ANSPRACHE 2010 134

AN DIE TEILNEHMER DES INTERNATIONALEN SYMPOSIUMS ÜBER ERIK PETERSON

Montag, 25. Oktober 2010



Eminenzen,
liebe Mitbrüder im priesterlichen Dienst,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde!

Mit großer Freude begrüße ich Sie alle, die Sie aus Anlaß des internationalen Symposiums über Erik Peterson nach Rom gekommen sind. Besonders danke ich Ihnen, lieber Kardinal Lehmann, für die freundlichen Worte, mit denen Sie unsere Begegnung eingeleitet haben.

In diesem Jahr, wie Sie gerade festgestellt haben, sind es 120 Jahre her, daß dieser bedeutende Theologe in Hamburg geboren wurde; und fast auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 26. Oktober 1960, starb Erik Peterson ebenfalls in seiner Vaterstadt Hamburg. Er hat vom Jahr 1930 an phasenweise, ab 1933 dann regelmäßig mit seiner Familie in Rom gewohnt, zunächst auf dem Aventin in der Nahe von Sant’Anselmo und später in der Nachbarschaft des Vatikans, in einem Haus gegenüber der Porta Sant’Anna. Es ist mir deshalb eine ganz besondere Freude, die Familie Peterson, die verehrten Töchter und den Sohn mit ihren Familien, unter uns begrüßen zu können. Ihrer geschätzten Mutter durfte ich, zusammen mit Kardinal Lehmann, anläßlich ihres 80. Geburtstages 1990, in Ihrer gemeinsamen Wohnung eine handgeschriebene Urkunde mit dem Bild des Heiligen Vaters Johannes Paul II. überreichen, und ich erinnere mich gern an diese Begegnung mit Ihnen.

135 „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (He 13,14). Dieses Zitat aus dem Hebräerbrief könnte man als Leitwort über das Leben von Erik Peterson setzen. Er fand eigentlich zeit seines Lebens keinen rechten Platz, wo ihm Anerkennung und Seßhaftigkeit beschieden worden wäre. Der Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens fällt in eine Zeit der Umbrüche in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Die Monarchie war zusammengebrochen. Die bürgerliche Ordnung schien angesichts der politischen und sozialen Umwälzungen gefährdet. Dies spiegelte sich auch im religiösen Bereich und besonders im deutschen Protestantismus wider. Die bislang vorherrschende liberale Theologie mit ihrem verbreiteten Fortschrittsoptimismus war in die Krise geraten und gab Raum für konträre theologische Neuaufbrüche. Für den jungen Peterson wurde die zeitgeschichtliche Situation zu einem existentiellen Problem. Schon sein Studienfach hatte er bei gleichermaßen historischem wie theologischem Interesse unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, daß - wie er sagt -, „wenn wir mit der menschlichen Geschichte allein gelassen werden, wir vor einem sinnlosen Rätsel stehen“ (Eintrag in das Bonner „Album Professorum“ 1926/27, Ausgewählte Schriften, Sonderband S. 111). Peterson entschloß sich - ich zitiere wieder - „auf historischem Gebiet zu arbeiten und speziell religionsgeschichtliche Probleme in Angriff zu nehmen“, da er daran scheiterte, sich in der damaligen evangelischen Theologie „durch das Dickicht der Meinungen zu den Sachen selbst hindurchzuschlagen“ (ebd.). Dabei kommt er immer mehr zu der Gewißheit, daß es keine von Gott losgelöste Geschichte gibt und daß die Kirche in dieser Geschichte einen besonderen Platz und ihren Sinn hat. Ich zitiere wieder: „Daß es Kirche gibt und daß sie in einer ganz bestimmten Weise konstituiert ist, hängt aufs engste damit zusammen, daß es (…) eine spezifisch theologisch bestimmte Geschichte gibt“ (Vorlesung „Geschichte der Alten Kirche“ Bonn 1928, Ausgewählte Schriften, Sonderband S.88). Die Kirche erhält von Gott den Auftrag, die Menschen aus dem begrenzten und vereinzelten Dasein in eine universale Gemeinschaft zu führen, vom Natürlichen zum Übernatürlichen, aus der Vergänglichkeit in die Vollendung am Ende der Zeiten. In dem schönen kleinen Buch von den Engeln sagt er dazu: „Der Weg der Kirche führt aus dem irdischen Jerusalem in das himmlische, (…) in die Stadt der Engel und Heiligen“ (Einleitung).

