(De Officiis) - XXII. Kapitel

XXII. Kapitel

Vom Schicklichen im Reden: Die seelischen Funktionen des Denkens und Begehrens (98). Vom Schicklichen im gewöhnlichen Gespräch (99) und in der förmlichen Rede (100—101).

  Die Regungen der Seele sind zweierlei, die des Denkens und des Begehrens[48]; die einen, die des Denkens, die anderen, die des Begehrens, beide nicht vermischt, sondern verschieden und ungleichartig. Das Denken hat zur Aufgabe, das Wahre zu erforschen und sozusagen herauszuschälen; das Begehren treibt und reizt zum Handeln. Nach der Art seiner Natur senkt sonach das Denken Ruhe und Gelassenheit in die Seele, das Begehren regt das Handeln an. Als Lehre nun mag sich uns ergeben, daß nur der Gedanke an gute Dinge die Schwelle des Geistes betreten darf; die Begierde, wenn wir in Wahrheit auf Wahrung jenes Schicklichen bedacht sein wollen, der Vernunft sich unterordnen muß[49]. Das Verlangen nach einer Sache darf die Vernunft nicht ausschließen, vielmehr soll die Vernunft erwägen, was sich für das sittliche Verhalten geziemt.

  Wollen wir die Schicklichkeit wahren, so haben wir, wie gesagt, darauf zu sehen, daß wir im Handeln und Reden das rechte Maß kennen; in der Reihenfolge geht freilich das Reden dem Handeln voraus. Die Rede nun wird zweifach eingeteilt: in das gewöhnliche Gespräch und die (förmliche) Abhandlung und Untersuchung über den Glauben und die Gerechtigkeit[50]. In beiden ist darauf zu achten, daß man alles Aufregende meide, die Rede vielmehr sanft und gefällig, voll Wohlwollen und Liebenswürdigkeit und ohne jede beleidigende Äußerung geführt werde. Im gewöhnlichen Gespräche bleibe hartnäckiger Streit ausgeschlossen. Er pflegt mehr eitle Fragen aufzuwirbeln, als irgendeinen Nutzen zu stiften. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung sei ohne Leidenschaftlichkeit, ihre Anmut ohne Bitterkeit, ihr Mahnwort ohne Schroffheit, ihre Aufforderung ohne Beleidigung! Und wie wir uns bei jeder Lebensbetätigung davor in acht nehmen sollen, daß nicht eine zu große seelische Erregung uns die Vernunft raube; wie vielmehr die Besinnung das Feld behaupten muß, so geziemt sich auch in der Rede die Norm festzuhalten, keiner Regung des Zornes oder Hasses Raum zu geben, bezw. nichts erscheinen zu lassen, was Leidenschaftlichkeit oder Gleichgültigkeit unsererseits verriete.

  So denn sei die Rede, namentlich wenn sie die Hl, Schrift zum Gegenstand hat. Wovon sollen wir denn mehr reden als von einem möglichst guten Wandel, von der Aufforderung zur Gesetzesbeobachtung, von der Einhaltung sittlicher Zucht? Gleich ihr Anfang trage den Stempel des Vernünftigen, ihr Ende halte Maß! Eine zum Ekel langweilige Rede erregt Unwillen. Wie unschicklich aber, wenn sie den widerlichen Eindruck des Abstoßenden macht, nachdem schon jedes gewöhnliche Gespräch in wachsendem Maße immer anziehender zu werden pflegt!

  Auch soll die Behandlung der Glaubenslehre, der Unterweisung in der Enthaltsamkeit, der Einführung in die Gerechtigkeit und der Aufmunterung zur Gewissenhaftigkeit nicht immer die gleiche sein, sondern je nach der Schriftlesung von uns in Angriff genommen und nach Kräften durchgeführt werden. Sie soll weder zu lange fortgesetzt, noch zu rasch abgebrochen werden, daß sie einerseits nicht Überdruß zurücklasse, anderseits nicht Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit verrate. Die Rede sei natürlich, einfach, klar und verständlich, voll Ernst und Nachdruck, nicht von gesuchter Ziererei, aber auch nicht ohne Anmut.


XXIII. Kapitel

Vom Schicklichen im Reden: Scherz ist in der kirchlichen Rede (102), in der Regel selbst in Plaudereien zu meiden (103). Ein einfaches Organ mit deutlicher Aussprache genügt für den Redner (104).

  Weltliche Autoren geben überdies noch viele Vorschriften über die Redeweise, die wir meines Erachtens übergehen dürfen. So über die Scherzrede[51]. Sind nämlich Scherze dann und wann auch schicklich und köstlich, vertragen sie sich doch nicht mit der Kirchenregel. Wie könnten wir denn auch Dinge in den Mund nehmen, die wir in der Schrift nicht finden?

  Selbst bei Plaudereien sind sie zu meiden, damit sie nicht ein ernsteres Gesprächsthema seiner Würde entkleiden. „Wehe euch, die ihr lacht! Ihr werdet weinen“ (Lc 6,25), warnt der Herr. Und wir wollten nach einem Stoff zum Lachen fahnden, um hier zu lachen, dort zu weinen? Nicht bloß lose, sondern alle Scherze überhaupt, meine ich, sollten vermieden werden, außer es wäre ein Vollmaß des Köstlichen und Anmutigen in der Rede nicht unschicklich.

