Benedikt XVI Predigten 10

10

VESPER AM 1. ADVENTSSONNTAG

PREDIGT VON BENEDIKT XVI. Petersdom

Samstag, 26. November 2005



Liebe Brüder und Schwestern!

Mit der Feier der Ersten Vesper am ersten Adventssonntag beginnen wir ein neues Kirchenjahr. Beim gemeinsamen Gesang der Psalmen haben wir unsere Herzen zu Gott erhoben und jene geistige Haltung angenommen, die diese Zeit der Gnade kennzeichnet: »wachend und betend « und »mit Liedern des Lobes« (vgl. Römisches Meßbuch, Präfation vom Advent II/A). Nach dem Beispiel der allerseligsten Jungfrau Maria, die uns lehrt, im frommen Hören des Gotteswortes zu leben, wollen wir nun über die eben gehörte kurze Bibellesung nachdenken. Es handelt sich um zwei Verse aus dem Schlußteil des Ersten Briefs des Apostels Paulus an die Thessalonicher (1 Thess 5,23–24). Der erste Vers enthält den Wunsch des Apostels an die Gemeinde, und der zweite bietet gewissermaßen die Gewähr für seine Erfüllung. Der Wunsch ist, daß jeder von Gott geheiligt werde und in seiner ganzen Persönlichkeit – »Geist, Seele und Leib« – unversehrt bleibe für das endgültige Kommen Jesu, des Herrn; die Gewähr dafür, daß dies auch tatsächlich geschehen kann, liegt in der Treue Gottes selbst, denn er wird es nicht versäumen, das in den Gläubigen begonnene Werk zur Vollendung zu bringen.

Der Erste Brief an die Thessalonicher ist auch der erste aller Briefe des hl. Paulus und wurde wahrscheinlich im Jahr 51 verfaßt. In diesem ersten Brief spürt man noch deutlicher als in den späteren das pulsierende Herz des Apostels, seine väterliche, ja wir können sogar sagen seine mütterliche Liebe zu der neuen Gemeinde. Man spürt ebenfalls seine brennende Sorge dafür, daß der Glaube nicht ausgelöscht werde in dieser neugegründeten Kirche, deren kulturelles Umfeld in vielerlei Hinsicht glaubensfeindlich ist. Deshalb beschließt Paulus seinen Brief mit einem Wunsch, ja wir könnten sogar sagen mit einem Gebet. Der Inhalt des Gebets, das wir gehört haben, ist, daß sie in der Stunde des Kommens unseres Herrn heilig und untadelig seien. Das wichtigste Wort in diesem Gebet ist »Kommen«. Wir müssen uns fragen: Was bedeutet »Kommen des Herrn«? Auf griechisch heißt es »Parusie«, auf lateinisch »adventus«: »Advent«, »Kommen«. Worin besteht dieses Kommen? Geht es uns etwas an oder nicht?

Um die Bedeutung dieses Wortes und somit des Gebetes des Apostels für diese Gemeinde und für die Gemeinden aller Zeiten – also auch der unseren – zu verstehen, müssen wir auf die Person schauen, durch die das Kommen des Herrn auf einmalige, einzigartige Weise Wirklichkeit geworden ist: die Jungfrau Maria. Maria gehörte jenem Teil des Volkes Israel an, das zur Zeit Jesu sehnsüchtig auf das Kommen des Erlösers wartete. Den im Evangelium wiedergegebenen Worten und Gesten können wir entnehmen, wie sie sich in ihrem Leben wirklich in die Worte der Propheten versenkte und das Kommen des Herrn mit ihrem ganzen Sein erwartete. Dennoch konnte sie nicht ahnen, wie dieses Kommen vonstatten gehen sollte. Vielleicht erwartete sie ein Kommen in Herrlichkeit. Um so überraschender war für sie der Moment, als der Erzengel Gabriel in ihr Haus eintrat und ihr sagte, daß der Herr, der Erlöser, in ihr und von ihr Fleisch annehmen und sein Kommen durch sie verwirklichen wollte. Wir können uns die Befangenheit der Jungfrau gut vorstellen. Mit einem großen Akt des Glaubens und des Gehorsams sagt Maria »Ja«: »Ich bin die Magd des Herrn«. So wurde sie zur »Wohnstatt « des Herrn, zum wahren »Tempel« in der Welt und zur »Tür«, durch die der Herr in die Welt eingetreten ist.

Wir haben gesagt, daß dieses Kommen einmalig ist: »das« Kommen des Herrn. Dennoch gibt es nicht nur das endgültige Kommen am Ende der Zeiten. In einem gewissen Sinne möchte der Herr durch uns Menschen ständig auf die Erde kommen, und er klopft an die Tür unseres Herzens: Bist du bereit, mir dein Fleisch, deine Zeit, dein Leben zu geben? Das ist die Stimme des Herrn, der auch in unsere Zeit eintreten möchte, er möchte durch uns ins Leben der Menschen eintreten. Er sucht auch eine lebendige Wohnung, nämlich unser persönliches Leben. Das ist das Kommen des Herrn, und das wollen wir in der Adventszeit aufs neue lernen: Der Herr möge auch durch uns kommen.