Der Ausgangspunkt dieses Weges ist die Verbindlichkeit der Heiligen Schrift, wobei er findet, daß die Heilige Schrift nur dadurch verbindlich wird und ist, daß sie nicht allein in sich selber steht, sondern in der Hermeneutik der apostolischen Tradition, die sich wiederum konkretisiert in der apostolischen Sukzession und so die Kirche die Schrift in einer lebendigen Gegenwart erhält und sie zugleich auslegt. Durch die in der apostolischen Sukzession stehenden Bischöfe bleibt das Zeugnis der Schrift in der Kirche lebendig und bildet die Grundlage für die bleibend gültigen Glaubensüberzeugungen der Kirche, die uns vor allem im Credo und im Dogma begegnen. Sie entfalten sich in der Liturgie als dem gelebten Raum der Kirche für das Lob Gottes. Der auf Erden gefeierte Gottesdienst steht dabei in einem unauflöslichen Bezug zur himmlischen Stadt Jerusalem. Dort wird Gott und dem Lamm das wahre ewige Lobopfer dargebracht, von dem die irdische Feier nur Abbild ist. Der Teilnehmer an der heiligen Messe bleibt gleichsam an der Schwelle des himmlischen Bereichs stehen, von der aus er den Kult schaut, der sich unter den Engeln und Heiligen vollzieht. Wo immer die irdische Kirche ihren eucharistischen Lobpreis anstimmt, tritt sie zu dieser himmlischen Festversammlung hinzu, in der mit den Heiligen ein Teil ihrer selbst bereits angekommen ist, und gibt den noch in dieser Welt Wandernden Hoffnung auf dem Weg in die ewige Vollendung.

Vielleicht ist dies der Punkt, an dem ich ein persönliches Wort einflechten soll. Ich bin auf die Figur von Erik Peterson erstmals 1951 gestoßen. Damals war ich Kaplan in Bogenhausen, und der Chef des dort ansässigen Kösel-Verlages, Herr Wild, hat mir den eben erschienenen Band „Theologische Traktate“ überreicht. Ich habe ihn mit wachsender Begier gelesen und mich von ihm wirklich ergreifen lassen, denn hier war die Theologie, nach der ich suchte: Theologie, die einerseits den ganzen historischen Ernst aufbringt, Texte zu verstehen, zu untersuchen, sie mit allem Ernst historischer Forschung zu analysieren, und die doch nicht in der Vergangenheit stehen bleibt, sondern die Selbstüberschreitung des Buchstabens mitvollzieht, in diese Selbstüberschreitung des Buchstabens mithineintritt, sich von ihr mitnehmen läßt und damit in die Berührung mit dem kommt, von dem her sie stammt - mit dem lebendigen Gott. Und so ist der Hiatus zwischen dem Damaligen, das die Philologie untersucht, und dem Heute von selbst überwunden, weil das Wort hineinführt in die Begegnung mit der Realität und die ganze Aktualität des Geschriebenen, als sich selbst zur Realität überschreitend, wirksam wird. So habe ich an ihm wesentlich und tiefer gelernt, was eigentlich Theologie ist, und eben auch diese Bewunderung dafür gehabt, daß hier nicht nur Gedachtes gesagt wird, sondern daß dieses Buch Ausdruck eines Weges, die Passion seines eigenen Lebens war.

Das Paradox mag sein, daß gerade der Briefwechsel mit Harnack am meisten den Durchbruch ausdrückt, der ihm zuteil geworden ist. Harnack hatte ihm bestätigt oder vorher schon unabhängig davon geschrieben, daß das katholische Formalprinzip „Schrift lebt in der Überlieferung und Überlieferung in der lebendigen Gestalt der Sukzession“, daß dies das ursprüngliche und sachgemäße Prinzip ist und daß das „sola Scriptura“ nicht funktioniert. Peterson hat diese wie selbstverständlich hingeworfene Behauptung eines liberalen Theologen in seinem ganzen Ernst aufgegriffen, sich von ihr aufwühlen, durchwühlen, umbiegen, umwandeln lassen und so den Weg in die Konversion gefunden. Und er hat damit wirklich einen abrahamischen Schritt getan, wie wir es am Anfang aus dem Hebräerbrief gehört haben: „Wir haben hier keine bleibende Stadt“. Er ist aus der sicheren Geborgenheit eines Lehrstuhls ins Ungeborgene, ins Unbehauste hinausgetreten und sein ganzes Leben lang ohne sicheren Grund und ohne sichere Heimat geblieben, wirklich unterwegs mit dem Glauben und für den Glauben - in dem Vertrauen, daß in diesem unbehausten Unterwegssein er auf eine andere Weise zu Hause ist und immer zugeht auf die himmlische Liturgie, die ihn berührt hatte.

