(De Officiis) - XV. Kapitel

  Zwei Punkte haben wir erledigt, und nicht ungelegen kam uns, wie wir glauben, diese Erörterung. Noch erübrigt eine dritte Frage dieser Art: Warum haben Sünder Überfluß an Schätzen und Reichtümern, zechen in einemfort sonder Kummer, sonder Trauer, während dagegen Gerechte Not leiden und den Verlust von Gatten und Kindern zu beklagen haben? Solchen sollte jene Parabel im Evangelium den Mund schließen. Der Reiche kleidete sich in Byssus und Purpur und hielt täglich üppige Gelage, der Arme aber sammelte, mit Geschwüren vollbedeckt, die Überbleibsel von dessen Tisch. Nach dem Tode beider aber befand sich der Arme, der Ruhe genießend, im Schöße Abrahams, der Reiche hingegen in Qualen (Lc 16,19 ff.). Geht daraus nicht klar hervor, daß einen nach dem Tode je nach Verdienst entweder Lohn oder Strafe erwartet?

  Und mit Recht harrt, weil Kampf Mühe erheischt, nach dem Kampfe des einen Sieg, des anderen Beschämung. Oder wird denn einem vor der Vollendung des Laufes die Palme gereicht, die Krone verliehen? Mit Recht versichert Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Im übrigen ist mir die Krone der Gerechtigkeit hinterlegt, die mir der Herr an jenem Tag geben wird, der gerechte Richter, nicht allein aber mir, sondern auch denen, die seine Ankunft lieben“ 2Tm 4,7 f.). ,,An jenem Tage“, heißt es, wird er sie geben, nicht schon hier. Hier aber kämpfte er als ein guter Streiter in Mühen, in Gefahren, in Schiffbrüchen; denn er wußte, daß wir durch viele Trübsale ins Reich Gottes eingehen müssen (Vgl. Ac 14,21). Keiner kann sonach den Preis empfangen, der nicht rechtmäßig gekämpft hat. Und es gibt keinen ruhmvollen Sieg ohne mühevollen Kampf.


XVI. Kapitel

Von der göttlichen Vorsehung: Die Siegeskrone winkt nur dem Tugendstreiter (59), der Gottlose begnügt sich mit der Rolle des müßigen Zuschauers (60). Seiner harrt die Strafe (61). Mit zeitlichen Gütern gesegnet, soll er dereinst keine Entschuldigung haben (62—64).

  Ist der nicht ungerecht, der den Preis gibt, bevor der Kampf beendet ist? Daher der Ausspruch des Herrn im Evangelium: „Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!“ (Mt 5,3) Er sprach nicht: selig die Reichen, sondern: die Armen. So fängt also nach göttlichem Urteil die Seligkeit da an, wo menschliche Meinung nur Elend erblickt. „Selig die Hungernden; denn sie werden gesättigt werden! Selig die Trauernden; denn sie werden Trost finden! Selig die Barmherzigen; denn ihrer wird auch Gott sich erbarmen! Selig, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen! Selig, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung leiden; denn ihrer ist das Himmelreich! Selig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse wider euch reden werden um der Gerechtigkeit willen! Freut euch und frohlocket; denn euer Lohn ist groß im Himmel!“ (Ebd. 5, 5 ff.) Einen zukünftigen, nicht gegenwärtigen Lohn versprach er; im Himmel, nicht auf der Erde ist er auszuzahlen. Was forderst du hier, was dir an einem anderen Ort gebührt? Was verlangst du vorzeitig die Krone, bevor du siegst? Was wünschst du den Staub abzuschütteln, was auszuruhen, was verlangst du nach Speise, bevor die Rennbahn durchlaufen ist? Noch sieht das Volk zu, noch stehen die Wettkämpfer auf dem Kampfplatz: und du verlangst bereits nach Muße?

  Doch vielleicht möchtest du einwenden: Warum geben sich die Gottlosen dem Vergnügen, warum der Ausgelassenheit hin? Warum teilen nicht auch sie die Mühe und Arbeit mit mir? Weil die, welche sich nicht um die Siegeskrone bewerben, auch nicht zur Kampfesmühe sich angehalten fühlen. Wer nicht in die Rennbahn tritt, salbt sich nicht mit Öl, beschmutzt sich nicht mit Staub. Kämpfer, deren Ruhm harren soll, erwartet Ungemach. Salbenduftende Weichlinge pflegen zuzuschauen, nicht zu kämpfen, nicht Sonne, Hitze, Staub und Regen zu ertragen. Wohl mag auch an sie die Aufforderung der Kämpfenden ergehen: Kommt, teilt die Kampfesmühe mit uns! Doch als Zuschauer werden sie antworten: Wir spielen hier inzwischen eure Richter; ihr aber werdet euch auch ohne uns, wenn ihr siegt, den Ruhm sichern.