  Was soll ich denn von der Stimme sagen?[52] Meiner Ansicht nach genügt ein einfaches und reines Organ. Der Wohlklang der Stimme ist eine Naturgabe, nicht eine Errungenschaft. Durch die Art des Vortrags soll sie freilich deutlich und voll männlicher Kraft werden. Den derben und bäuerlichen Ton meide sie! Nicht den theatralischen Rhythmus schlage sie künstlich an, sondern den kirchlichen wahre sie!


XXIV. Kapitel

Vom Schicklichen im Handeln: Drei Forderungen schließt es in sich (105—106). Vollendete Vorbilder: Abraham (107—110), Jakob (111), Joseph (112), Job (113), David (114). Die vier Kardinaltugenden (115).

  Über die Art zu sprechen, meine ich, ist genug gesagt worden. Jetzt wollen wir erwägen, was sich für das Handeln im Leben geziemt. Auf diesem Gebiete sind nun augenscheinlich drei Stücke zu beachten[53]. Fürs erste darf die Begierde der Vernunft nicht widerstreiten. Nur so können unsere Diensthandlungen mit dem Schicklichen übereinstimmen. Folgt nämlich die Begierlichkeit der Vernunft, läßt sich in allen Verrichtungen das Schickliche wahren. Zweitens soll es nicht den Anschein gewinnen, als wäre unser Eifer größer oder kleiner, als es die Sache verdient, die man unternimmt; als hätten wir eine belanglose Sache mit großem Eifer aufgegriffen, oder aber eine wichtige mit geringerem Eifer abgetan. Drittens, glaube ich, sollten wir uns nicht über das rechte Maß in unserem Streben und Handeln, desgleichen nicht über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt hinwegsetzen.

  Doch die Grundlage von allem bildet jene erste Forderung, daß die Begierde der Vernunft sich unterordne[54]. Die zweite und dritte verlangt das gleiche, d. i. in beiden Fällen das Maßhalten. Die Erwägung über jenes vornehme Äußere, das für Schönheit gilt, sowie über das würdevolle Auftreten fällt nämlich bei uns weg. Es folgt sofort jene über die Ordnung in den Dingen und den rechten Zeitpunkt[55]. Und so verbleiben denn damit drei Stücke, von denen wir sehen wollen, ob wir sie in vollendetem Maß an irgendeinem Heiligen aufzeigen können.

  Ward nicht fürs erste gerade jener Vater Abraham, der zur Belehrung der künftigen Nachkommenschaft seine Anleitung und Unterweisung erhielt, auf den Befehl, aus seinem Lande und aus seiner Verwandtschaft und aus seinem Vaterhause fortzuziehen, durch mehrfache Pietätsgefühle wie mit Fesseln zurückgehalten, und zwang er nicht dennoch sein Begehren zu gehorsamer Unterordnung unter die Vernunft? (Vgl. Gen. Gen. Gn 12 Gen. ) Wer würde denn nicht mit Lust und Freude an seinem Lande, an seiner Verwandtschaft, desgleichen am eigenen Hause hängen? Auch ihn nun wandelte die süße Freude an den Seinigen an, doch mehr noch bestimmte ihn der Gedanke an den himmlischen Befehl und die ewige Vergeltung. Sah er nicht, wie seine für Strapazen so schwächliche, für Kränkungen so zartfühlende, für Wüstlinge so reizende Gattin nicht ohne die größte Gefahr mitgeführt werden konnte? Und dennoch hielt er es für geratener, sich allem zu unterziehen, statt Entschuldigungen vorzubringen. Als er sodann nach Ägypten hinabzog, riet er derselben, sich als seine Schwester, nicht als seine Frau auszugeben.

  Beachte, wie stark die Regungen des Begehrungsvermögens waren! Er fürchtete für der Gattin Reinheit, fürchtete für sein eigenes Leben, mißtraute der Lüsternheit der Ägypter: und dennoch wog bei ihm der Gedanke an die religiöse Pflichterfüllung vor. Er beherzigte nämlich, wie er sich mit Gottes Gnade überall sicher fühlen, mit des Herrn Ungnade aber auch zu Hause nicht heil bleiben könne. So obsiegte also die Vernunft über das Begehren und machte es sich unterwürfig.

  Die Gefangennahme seines Neffens machte ihn nicht bangen, die Völker so vieler Könige beirrten ihn nicht: er greift wiederholt zu den Waffen. Als Sieger verzichtete er auf einen Anteil an der Beute, deren Eroberer er war (Vgl. Gen. Gen. Gn 14 Gen. ). Als ihm ferner ein Sohn verheißen wurde, schenkte er, obschon er seinen erstorbenen Leib entkräftet, seine Gattin unfruchtbar und hochbetagt sah, wider die Stimme der natürlichen Erfahrung Gott Glauben (Ebd. c. 16.).