Von da aus versteht sich, daß vieles, was Erik Peterson gedacht und geschrieben hat, aufgrund seiner prekären Lebenssituation nach dem Verlust seiner Lehrtätigkeit infolge seiner Konversion Fragment geblieben ist. Obwohl er ohne ein gesichertes Einkommen leben mußte, heiratete er hier in Rom und hat eine Familie gegründet. Er hat damit in ganz konkreter Weise seiner inneren Gewißheit Ausdruck gegeben, daß wir, obwohl wir Fremde sind - und er es auf ganz besondere Weise war -, doch in der Gemeinschaft der Liebe Halt finden und in der Liebe etwas bleibt, was währt für die Ewigkeit. Er hat diese Fremdheit des Christen erfahren, er war der evangelischen Theologie fremd geworden und ist auch in der katholischen Theologie, wie sie damals war, irgendwie Fremdling geblieben. Und heute wissen wir, daß er beiden zugehört, daß beide von ihm zu lernen haben, die ganze Dramatik, den Realismus und den menschlichen existentiellen Anspruch der Theologie. Erik Peterson ist - wie Kardinal Lehmann gesagt hat - sicher von vielen geschätzt und geliebt worden, ein Geheimtip gewesen, aber es ist ihm nicht die wissenschaftliche Anerkennung zuteil geworden, die er verdient hätte; es war auch irgendwie zu früh. Er war da und dort - wie ich sagte - fremd. So kann es nicht genug gerühmt werden, daß Kardinal Lehmann die Initiative ergriffen hat, seine Werke in einer großartigen Gesamtausgabe herauszubringen, und daß Frau Nichtweiß, der er es anvertraut hat, dies mit einer nur zu bewundernden Kompetenz tut. Und damit ist die Aufmerksamkeit, die ihm durch diese Ausgabe geschenkt wird, nicht mehr als recht und billig, zumal nun auch verschiedene Werke ins Italienische, Französische, Spanische, Englische, Ungarische und sogar ins Chinesische übersetzt sind. Mögen dadurch die Gedanken Petersons weiter verbreitet werden, die nie bei den Details stehenbleiben, sondern stets das Ganze der Theologie im Blick haben.

Ganz herzlich danke ich allen Anwesenden für ihr Kommen. Mein besonderer Dank gilt den Organisatoren dieses Symposions, nicht zuletzt Kardinal Farina, dem Schirmherrn, und Herrn Dr. Giancarlo Caronello. Gerne entbiete ich Ihnen meine guten Wünsche für eine interessante und anregende Diskussion im Geiste Erik Petersons. Ich freue mich auf die Früchte dieses Kongresses und erteile Ihnen und allen, die Ihnen am Herzen liegen, den Apostolischen Segen.





AN DIE BISCHÖFE DER BRASILIANISCHEN BISCHOFSKONFERENZ (REGION NORDESTE 5) ANLÄSSLICH IHRES BESUCHES »AD-LIMINA-APOSTOLORUM«

Donnerstag, 28. Oktober 2010

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Liebe Mitbrüder im Bischofsamt!

»Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus« (
1Co 2,1). Ich möchte zunächst Gott danken für euren Eifer und für eure Hingabe an Christus und seine Kirche, die in der Region Nordeste 5 heranwächst. Beim Lesen eurer Berichte konnte ich mir nicht nur die religiösen und pastoralen, sondern auch die menschlichen und sozialen Probleme vor Augen führen, mit denen ihr es tagtäglich zu tun habt. Das Gesamtbild hat seine Schatten, aber es gibt auch Hoffnungszeichen, wie Bischof Xavier Gilles soeben in seinem Grußwort an mich berichtet hat, in dem er eure Gefühle und die eures Volkes zum Ausdruck brachte.