  Solche Leute nun, die ihr Sinnen und Trachten auf Genuß, auf Völlerei, Erpressung, Erwerb und Ehren richten, sind mehr Zuschauer denn Streiter. Sie ziehen Vorteil aus der Arbeit, keine Frucht aus der Tugend. Sie pflegen des Müßigganges, scharren in List und Ungerechtigkeit Haufen von Reichtümern zusammen. Doch wenn auch spät: sie werden für ihre Schlechtigkeit Strafe erleiden. Ihre Ruhe ist in der Hölle, die deinige aber im Himmel; ihre Behausung ist im Grabe, die deinige im Paradiese. Darum der schöne Ausspruch Jobs: sie wachen im Grabe (Jb 21,32), weil sie des Schlafes der Ruhe nicht genießen können, den jener schlief, der auferstanden ist.

  Sei also nicht unverständig wie ein Kind, rede nicht wie ein Kind, denke nicht wie ein Kind, maße dir nicht wie ein Kind etwas an, was einer späteren Zeit vorbehalten ist! Die Krone gebührt den Vollendeten. Mache dich gefaßt, daß die Vollendung kommt! Dann magst du nicht im rätselhaften Bilde, sondern von Angesicht zu Angesicht die Gestalt der enthüllten Wahrheit selbst erkennen (Vgl. 1Co 13,12). Dann wird offenbar werden, warum der Ungerechte und Erpresser fremden Gutes reich, warum ein anderer mächtig, warum ein dritter mit zahlreichen Kindern gesegnet, wieder ein anderer mit Ehren bedacht war.

  Vielleicht soll zum Erpresser einmal gesprochen werden: Du warst reich, warum raubtest du fremdes Gut? Nicht Not trieb dich, nicht Armut zwang dich hierzu. Habe ich dich nicht deshalb reich werden lassen, um dir keine Ausrede zu ermöglichen? Ebenso soll zum Mächtigen gesprochen werden: Warum standst du den Witwen, ferner den Waisen nicht bei, da sie Unrecht litten? Warst du zu schwach hierzu? Warst du außerstande, Hilfe zu leisten? Darum habe ich dich mächtig gemacht, nicht daß du Gewalttat übest, sondern verhütest. Galt dir nicht das Schriftwort: „Rette den, dem Unrecht widerfährt“? (Si 4,9)Galt dir nicht das Schriftwort: „Befreiet den Armen und Notleidenden aus der Hand des Sünders“? (Ps 81,4) Desgleichen soll zum Reichen gesprochen werden: Mit Kindern und Ehren habe ich dich reich bedacht, leibliche Gesundheit dir geschenkt: warum befolgtest du meine Gebote nicht? Mein Diener, was habe ich dir getan oder womit dich betrübt? Habe nicht ich dir die Kinder gegeben, die Ehren verliehen, die Gesundheit geschenkt? Warum hast du mich verleugnet? Warum glaubtest du, dein Tun dringe nicht zu meinem Wissen? Warum behieltest du meine Gaben, hieltest du nicht meine Gebote?

  Am Verräter Judas mag man denn dies erschließen. Er war zum Apostel unter den Zwölfen erkoren und erhielt die Geldmünzen anvertraut, die er an die Armen verteilen sollte. Es sollte nicht scheinen, als habe er den Herrn verraten, weil er nicht genugsam geehrt, oder weil er in Not war. Gerade deshalb gab sie ihm der Herr, daß er an ihm gerechtfertigt würde. Nicht aus Erbitterung über ein Unrecht, sondern aus Mißbrauch seines Gnadenamtes machte er sich der um so größeren Beleidigung schuldig.


XVII. Kapitel

Von den Pflichten der heranwachsenden Jugend (65). Biblische Vorbilder (66).

  Da nun hinlänglich klar ist, daß einerseits der Ungerechtigkeit Strafe, andrerseits der Tugend Lohn harrt, wollen wir an die Besprechung jener Pflichten herantreten, auf die wir von Jugend auf unser Augenmerk richten sollen[29], damit sie zugleich mit den fortschreitenden Jahren an Wachstum zunehmen. Braven Jünglingen nun geziemt Gottesfurcht, Ehrerbietung gegen die Eltern, Ehrfurcht vor dem Alter, Wahrung der Keuschheit, unverdrossene Übung der Demut, Liebe zur Sanftmut und zur Sittsamkeit, welche das jüngere Alter zieren. Wie nämlich für das Alter der Ernst und für die erwachsene Jugend der Frohsinn, so bildet für die heranwachsende Jugend die Sittsamkeit gleichsam die natürliche Mitgift, die sie empfiehlt.