  Beachte, wie alle Bedingungen eingelöst waren! Es fehlte nicht an der Regung des Begehrungsvermögens, aber sie wurde unterdrückt. Jenes Gleichmaß im Handeln war vorhanden, das weder Wichtiges für gering, noch Geringeres für wichtig hält, ferner das rechte Maßhalten im Tun, die Ordnung in den Dingen, die Einhaltung der rechten Zeit, die Abwägung der Worte. Ein Mann — im Glauben der erste, in der Gerechtigkeit allen voran, im Kampfe ausdauernd, im Siege nicht beutegierig, zu Hause gastfreundlich und treubesorgt um die Gattin.

  Ebenso freute sich sein Enkel Jakob zu Hause eines ruhigen Lebens. Doch die Mutter wollte, daß er in die Fremde ziehe, um dem erzürnten Bruder auszuweichen (Ebd. 27, 41 ff.). Der heilsame Rat siegte über sein Begehren. Ein Verbannter aus dem Hause, ein Flüchtling fern den Eltern, hielt er doch überall in seinem Tun das geziemende Maß ein und beachtete den rechten Zeitpunkt. Zu Hause war er der Liebling seiner Eltern, so daß der eine Elternteil, durch seine zuvorkommende Dienstbeflissenheit bewogen, ihm den Segen gab, der andere in zärtlicher Liebe ihm besonders zugetan war (Vgl. Gen. Gn 25,28 Gn 27,1 ff. ). Auch das Urteil des Bruders hatte ihm, nachdem er ihm seine Speise abtreten zu sollen glaubte, den Vorzug eingeräumt (Ebd. 25, 29 ff.). Wohl hatte er ein natürliches Ergötzen am Gerichte, doch aus Bruderliebe gab er der Bitte nach. Ein treuer Hirte seinem Herrn, dem Schwiegervater ein aufmerksamer Schwiegersohn, bei der Arbeit fleißig, bei Tisch mäßig, im Genugtun zuvorkommend, im Belohnen freigebig (Ebd. c. 29 ff.). So besänftigte er denn auch des Bruders Zorn in einer Weise, daß er sich statt der Feindschaft, vor der er sich fürchtete, dessen Huld erwarb (Ebd. c. 32 f.).

  Was soll ich von Joseph sagen, der doch sicherlich ein Verlangen nach der Freiheit trug und doch dem Zwang der Sklaverei sich unterzog? Wie unterwürfig war er in der Knechtschaft, wie standhaft in der Tugend, wie wohlwollend im Gefängnis, weise in der (Traum-) Deutung, vorsorglich in den Jahren der Fruchtbarkeit, gerecht während der Hungersnot, lobenswerte Ordnung in den Dingen mit dem rechten Augenblick in der Zeit verbindend, infolge seiner maßvollen Amtsführung voll Gerechtigkeit gegen das Volk! (Ebd. c. 27 ff.)

  Ebenso war Job im Glück wie im Unglück gleich untadelig, geduldig, Gott genehm und wohlgefällig. Er wardvon Leiden gequält, wußte sich aber zu trösten (Jb 1 ff.).

  David ferner, tapfer im Krieg, ausdauernd im Unglück, friedliebend in Jerusalem, im Sieg mild, in Schuld voll Reueschmerz, im Alter vorsorglich, beobachtete in seinen Liedern je nach der Altersstufe, auf der er stand, Maß in den Dingen und den Wechsel der Zeiten, so daß er, wie mich dünkt, nicht weniger durch seine Lebensart als durch seine lieblichen Weisen, süß wie keiner, zu Gott den unsterblichen Sang seines Verdienstes erschallen ließ[56].

  An welcher Förderung der Haupttugenden hätten es diese Männer fehlen lassen? An erste Stelle setzte man[57] die Klugheit, welche sich mit der Erforschung des Wahren befaßt und den Trieb nach gründlicherem Wissen einflößt; an zweite Stelle die Gerechtigkeit, die jedem das Seinige zuteilt, kein fremdes Gut sich aneignet, vom eigenen Nutzen absieht, um die gemeinnützige Norm der Billigkeit zu wahren; an dritte Stelle den Starkmut, der im Feld wie zu Haus durch Seelengröße sich hervortut und durch Körperkraft sich auszeichnet; an vierte Stelle die Mäßigkeit, die in allem Maß und Ordnung hält, was wir tun oder reden zu sollen glauben.


XXV. Kapitel

Von den vier Kardinaltugenden: Tugendbeispiele gehen vor Tugendbegriffen (116). Abraham (117—119), Jakob (120), Noë (121) leuchtende Vorbilder der Kardinaltugenden.

  Vielleicht möchte jemand bemerken, das hätte zuerst gebracht werden sollen. Denn in diesen vier Tugenden haben die Pflichtgattungen ihren Ursprung[58]. Eine kunstgerechte Abhandlung aber verlangt, daß erst der Begriff der Pflicht festgesetzt, sodann diese selbst in bestimmte Gattungen eingeteilt wird. Wir nun verzichten auf eine kunstgerechte Darstellung und führen die Beispiele der Altvordern vor, die weder Dunkles für das Verständnis, noch Kniffigkeiten in der Darstellung aufweisen. Möge uns denn das Leben der Altväter ein Spiegelbild des sittlichen Wohlverhaltens sein, nicht eine Schule der Abgefeimtheit; ein ehrwürdiger Gegenstand der Nachahmung, nicht kniffiger Streitrede!