Wie ihr wißt, habe ich bei den Begegnungen mit den Bischöfen der verschiedenen Regionen der Nationalen Bischofskonferenz Brasiliens die verschiedenen Bereiche und dementsprechenden Faktoren des vielfältigen Verkündigungs- und Pastoraldienstes der Kirche in eurer großen Nation angesprochen; heute möchte ich zu euch darüber sprechen, wie die Kirche in ihrem Auftrag, die menschliche Gesellschaft mit dem Evangelium zu befruchten und zum Wachsen zu bringen, den Menschen seine Würde als Kind Gottes und seine Berufung zur Verbundenheit mit allen Menschen lehrt, woraus sich im Einklang mit der göttlichen Weisheit die Forderungen nach Gerechtigkeit und sozialem Frieden ableiten lassen. Die unmittelbare Verpflichtung, für eine gerechte Sozialordnung zu arbeiten, liegt allerdings bei den Laiengläubigen, die sich als freie und verantwortungsvolle Bürger verpflichten, zur gerechten Gestaltung des sozialen Lebens unter Achtung seiner legitimen Autonomie und natürlichen sittlichen Ordnung beizutragen (vgl. Deus caritas est ). Eure Pflicht als Bischöfe ist es, zusammen mit eurem Klerus, soweit es ihm zusteht, zur Läuterung der Vernunft und zur Weckung der moralischen Kräfte beizutragen, die für den Aufbau einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft notwendig sind. Wenn jedoch die Grundrechte der Person oder das Heil der Seelen es erfordern, haben die Hirten die ernste Aufgabe, ein moralisches Urteil auszusprechen, und das auch im politischen Bereich (vgl. Gaudium et spes GS 76).

Bei der Formulierung solcher Urteile müssen die Bischöfe den absoluten Wert jener negativen sittlichen Gebote berücksichtigen, die die Entscheidung zu einer bestimmten, an sich schlechten und mit der Würde der Person unvereinbaren Handlung für moralisch unzulässig erklären; eine solche Entscheidung kann in keinem Fall von der Güte irgendeines Zieles, einer Absicht, einer Folge oder eines Umstandes ausgeglichen werden. Daher wäre jede Verteidigung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, die nicht die energische Verteidigung des Rechtes auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod einschlösse, völlig falsch und illusorisch (vgl. Christifideles laici CL 38). Im Rahmen des Einsatzes für die Schwächsten und Schutzlosesten müssen wir uns zudem fragen: Gibt es jemanden, der wehrloser wäre als ein ungeborenes Kind oder ein Kranker im vegetativen oder Endstadium? Wenn die Vorhaben der Politiker offen oder verschleiert die Entkriminalisierung von Abtreibung oder Euthanasie ins Auge fassen, wird das demokratische Ideal - das nur dann tatsächlich ein solches ist, wenn es die Würde jeder menschlichen Person anerkennt und schützt - in seinen Grundfesten verraten (vgl. Evangelium vitae EV 74). Deshalb, liebe Brüder im Bischofsamt, dürfen wir bei der Verteidigung des Lebens »nicht Feindseligkeit und Unpopularität fürchten, wenn wir jeden Kompromiß und jede Zweideutigkeit ablehnen, die uns der Denkweise dieser Welt angleichen würde« (ebd., EV 82).

Um den Laien besser zu helfen, ihr christliches und sozialpolitisches Engagement einheitlicher und konsequenter zu leben, ist, wie ich in Aparecida gesagt habe, »eine soziale Katechese und eine entsprechende Unterweisung in der Soziallehre der Kirche erforderlich, wofür das Kompendium der Soziallehre der Kirche sehr nützlich ist« (Ansprache zur Eröffnung der 5. Generalversammlung der Bischofskonferenzen Lateinamerikas und der Karibik, 3; in: O.R. dt., Nr. 20 vom 18.5.2007, S. 4). Das bedeutet auch, daß die Bischöfe bei bestimmten Gelegenheiten an das Recht - das auch eine Pflicht ist - erinnern müssen, von der freien Wahl Gebrauch zu machen zur Förderung des Gemeinwohls (vgl. Gaudium et spes GS 75). In diesem Punkt stimmen Politik und Glaube überein. Dem Gauben ist zweifellos das besondere Wesen der Begegnung mit dem lebendigen Gott eigen, die über den Bereich der eigenen Vernunft hinaus neue Horizonte eröffnet. »Ohne die Korrekturfunktion der Religion kann jedoch auch die Vernunft den Gefahren einer Verzerrung anheimfallen, wenn sie zum Beispiel von Ideologien manipuliert wird oder auf einseitige Weise zur Anwendung kommt, ohne die Würde der menschlichen Person voll zu berücksichtigen« (Apostolische Reise nach Großbritannien, Ansprache bei der Begegnung mit den Vertretern der Gesellschaft, dem Diplomatischen Korps usw., 17. Sept. 2010; in O.R. dt., Nr. 38 vom 24.9.2010, S. 14).