Daher können wir sagen, daß dieses Gebet, dieser vom Apostel geäußerte Wunsch eine grundlegende Wahrheit enthält, die er den Gläubigen der von ihm gegründeten Gemeinde einzuprägen versucht und die wir wie folgt zusammenfassen können: Gott beruft uns zur Gemeinschaft mit ihm, die sich bei der Wiederkunft Christi vollkommen verwirklichen wird, und er selbst verpflichtet sich, es so einzurichten, daß wir gut vorbereitet zu dieser letzten und entscheidenden Begegnung gelangen. Die Zukunft ist sozusagen schon in der Gegenwart enthalten, besser gesagt in der Gegenwart Gottes und seiner unvergänglichen Liebe, die uns nicht allein läßt, uns keinen Augenblick verläßt, wie auch ein Vater und eine Mutter ihre Kinder in deren Wachstumsprozeß ständig begleiten. Angesichts des Kommens Christi fühlt sich der Mensch in seinem ganzen Wesen angesprochen; der Apostel resümiert das in den Worten »Geist, Seele und Leib« und meint damit den gesamten Menschen als wohlstrukturierte Einheit von somatischer, psychischer und spiritueller Dimension. Die Heiligung ist ein Geschenk Gottes und seine eigene Initiative, aber das menschliche Wesen ist aufgefordert, dem mit seinem ganzen Ich zu entsprechen, ohne daß irgendetwas von ihm davon ausgeschlossen bleibe.

Der Heilige Geist hat den vollkommenen Menschen Jesus im Schoß der Jungfrau geformt, und er ist es denn auch, der den wunderbaren Plan Gottes im Menschen zu Erfüllung bringt. Dazu verwandelt er zunächst das Herz und dann, von diesem Mittelpunkt ausgehend, alles übrige. So kommt es, daß in jedem einzelnen das ganze Schöpfungs- und Erlösungswerk zusammengefaßt wird, das Gott, Vater und Sohn und Heiliger Geist, vom Anfang bis zum Ende des Kosmos und der Geschichte vollbringt. Und wie in der Menschheitsgeschichte das erste Kommen Christi im Mittelpunkt und seine glorreiche Wiederkunft am Ende steht, so ist jede persönliche Existenz berufen, sich während der irdischen Pilgerreise auf geheimnisvolle und vielfältige Art an ihm zu messen, um in der Stunde seiner Rückkehr »in ihm« gefunden zu werden.

Die selige Gottesmutter und treue Jungfrau leite uns dazu an, aus dieser Adventszeit und aus dem gesamten neuen Kirchenjahr eine Zeit echter Heiligung zu machen zum Lob und Ruhme Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
11

EUCHARISTIEFEIER ANLÄSSLICH DES 40. JAHRESTAGES DES

ABSCHLUSSES DES II. ÖKUMENISCHEN VATIKANISCHEN KONZILS

PREDIGT VON BENEDIKT XVI.

Hochfest der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau und Gottesmutter Maria

Donnerstag, 8. Dezember 2005




Liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
liebe Brüder und Schwestern!

Vor 40 Jahren, am 8. Dezember 1965, vollzog Papst Paul VI. auf dem Vorplatz dieser Petersbasilika den feierlichen Abschluß des II. Vatikanischen Konzils. Es war nach dem Wunsch von Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962, damals Fest der Mutterschaft Mariens, eröffnet worden und fand seinen Abschluß am Tag der Unbefleckten Empfängnis. Ein marianischer Rahmen umgibt also das Konzil. Tatsächlich ist es aber viel mehr als ein Rahmen: Es ist eine Orientierung für den ganzen Verlauf des Konzils. Ebenso wie seinerzeit die Konzilsväter verweist es auch uns auf das Bild der Jungfrau, die zuhört, die im Wort Gottes lebt, die die Worte, die von Gott zu ihr gelangen, in ihrem Herzen bewahrt und die sie begreifen lernt, indem sie sie gleichsam zu einem Mosaik zusammenfügt (vgl. Lk Lc 2,19 Lk Lc 2,51); es verweist uns auf die große Glaubende, die sich demütig und vertrauensvoll in die Hände Gottes übergibt, indem sie sich seinem Willen überläßt; es verweist uns auf die demütige Mutter, die, wenn es die Sendung des Sohnes verlangt, in den Hintergrund tritt, und zugleich auf die mutige Frau, die unter dem Kreuz steht, während die Jünger die Flucht ergreifen. In seiner Ansprache anläßlich der Promulgation der Konzilskonstitution über die Kirche hatte Paul VI. Maria als »tutrix huius Concilii« – »Beschützerin dieses Konzils« – bezeichnet (vgl. Oecumenicum Concilium Vaticanum II, Constitutiones Decreta Declarationes, Vatikanstadt 1966, S. 986) und mit unverkennbarer Bezugnahme auf den von Lukas überlieferten Pfingstbericht (Apg 1,12–14) gesagt, die Konzilsväter hätten sich »cum Maria, Matre Iesu« – »mit Maria, der Mutter Jesu« – in der Konzilsaula versammelt und würden nun auch in ihrem Namen aus ihr hinausgehen (ebd., S. 985).