  Der heilige Abraham nun war in erster Linie im Besitz der Klugheit. Von ihm rühmt die Schrift: „Abraham glaubte Gott, und es ward ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gn 15,6). Niemand nämlich kann klug sein, der Gott nicht kennt. So sprach denn auch der Unweise: „Es gibt keinen Gott“ (Ps 13,1); der Weise nämlich würde nicht so sprechen. Wie wäre denn der ein Weiser, der nicht nach seinem Schöpfer fragt; der zum Steine spricht: „Mein Vater bist du“ (Jr 2,27); der wie Manichäus zum Teufel spricht: Mein Schöpfer bist du? Wie wäre Arius ein Weiser, der statt des wahren und vollkommenen Schöpfers einen unvollkommenen und unebenbürtigen haben will? Wie wären Marcion und Eunomius Weise, die lieber einen bösen als einen guten Gott haben wollen? Wie wäre der ein Weiser, der seinen Gott nicht fürchtet? Denn „der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“ (Ps 110,9). Und an einer anderen Stelle liest man: „Die Weisen weichen nicht vom Munde des Herrn, sondern betätigen sich in ihren Bekenntnissen“ (Pr 24,7 f.). Mit der Beteuerung: „es ward ihm zur Gerechtigkeit angerechnet“ (Gn 15,6), sprach ihm die Schrift zugleich auch den Vorzug der zweiten (Kardinal-) Tugend zu.

  Zuerst nun stellten die Unsrigen fest, die Klugheit beruhe in der Erkenntnis des Wahren[59]. Denn wer von jenen (heidnischen Schriftstellern) lebte vor Abraham, David, Salomo? Ferner, die Gerechtigkeit beziehe sich auf das gesellschaftliche Leben des Menschengeschlechtes. So spricht denn David: „Er hat ausgeteilt, den Armen gegeben, seine Gerechtigkeit währt in Ewigkeit“ (Ps 111,9); der Gerechte „erbarmt sich“ (Ebd. 5.); der Gerechte „leiht“ (Ebd.). Dem Weisen und Gerechten ist die ganze Welt voll Reichtümer. Der Gerechte besitzt die Allgemeingüter als sein Eigentum, und sein Eigentum als Gemeingut. Der Gerechte klagt, bevor er andere anklagt, sich selbst an. Denn der ist gerecht, der seiner nicht schont und nicht duldet, daß seine geheimen Sünden verborgen bleiben. Sieh, wie gerecht war Abraham! Er hatte im hohen Alter kraft der Verheißung einen Sohn empfangen. Als ihn der Herr zurückforderte, glaubte er ihn, obgleich es der einzige Sohn war, nicht als Opfer verweigern zu sollen (Gn 22,1 ff.).

  Sieh hier alle vier Tugenden in der einen Tat! Es verriet Weisheit, Gott zu glauben und den Liebling nicht dem Gebote des Schöpfers vorzuziehen. Es verriet Gerechtigkeit, das Empfangene zurückzuerstatten. Es verriet Starkmut, dem Verlangen des Herzens durch die Vernunft zu wehren. Der Vater führte das Opfer, der Sohn fragte ihn darüber: des Vaters Liebe ward geprüft, nicht besiegt. Der Sohn wiederholte die Frage: er verwundete das Vaterherz, verringerte aber dessen Frommsinn nicht. Dazu kommt noch die vierte Tugend, die Mäßigkeit. Der Gerechte hielt sowohl das rechte Maß in der Frömmigkeit, wie Ordnung in deren Betätigung ein. Schon schafft er das Nötige zum Opfer herbei; schon facht er das Feuer an; schon bindet er den Sohn; schon zückt er das Schwert: da ward er denn, weil er diese Ordnung beim Opfer einhielt, gewürdigt, den Sohn zu behalten.

  Was gäbe es Weiseres als den heiligen Jakob, der Gott von Angesicht zu Angesicht schaute und dessen Segen verdiente? (Gn 32,24 ff.) Was Gerechteres als ihn, der alles, was er erworben hatte, schenkungsweise mit dem Bruder teilte? (Ebd. 32, 13 ff.; 33, 10 f.) Was Stärkeres als ihn, der mit Gott rang? (Ebd. 32, 24.) Was Maßvolleres als ihn, der im Maßhalten so den Orts- und Zeitumständen Rechnung trug, daß er die Entehrung seiner Tochter lieber durch die Ehe bemänteln als rächen wollte, weil er dafür hielt, daß er, unter den Fremden lebend, mehr auf deren Liebe bedacht sein müsse, statt deren Haß sich zuzuziehen.

  Wie weise war Noë, der die so mächtige Arche erbaute! Wie gerecht war er, der zum Stammvater aller aufbewahrt wurde: von allen der einzige Überlebende des vergangenen Geschlechtes und der Urheber des kommenden, mehr der Welt und der Allgemeinheit als sich selbst geboren! Wie stark, daß er die Sintflut überwand! Wie maßvoll, daß er derselben bei ihrem Eintritt sich fügte! Welches Maßhalten ferner, als er den Raben, als er die Taube aussendete; als er sie bei ihrer Wiederkehr hereinnahm; als er den rechten Augenblick zum Verlassen (der Arche) merkte und erkannte! (Ebd. c. 6 ff.)