  Isaak war schon als Sprößling Abrahams gottesfürchtig und von solcher Ehrerbietung gegen den Vater, daß er sich wider des Vaters Willen nicht einmal dem Tod widersetzte (Gn 22,6 ff.). Auch Joseph war, obgleich es ihm geträumt hatte, daß die Sonne und der Mond und die Sterne ihm huldigten, voll Dienstbeflissenheit gegen den Vater, ferner keusch, so daß er nur ehrbare Rede hören wollte, demütig bis zum Sklavendienst, sittsam bis zur Flucht, geduldig bis zur Kerkerhaft, zur Verzeihung des Unrechts bereit bis zur Belohnung desselben. So groß war seine Schamhaftigkeit, daß er, von einem Weibe ergriffen, lieber fliehend sein Kleid in deren Händen zurücklassen als seine Schamhaftigkeit preisgeben wollte (Gn 39,37). Auch Moses und Jeremias, vom Herrn zur Verkündigung der göttlichen Aussprüche an das Volk erwählt, entschuldigten sich in heiliger Scheu über das Unterfangen, zu dem sie kraft der Gnade ermächtigt waren (Ex 4,10 Ex 4,13 Ex 1,6).


XVIII. Kapitel

Von der Sittsamkeit: Sie bekundet sich im Reden (67), noch mehr im Schweigen (68). Sie ist die Genossin der Keuschheit (69), macht das Gebet Gott wohlgefällig (70), offenbart sich in Haltung und Gang (71—75). Von ihrer Verletzung in Wort (76) und Blick (77). Die Schamhaftigkeit gegen sich selbst ein Gebot der Natur, der Sitte, der Hl. Schrift (78—80).

  Schön ist die Tugend der Sittsamkeit und hold ihr Reiz. Nicht nur im Handeln, sondern selbst im Reden tritt sie zutage: man überschreite nicht das Maß beim Sprechen; die Rede lasse nichts Unziemliches verlauten! Im Worte spiegelt sich ja so häufig das Bild des Geistes. Sogar den Ton der Stimme wägt die Eingezogenheit ab, daß nicht eine zu kräftige Stimme das Ohr des Hörers verletze. So besteht schon beim Singen und überhaupt bei jedem Gebrauch der Sprache die erste Schulung in bescheidener Zurückhaltung. Erst nach und nach soll einer zu psallieren oder zu singen oder endlich zu sprechen anfangen, damit die bescheidenen Anfänge vielversprechend für den Fortschritt werden.

  Gerade das Stillschweigen, die Mußezeit der übrigen Tugenden, ist das Wichtigste in der Sittsamkeit. Dasselbe gilt denn auch, wenn kindisches Unvermögen oder aber Stolz dahinter vermutet wird, für eine Schande, wenn Sittsamkeit, für etwas Lobenswertes. Susanna schwieg in der Gefahr (Vgl. Da 13,35); sie erachtete den Verlust der Schamhaftigkeit für schlimmer als den des Lebens und glaubte nicht ihre Reinheit auf das Spiel setzen zu sollen, um so ihr Leben zu wahren. Nur mit Gott sprach sie (Ebd. 42 f.), mit dem sie sich in keuscher Sittsamkeit aussprechen konnte. Sie vermied es, den Männern ins Gesicht zu sehen; denn auch in den Augen verrät sich die Schamhaftigkeit, so daß eine Frau weder Männer anblicken noch davon sich anblicken lassen will.

  Niemand aber glaube, dieses Lob gebühre allein nur der Keuschheit. Denn die Keuschheit hat zur Gefährtin die Sittsamkeit, in deren Gefolge die Keuschheit selbst sicherer ist. Eine gute Gefährtin und Führerin der Keuschheit ist die Schamhaftigkeit. Indem sie ihren Schild wehrend gegen die ersten Regungen der Gefahr hält, läßt sie keine Verletzung der Keuschheit zu. Sie vor allem nimmt die Schriftleser schon auf den ersten Blick für die Mutter des Herrn ein und läßt als vollgültige Zeugin dieselbe als würdig für die Erwählung zu einem solchen Berufe erscheinen. Sie weilt im Gemache, weilt allein, sie schweigt auf des Engels Gruß und ist bestürzt bei dessen Eintritt, weil der Blick der Jungfrau auf die ungewohnte Erscheinung einer Mannesperson in Verwirrung gerät. Obschon demütig, erwiderte sie doch aus Sittsamkeit den Gruß nicht und antwortete erst dann, als sie von ihrer Berufung zur Mutter des Herrn vernahm, um die Art des Vollzuges kennen zu lernen, nicht um die Anrede zu erwidern (Vgl. Luk. Lc 1,28 ff.).

  Auch bei unserem Gebete zieht die Eingezogenheit viel Wohlgefallen nach sich und erwirbt uns viel Gnade bei unserem Gott. Gereichte nicht sie dem Zöllner, der nicht einmal seine Augen zum Himmel aufzuschlagen wagte, zur Auszeichnung und Empfehlung. Er geht nach dem Urteil des Herrn gerechtfertigter weg als der Pharisäer, den seine Anmaßung so widerlich machte (Vgl. Luk. Lc 18,10 ff.). So laßt uns denn, wie Petrus mahnt, „in der Unversehrtheit eines stillen und bescheidenen Geistes beten, der vor Gott reich ist!“ (1P 3,4) Etwas Großes muß es also um die Bescheidenheit sein, die sogar, des eigenen Rechtes lieber entsagend, sich nichts anmaßt, nichts aneignet, und mehr auf sich selbst sich beschränkend „vor Gott reich ist“, vor dem niemand reich ist (Vgl. Lc 12,21). Reich ist die Bescheidenheit, weil sie Gottes Anteil ist. Auch Paulus gebot, das Gebet in Eingezogenheit und Nüchternheit zu verrichten[30]. Diese Eingezogenheit wünscht er an erster Stelle und gleichsam als die Vorläuferin des nachfolgenden Gebetes, daß es nicht eines Sünders ruhmrediges Gebet werde, sondern ein Gebet, das gleichsam in die Farbe errötender Scham gehüllt, um so reichlichere Gnade verdient, je größere Beschämung es beim Gedanken an die Sünde auslöst.