Unauslöschlich bleibt in meinem Gedächtnis der Augenblick, in dem sich die Konzilsväter, als sie seine Worte hörten: »Mariam Sanctissimam declaramus Matrem Ecclesiae« – »Wir erklären die seligste Jungfrau Maria zur Mutter der Kirche« –, spontan von ihren Sitzen erhoben und stehend applaudierten und auf diese Weise der Gottesmutter, unserer Mutter, der Mutter der Kirche huldigten. In der Tat faßte der Papst mit diesem Titel die marianische Lehre des Konzils zusammen und bot den Schlüssel zu deren Verständnis. Maria steht nicht nur in einer einzigartigen Beziehung zu Christus, dem Sohn Gottes, der als Mensch ihr Sohn werden wollte. Indem sie vollkommen mit Christus verbunden ist, gehört sie auch vollkommen zu uns. Ja, wir können sagen, Maria ist uns so nahe wie kein anderer Mensch, weil Christus Mensch für die Menschen ist und sein ganzes Sein ein »Sein für uns« ist. Christus als Haupt ist, wie die Konzilsväter sagen, nicht von seinem Leib, der Kirche, zu trennen; er bildet zusammen mit ihr sozusagen ein einziges lebendiges Subjekt. Die Mutter des Hauptes ist auch die Mutter der ganzen Kirche; sie wird sozusagen sich selbst vollkommen entzogen; sie gibt sich ganz Christus hin und wird mit ihm uns allen geschenkt. Denn je mehr sich die menschliche Person hingibt, um so mehr findet sie sich selbst.

Das Konzil wollte uns sagen: Maria ist so in das große Geheimnis der Kirche eingewoben, daß sie und die Kirche ebenso wenig voneinander zu trennen sind wie sie und Christus. Maria ist Spiegelbild der Kirche, sie nimmt sie in ihrer Person vorweg und bleibt in allen Turbulenzen, die die leidende und sich abmühende Kirche heimsuchen, immer der Stern des Heils. Sie ist ihre wahre Mitte, der wir vertrauen, auch wenn uns ihre Randbereiche so oft schwer auf der Seele lasten. Dies alles hat Papst Paul VI. bei der Verkündigung der Konstitution über die Kirche mittels eines neuen, tief in der Überlieferung verwurzelten Titels in der Absicht herausgestellt, die innere Struktur der auf dem Konzil entwickelten Lehre über die Kirche zu erhellen. Das II. Vaticanum sollte über die institutionellen Glieder der Kirche sprechen: über die Bischöfe und über den Papst, über die Priester, die Laien und die Ordensleute in ihrer Gemeinschaft und in ihren Beziehungen zueinander; es sollte die pilgernde Kirche beschreiben, »die in ihrem eigenen Schoß Sünder umfaßt; die zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig ist…« (Lumen gentium LG 8). Aber diese »petrinische« Dimension der Kirche ist in jener »marianischen« Dimension enthalten. In Maria, der unbefleckt Empfangenen, begegnen wir dem unentstellten Wesen der Kirche. Von ihr sollen wir lernen, selber zu »kirchlichen Seelen« zu werden, wie sich die Konzilsväter ausdrückten, damit auch wir, nach dem Wort des hl. Paulus, »schuldlos« vor den Herrn treten können, so wie er uns von Anfang an haben wollte (vgl. Kol Col 1,22 Ep 1,4).

Aber nun müssen wir uns fragen: Was bedeutet »Maria, die unbefleckt Empfangene«? Hat uns dieser Titel etwas zu sagen? Die Liturgie des heutigen Tages erklärt uns den Inhalt dieses Wortes in zwei großartigen Bildern. Da ist zuerst der wundervolle Bericht von der Ankündigung des Kommens des Messias an Maria, die Jungfrau aus Nazaret. Der Gruß des Engels ist aus Fäden des Alten Testaments, besonders aus dem Buch des Propheten Zefanja, gewoben. Er zeigt, daß Maria, die einfache Frau aus der Provinz, die aus einem priesterlichen Geschlecht stammt und das große priesterliche Erbe Israels in sich trägt, der »heilige Rest« Israels ist, auf den sich die Propheten zu allen Zeiten der Drangsal und Finsternis bezogen haben. In ihr ist das wahre, das reine Zion, die lebendige Wohnstatt Gottes, gegenwärtig. In ihr wohnt der Herr, in ihr findet er seinen Ort der Ruhe. Sie ist das lebendige Haus Gottes, der nicht in steinernen Häusern wohnt, sondern im Herzen des lebendigen Menschen. Sie ist der Sproß, der in der dunklen Winternacht der Geschichte aus dem Baumstumpf Davids hervorsprießt. In ihr erfüllt sich das Psalmwort: »Das Land gab seinen Ertrag« (Ps 67,7). Sie ist der junge Trieb, aus dem der Baum der Erlösung und der Erlösten heranwächst. Gott ist nicht gescheitert, wie es gleich am Anfang der Geschichte mit Adam und Eva oder während des Babylonischen Exils vielleicht scheinen mochte und wie es sich zur Zeit Mariens neuerlich abzuzeichnen schien, als Israel zu einem bedeutungslosen Volk in einem besetzten Land geworden war, wo kaum Zeichen seiner Heiligkeit zu erkennen waren. Gott ist nicht gescheitert. In der Schlichtheit des Hauses von Nazaret lebt das heilige Israel, der lautere Rest. Gott hat sein Volk gerettet und rettet es auch weiterhin. Seine Geschichte beginnt von neuem zu leuchten von dem Baumstumpf aus, der zu einer neuen lebendigen Kraft wird, die Orientierung gibt und die Welt durchdringt. Maria ist das heilige Israel; sie sagt »Ja« zum Herrn, sie stellt sich ihm voll zur Verfügung und wird so zum lebendigen Tempel Gottes.

