist verloren durch den Frieden, alles kann verloren werden durch den Krieg« (Radiobotschaft, 24. August 1939).

Es ist daher in jedem Augenblick notwendig, mit festem Willen und bis zur äußersten Konsequenz beharrlich weiter zu versuchen, die Streitfragen mit echter Dialog- und Einigungsbereitschaft durch geduldige Verhandlungen und notwendige Kompromisse zu lösen und dabei immer den gerechten Forderungen und legitimen Interessen aller Rechnung zu tragen.

4. Damit das Anliegen des Friedens in die Köpfe und Herzen aller Menschen - und insbesondere derjenigen, die von den höchsten Behörden der Nationen zum Dienst an ihren Mitbürgern berufen werden - gelangen kann, muß es sich auf feste moralische Überzeugungen stützen, in der Gelassenheit der Herzen, die mitunter angespannt und gespalten sind, und in der ständigen Suche nach dem Gemeinwohl auf nationaler, regionaler und Weltebene. Die Schaffung des Friedens verlangt in der Tat die Förderung einer glaubwürdigen Kultur des Lebens, die die Würde des Menschen voll achtet, verbunden mit der Stärkung der Familie als Grundzelle der Gesellschaft. Sie erfordert auch den Kampf gegen Armut und Korruption, den Zugang zu einer höheren Bildung für alle, ein solidarisches Wirtschaftswachstum, die Festigung der Demokratie und die Beseitigung der Gewalt und Ausbeutung, vor allem gegen Frauen und Kinder.

5. Die katholische Kirche, die auf Erden die Sendung Christi fortsetzt, der durch seinen Tod am Kreuz der Welt den Frieden gebracht hat (vgl.
Ep 2,14-17), hört nicht auf, allen seine Botschaft des Heils und der Versöhnung zu verkünden. Indem sie ihre Anstrengungen mit jenen aller Menschen guten Willens vereint, setzt sie sich engagiert dafür ein, die Bestrebungen der ganzen Menschheit nach Frieden und Eintracht zu verwirklichen.

Sehr verehrte Präsidentinnen, liebe Freunde, während ich euch noch einmal für euren bedeutsamen Besuch danke, richte ich meinen Blick auf den Christus der Anden, auf dem Gipfel der Cordigliera [Gebirgskette der Anden]. Ich bitte ihn, daß er als bleibende Gabe seiner Gnade den Frieden und die Freundschaft zwischen Argentiniern und Chilenen für immer besiegle, und erteile euch zugleich als Unterpfand meiner Zuneigung einen besonderen Apostolischen Segen.


Dezember 2009


NACH DEM KONZERT ANLÄSSLICH DES 60. JAHRESTAGES DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND DES 20. JAHRESTAGES DES FALLS DER BERLINER MAUER

Sixtinische Kapelle Freitag, 4. Dezember 2009

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Liebe Freunde!

Es fällt schwer, nach einer so großen und zuinnerst berührenden Musik noch zu sprechen. Aber wie armselig es auch sein mag, ein Wort der Begrüßung, des Dankes und der Besinnung ist vielleicht doch angebracht. So möchte ich Sie alle herzlich hier in der Sixtinischen Kapelle begrüßen. Zunächst sage ich dem Herrn Bundespräsidenten und seiner verehrten Frau Gemahlin Dank dafür, daß sie uns heute abend mit ihrer Anwesenheit beehren. Lieber Herr Bundespräsident, Ihr Besuch ist eine wirkliche Freude für mich. Sie bringen damit die Verbundenheit des deutschen Volkes mit dem Nachfolger Petri, der Ihr Landsmann ist, zum Ausdruck. Ein herzliches Vergelt’s Gott auch für Ihre aufmerksamen und in die Tiefe dringenden Worte und dafür, daß Sie uns diesen Abend ermöglicht haben. Ebenso danke ich Herrn Domkapellmeister Reinhard Kammler, den Augsburger Domsingknaben und dem Residenz-Kammerorchester München von Herzen für die meisterliche Darbietung dieses großartigen Oratoriums. Danke für dieses wunderbare Geschenk!