  Ebenso ist auch in Bewegung, Haltung und Gang Sittsamkeit zu beobachten[31]. Denn in der Haltung des Körpers verrät sich der Zustand des Geistes. Danach hält man den „verborgenen Menschen unseres Herzens“ (1P 3,4)entweder für mehr leichtfertig oder prahlerisch oder ungestüm, oder aber für mehr ernst, beständig, lauter und reif. Durch die Körperbewegung spricht also gleichsam die Stimme des Geistes.

  Ihr erinnert euch, meine Söhne, an einen Freund, der, obschon er sich durch fleißige Dienstverrichtungen zu empfehlen schien, nur allein darum von mir nicht in den Klerus aufgenommen wurde, weil seine Haltung so unziemlich war; wie ich ebenso einem anderen, als ich ihn unter dem Klerus entdeckt hatte, verbot, je einmal an mir vorüberzugehen, weil sein kecker Gang mein Auge verletzte. Und zwar sagte ich ihm das, als er nach einer Verfehlung von neuem in sein Amt eingesetzt wurde. Diese einzige Ausstellung machte ich, und das Urteil trog nicht; denn beide Kleriker fielen von der Kirche ab. Sie entpuppten sich in ihrer inneren Nichtsnutzigkeit als das, als was sie bereits das äußere Auftreten verriet. Der eine nämlich verleugnete in der Zeit der arianischen Verfolgung den Glauben; der andere sagte sich aus Geldgier von uns los, um nicht dem priesterlichen Gerichte zu verfallen. Ihr Gang spiegelte das Bild der Leichtfertigkeit, sozusagen das Bild von herumziehenden Possenreißern.

  Es gibt auch solche, die zu gemächlich einhergehen[32], dabei wie Gaukler sich gebärden[33] und gleichsam die Tragbahren auf den Umzügen[34] und die Bewegungen der wackelnden Statuen nachahmen. Sie scheinen bei jedem Schritt, den sie tun, eine Art Rhythmus einhalten zu wollen.

  Auch das Laufen halte ich nicht für anständig[35], außer wenn irgendeine begründete Gefahr oder gerechte Notwendigkeit es erfordert. Wir sehen so manchmal Leute außer Atem dahineilen und das Gesicht verzerren. Fehlt ihnen der Grund zu einer notwendigen Eile, liegt darin ein Mangel, an dem man sich mit Recht stößt. Aber nicht von denen rede ich, für die sich mit Grund ein seltener Anlaß zur Eile ergibt, sondern denen ständige und fortwährende Hast zur Natur geworden ist Ich kann weder an jenen ersteren es billigen, wenn sie wie Götzenbilder auftreten, noch an letzteren, wenn sie sich überstürzen, als hätte man sie fortgejagt.

  Es gibt auch einen löblichen Gang. Er muß in der äußeren Haltung Würde und gemessenen Ernst und ruhigen Schritt wahren, doch so, daß Absichtlichkeit und Gesuchtheit unterbleibt, die Bewegung vielmehr natürlich und schlicht ist[36]; denn kein Falsch gefällt, natürlich sei die Bewegung! Haftet wirklich der Natur ein Fehler an, mag natürliche Geschicklichkeit ihn beseitigen; Künstelei sei ausgeschlossen, nicht Abhilfe.

  Wenn schon diese Dinge von einem höheren Gesichtspunkt sich ins Auge fassen lassen, wieviel mehr hat man sich zu hüten, daß dem Munde nichts Schändliches entschlüpft? Das wäre eine schwere Verunreinigung des Menschen. Denn nicht die Speise verunreinigt, sondern ungerechte Schmährede, unlautere Worte (Vgl. Matth. Mt 15,11 Matth. Mt 15,17). Das gereicht schon dem gewöhnlichen Mann zur Schande. In unserem Amte aber könnte kein unanständiges Wort fallen, das nicht die Sittsamkeit verletzen würde. Und wir dürfen nicht bloß selbst nichts Unziemliches sprechen, sondern derartigen Worten auch nicht unser Ohr leihen, wie Joseph sein Kleid zurückließ und floh, um nichts zu hören, was sich für seine Schamhaftigkeit nicht schickte (Gn 39,12). Wer nämlich vergnüglich zuhört, reizt den anderen zum Reden.