Das zweite Bild ist viel schwieriger und dunkler. Diese Metapher aus dem Buch Genesis spricht zu uns aus einer großen historischen Distanz und läßt sich nur mühsam erklären; erst im Laufe der Geschichte war es möglich, ein tieferes Erfassen des dort Berichteten zu entwickeln. Es wird vorausgesagt, daß während der ganzen Geschichte der Kampf zwischen dem Menschen und der Schlange, das heißt zwischen dem Menschen und den Mächten des Bösen und des Todes, weitergehen wird. Es wird jedoch auch vorhergesagt, daß »die Nachkommenschaft« der Frau eines Tages siegen und der Schlange, dem Tod, den Kopf zertreten wird; es wird vorhergesagt, daß die Nachkommenschaft der Frau – und in ihr die Frau und Mutter – siegen wird und daß auf diese Weise, nämlich durch den Menschen, Gott siegen wird. Wenn wir zusammen mit der glaubenden und betenden Kirche hörend an diesen Text herangehen, dann können wir beginnen zu verstehen, was die Ursünde, die Erbsünde ist, und auch, was der Schutz vor dieser Erbsünde ist, was die Erlösung ist.

Was für ein Bild wird uns in diesem Abschnitt vor Augen geführt? Der Mensch vertraut nicht auf Gott. Von den Worten der Schlange verführt, hegt er den Verdacht, daß Gott letzten Endes ihm etwas von seinem Leben wegnehme, daß Gott ein Konkurrent sei, der unsere Freiheit einschränke, und daß wir erst dann im Vollsinn Menschen sein würden, wenn wir Gott zurückgesetzt haben; kurz, daß wir nur auf diese Weise unsere Freiheit voll verwirklichen können. Der Mensch lebt in dem Verdacht, die Liebe Gottes erzeuge eine Abhängigkeit und er müsse sich von dieser Abhängigkeit befreien, um vollkommen er selbst zu sein. Der Mensch will seine Existenz und die Fülle seines Lebens nicht von Gott empfangen. Er will selber vom Baum der Erkenntnis die Macht dazu erlangen, die Welt zu formen, Gott zu werden, indem er sich auf eine Stufe mit Ihm erhebt, und den Tod und die Finsternis mit eigener Kraft zu besiegen. Er will nicht auf die Liebe zählen, die ihm nicht zuverlässig erscheint; er zählt einzig und allein auf die Erkenntnis, da sie ihm die Macht verleiht. Anstatt auf die Liebe setzt er auf die Macht, mit der er sein Leben selbständig in die Hand nehmen möchte. Und indem er das tut, vertraut er der Lüge statt der Wahrheit und stürzt so mit seinem Leben ins Leere, in den Tod. Liebe ist nicht Abhängigkeit, sondern Geschenk, das uns leben läßt. Die Freiheit eines Menschen ist die Freiheit eines begrenzten Wesens und ist daher selbst begrenzt. Wir können sie nur als geteilte Freiheit, in der Gemeinschaft der Freiheiten, besitzen: Nur wenn wir in rechter Weise miteinander und füreinander leben, kann sich die Freiheit entfalten. Aber wir leben in rechter Weise, wenn wir gemäß der Wahrheit unseres Seins, das heißt nach dem Willen Gottes leben. Denn der Wille Gottes ist für den Menschen nicht ein ihm von außen auferlegtes Gesetz, das ihn einengt, sondern das seiner Natur wesenseigene Maß, ein Maß, das in ihn eingeschrieben ist und ihn zum Abbild Gottes und somit zum freien Geschöpf macht. Wenn wir gegen die Liebe und gegen die Wahrheit – also gegen Gott – leben, zerstören wir uns gegenseitig und zerstören die Welt. Dann finden wir nicht das Leben, sondern handeln im Interesse des Todes. Das alles wird mit den unvergänglichen Bildern in der Geschichte vom Sündenfall und von der Vertreibung des Menschen aus dem irdischen Paradies erzählt.