Der Anlaß für diesen festlichen Abend ist - wie wir gehört haben - ein zweifacher. Zum einen feiern wir in diesem Jahr das sechzigjährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland mit der Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949; zum anderen begehen wir den zwanzigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, jener Todesgrenze, die viele Jahre unser deutsches Vaterland geteilt und Menschen, Familien, Nachbarn und Freunde auseinandergerissen hatte. Die Ereignisse des 9. November 1989 empfanden zahlreiche Zeitgenossen als die unerwartete Morgenröte der Freiheit nach einer langen durchlittenen Nacht der Gewalt und Unterdrückung durch ein totalitäres System, das letztlich auf einen Nihilismus, auf eine Entleerung der Seelen, hinauslief. In der kommunistischen Diktatur gab es keine Handlung, die als in sich schlecht und immer unmoralisch angesehen worden wäre. Was den Zielen der Partei diente, war gut - wie unmenschlich es auch sein mochte. Heute fragen sich manche, ob denn die westliche Gesellschaftsordnung so viel besser und menschenfreundlicher sei. In der Tat ist die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Beweis dafür. Und dies haben wir zum guten Teil unserm Grundgesetz zu verdanken. Diese Verfassung hat wesentlich zur friedlichen Entwicklung Deutschlands in den letzten sechs Jahrzehnten beigetragen. Denn sie mahnt die Menschen, in Verantwortung vor Gott, dem Schöpfer, der Menschenwürde den Vorrang in jeder staatlichen Rechtsetzung zu geben, die Ehe und die Familie als Grundlage jeder Gemeinschaft zu achten sowie Rücksicht und Ehrfurcht vor dem zu üben, was dem anderen heilig ist. Mögen die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands in Verpflichtung vor dem Auftrag der geistig-politischen Erneuerung nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, die im Grundgesetz ihren Ausdruck gefunden hat, am Aufbau einer freien und sozialen Gesellschaft weiter mitarbeiten.

Liebe Freunde, wenn wir die Geschichte unseres Vaterlands in den letzten sechzig Jahren betrachten, haben wir Grund, Gott aus tiefster Seele zu danken. Und wir sind uns dabei bewußt, daß diese Entwicklung nicht unser Verdienst ist. Sie wurde ermöglicht durch Menschen, die aus einer tiefen christlichen Überzeugung in der Verantwortung vor Gott handelten und damit Prozesse der Versöhnung eröffneten, die ein neues Zueinander und Miteinander der europäischen Länder möglich machten. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, daß Verantwortung vor Gott für rechtes politisches Handeln von entscheidender Bedeutung ist (vgl. die Enzyklika Caritas in veritate). Gott führt die Menschen zu einer wahren Gemeinschaft zusammen, und er macht dem einzelnen bewußt, daß in der Gemeinschaft mit den anderen noch ein Größerer gegenwärtig ist, welcher der Urgrund unseres Lebens und unseres Miteinander ist. In besonderer Weise wird dies uns auch im Weihnachtsgeheimnis deutlich, wo dieser Gott mit seiner Liebe nahekommt, selbst als Mensch, als Kind um unsere Liebe bittet.

Sehr beeindruckend veranschaulicht eine Stelle im Weihnachtsoratorium diese in der Liebe gründende und auf die ewige Liebe hinzielende Gemeinschaft: Da verweilt Maria an der Krippe und hört die Worte der Hirten, die zu Zeugen und Verkündigern der Botschaft der Engel über dieses Kind geworden sind. Diesen Moment, wo sie alles, was geschehen war, in ihrem Herzen bewegt und darüber nachdachte (vgl.
Lc 2,19), macht Bach in einer wunderbaren Alt-Arie zu einem Anruf an jeden einzelnen:

Schließe, mein Herze, dies selige Wunder
fest in deinem Glauben ein!
Lasse dies Wunder, die göttlichen Werke,
immer zur Stärke deines schwachen Glaubens sein.

Jeder Mensch kann für den anderen in der Gemeinschaft mit Jesus Christus Mittler zu Gott sein. Keiner glaubt für sich allein, jeder lebt in seinem Glauben auch von menschlichen Vermittlungen. Aber keine davon würde von sich her ausreichen, um die Brücke zu Gott hinüberzuschlagen, weil kein Mensch aus Eigenem absolute Gewähr für Gottes Existenz und für seine Nähe übernehmen kann. Aber in der Gemeinschaft mit dem, der selbst diese Nähe ist, können wir Menschen einander Mittler sein und sind es auch. Als solche werden wir fähig sein, ein neues Denken anzuregen und neue Kräfte im Dienst eines ganzheitlichen Humanismus hervorzubringen.