  Schon der Gedanke an etwas Schändliches macht tief erröten. Welchen Schauder aber löst nicht der Anblick aus, wenn einem zufällig etwas Derartiges begegnet![37] Was nun an anderen mißfällt, kann etwa das an sich selbst Gefallen erwecken? Belehrt uns nicht die Natur selbst darüber? Wohl ließ sie sämtlichen Körperteilen an uns eine volle Entwicklung angedeihen, um sowohl den Bedürfnissen Rechnung zu tragen, wie für zierliche Anmut zu sorgen. Jene indes, die einen lieblichen Anblick gewähren, in denen wie auf ragender Burg der Gipfel der Schönheit, die Lieblichkeit der Gestalt und der Reiz des Antlitzes aufleuchten, die rascher zu praktischem Gebrauch bereitstehen sollten, ließ sie frei und bloß. Jenen hingegen, die nur einem natürlichen Bedürfnisse dienen sollten, wies sie teils, um nicht einen abstoßenden Anblick zu gewähren, am Leibe selbst eine abgelegene und verborgene Stelle an, teils gab sie Anleitung und Anregung, dieselben zu verhüllen[38].

  Ist also nicht die Natur selbst die Lehrmeisterin der Sittsamkeit? Nach ihrem Vorgang hat menschliche Wohlanständigkeit, deren Name (modestia), wie ich glaube, vom Maß (modus) des Wissens um das Schickliche herkommt, das Verborgene, das sie an diesem unseren Körperbau vorfand, verhüllt und bedeckt[39], wie jene Türe, die auf Geheiß des gerechten Noë in der Arche anzubringen war, die entweder ein Sinnbild der Kirche oder unseres Leibes war (Gn 6,16). Durch sie sollten die Speisereste abgesondert werden. So sehr war also der Schöpfer der Natur auf unsere Sittsamkeit bedacht; so sehr schätzte er das Schickliche und Ehrbare an unserem Leibe, daß er gleichsam unsere Kanalleitungen und -ausgänge an die Rückseite versetzte und unserem Anblick entzog, daß nicht die Entleerung des Bauches den Blick des Auges verletze. Der Apostel knüpft hieran die schöne Erwägung: „Die Glieder des Leibes, welche die schwächeren zu sein scheinen, sind die notwendigen; und die als minder edle Glieder des Leibes gelten, diese umgeben wir mit reichlicherer Ehre; und die unanständigen an uns erfahren die reichlichere Wohlanständigkeit“ (1Co 12,22 f.). In Nachahmung der Natur nämlich steigerte noch beflissene Sitte den Anstand. An einer anderen Stelle legten wir auch noch den höheren Sinn jener Schriftstelle aus[40]. Wir verbergen aber nicht bloß die Glieder, die wir als solche empfangen haben, vor unseren Augen, sondern halten es auch für unanständig, ihre Bezeichnung und ihren Gebrauch mit Namen anzuführen[41].

  So errötet denn auch die Schamhaftigkeit vor einer zufälligen Entblößung dieser Glieder; absichtliche Entblößung gilt für unschamhaft. Noës Sohn Cham zog sich eben darum Ungnade zu, weil er beim Anblick des entblößten Vaters lachte; die Söhne aber, die den Vater zudeckten, empfingen das Gnadengeschenk des Segens (Gn 9,22 f.). Es war daher auch alte Sitte sowohl in der Stadt Rom wie in den meisten sonstigen Städten, daß erwachsene Söhne nicht gemeinsam mit ihren Vätern, oder Schwiegersöhne mit ihren Schwiegervätern baden durften[42], damit die väterliche Autorität und Achtung nicht darunter litte. Übrigens bedeckt man sich zumeist auch im Bade nach Tunlichkeit, damit nicht einmal hier, wo der ganze Körper entblößt ist, ein solcher Teil unbedeckt bleibe.

  Auch die Priester erhielten nach alter Sitte Beinkleider, wie wir es im Buche Exodus lesen. So erging an Moses das Wort vom Herrn: „Und du sollst ihnen linnene Beinkleider machen lassen, um die Blöße ihrer Scham zu bedecken. Von den Lenden bis zu den Schenkeln sollen sie reichen. Und Aaron und seine Söhne sollen sie tragen, so oft sie in das Zelt des Zeugnisses eintreten und so oft sie zum Altare hintreten werden zu opfern; und sie sollen sich nicht mit Sünde bedecken, um nicht zu sterben“ (Ex 28,42 f.). Manche von uns sollen das auch jetzt noch beobachten; meist legt man es aber im geistigen Sinn aus und glaubt, der Ausspruch beziehe sich auf die Behütung der Schamhaftigkeit und die Wahrung der Keuschheit.


XIX. Kapitel

Von der Sittsamkeit: Sie schickt sich für jedes Alter, am meisten für das jugendliche (81—82). Ihr Verhältnis zur leiblichen Schönheit (83). Sie muß in Stimme und Haltung etwas Männliches wahren, von Weichlichkeit und Derbheit sich gleich weit entfernt halten (84).