Liebe Brüder und Schwestern! Wenn wir über uns und über unsere Geschichte aufrichtig nachdenken, müssen wir sagen, daß mit diesem Bericht nicht nur die Geschichte des Anfangs, sondern die Geschichte aller Zeiten beschrieben wird und daß wir alle einen Tropfen des Giftes von jener Denkweise in uns tragen, wie sie in den Bildern aus dem Buch Genesis veranschaulicht wird. Diesen Gifttropfen nennen wir Erbsünde. Gerade am Hochfest der Unbefleckten Empfängnis taucht in uns der Verdacht auf, daß eine Person, die gar nicht sündigt, im Grunde genommen langweilig sei; daß etwas in ihrem Leben fehle, nämlich die dramatische Dimension, autonom zu sein; daß die Freiheit, nein zu sagen, hinabzusteigen in die Dunkelheiten der Sünde und des Selber-machen-Wollens zum wahren Menschsein gehöre; daß man nur dann die ganze Weite und Tiefe unseres Menschseins, des wahren Wir-selbst-Seins bis zum Letzten ausnützen könne; daß wir diese Freiheit auch gegen Gott auf die Probe stellen müssen, um wirklich voll und ganz wir selbst zu werden. Mit einem Wort, wir meinen, daß das Böse im Grunde genommen gut sei, daß wir es, zumindest ein wenig, brauchen, um die Fülle des Seins zu erleben. Wir meinen, daß Mephistopheles – der Versucher – Recht habe, wenn er sagt, daß er die Kraft sei, die »stets das Böse will und stets das Gute schafft« (J. W. von Goethe, Faust I, 3). Wir meinen, ein wenig mit dem Bösen zu paktieren, sich ein wenig Freiheit gegen Gott vorzubehalten, sei im Grunde genommen gut, vielleicht sogar notwendig.

Wenn wir uns allerdings die Welt um uns herum anschauen, können wir sehen, daß es sich eben nicht so verhält; daß vielmehr das Böse den Menschen immer vergiftet, ihn nicht erhöht, sondern ihn erniedrigt und demütigt, ihn nicht größer, reiner und reicher macht, sondern ihm schadet und ihn kleiner werden läßt. Das müssen wir vor allem am Tag der Unbefleckt Empfangenen lernen: Der Mensch, der sich vollkommen in die Hände Gottes übergibt, wird keine Marionette Gottes, keine langweilige, angepaßte Person; er verliert seine Freiheit nicht. Nur der Mensch, der sich ganz Gott anvertraut, findet die wahre Freiheit, die große und schöpferische Weite der Freiheit des Guten. Der Mensch, der sich zu Gott hinwendet, wird nicht kleiner, sondern größer, denn durch Gott und zusammen mit Ihm wird er groß, wird er göttlich, wird er wirklich er selbst. Der Mensch, der sich in die Hände Gottes übergibt, entfernt sich nicht von den anderen, indem er sich in sein privates Heil zurückzieht; im Gegenteil, nur dann erwacht sein Herz wirklich und er wird zu einer einfühlsamen und daher wohlwollenden und offenen Person.

Je näher der Mensch Gott ist, desto näher ist er den Menschen. Das sehen wir an Maria. Der Umstand, daß sie ganz bei Gott ist, ist der Grund dafür, daß sie auch den Menschen so nahe ist. Deshalb kann sie die Mutter jeden Trostes und jeder Hilfe sein: Jeder kann es in seiner Schwachheit und Sünde wagen, sich in jeder Art von Not an diese Mutter zu wenden, denn sie hat Verständnis für alles und ist die für alle offene Kraft der schöpferischen Güte. Ihr hat Gott sein Bild aufgeprägt, das Bild dessen, der dem verlorenen Schaf bis in die Berge und bis in die Stacheln und Dornen der Sünden dieser Welt nachgeht, indem er sich von der Dornenkrone dieser Sünden verwunden läßt, um das Schaf auf seine Schultern zu nehmen und es nach Hause zu tragen. Als Mutter, die mitleidet, ist Maria die vorweggenommene Gestalt und das bleibende Bildnis des Sohnes. Und so sehen wir, daß auch das Bild der Schmerzensmutter, der Mutter, die das Leiden und die Liebe des Sohnes teilt, ein wahres Bild der Immaculata ist. Ihr Herz hat sich durch das Mit-Gott-Leben und Mit-Gott-Fühlen geweitet. In ihr ist uns Gottes Güte sehr nahe gekommen. So steht Maria vor uns als Zeichen des Trostes, der Ermutigung und der Hoffnung. Sie wendet sich an uns und sagt: »Hab’ Mut, es mit Gott zu wagen! Versuche es! Hab’ keine Angst vor Ihm! Hab’ Mut, das Wagnis des Glaubens einzugehen! Hab’ Mut, dich auf das Wagnis der Güte einzulassen! Laß dich für Gott gewinnen, dann wirst du sehen, daß gerade dadurch dein Leben weit und hell wird, nicht langweilig, sondern voll unendlicher Überraschungen, denn Gottes unendliche Güte erschöpft sich niemals!«

Wir wollen an diesem Festtag dem Herrn danken für das große Zeichen seiner Güte, das er uns in Maria, seiner Mutter und der Mutter der Kirche, geschenkt hat. Wir wollen ihn bitten, Maria auf unserem Weg Raum zu geben – als Licht, das uns hilft, unsererseits zum Licht zu werden und dieses Licht in die Nächte der Geschichte hineinzutragen. Amen.
12

PASTORALBESUCH DER RÖMISCHEN PFARRGEMEINDE

"SANTA MARIA CONSOLATRICE"

PREDIGT VON BENEDIKT XVI.

IV. Adventssonntag, 18. Dezember 2005

Liebe Brüder und Schwestern!