Eine Gesellschaft kann nur aufgebaut werden, wenn sie die transzendente Natur der menschlichen Person unermüdlich fördert und lehrt. So muß Gott »auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte« (Caritas in veritate ) einen Platz finden. Deshalb, geliebte Brüder, schließe ich mich mit meiner Stimme der euren an zu einem leidenschaftlichen Appell zugunsten der religiösen Erziehung und, konkreter, des konfessionellen Religionsunterrichts in der öffentlichen staatlichen Schule.

Ich möchte auch daran erinnern, daß das Vorhandensein religiöser Symbole im öffentlichen Raum ein Hinweis auf die Transzendenz des Menschen ist - und eine Garantie für den Respekt davor. Sie haben auch im Falle Brasiliens einen besonderen Wert, weil die katholische Kirche ein integraler Bestandteil seiner Geschichte ist. Wie könnte man da nicht an die Jesusstatue denken, die mit ausgebreiteten Armen in Rio über der »Baia da Guanabara« steht und die Gastfreundschaft und Liebe verkörpert, mit der Brasilien immer schon Verfolgten und Bedürftigen aus aller Welt die Arme öffnete? In dieser Gegenwart Jesu im brasilianischen Leben haben sie sich harmonisch in die Gesellschaft integriert und zur Bereicherung der Kultur, zum Wirtschaftswachstum und zum Geist der Solidarität und Freiheit beigetragen.

Geliebte Brüder, der Mutter Gottes und unserer Mutter, die in Brasilien als »Nossa Senhora Aparecida« angerufen wird, vertraue ich diese Wünsche der katholischen Kirche im Land des Heiligen Kreuzes und aller Menschen guten Willens bei der Verteidigung der Werte des menschlichen Lebens und seiner Transzendenz an, zusammen mit den Freuden und Hoffnungen, der Trauer und den Ängsten der Männer und Frauen der Kirchenprovinz Maranhão. Ich vertraue alle ihrem mütterlichen Schutz an und erteile euch und eurem Volk meinen Apostolischen Segen.





AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DER PÄPSTLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN


Sala Clementina

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich, Sie alle zu begrüßen, die Sie anläßlich der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften zusammengekommen sind, um über »Das wissenschaftliche Vermächtnis des 20. Jahrhunderts« nachzudenken. An erster Stelle begrüße ich den Kanzler der Akademie, Bischof Marcelo Sánchez Sorondo. Ich nehme diese Gelegenheit auch wahr, um voll Liebe und Dankbarkeit an Professor Nicola Cabibbo, Ihren verstorbenen Präsidenten, zu erinnern. Zusammen mit Ihnen allen empfehle ich seine edle Seele im Gebet Gott, dem barmherzigen Vater.

Die Geschichte der Wissenschaft im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte unbestrittener Errungenschaften und großer Fortschritte. Allerdings wird das weitverbreitete Bild der Wissenschaft im 20. Jahrhundert leider mitunter von zwei extremen Verständnisformen geprägt. Einerseits wird die Wissenschaft von manchen als ein von den bemerkenswerten Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts ausgewiesenes Allheilmittel oder Patentrezept hingestellt. Ihre zahllosen Fortschritte waren in der Tat so umfassend und von solcher Geschwindigkeit, daß sie den Standpunkt zu bestätigen schienen, die Wissenschaft könne alle Fragen der Existenz des Menschen und selbst seine höchsten Ambitionen beantworten. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die vor der Wissenschaft Angst haben und sich wegen ernüchternder Entwicklungen wie dem Bau und dem furchtbaren Einsatz von Atomwaffen von ihr distanzieren.

Die Wissenschaft läßt sich natürlich mit keinem dieser Extreme definieren. Ihre Aufgabe war und bleibt eine geduldige, aber leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit über den Kosmos, über die Natur und über die Beschaffenheit des Menschen. Bei dieser Suche hat es viele Erfolge und Fehlschläge, Triumphe und Rückschläge gegeben. Die Entwicklungen der Wissenschaft waren einerseits erhebend, wenn die Komplexität der Natur mit ihren Phänomenen entdeckt wurde und diese unsere Erwartungen übertrafen, und demütigend, wenn einige der Theorien, die wir als erschöpfende Erklärungen jener Phänomene verstanden, sich ein für allemal nur als bruchstückhaft herausstellten. Nichtsdestoweniger stellen selbst vorläufige Resultate einen realen Beitrag zur Enthüllung der Übereinstimmung zwischen dem Intellekt und den natürlichen Realitäten dar, auf der spätere Generationen weiter aufbauen können. Der Fortschritt, der im 20. Jahrhundert in den verschiedenen Disziplinen der wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht wurde, hat zu einem klareren Bewußtsein von der Stellung, die der Mensch und dieser Planet im Universum einnehmen, geführt. In allen Wissenschaften bleibt der gemeinsame Nenner weiterhin die Vorstellung vom Experiment als einer organisierten Methode für die Beobachtung der Natur. Im letzten Jahrhundert machte der Mensch sicherlich größere Fortschritte - wenn auch nicht immer in seiner Kenntnis von sich selbst und von Gott, so doch sicherlich in seinem Wissen vom Mikro- und vom Makrokosmos - als in der ganzen bisherigen Geschichte der Menschheit.