... auf italienisch: Mein Dank gilt auch den Veranstaltern dieses schönen Abends, den Musikern und allen, die dieses Konzert durch ihren großzügigen Beitrag ermöglicht haben. Die wunderbare Musik, die wir in dieser einmaligen Umgebung der Sixtinischen Kapelle gehört haben, möge unseren Glauben und unsere Freude im Herrn stärken, damit wir in der Welt seine Zeugen sein können. Allen erteile ich von Herzen meinen Apostolischen Segen.



AN DIE 5. GRUPPE DER BISCHÖFE BRASILIENS (REGION SUL 3 UND SUL 4) ANLÄSSLICH IHRES «AD-LIMINA»-BESUCHES

Samstag, 5. Dezember 2009

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Verehrte Brüder im Bischofsamt!

An alle und an jeden einzelnen von euch richte ich meinen Willkommensgruß, indem ich euch im Rahmen eures »Ad limina«-Besuches in kollegialer Gesinnung empfange. Ich danke Erzbischof Murilo Krieger für die Worte ergebener Wertschätzung, die er in euer aller Namen und im Namen des eurer Hirtensorge anvertrauten Volkes in den Kirchenregionen Sul 3 und 4 an mich gerichtet und dabei auch eure Herausforderungen und Hoffnungen zum Ausdruck gebracht hat. Während ich diese Dinge höre, fühle ich in meinem Herzen Dankbarkeit gegenüber dem Herrn für das Geschenk des Glaubens, das er euren Kirchengemeinden barmherzig gewährt hat. Es wird von ihnen eifrig bewahrt und mutig weitergegeben - im Gehorsam gegenüber dem Auftrag, den Jesus uns hinterlassen hat, nämlich allen Geschöpfen die Frohe Botschaft zu bringen und zu trachten, die heutige Kultur mit christlichem Humanismus zu durchdringen.

Was die Kultur betrifft, so widmet sich das Denken zwei klassischen Bereichen, in denen sie Gestalt annimmt und sich mitteilt - die Universität und die Schule -, wobei die Aufmerksamkeit hauptsächlich den akademischen Gemeinschaften gilt, die im Schatten des christlichen Humanismus entstanden sind und sich an ihm inspirieren, so daß sie es als Ehre empfinden, sich »katholisch« zu nennen. »Die Schule ist gerade dadurch katholisch, daß alle Mitglieder der Schulgemeinschaft - wenn auch in verschiedenen Ausmaßen - ausdrücklich und gemeinsam an der christlichen Sicht teilhaben, so daß die Grundsätze des Evangeliums zu ihren Erziehungsregeln, ihrem inneren Handlungsantrieb und zu ihrem Endzweck werden« (Kongregation für das katholische Bildungswesen, Die katholische Schule [1977], Nr. 34).

Möge sie in der Lage sein, in einem überzeugten Zusammenwirken mit den Familien und mit der kirchlichen Gemeinschaft jene Einheit zwischen Glaube, Kultur und Leben zu fördern, die das grundlegende Ziel der christlichen Erziehung darstellt.

Auch die staatlichen Schulen können, entsprechend den unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten, durch die Anwesenheit gläubiger Lehrer - an erster Stelle, aber nicht ausschließlich, der Lehrer für katholischen Religionsunterricht - und christlich gebildeter Schüler sowie auch durch die Mitarbeit der Familien und der christlichen Gemeinde bei ihrer Erziehungsaufgabe Hilfe erfahren. Eine gesunde Laizität der Schule bedeutet nämlich nicht die Leugnung der Transzendenz und auch nicht eine bloße Neutralität gegenüber jenen moralischen Erfordernissen und Werten, die einer echten Bildung der Person, einschließlich der religiösen Erziehung, zugrunde liegen.