XXVI. Kapitel

Von der Klugheit: Vom Schicklichen in der Erforschung des Wahren (122). Moses ein leuchtendes Vorbild hierin (123). Jedem Menschen wohnt der Wahrheitstrieb inne (124). Wissen ohne entsprechendes Handeln wäre mehr Ballast (125).

  In der Erforschung der Wahrheit ist nun, so lehrt man, als das Schickliche festzuhalten, daß man mit allem Eifer dem nachforsche, was wahr ist[60]: nicht Falsches für wahr halte, das Wahre nicht verdunkle, den Geist nicht mit unnützen oder verworrenen und ungewissen Problemen beschäftige[61]. Was wäre so ungeziemend als die Verehrung von Holzklötzen, wie sie eben jene Lehrer betätigen? Was so dunkel als die astronomischen und geometrischen Untersuchungen, die sie für gut finden? Als die tiefen Lufträume zu messen, ferner den Himmel und das Meer in Zahlen zu schließen[62], die Sache des Heils hintanzusetzen, der des Irrtums nachzuhängen?

  Oder hat nicht Moses, der „in jeglicher Weisheit der Ägypter bewandert war“ (Ac 7,22), dies alles auf seinen Wert geprüft? Doch er erachtete jene Weisheit für Nachteil und Torheit, wandte sich von ihr ab, suchte mit innerlichstem Herzen Gott, schaute ihn darum, befragte ihn und hörte ihn sprechen (Ex 3,2 ff.). Wer wäre in höherem Grade weise gewesen als er, den Gott selbst belehrte, und der alle Weisheit der Ägypter und alle Macht ihrer Künste kraft seines Wirkens zuschanden machte? (Ebd. c. 7 ff) Er hielt Unbekanntes nicht für bekannt und pflichtete solchem Dafürhalten nicht blindlings bei[63]: zwei Fehler, welche Leute, die weder Widernatürliches noch Schändliches darin erblicken, wenn sie Steinblöcke anbeten und von fühllosen Götzenbildern Hilfe erflehen, an dieser Stelle, die vom Natürlichen und Schicklichen handelt, meiden lernen sollten.

  Je erhabener die Tugend der Weisheit ist, um so größerer Eifer, wie ich glaube, ist zu ihrer Erlangung erforderlich. Um uns daher nichts Widernatürliches, nichts Schändliches und Unziemliches in den Sinn kommen zu lassen, sollen wir ein Zweifaches, d. i. Zeit und Fleiß auf die Betrachtung der Dinge verwenden[64], um sie erproben zu können. Denn es gibt keinen größeren Vorzug, den der Mensch vor den übrigen lebenden Wesen voraus hat, als den, daß er vernunftbegabt ist, die Ursachen der Dinge ergründen kann, dem Urheber seines Geschlechtes nachforschen zu müssen glaubt, in dessen Macht die Macht über unser Leben und unseren Tod steht; der diese Welt mit seinem Wink regiert; dem wir über unser Handeln, wie wir wissen, Rechenschaft geben müssen. Nichts fördert nämlich ein sittlichgutes Leben mehr als der Glaube an einen künftigen Richter, dem das Verborgene nicht entgeht, den das Schlechte Handeln beleidigt und das gute erfreut.

  Allen Menschen nun wohnt schon auf Grund der menschlichen Natur, die uns zum Streben nach Erkenntnis und Wissen hinzieht und den Forschungstrieb einsenkt, der Drang nach Erforschung des Wahren inne. Hierin es allen zuvortun gilt für schön[65]. Doch das zu erreichen, ist nur wenigen beschieden, die in ernster Gedankenarbeit, im Wägen und Wagen sich nicht geringe Mühe geben, um womöglich zu jenem seligen und tugendhaften Leben zu gelangen und auch im Handeln sich ihm zu nähern. „Denn nicht wer zu mir spricht ‚Herr, Herr‘,“ so heißt es, „wird ins Himmelreich eingehen, sondern wer das tut, was ich sage“ (Mt 7,21). Wissenschaft ohne Handeln danach — ich weiß nicht, ob es nicht mehr Ballast ist[66].


XXVII. Kapitel

Von der Klugheit: Sie ist die erste Quelle der Pflicht. Sie speist die übrigen Kardinaltugenden. Diese schließen einander ein (126—129).

  Die erste Quelle der Pflicht ist die Klugheit. Was verriete denn ein so volles Maß der Pflicht als die Bezeigung von Eifer und Ehrfurcht gegen den Schöpfer? Doch leitet sich diese Quelle auch auf die übrigen Tugenden ab[67]. So ist die Gerechtigkeit ohne die Klugheit undenkbar. Erfordert es doch nicht geringe Klugheit abzuwägen, was gerecht oder was ungerecht ist. Der Irrtum in beiden Fällen wäre unberechenbar groß. Denn „wer Recht für Unrecht, Unrecht aber für Recht erklärt, ist fluchwürdig vor Gott. Was frommt die Gerechtigkeit dem Unverständigen?“ ruft Salomo aus (Pr 17,15 f.). Aber auch umgekehrt: keine Klugheit ohne die Gerechtigkeit. Denn die Gottesliebe ist der Anfang der Verständigkeit. Daraus ersehen wir, daß der Satz, die Pietät sei das Fundament aller Tugenden, mehr eine Entlehnung als eigene Erfindung der Weisen dieser Welt ist.