137 Unsere heutige Begegnung hier, liebe Freunde, ist ein Beweis der Wertschätzung der Kirche für die laufende wissenschaftliche Forschung und ihrer Dankbarkeit für das wissenschaftliche Bestreben, welche sie ermutigt und aus dem sie Nutzen zieht. In unseren Tagen anerkennen Wissenschaftler selbst immer mehr die Notwendigkeit, für die Philosophie offen zu sein, wenn sie die logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Methodik und ihrer Schlußfolgerungen entdecken sollen. Die Kirche ist ihrerseits davon überzeugt, daß die wissenschaftliche Tätigkeit letztlich von der Anerkennung der geistlichen Dimension des Menschen und seiner Suche nach letzten Antworten profitieren wird, die die Anerkennung einer Welt berücksichtigen, welche unabhängig von uns existiert, die wir nicht ganz verstehen und die wir nur insoweit erfassen können, als wir die ihr innewohnende Logik begreifen. Wissenschaftler erschaffen die Welt nicht; sie erfahren von ihr und versuchen, sie nachzuahmen, indem sie den Gesetzen und der Verständlichkeit folgen, die uns die Natur offenbart. Die Erfahrung des Wissenschaftlers als menschliches Wesen ist deshalb das Wahrnehmen von etwas Konstantem, einem Gesetz, einem logos, den er nicht geschaffen, sondern lediglich beobachtet hat: Das führt uns in der Tat zu dem Eingeständnis, daß es eine allmächtige Vernunft geben muß, die anders ist als die menschliche, und die die Welt zusammenhält. Das ist der Punkt, wo sich die Naturwissenschaften und die Religion begegnen. Als Ergebnis daraus wird die Wissenschaft zu einem Ort des Dialogs, zu einer Begegnung zwischen Mensch und Natur und möglicherweise sogar zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer.

Mit Blick auf das 21. Jahrhundert würde ich gern zwei Gedanken zur weiteren Überlegung vorschlagen. Erstens: Während die sich ständig vermehrenden Errungenschaften der Wissenschaften unser Staunen über die Komplexität der Natur weiter vertiefen, wird mehr und mehr die Notwendigkeit einer mit philosophischer Reflexion einhergehenden interdisziplinären Annäherung erkannt, die zu einer Synthese führt.

Zweitens sollten die wissenschaftlichen Errungenschaften in diesem neuen Jahrhundert immer von den Forderungen der Brüderlichkeit und des Friedens geprägt sein, um die großen Probleme der Menschheit lösen zu helfen und jedermanns Bemühungen um das wahre Gut des Menschen und die ganzheitliche Entwicklung der Völker auf der Welt zu fördern. Das positive Ergebnis der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts wird sicherlich in hohem Maße von der Fähigkeit der Wissenschaftler abhängen, nach der Wahrheit zu suchen und Entdeckungen so zu verwenden, daß sie mit der Suche nach dem Gerechten und Guten einhergehen.

Mit diesen Empfindungen lade ich Sie ein, Ihren Blick auf Christus, die ungeschaffene Weisheit, zu richten, und in seinem Angesicht den Logos des Schöpfers aller Dinge zu erkennen. Mit nochmaligen besten Wünschen für Ihre Arbeit erteile ich Ihnen gern meinen Apostolischen Segen.





KONFERENZ DER "ROMANO-GUARDINI"-STIFTUNG BERLIN

ZUM THEMA “DAS GEISTIGE UND INTELLEKTUELLE ERBE ROMANO GUARDINIS”

Sala Clementina

Freitag, 29. Oktober 2010

Exzellenzen,

verehrter Herr Präsident Professor von Pufendorf,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde!

Es ist mir eine Freude, Sie alle hier im Apostolischen Palast begrüßen zu dürfen, die Sie anläßlich der Konferenz der Guardini-Stiftung zum Thema „Das geistige und intellektuelle Erbe Romano Guardinis“ nach Rom gekommen sind. Besonders danke ich Ihnen, lieber Herr Professor von Pufendorf, für die guten Worte, die Sie zum Auftakt dieser Begegnung an mich gerichtet haben, in denen das ganze Ringen, um das es geht, das uns an Guardini bindet und uns zugleich auffordert, sein Lebenswerk weiterzuführen, zum Ausdruck kam.