Getrennt von den anderen Erziehungseinrichtungen wäre die katholische Schule weder denkbar noch lebensfähig. Sie steht im Dienst der Gesellschaft: Sie erfüllt eine öffentliche Funktion und einen Dienst öffentlicher Nützlichkeit, der nicht den Katholiken vorbehalten ist, sondern allen offensteht, die von einem qualifizierten Erziehungsangebot Gebrauch machen wollen. Das Problem ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung mit der staatlichen Schule wird nur dann in korrekter Weise aufgegriffen werden können, wenn wir von der Anerkennung der vorrangigen Rolle der Familien und eben jener Hilfe der anderen Erziehungseinrichtungen ausgehen. In Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lesen wir: »Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.« Das jahrhundertelange Engagement der katholischen Schule geht in diese Richtung und wird von einer noch radikaleren Kraft angespornt, nämlich von der Kraft, die Christus zum Zentrum des Bildungsprozesses macht.

Dieser Prozeß, der in der Grund- und Sekundarstufe der Schule beginnt, verwirklicht sich in höherer und spezialisierter Form an den Universitäten. Die Kirche war immer mit der Universität und deren Berufung solidarisch, den Mensch zu den höchsten Stufen der Erkenntnis der Wahrheit und der Beherrschung der Welt in allen ihren Aspekten zu führen. Hier möchte ich gern den verschiedenen Ordensgemeinschaften, die bei euch angesehene Universitäten gegründet haben, den herzlichsten Dank der Kirche aussprechen, sie jedoch gleichzeitig daran erinnern, daß diese weder Eigentum derjenigen sind, die sie gegründet haben, noch jener, die sie besuchen, sondern Ausdruck der Kirche und ihres Glaubenserbes.

In diesem Sinne, geliebte Brüder, ist es angebracht, daran zu erinnern, daß im vergangenen August der 25. Jahrestag der Veröffentlichung der Instruktion Libertatis nuntius der Kongregation für die Glaubenslehre über einige Aspekte der Befreiungstheologie begangen wurde. In ihr wurde die Gefahr unterstrichen, die die kritiklose Übernahme von Thesen und Methoden, die aus dem Marxismus stammen, durch einige Theologen mit sich brachte. Ihre mehr oder weniger sichtbaren Folgen - Rebellion, Spaltung, Dissens, Beleidigung und Anarchie - sind noch heute spürbar und rufen in euren Diözesangemeinden großes Leiden und einen schwerwiegenden Verlust lebendiger Kräfte hervor. Ich bitte alle, die sich irgendwie von gewissen trügerischen Prinzipien der Befreiungstheologie in ihrem Innersten angezogen, angesprochen und berührt fühlen, sich neuerlich mit der oben genannten Instruktion auseinanderzusetzen, indem sie das milde Licht empfangen, das sie ausgestreckten Händen bietet. Alle erinnere ich daran, daß »die höchste Richtschnur ihres Glaubens [d.h. des Glaubens der Kirche] ihr aus der Einheit zwischen der Heiligen Überlieferung, der Heiligen Schrift und dem Lehramt der Kirche zukommt, die der Heilige Geist so geknüpft hat, daß keine der drei ohne die anderen bestehen kann« (Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio
FR 55). Möge im Bereich der kirchlichen Einrichtungen und Gemeinschaften die Vergebung, die im Namen der und aus Liebe zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit, die wir in unseren Herzen anbeten, angeboten und angenommen wird, dem Leiden der geliebten, in den Ländern des Heiligen Kreuzes pilgernden Kirche ein Ende bereiten.

Geliebte Brüder im bischöflichen Dienst, in der Verbundenheit mit Christus geht uns die Jungfrau Maria, die in euren Diözesen und in ganz Brasilien so sehr geliebt und verehrt wird, voraus und leitet uns. In ihr finden wir rein und nicht entstellt das wahre Wesen der Kirche und lernen auf diese Weise durch sie das Geheimnis der Kirche kennen und lieben, die in der Geschichte lebt. Wir fühlen uns zutiefst als Teil von ihr und werden unsererseits zu »kirchlichen Seelen«, indem wir lernen, jener »inneren Säkularisierung« zu widerstehen, die die Kirche und ihre Lehren bedroht.

Während ich den Herrn bitte, die Fülle seines Lichts auf die ganze brasilianische Welt der Schule auszugießen, vertraue ich deren Protagonisten dem Schutz der Allerseligsten Jungfrau an und erteile euch, euren Priestern, den Ordensmännern und Ordensfrauen, den engagierten Laien und allen Gläubigen eurer Diözesen einen väterlichen Apostolischen Segen.




ANSPRACHE 2009 183