  Es hat mir Vergnügen gemacht, etwas länger bei den Funktionen der Sittsamkeit zu verweilen, weil ich zu euch redete, die ihr entweder ihr Gutes aus eigener Erfahrung kennt, oder von ihrem Verluste nichts wißt. Sie ist jedem Alter, jeder Person, Zeit und Örtlichkeit angemessen, schickt sich aber am meisten für die Heranwachsenden und Jugendlichen.

  Bei jedem Alter ist darauf zu achten, daß man tut, was sich ziemt, und daß die Lebensordnung im Einklang und in Übereinstimmung mit sich selbst bleibt. Daher hält Tullius dafür, es müsse auch im Schicklichen Ordnung gewahrt werden, und behauptet, es liege „in der Anmut, Anordnung und Zierlichkeit, die einer Handlung entsprechen“, Dingen, die sich mit Worten, wie er beifügt, schwerlich darlegen lassen; es genüge darum, daß man sie fühle[43].

  Warum er gerade die leibliche Schönheit anführte, verstehe ich nicht; übrigens gilt sein Lob auch den Kräften des Leibes[44]. Wir verlegen jedenfalls die Tugend nicht in die Körperschönheit. Wir schließen freilich deren Anmut nicht aus, weil die Sittsamkeit gerade auch das Antlitz mit Schamröte zu bedecken und reizender zu machen pflegt. Wie nämlich des Künstlers Schaffen in der Regel an einem geschmeidigeren Stoff besser hervortritt, so leuchtet auch die Sittsamkeit gerade aus der leiblichen Anmut mit erhöhtem Glanze hervor. Doch soll auch die leibliche Schönheit nichts Gekünsteltes, sondern etwas Natürliches sein: einfach, eher vernachlässigt denn gesucht, nicht in kostbare und glänzende Gewänder gehüllt, um ihr nachzuhelfen, sondern in gewöhnliche, so daß der Ehrbarkeit oder dem Bedürfnis kein Eintrag geschieht, die natürliche Anmut ohne künstliche Zutat bleibt.

  Selbst die Stimme soll nicht weichlich, nicht gebrochen sein, nicht weibisch klingen, wie es sich viele unter dem Schein des Würdevollen angewöhnt haben; sie soll vielmehr in Ausdruck, Modulierung und Kraft etwas Männliches wahren. Das heißt eine schöne Lebensweise einhalten: sich so geben, wie es seinem Geschlecht und seiner Person ziemt. Das ist die beste Handlungsweise, das die rechte Zier für jedes Tun. Doch wie ich nichts Weichliches und Schwächliches im Ton der Stimme und in der Körperhaltung billigen kann, so auch nichts Rohes und Bäuerisches[45]. Ahmen wir die Natur nach! Ihr Bild spiegelt die Norm der Zucht, die Norm der Ehrbarkeit wider.


XX. Kapitel

Von der Sittsamkeit: Sie flieht die Gesellschaft der Genußmenschen (85). Kleriker sollen Gastmähler der Laien (86), Besuche bei Witwen und Jungfrauen meiden (87), ihre freie Zeit lieber auf Schriftlesung und fromme Übungen verwenden (88—89).

  Die Sittsamkeit hat freilich auch ihre Klippen, nicht solche, die sie selbst mit sich führt, sondern in die sie hineingerät, wenn wir in die Gesellschaft ausschweifender Menschen fallen, die unter dem Schein der Lustbarkeit Gift in die Guten träufeln. Sind sie ständig um einen, insbesonders bei Mahl, Spiel und Scherz, entnerven sie den männlichen Ernst. Hüten wir uns darum, daß wir nicht, während wir geistige Abspannung suchen, die ganze Harmonie, sozusagen den Einklang unseres guten Handels und Wandels zerstören! Denn Gewohnheit verkehrt rasch die Natur.

  Es entspricht sonach, wie ich glaube, einem klugen kirchlichen Wandel, wie insbesonders dem Dienste von Kirchendienern, daß ihr die Gastmähler von Laien meidet, sei es um selbst Gastfreundschaft gegen Fremde zu üben, sei es um durch solche Vorsicht nicht schlimmer Nachrede Raum zu geben. Machen doch auch Gastmähler von Laien ihre Ansprüche. Sodann verraten sie auch Genußsucht. Oft laufen auch Possen mitunter, welche die Welt und ihre Lustbarkeiten zum Gegenstand haben. Die Ohren kann man nicht schließen, sie verbieten gälte für Anmaßung. Auch mehr Becher, als man wünscht, laufen unter. Besser ist es, einmal im eigenen, als wiederholt im fremden Hause Entschuldigung stammeln zu müssen und seinerseits nüchtern aufstehen zu können. Gleichwohl dürfte man wegen der Ausgelassenheit anderer deine Beteiligung noch nicht verurteilen.