  Die Pietät, die auf der Gerechtigkeit beruht, bezieht sich in erster Linie auf Gott, in zweiter auf das Vaterland, in dritter auf die Eltern, sodann auch auf alle anderen[68]. Auch sie folgt nur der Lehrmeisterin Natur. Hängen wir doch vom ersten Augenblick des Daseins mit der ersten Regung des Gefühls am Leben als einem Geschenk Gottes, lieben Vaterland und Eltern, ferner die Altersgenossen, nach deren Gesellschaft es uns verlangt. Hier nimmt jene Liebe ihren Ursprung, die anderen den Vorzug vor sich selbst gibt, indem sie nicht das Ihrige sucht. Gerade hierin aber liegt der oberste Grundsatz der Gerechtigkeit.

  Auch sämtlichen Tieren ist vor allem der Trieb angeboren, das Leben zu erhalten, das Schädliche zu meiden, das Nützliche aufzusuchen, wie Futter, wie Verstecke, um darin vor Gefahr, Regen, Sonnenhitze sich zu schützen, was Klugheit verrät. Dazu kommt, daß alle Arten von Tieren von Natur aus gesellig sind, zunächst gegen ihresgleichen in Art und Gestalt, sodann aber auch gegen andere. So sehen wir Rinder gern unter Roßherden, Pferde unter Kleinviehherden, am liebsten aber Gleichartiges unter Gleichartiges sich mengen, ebenso Hirsche zu Hirschen und gar oft auch zu Menschen sich gesellen. Was soll ich noch vom Zeugungstrieb und den Jungen reden, oder auch von der Gattenliebe, in der die Norm der Gerechtigkeit besonders deutlich in die Erscheinung tritt?

  Es geht nun daraus klar hervor, daß sowohl diese Tugenden (Klugheit und Gerechtigkeit), wie auch die übrigen untereinander verwandt sind[69]. Ist doch auch der Starkmut, der teils im Krieg das Vaterland vor den Barbaren, teils daheim die Schwachen und Freunde vor Erpressern schützt, voll Gerechtigkeit. Ebenso verrät das Wissen, wie man planmäßig die Verteidigung und Hilfe leisten kann, ferner das Ausfindigmachen des rechten Zeitpunktes und des rechten Ortes hierzu Klugheit und Maßhalten. Die Mäßigkeit für sich vermag hingegen ohne die Klugheit dieses Maß nicht zu erkennen. Die günstige Gelegenheit wahrnehmen und nach rechtem Maß vergelten, ist Sache der Gerechtigkeit. Und bei all dem tut Großmut und eine gewisse Stärke des Geistes, zumeist aber auch des Leibes not, daß einer sein Wollen auch vollführen kann.


XXVIII. Kapitel

Von der Gerechtigkeit: Gerechtigkeit und Freigebigkeit die Grundpfeiler des Gemeinschaftslebens (130). Ablehnung zweier von der Philosophie angenommenen Funktionen der Gerechtigkeit (131—132). Die einschlägige stoische Lehre eine Entlehnung aus der Hl. Schrift (133—134). Folgerungen aus dem Axiom: der Mensch ist des Menschen wegen da (135—136). Habsucht und Machtgelüste Feinde der Gerechtigkeit (137—138).

  Die Gerechtigkeit bezieht sich auf das Gesellschafts- und Gemeinschaftsleben des Menschengeschlechtes. Das Gesellschaftsleben beruht nämlich auf einem zweifachen Grund, dem der Gerechtigkeit und dem der Wohltätigkeit, auch Freigebigkeit und Wohlwollen genannt[70]. Die Gerechtigkeit scheint mir erhabener, die Freigebigkeit liebenswürdiger zu sein. Erstere hält sich an Strenge, letztere an Güte.

  Doch schon die erste Funktion der Gerechtigkeit, welche die Philosophen dafür halten, bleibt bei uns ausgeschlossen. Dieselben nennen nämlich als erste Regel der Gerechtigkeit, „daß man niemand Schaden zufügen dürfe — außer wenn man durch ein Unrecht dazu gereizt ist“[71]. Diese Regel wird nämlich kraft des Evangeliums umgestoßen. Denn die Schrift will in uns den Geist des Menschensohnes haben, der gekommen ist, um Gnade ergehen zu lassen, nicht Unrecht zuzufügen (Vgl. Lc 9,55 f.).

  Eine weitere Norm der Gerechtigkeit beruht ihrer Ansicht nach darin, daß man in den allgemeinen, d. i. öffentlichen Gütern öffentlichen Besitz, in den privaten Gütern Privatbesitz zu erblicken habe[72]. Auch das entspricht nicht der Natur. Denn die Natur bringt alle Erzeugnisse zum gemeinsamen Gebrauch für alle hervor. Denn Gott hieß alle Erzeugnisse zu dem Zweck sprossen, daß jedermann sich der gemeinsamen Nahrung erfreuen und die Erde gleichsam der gemeinsame Besitz aller sein sollte. So schuf also die Natur ein gemeinsames Besitzrecht für alle; Anmaßung machte daraus ein Privatrecht. Man rühmt in diesem Punkt den Stoikern nach, eine Lieblingsauffassung derselben gehe dahin, daß „alle Erzeugnisse auf Erden zum Gebrauch für die Menschen geschaffen würden, die Menschen aber der Menschen wegen geboren seien, um sich gegenseitig nützen zu können“[73].