Es ist wirklich eine große Freude für mich, heute morgen hier bei euch zu sein, mit euch und für euch die heilige Messe zu feiern. Dieser Besuch in der Pfarrei »Santa Maria Consolatrice« – die erste römische Pfarrei, die ich besuche, seit mich der Herr zum Bischof von Rom berufen hat – ist für mich im wahrsten Sinn des Wortes eine Heimkehr. Ich erinnere mich sehr gut an den 15. Oktober 1977, als ich diese Kirche als meine Titelkirche in Besitz genommen habe. Der Pfarrer war damals Don Ennio Appignanesi, Kapläne Don Enrico Pomili und Don Franco Camaldo. Als Zeremoniar war mir Msgr. Piero Marini zugewiesen worden. Jetzt sind wir alle hier wieder versammelt! Das ist wirklich eine große Freude für mich.

Seit jener Zeit sind die Bande unter uns immer stärker und tiefer geworden. Sie verbinden uns im Herrn Jesus Christus, dessen eucharistisches Opfer ich oft in dieser Kirche gefeiert und dessen Sakramente ich gespendet habe. Sie sind Bande der Zuneigung und der Freundschaft, die wirklich mein Herz erwärmt haben und es auch heute erwärmen, Bande, die mich mit allen von euch vereint haben, besonders mit eurem Pfarrer und mit den anderen Priestern der Pfarrei. Diese Bande haben sich auch dann nicht gelockert, als ich Titelkardinal der suburbikarischen Diözese Velletri und Segni wurde, Bande, die dadurch, daß ich jetzt Bischof von Rom und euer Bischof bin, eine neue und noch tiefere Dimension erhalten haben.

Es freut mich ganz besonders, daß mein heutiger Besuch – wie Don Enrico bereits erwähnte – in dem Jahr stattfindet, in dem ihr das 60jährige Gründungsjubiläum eurer Pfarrei, das 50jährige Priesterjubiläum unseres lieben Pfarrers Msgr. Enrico Pomili und das 25jährige Bischofsjubiläum von Msgr. Ennio Appignanesi begeht, in einem Jahr also, in dem wir wahrlich besondere Gründe haben, dem Herrn zu danken.

Ich grüße jetzt Msgr. Enrico von Herzen und danke ihm für die sehr freundlichen Worte, die er an mich gerichtet hat. Ich grüße den Kardinalvikar Camillo Ruini, Kardinal Riccardo María Carles Gordó, der mein Nachfolger als Titelkardinal dieser Kirche ist, Kardinal Giovanni Canestri, euren geliebten ehemaligen Pfarrer, sowie den stellvertretenden Generalvikar und Bischof des östlichen Teils von Rom, Msgr. Luigi Moretti; euren ehemaligen Pfarrer Msgr. Ennio Appignanesi und den ehemaligen Kaplan eurer Pfarrei, Msgr. Massimo Giustetti, haben wir schon begrüßt. Ein herzlicher Gruß gilt den derzeitigen Kaplänen eurer Pfarrei sowie den Ordensfrauen von Santa Maria Consolatrice, die seit 1932 hier in diesem Stadtteil als wertvolle Mitarbeiterinnen der Pfarrei besonders den Armen und den Kindern Barmherzigkeit und Trost vermitteln. Mit denselben Empfindungen grüße ich jeden einzelnen von euch, die zur Pfarrei gehörigen Familien und alle Menschen, die auf verschiedene Weise in den Diensten der Pfarrei mitwirken.
* * * *


Wir wollen jetzt kurz das wunderschöne Evangelium des vierten Adventssonntags betrachten, das für mich zu den schönsten Abschnitten der Heiligen Schrift gehört. Und um es nicht zu lange zu machen, möchte ich nur über drei Worte dieses inhaltsreichen Evangeliums nachdenken.

Das erste Wort, das ich mit euch betrachten will, ist der Gruß des Engels an Maria. In der italienischen Übersetzung sagt der Engel: »Ich grüße dich, Maria!« Aber das ursprüngliche griechische Wort, »Kaire«, bedeutet eigentlich »Freue dich«, »Sei froh«. Und das ist die erste Überraschung, denn der Gruß unter den Juden war »Shalom«, »Frieden«, während der Gruß in der griechischen Welt »Kaire«, »Freue dich«, lautete. Es überrascht, daß der Engel, als er Mariens Haus betritt, mit dem Gruß der Griechen grüßt: »Kaire«, »Sei froh, freue dich«. Und als die Griechen 40 Jahre später dieses Evangelium lasen, fanden sie darin eine wichtige Botschaft: Sie konnten verstehen, daß mit dem Beginn des Neuen Testaments, auf den sich dieser Abschnitt des Lukas bezog, gleichzeitig eine Öffnung gegenüber der Völkerwelt stattgefunden hatte, gegenüber der Universalität des Volkes Gottes, das jetzt nicht mehr nur das jüdische Volk, sondern die Welt in ihrer Gesamtheit, alle Völker, umfaßte. Im griechischen Gruß des Engels wird die neue Universalität des Reiches des wahren Sohnes Davids offenbar.