  Besuche jüngerer Kirchendiener in den Häusern von Witwen und Jungfrauen sind unstatthaft, außer zum Zwecke einer Visitation, und auch da nur im Beisein von Älteren, d. i. des Bischofs oder, wenn ein wichtigerer (Verhinderungs-) Grund vorhanden ist, von Presbytern. Was tut es not, Weltleuten Anlaß zu übler Nachrede zu geben? Was brauchen jene häufigen Besuche auch noch den Charakter von Amtsbesuchen annehmen? Wie, wenn eine von jenen Personen etwa fallen sollte? Was willst du das Odiose fremden Falles auf dich nehmen? Wie viele, selbst starke Männer hat die verlockende Gelegenheit schon verführt! Wie viele haben zwar nicht der Verirrung, aber dem Verdacht Raum gegeben!

  Warum willst du nicht die Zeit, die dir vom Kirchendienst erübrigt, auf die (Schrift-) Lesung verwenden? Warum nicht Christus besuchen, mit Christus sprechen, Christus hören? Mit ihm sprechen wir, wenn wir beten; ihn hören wir, wenn wir die göttlichen Aussprüche lesen. Was haben wir in fremden Häusern zu suchen? Ein Haus gibt es, das alle aufnimmt. Jene sollen lieber zu uns kommen, wenn sie uns benötigen. Was haben wir mit Possen zu tun? Den Altardienst Christi, nicht Menschendienst haben wir zur Verrichtung übernommen.

  Demütig müssen wir sein, milde, sanft, ernst, geduldig, in allem maßvoll, daß weder der stumme Blick, noch die Rede irgendeine Schwäche an unserem sittlichen Verhalten verrate.


XXI. Kapitel

Vom Zorn: Er ist vor der Aufwallung zu verhüten, oder doch in der Aufwallung zu dämpfen, nach der Aufwallung zu überwinden (90). Das vorbildliche Beispiel des Patriarchen Jakob (91—92) und der Kinder (93). Vor der Philosophie hat längst die Hl. Schrift die einschlägigen Grundsätze ausgesprochen (94—97).

  Man hüte sich vor Zorn! Oder kann man ihm nicht vorbeugen, dämpfe man ihn! Denn die Erbitterung ist eine schlimme Verführerin zur Sünde. Sie verwirrt die Seele, so daß sie vernünftiger Überlegung nicht mehr fähig ist. Das erste nun ist, daß einem womöglich durch eine Art Gewöhnung, durch Herzensbildung und Vorsatz die Ruhe im Verhalten zur zweiten Natur werde. Weil sodann die Zornesregung zumeist so tief dem natürlichen Charakter anhaftet, daß sie sich nicht (von vornherein) ausrotten oder verhüten läßt, unterdrücke man sie durch die Vernunft, wenn man sie voraussehen kann. Oder aber man überlege, wenn die Seele von Erbitterung erfaßt wurde, bevor sich durch Überlegung dagegen vorbauen und vorsehen ließ, wie man die seelische Erregung überwinden, den Jähzorn dämpfen könne. Widersteh dem Zorn, wenn du es kannst; weich ihm, wenn du es nicht kannst! Denn es steht geschrieben: „Gebt Raum dem Zorn!“ (Rm 12,19).

  Jakob ging dem zürnenden Bruder aus dem Weg und wollte lieber, von Rebekka, d. i. von der Geduld[46] beraten, in der Ferne und Fremde weilen, als den Unwillen des Bruders reizen, und erst dann zurückkehren, als er den Bruder besänftigt glaubte (Gn 27,42 ff.). So fand er denn auch so große Gnade bei Gott. Mit welchen Liebenswürdigkeiten sodann, mit welch großen Geschenken machte er sich den Bruder selbst geneigt, so daß dieser nicht mehr des vorweggenommenen Segens gedachte, sondern nur der geleisteten Genugtuung eingedenk war! (Ebd. 32, 13 ff.; 33, 3 ff.)

  Wenn also Zorn dein Gemüt überrascht und überrumpelt und in dir aufsteigt, weich nicht von deinem Standpunkt! Dein Standpunkt ist die Geduld, dein Standpunkt ist die Weisheit, dein Standpunkt ist die Vernunft, dein Standpunkt ist die Dämpfung des Unwillens. Oder regt dich die Frechheit auf, mit der einer antwortet, oder reizt dich seine Verkehrtheit zum Unwillen, bezähme deine Zunge, falls du den Sinn nicht besänftigen kannst! Denn so steht geschrieben: „Halt deine Zunge und deine Lippen im Zaum, daß sie nicht Trug reden!“ (Ps 33,14) Ferner: „Suche Frieden und geh ihm nach!“ (Ebd. 15.) Betrachte jene Friedfertigkeit des heiligen Jakob, mit der du allererst deinen Sinn besänftigen solltest! Vermagst du das nicht, so lege deiner Zunge Zügel an! Sodann unterlaß die Bemühung um die Wiederversöhnung nicht! Die weltlichen Redner haben diese Grundsätze von den Unsrigen entlehnt und in ihren Schriften niedergelegt. Doch der Vorzug dieser Auffassung gebührt dem, der sie zuerst vorgetragen hat.