138 In seiner Dankesrede anläßlich der Feier seines 80. Geburtstags im Februar 1965 an der Ludwig-Maximilians-Universität München beschrieb Guardini seine Lebensaufgabe, wie er sie verstand, als eine Weise „in beständiger geistiger Begegnung zu fragen, was ‚christliche Weltanschauung’ bedeutet“ (Stationen und Rückblicke, S. 41). Das Anschauen, dieser umfassende Blick auf die Welt, war dabei für Guardini nicht eine Ansicht von außen wie auf ein bloßes Forschungsobjekt. Er meinte auch nicht die geistesgeschichtliche Perspektive, die prüft und abwägt, was andere über die religiöse Prägung einer Epoche gesagt oder geschrieben haben. All diese Sichtweisen waren für Guardini ungenügend. In dem Bericht über sein Leben sagt er: „Was mich aber spontan interessierte, war nicht die Frage, was einer über die christliche Wahrheit gesagt hat, sondern was wahr ist“ (Berichte über mein Leben, S. 24). Und diese Orientierung seiner Lehre war es, die uns als junge Menschen getroffen hat, denn wir wollten nicht ein Feuerwerk von Meinungen, die es in der Christenheit oder außerhalb ihrer gibt, kennenlernen; wir wollten kennen, was ist. Und da war einer, der sich furchtlos und zugleich mit dem ganzen Ernst kritischen Denkens dieser Frage stellte und uns half mitzudenken. Guardini wollte nicht irgend etwas oder viel wissen, er verlangte nach der Wahrheit Gottes und der Wahrheit über den Menschen. Das Instrument, um sich dieser Wahrheit anzunähern, war für ihn die - wie man es damals nannte - Weltanschauung, die sich in einem lebendigen Austausch mit der Welt und mit den Menschen vollzieht. Das spezifisch Christliche besteht dabei darin, daß der Mensch sich in einer Beziehung zu Gott weiß, die ihm vorausgeht und der er sich nicht entziehen kann. Nicht unser Denken ist der Anfang, der die Maßstäbe setzt, sondern Gott, der unsere Maßstäbe übertrifft und in keine von uns zu formende Einheit eingezwängt werden kann. Gott offenbart sich selbst als die Wahrheit, aber die ist nicht abstrakt, sondern findet sich im Lebendig-Konkreten, letztlich in der Gestalt Jesu Christi. Wer aber Jesus, die Wahrheit, sehen will, muß „umkehren“, muß aus der Autonomie des eigenmächtigen Denkens heraustreten in die hörende Bereitschaft, die entgegennimmt, was ist. Und diese Umkehrbewegung, die er in seiner Bekehrung vollzogen hat, prägt sein ganzes Denken und Leben; bedeutet, immer wieder herauskehren aus der Autonomie ins Hören, ins Empfangen. Doch auch bei einer echten Gottesbeziehung versteht der Mensch nicht immer, was Gott spricht. Er bedarf eines Korrektivs, und dieses besteht im Austausch mit dem anderen, der in der lebendigen Kirche aller Zeiten seine verläßliche und alle miteinander verbindende Gestalt gefunden hat.

Guardini war ein Mann des Dialogs. Seine Werke sind fast ausnahmslos aus einem, zumindest inneren, Gespräch entstanden. Die Vorlesungen des Professors für Religionsphilosophie und christliche Weltanschauung an der Universität Berlin in den 20er Jahren stellten meist Begegnungen mit Persönlichkeiten der Geistesgeschichte dar. Er las die Werke dieser Denker, hörte ihnen zu, lernte von ihnen, wie sie die Welt sehen, und kam mit ihnen ins Gespräch, um im Gespräch mit ihnen zu entwickeln, was er als katholischer Denker zu ihrem Denken zu sagen hatte. Diese Gewohnheit setzte er in München fort, und es war auch das Eigentümliche seines Vorlesungsstils, daß er im Gespräch mit den Denkern war, daß er zum Sehen führen wollte - weil immer wieder Kernwort war: „Sehen Sie“ - und daß er in einem inneren gemeinsamen Dialog mit den Hörern stand. Das war das Neue gegenüber der Rhetorik alter Zeiten, daß er überhaupt keine Rhetorik suchte, sondern ganz einfach mit uns redete und dabei mit der Wahrheit redete und uns ins Gespräch mit der Wahrheit brachte. Und so ist ein weites Spektrum von „Gesprächen“ entstanden mit Autoren wie Sokrates, Augustinus oder Pascal, mit Dante, Hölderlin, Mörike, Rilke und Dostojewskij. Er sah in ihnen lebendige Vermittler, die in einem vergangenen Wort das Gegenwärtige entdecken, es neu zu sehen und neu zu leben vermögen. Sie schenken uns eine Kraft, die uns neu zu uns selber bringen kann.