Es muß jedoch sofort gesagt werden, daß die Worte des Engels die Wiederaufnahme einer prophetischen Verheißung aus dem Buch des Propheten Zefanja sind. Wir finden hier diesen Gruß fast im Wortlaut wieder. Der von Gott erleuchtete Prophet Zefanja spricht zu Israel: »Freu dich, Tochter Zion; der Herr ist mit dir und wird in dir Wohnung nehmen.« Wir wissen, daß Maria die Heiligen Schriften gut kannte. Ihr Magnifikat ist ein Webstück aus Fäden des Alten Testaments. Wir können daher sicher sein, daß die heilige Jungfrau sofort verstanden hat, daß es sich hier um Worte des Propheten Zefanja handelte, die dieser an Israel gerichtet hatte, an die »Tochter Zion«, die als Wohnung Gottes betrachtet wurde. Das Überraschende ist, daß diese an ganz Israel gerichteten Worte jetzt zu ihr persönlich gesagt werden, und das gibt Maria zu denken. Und da wird ihr klar, daß gerade sie die »Tochter Zion« ist, von der der Prophet gesprochen hat, daß der Herr demnach für sie einen besonderen Plan hat, daß sie dazu berufen ist, die wahre Wohnung Gottes zu sein, eine Wohnung, die nicht aus Stein, sondern aus lebendigem Fleisch, aus einem lebendigen Herzen besteht, daß Gott als seinen wahren Tempel gerade sie, die Jungfrau, haben will. Welch eine Nachricht! Und nun können wir verstehen, daß Maria beginnt, intensiv über die Bedeutung dieses Grußes nachzudenken.

Aber verweilen wir jetzt vor allem beim ersten Wort: »freue dich, sei froh.« Es ist das erste Wort, das im Neuen Testament als solchem erklingt, denn die Verkündigung der Geburt Johannes’ des Täufers an Zacharias durch den Engel ist ein Wort, das noch an der Schwelle zwischen den beiden Testamenten erklingt. Erst mit diesem Dialog, den der Engel Gabriel mit Maria führt, beginnt das Neue Testament wirklich. Wir können also sagen, daß das erste Wort des Neuen Testaments eine Einladung zur Freude ist: »Freue dich!« Das Neue Testament ist wirklich ein »Evangelium «, die »Gute Nachricht«, die uns Freude bringt. Gott ist uns nicht fern, unbekannt, rätselhaft oder vielleicht gefährlich. Gott ist uns nahe, so nahe, daß er zu einem Kind wird, und wir dürfen »du« zu diesem Gott sagen.

Vor allem die griechische Welt hat diese Neuigkeit wahrgenommen und diese Freude tief empfunden, denn es war ihren Bewohnern nicht klar, ob es einen guten oder bösen Gott oder einfach gar keinen Gott gibt. In der damaligen Religion war von vielen Gottheiten die Rede; daher fühlten sie sich von den verschiedensten Gottheiten umgeben, die zueinander im Gegensatz standen, so daß man befürchten mußte, daß die eine Gottheit gekränkt sein und sich rächen würde, wenn man etwas zugunsten einer anderen tat. Und so lebten sie in einer Welt der Angst, umgeben von gefährlichen Dämonen, ohne jemals zu wissen, wie man sich vor solchen gegensätzlichen Mächten retten könne. Es war eine Welt der Angst, eine dunkle Welt. Und jetzt hörten sie, daß gesagt wurde: »Freue dich, diese Dämonen sind ein Nichts, es gibt den wahren Gott, und dieser wahre Gott ist gut, er liebt uns, er kennt uns, er ist mit uns, so sehr mit uns, daß er sogar Fleisch geworden ist!« Das ist die große Freude, die das Christentum verkündet. Diesen Gott zu kennen, ist wirklich die »gute Nachricht«, ein Wort der Erlösung.

Vielleicht sind wir Katholiken, die wir es seit jeher wissen, nicht mehr überrascht, vielleicht nehmen wir diese befreiende Freude nicht mehr in ihrer Lebendigkeit wahr. Aber wenn wir uns die heutige Welt ansehen, in der Gott abwesend ist, müssen wir feststellen, daß sie ebenfalls von Ängsten und Unsicherheiten beherrscht wird: Ist es gut, ein Mensch zu sein oder nicht? Ist es gut zu leben oder nicht? Ist die Existenz wirklich etwas Gutes? Oder ist vielleicht alles negativ? Und die Menschen leben wirklich in einer dunklen Welt und brauchen Betäubungsmittel, um leben zu können. Deshalb ist das Wort: »Freu dich, denn Gott ist mit dir, er ist mit uns« ein Wort, das wirklich eine neue Zeit einleitet. Meine Lieben, wir müssen dieses befreiende Wort »Freue dich!« wieder im Glauben und aus tiefstem Herzen annehmen und verstehen.

Diese Freude, die man empfangen hat, kann man nicht für sich allein behalten; die Freude muß immer geteilt werden. Eine Freude muß mitgeteilt werden. Maria hat sich sogleich aufgemacht, um ihrer Verwandten Elisabeth ihre Freude mitzuteilen. Und seit sie in den Himmel aufgenommen wurde, schenkt sie in der ganzen Welt Freude, ist sie die große Trösterin geworden, unsere Mutter, die Freude, Zuversicht und Güte mitteilt und uns einlädt, ebenfalls Freude zu verbreiten. Das ist unsere wahre Aufgabe im Advent: den anderen Menschen die Freude zu bringen. Das wahre Weihnachtsgeschenk ist die Freude, nicht die teuren Geschenke, die Zeit und Geld kosten. Wir können diese Freude in ganz einfacher Weise mitteilen, durch ein Lächeln, durch eine nette Geste, durch ein wenig Hilfe, durch Vergebung. Wenn wir den anderen die Freude bringen, dann wird die Freude, die wir geschenkt haben, wieder zu uns zurückkehren. Versuchen wir vor allem, die tiefste Freude zu bringen, die Freude, Gott in Christus kennengelernt zu haben. Bitten wir darum, daß in unserem Leben diese Gegenwart der befreienden Freude Gottes sichtbar werde.