  So laßt uns also den Zorn meiden, oder aber dämpfen, daß er nicht in unserem lobenswerten Betragen eine Ausnahme bilde, in unserem sündigen Verhalten die Schuld mehre! Nichts Geringes ist es, den Zorn zu besänftigen; nichts Geringeres, als sich überhaupt nicht aufzuregen. Ersteres ist unser Verdienst, letzteres glückliche Naturanlage. Bei Kindern nehmen sich denn auch Zornesregungen harmlos aus; sie sind mehr drollig denn widerlich. Und kommen auch Kinder unter sich rasch in Aufregung, lassen sie sich doch rasch besänftigen und begegnen sich wiederum in um so größerer Freundlichkeit. Sie wissen nichts von hinterlistigem und ränkevollem Benehmen. Verachtet diese Kinder nicht! Der Herr sagt von ihnen: „Wenn ihr euch nicht bekehrt und werdet wie dieses Kind, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“ (Mt 18,3). Der Herr selbst, d. i. Gottes Kraft hat gleich einem Kinde, da er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwidert; da er geschlagen wurde, den Schlag nicht zurückversetzt (1P 2,23). Mache den Vergleich mit dir! Halte gleich einem Kinde nicht am Unrecht fest! Sei nicht bösartig! Alles geschehe deinerseits in Unschuld! Schaue nicht auf das, was dir von anderen vergolten wird! Behaupte deinen Standpunkt und wahre die Aufrichtigkeit und Lauterkeit deines Herzens! Erwidere dem Zornigen nicht auf seinen Zornesausbruch, noch dem Unverständigen auf seinen Unverstand! Rasch löst Schuld wiederum Schuld aus. Wenn man den Stein am Steine reibt, schlägt nicht Feuer hervor?

  Die Heiden erzählen, wie sie alles mit Worten aufzubauschen pflegen, von einem Ausspruch des Philosophen Archytas aus Tarent[47], den er an seinen Verwalter richtete: „Du Unseliger, wie würde ich dich schlagen, wenn ich nicht im Zorn wäre!“ Doch schon David hatte die im Unwillen erhobene bewaffnete Rechte sinken lassen (1R 25,13 ff.). Und wieviel mehr besagt eine Schmähung nicht erwidern, als keine Strafe verhängen? Und zwar hatte Abigail durch bloße Bitten den wider Nabal zur Rache bereitstehenden Krieger davon abgewendet (Ebd. 23 ff.). Daraus sehen wir, daß wir selbst schon dringlichen Bitten nicht bloß nachgeben, sondern sogar darüber uns freuen sollten. So sehr aber war David darüber erfreut, daß er die Fürbittende segnete, weil er durch sie von Rachegelüsten abgewendet wurde (Ebd. 33.).

  Schon hatte er über seine Feinde geklagt: „Denn Missetat wälzten sie auf mich, und im Zorn fielen sie mir lästig“ (Ps 54,4). Hören wir nun, was der Zornerregte gesprochen: „Wer gibt mir Flügel gleich der Taube, und ich will fliegen und Ruhe finden“ (Ebd. 54, 7.). Sie reizten ihn zum Zorne, er aber zog die Ruhe vor.

  Schon hatte er gesprochen: „Zürnet, doch sündiget nicht!“ (Ebd. 4, 5.) Als ein Sittenlehrer, der wußte, daß eine natürliche Regung durch vernünftige Lehre mehr gezügelt als getilgt werden muß, gibt er seine Sittenvorschriften. Er will sagen: Zürnet, sobald ein Verschulden vorliegt, dem ihr zürnen sollt! Denn es ist unmöglich, daß wir uns nicht über nichtswürdige Dinge aufregen. Andernfalls müßte darin nicht sowohl Tugend, sondern Stumpfsinn und Gleichgültigkeit erblickt werden. Zürnet also in der Weise, daß ihr von Schuld euch fernhaltet! Oder so: Wenn ihr zürnet, sündiget nicht, sondern überwindet kraft der Vernunft den Zorn! Oder aber so: Wenn ihr zürnet, zürnet euch selbst, weil ihr euch zum Zorn fortreißen ließet, und ihr werdet nicht sündigen. Denn wer sich selbst zürnt weil er so rasch zum Zorn sich fortreißen ließ, hört auf, dem Nächsten zu zürnen; wer aber seinen Zorn als berechtigt erscheinen lassen will, erhitzt sich noch mehr und fällt rasch in Schuld. Besser aber ist nach Salomo, wer den Zorn bezwingt, als wer eine Stadt einnimmt (Pr 16,32); denn der Zorn beirrt selbst Starke.

  So müssen wir uns denn hüten, in Aufregung zu geraten, bevor die Vernunft unsere Seele in die rechte Verfassung versetzt. Gar häufig nämlich bringen Zorn oder Schmerz oder Todesfurcht den Geist aus der Fassung und treffen ihn mit unvorhergesehenem Schlag. Darum ist es schön, durch Denken, das den Geist schult, zuvorzukommen, daß er nicht in plötzlichen Erregungen aufbrause, sondern gleichsam im Joch und Zügel der Vernunft sich besänftige.



(De Officiis) - XV. Kapitel