Aus der Offenheit des Menschen für das Wahre folgt für Guardini ein Ethos, eine Grundlage für unser sittliches Verhalten zu unseren Mitmenschen, als Forderung unserer Existenz. Weil der Mensch Gott begegnen kann, deshalb kann er auch gut handeln. Für ihn gilt dieser Primat der Ontologie vor dem Ethos. Aus dem Sein, dem rechtverstandenen, gehörten Sein Gottes selbst folgt dann das rechte Tun. Er sagt: „Echte Praxis, das heißt richtiges Handeln, geht aus der Wahrheit hervor, und um die muß gerungen werden“ (ebd., S. 111).

Eine solche Sehnsucht nach dem Wahren und das Sich-Ausstrecken auf das Eigentliche, das Wesentliche verspürte Guardini vor allem auch bei der Jugend. In seinen Gesprächen mit Jugendlichen, besonders auf Burg Rothenfels, die durch ihn zum Zentrum der katholischen Jugendbewegung geworden war, führte der Priester und Pädagoge Ideale der Jugendbewegung wie Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und innere Wahrhaftigkeit weiter, reinigte und vertiefte sie. Freiheit - ja, aber frei ist nur - sagt er uns -, wer „ganz das ist, was er seinem Wesen nach sein soll. [...] Freiheit ist Wahrheit“ (Auf dem Wege, S. 20). Die Wahrheit des Menschen ist für Guardini Wesentlichkeit und Seinsgemäßheit. Der Weg in die Wahrheit gelingt, wenn der Mensch den „Gehorsam unseres Seins gegen das Sein Gottes“ (ebd. S. 21) übt. Dies geschieht letztlich in der Anbetung, die für Guardini zum Denken dazugehört.

In Begleitung der Jugend suchte Guardini auch nach einem neuen Zugang zur Liturgie. Wiederentdeckung der Liturgie war für ihn Wiederentdeckung der Einheit von Geist und Leib in der Ganzheit des einen Menschen. Denn liturgisches Verhalten ist immer zugleich leibliches und geistiges Verhalten. Das Beten wird geweitet durch das leibliche und gemeindliche Tun, und so öffnet sich die Einheit aller Wirklichkeit. Liturgie ist symbolisches Tun. Das Symbol als Inbegriff der Einheit von Geistigem und Materiellem geht verloren, wo beides auseinanderfällt, wo die Welt in Geist und Körper, in Subjekt und Objekt dualistisch zerspalten wird. Guardini war tief davon überzeugt, daß der Mensch Geist in Leib, Leib in Geist ist und daß daher Liturgie und Symbol ihn zum Wesentlichen seiner selbst bringen, letztlich in der Anbetung in die Wahrheit bringen.

Unter den großen Lebensthemen Guardinis ist die Beziehung von Glaube und Welt von bleibender Aktualität. Er sah gerade in der Universität den Ort der Wahrheitssuche. Das kann sie aber nur sein, wenn sie von aller Instrumentalisierung und Vereinnahmung für politische und sonstige Zwecke frei ist. Wir haben es heute, in einer Welt der Globalisierung und Fragmentarisierung, mehr denn je nötig, daß dieses Anliegen weitergeführt wird, ein Anliegen, das der Guardini-Stiftung so sehr am Herzen liegt und für dessen Verwirklichung der Guardini-Lehrstuhl geschaffen worden ist.

Nochmals sage ich allen Anwesenden herzlichen Dank für ihr Kommen. Möge die Beschäftigung mit dem Werk Guardinis das Bewußtsein für die christlichen Fundamente unserer Kultur und Gesellschaft schärfen. Gerne erteile ich Ihnen allen den Apostolischen Segen.





BEGEGNUNG MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN

DER KATHOLISCHEN AKTION ITALIENS

Petersplatz

Samstag, 30. Oktober 2010



Frage eines Jungen von der Kinder- und Jugendsektion der Katholischen Aktion Italiens (ACR):


ANSPRACHE 2010 134