Das zweite Wort, das ich betrachten möchte, ist wieder ein Wort des Engels: »Fürchte dich nicht, Maria!« sagt er. Sie hatte wirklich allen Grund, sich zu fürchten, denn die Last der Welt auf den eigenen Schultern zu tragen, die Mutter des Königs der Welt zu sein, die Mutter des Sohnes Gottes zu sein, welch eine Last bedeutete das! Eine Last, die alle menschlichen Kräfte überstieg! Aber der Engel sagt: »Fürchte dich nicht! Ja, du trägst Gott, aber Gott trägt dich. Fürchte dich nicht!« Dieses Wort »Fürchte dich nicht!« ist sicher tief in Mariens Herz eingedrungen. Wir können uns vorstellen, daß die heilige Jungfrau später manchmal an dieses Wort zurückgedacht hat, es von neuem gehört hat. In dem Moment, als Simeon zu ihr sagt: »Dein Sohn wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird, dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen« (vgl. Lk 2,34–35), in diesem Moment, in dem die Furcht sie hätte überwältigen können, denkt Maria an die Worte des Engels und hört sie im Innern leise widerhallen: »Fürchte dich nicht, Gott trägt dich!« Und als während seines öffentlichen Lebens der Streit um Jesus entbrennt und viele sagen: »Er ist von Sinnen«, denkt sie wieder: »Fürchte dich nicht« und setzt ihren Weg fort. Als sie ihm schließlich auf dem Kreuzweg begegnet und dann auf Golgota unter dem Kreuz steht, hört sie, als alles verloren scheint, in ihrem Herzen wieder die Worte des Engels: »Fürchte dich nicht!« Und so steht sie mutig neben dem sterbenden Sohn und geht vom Glauben gestützt auf die Auferstehung, auf Pfingsten, auf die Gründung der neuen Familie der Kirche zu.

»Fürchte dich nicht!«: Maria sagt diese Worte auch zu uns. Ich habe bereits erwähnt, daß unsere Welt eine Welt der Angst ist: Angst vor Elend und Armut, Angst vor Krankheiten und Leiden, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor dem Tod. Wir haben in unserer Welt ein hochentwickeltes Versicherungssystem, und es ist gut, daß es dies gibt. Aber wir wissen, daß uns im Augenblick schweren Leidens, im Augenblick der äußersten Todesverlassenheit keine Versicherung helfen kann. Die einzige Versicherung, die in dem Moment einen Wert hat, ist die, die vom Herrn kommt, der auch zu uns spricht: »Fürchte dich nicht, ich bin immer bei dir.« Wir können fallen, aber am Ende fallen wir in Gottes Hände, und Gottes Hände sind gute Hände.

Das dritte Wort: Am Ende des Gesprächs antwortet Maria dem Engel: »Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe, wie du es gesagt hast.« Maria nimmt so die dritte Bitte des Vaterunsers vorweg: »Dein Wille geschehe!« Sie sagt ja zum mächtigen Willen Gottes, einem Willen, der scheinbar zu groß für einen Menschen ist: Maria sagt ja zu diesem göttlichen Willen, sie fügt sich diesem Willen, mit einem allumfassenden Ja stellt sie ihr ganzes Dasein in den Willen Gottes hinein und öffnet Gott so die Tür zur Welt. Adam und Eva hatten durch ihr Nein zum Willen Gottes diese Tür geschlossen. »Gottes Wille geschehe«: Maria lädt uns ein, ebenfalls dieses Ja auszusprechen, das manchmal so schwierig zu sein scheint. Wir sind versucht, unseren eigenen Willen vorzuziehen, aber sie sagt zu uns: »Hab Mut, sprich auch du: ›Dein Wille geschehe‹, denn dieser Wille ist gut.« Er mag uns anfangs wie eine beinahe unerträgliche Last erscheinen, wie ein Joch, das zu tragen unmöglich ist, aber in Wirklichkeit ist Gottes Wille keine Last, sondern der Wille Gottes verleiht uns Flügel, so daß wir hoch fliegen und es mit Maria auch selbst wagen können, Gott die Tür zu unserem Leben zu öffnen, die Türen zu dieser Welt, indem wir ja sagen zu seinem Willen, im Bewußtsein, daß dieser Wille das wahre Gut ist und uns zum wahren Glück führt. Bitten wir Maria, die Trösterin, unsere Mutter, die Mutter der Kirche, daß sie uns Mut gebe, dieses Ja auszusprechen, daß sie uns auch die Freude schenke, bei Gott zu sein, und daß sie uns zu seinem Sohn führe, zum wahren Leben. Amen.
13
Benedikt XVI Predigten 10