  Woher anders als aus unseren Schriften entlehnten sie diesen Ausspruch? Schon Moses schrieb nämlich, Gott habe gesprochen: „Laßt uns den Menschen nach unserem Bild und nach unserem Gleichnis schaffen! Und er soll Gewalt haben über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und die Tiere und alles, was kriecht auf Erden!“ (Gn 1,26) Und David ruft aus: „Alles hast Du ihm unter die Füße gelegt, Schafe und Rinder insgesamt, dazu noch das Vieh des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres“ (Ps 8,8 f.). So haben sie also die Behauptung, alles sei den Menschen unterworfen, unseren Autoren entnommen und nehmen eben darum an, es sei des Menschen wegen hervorgebracht worden.

  Auch daß der Mensch des Menschen wegen geboren sei, finden wir in den Büchern Moses ausgesprochen, worin der Herr spricht: „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein ist: laßt uns demselben eine Gehilfin schaffen, die ihm gleiche!“ (Gn 2,18) Zur Hilfeleistung wurde sonach das Weib dem Manne gegeben; und sie sollte gebären, daß der Mensch dem Menschen helfe. So beißt es denn auch von Adam vor der Bildung des Weibes: „Es fand sich keine Gehilfin, die ihm ähnlich war“ (Ebd. 2, 20.). Der Mensch konnte nämlich nur vom Menschen Hilfe finden. Unter allen lebenden Wesen gab es nun kein ihm ähnliches: es fand sich mit einem Wort „keine Gehilfin“ für den Menschen. Zur Hilfeleistung stand sonach das weibliche Geschlecht zu erwarten.

  So sollen wir uns denn nach Gottes Willen, oder schon kraft des natürlichen Bandes, das uns umschlingt, gegenseitig unterstützen, in Gefälligkeiten wetteifern, gleichsam alles Nutzbare zur allgemeinen Verfügung stellen, einer dem anderen, um mit dem Schriftwort zu reden (Vgl. Ga 6,2), helfen, sei es durch Dienstbeflissenheit, sei es durch Gefälligkeit oder Geld oder Tat oder sonstwie, auf daß der Segen des Gemeinschaftslebens unter uns sich mehre[74]. Selbst aus Furcht vor Gefahr soll niemand von dieser Pflicht sich abwendig machen lassen, sondern alles für sein eigen halten, das Schlimme wie das Gute. So sträubte sich denn Moses nicht, für sein heimisches Volk schwere Kämpfe auf sich zu nehmen, zitterte nicht vor den Waffen des allgewaltigen Königs und bangte nicht vor der Wildheit seiner unmenschlichen Barbarei, sondern schlug sein Leben in die Schanze, um seinem Volke die Freiheit wiederzubringen.

  Groß ist daher der Glanz der Gerechtigkeit, die, mehr anderen als sich geboren[75], unser Gemeinschafts- und Gesellschaflsleben fördert, ihren erhabenen Beruf wahrt, alles ihrem Urteil unterwürfig zu erhalten, anderen zu helfen, Geld darzuleihen, Gefälligkeiten nicht abzuschlagen, fremde Gefahren auf sich zu nehmen.

  Wer wünschte nicht diese Tugendfeste zu behaupten, es müßte denn vor allem die Habsucht die Kraft der so erhabenen Tugend schwächen und brechen?[76] Im Verlangen nämlich, das Vermögen zu vermehren, Geld aufzuhäufen, Ländereien in Besitz zu bekommen, durch Reichtum zu glänzen, streifen wir die Norm der Gerechtigkeit ab und verlieren den Sinn für das gemeinnützige Wohltun. Wie kann denn einer gerecht sein, der dem Nächsten etwas zu entreißen sucht, was er für sich begehrt?

  Auch Machtgelüste entnervt die mannhafte Gerechtigkeit[77]. Wie kann denn einer für andere eintreten, der sich andere zu unterjochen sucht? Und wie dem Wehrlosen gegen Gewalttätige Hilfe leisten, wenn er selbst es mit schwerer Gewalttat auf dessen Freiheit absieht?


XXIX. Kapitel

Von der Gerechtigkeit: Sie ist selbst im Kriege erforderlich (139), um so mehr im Frieden (140). Die antike, der Hl. Schrift entlehnte Bezeichnung des Feindes als ‚Fremdling‘ gemahnt daran (141). Der Glaube das Fundament der Gerechtigkeit, Christus das Fundament der Kirche (142).

  Was es Großes um die Gerechtigkeit ist, läßt sich daraus ersehen, daß sie keine Ausnahme kennt, weder in Bezug auf Ort, noch Person, noch Zeit. Wird sie doch selbst den Feinden gegenüber geübt[78]. Ist man über Ort und Tag zur Schlacht mit dem Feinde übereingekommen, gilt es als eine Verletzung der Gerechtigkeit, ihm örtlich oder zeitlich zuvorzukommen[79]. Es ist nämlich ein Unterschied, ob jemand in der Schlacht und im schweren Kampf, oder aber infolge eines überlegenen Vorteils oder aus bösem Zufall in die Gefangenschaft gerät. Über allzu grimmige Feinde, sowohl über treubrüchige wie über die Maßen grausame, ergeht freilich auch eine um so grimmigere Rache[80]: so über die Madianiten, die durch ihre Weiber gar viele aus dem Judenvolk zur Sünde verleitet hatten, weshalb auch Gottes Zorn über das Volk der Väter erging. Und die Folge davon: Moses ließ niemand von denselben am Leben (Nb 31,1 ff.). Gegen die Gabaoniten hingegen, die mehr durch List als Krieg das Vätervolk befehdet hatten, führte Jesus (Josue) keinen Vernichtungskampf, sondern ließ ihnen das nur in Form einer Auflage fühlen (Jos 9,3 ff.). Die Syrer aber hatte Elisäus, nachdem er sie ob der Belagerung (Samarias) mit Blindheit geschlagen hatte, so daß sie nicht sehen konnten, wohin sie den Fuß setzten, in die Stadt geführt, ließ sie jedoch, obwohl der König von Israel es wollte, nicht erschlagen, sondern verlangte: „Die, welche du nicht mit deiner Lanze und deinem Schwerte gefangen hast, sollst du auch nicht erschlagen; setze ihnen Brot und Wasser vor, daß sie essen und trinken, entlassen werden und zu ihrem Herrn zurückkehren!“ (2R 6,22) Sie sollten auf diese Menschlichkeit (künftig) ein friedliches Verhalten an den Tag legen. So standen denn auch späterhin die syrischen Seeräuber von ihren Einfällen in das Land Israel ab.

  Wenn sonach die Gerechtigkeit selbst im Kriege in Kraft bleibt, wieviel mehr muß sie im Frieden beobachtet werden! Auch diesen Edelsinn erwies der Prophet denen, die zu seiner Ergreifung gekommen waren. Denn also lesen wir: Als der König in Erfahrung gebracht hatte, daß Elisäus es sei, der allen seinen Planen und Anschlägen im Weg stehe, hatte er sein Heer ausgesendet, um ihn rings zu belagern. Da nun der Diener des Propheten, Giezi, dieses Heer sah, fing er an, für sein Leben zu fürchten und zu bangen. Doch der Prophet sprach zu ihm: „Fürchte nicht! Denn mehr sind mit uns als mit jenen.“ Da betete der Prophet, daß seinem Diener die Augen geöffnet würden, und sie wurden geöffnet. Und es sah nun Giezi den ganzen Berg voll Rosse und Wagen rings um Elisäus. Und als jene herabkamen, rief der Prophet aus: „Der Herr schlage das Heer Syriens mit Blindheit!“ Und als ihm die Bitte erhört war, sprach er zu den Syrern: „Kommt mir nach, so will ich euch zu dem Menschen führen, den ihr sucht!“ Da sahen sie den Elisäus, den sie ergreifen wollten, aber konnten ihn, obschon sie ihn sahen, nicht festnehmen (4 Kon. 6, 12—20.). So ist also klar, daß man auch im Kriege Treue und Gerechtigkeit halten muß, und daß es nicht schicklich sein kann, wenn man die Treue bricht.

  Die Alten hatten denn auch für die Feinde eine schonende Bezeichnung: sie nannten sie die ‚Fremden‘. Nach altem Brauch nämlich hießen die Feinde ‚Fremde‘[81]. Es ist auch dies, so läßt sich behaupten, gleichfalls nur eine Entlehnung von unseren Autoren. Die Hebräer nämlich nannten ihre Gegner die ‚Stammverschiedenen‘ (allophyli)[82], d. i. nach lateinischer Bezeichnung ‚Ausländer‘ (alienigenae). So lesen wir im ersten Buch der Könige also: „Und es geschah an jenen Tagen, da sammelten sich die Ausländer zum Kampf gegen Israel“ (1R 4,1).

  Das Fundament der Gerechtigkeit ist der Glaube[83]. Denn „der Gerechten Herz sinnt Glauben“ (Pr 15,28), und „der Gerechte, der sich anklagt, stellt die Gerechtigkeit auf den Glauben“ (Vgl. ebd. 18, 17.). Dann nämlich tritt seine Gerechtigkeit zutage, wenn er die Wahrheit bekennt. So spricht denn auch der Herr durch Isaias: „Sieh, ich lege einen Stein in die Grundfeste Sions“ (Is 28,16), d. i. Christus in die Grundfesten der Kirche. Christus nämlich ist der Glaube aller, die Kirche aber eine gewisse Form der Gerechtigkeit, das gemeinsame Recht aller: gemeinsam ist ihr Beten, gemeinsam ihr Wirken, gemeinsam ihre Prüfung[84]. So ist denn, wer sich selbst verleugnet, gerecht, Christus würdig. Darum stellte auch Paulus Christus als das Fundament hin (1Co 3,11), damit wir auf ihn die Werke der Gerechtigkeit stellen; denn der Glaube ist das Fundament, in den Werken aber liegt entweder, falls sie bös sind, Ungerechtigkeit, oder aber, falls sie gut sind, Gerechtigkeit.



(De Officiis) - XXII. Kapitel