(De Officiis) - XXXVII. Kapitel

XXXVII. Kapitel

Vom Starkmut: Der Gleichmut der Seele im Glück und Unglück (186). Die Flucht in Zeiten der Glaubensverfolgung des Herrn Wille (187).

  Auch das schließt das sogenannte „Freisein der Seele von Beunruhigungen“[112] ein, daß wir weder im Schmerz zu wehleidig[113], noch im Glück zu übermütig sind. Wenn schon jene, die jemand zur Übernahme eines öffentlichen Amtes auffordern, solche Weisungen geben[114], wieviel mehr sollten wir im Falle der Berufung zu einem Kirchendienste nur das tun, was Gott gefällt! Die Kraft Christi soll Wehr und Schild in uns sein. Und also erprobt, laßt uns vor unserem Gebieter stehen, daß unsere Glieder „Waffen der Gerechtigkeit“ (Rm 6,13) sind: nicht „fleischliche Waffen“ (2Co 10,4), worin die Sünde herrscht, sondern „Waffen stark für Gott“ (Ebd.), welche den Sturz der Sünde, den Tod unseres Fleisches herbeiführen sollen, auf daß jede Schuld in ihm ersterbe, und wir kraft neuen Handels und Wandels gleichsam von den Toten auferstehen! (Rm 6,13)

  Das ist der Waffendienst der Tapferkeit, voll ehrenhafter und schicklicher Pflichterfüllung. Weil wir aber bei allem, was wir tun, nicht bloß nach dem Schicklichen, sondern auch nach dem Möglichen fragen, um nicht vielleicht etwas zu beginnen, was wir nicht zu vollenden vermögen, darum will der Herr, daß wir in der Zeit der Verfolgung von Stadt zu Stadt ziehen, oder vielmehr, um seinen Ausdruck selbst zu gebrauchen, ‚fliehen‘ (Mt 10,23), damit nicht einer aus Verlangen nach dem Ruhme des Martyriums vermessen in Gefahren sich begebe, die das schwache Fleisch oder der zu wenig kräftige Geist nicht zu tragen und zu bestehen vermögen[115].


XXXVIII. Kapitel

Vom Starkmut: Stählung des Geistes gegen künftige Widerwärtigkeiten (188—191). Schwierigkeiten, welche hierbei zu überwinden sind (192).

  Umgekehrt darf niemand aus Feigheit weichen und aus Furcht vor Gefahr vom Glauben lassen. Darum muß die Seele vorbereitet, der Geist geschult und zur Standhaftigkeit gestählt werden, daß er sich durch keine Drohungen beirren, durch keine Qualen beugen, durch keine Marter zum Weichen bringen lasse[116]. Das ist freilich hart hinzunehmen. Aber weil alle Qualen durch die Furcht vor noch schwereren sich überwinden lassen, vermagst du innerlich standhaft zu sein, wenn du deine Seele durch ruhiges Überlegen stärkst, nicht der Vernunft dich begeben zu dürfen glaubst, sowie die Furcht vor dem göttlichen Gerichte, die Qualen der ewigen Strafe dir vor Augen stellst.

  Dieses Sichvorbereiten ist Sache des Eifers, Sache der Einsicht ist die Fähigkeit, kraft des Geistes vorauszusehen, was zukünftig ist; sich gleichsam vor Augen zu stellen, was möglicherweise eintritt; genau festzusetzen, was zu tun ist, wenn es eintritt; mitunter zwei und drei Fälle auf einmal zu überdenken, die nach Berechnung des Betreffenden einzeln oder zusammen eintreten können; und für diese vereinzelt oder zusammen eintretenden Fälle jene Vorkehrungen zu treffen, die sich seiner Überzeugung nach als zweckdienlich erweisen werden[117].

  Es gehört zu einem tapferen Mann, daß er sich nichts verhehlt, wenn etwas bevorsteht, sondern daß er sich vorsieht, wie von einer geistigen Warte aus prüft und mit besonnenem Denken den künftigen Dingen begegnet. Er soll nicht nachher sagen müssen: deshalb geriet ich in diese Lage, weil ich an ihr Eintreten nicht glaubte[118]. So überrascht einen denn plötzlich das Unglück, wenn man ihm nicht prüfend entgegensieht. Wie im Kriege dem unversehens nahenden Feind kaum standzuhalten ist, wie man den unvorbereitet betroffenen Gegner leicht überwältigt, so drücken auch unvorhergesehene Übel die Seele um so schwerer nieder.

  In folgenden beiden Funktionen bekundet sich der Seelenadel: fürs erste soll dein Geist, in der Schule guter Gedanken erzogen, reinen Herzens schauen, was wahr und tugendhaft ist — denn ,,selig, die reinen Herzens sind, sie werden sogar Gott schauen“ (Mt 5,8)— und nur das Tugendhafte für gut halten; sodann durch keine Beschäftigungen sich beirren, durch keine Lüste sich wankend machen lassen.

  Das bringt einer freilich nicht so leicht fertig. Denn was wäre so schwierig, als vom Standpunkt der Weisheit wie von einer Burg auf Reichtum und alles andere, was so vielen groß und erhaben dünkt, mit Verachtung herabzublicken? Ferner in ruhigem, vernünftigem Denken sich ein festes Urteil zu bilden und das Leichtbefundene als nichtsnutzig zu verschmähen? Sodann einen Unglücksfall, den man schwer und bitter empfindet, so zu ertragen, daß man ihn nicht für etwas Naturwidriges hält, indem man liest: „Nackt bin ich geboren, nackt will ich scheiden. Was der Herr gegeben, hat der Herr genommen“ (Jb 1,21)— hatte er (Job) doch sowohl seine Kinder wie sein Vermögen verloren (Jb 1,12 ff.) — und in allem die Rolle des Weisen und Gerechten zu wahren, wie jener sie wahrte, der bekannte: „Wie es dem Herrn gefallen, so ist es geschehen: der Name des Herrn sei gepriesen!“ (Jb 1,21) Und im folgenden: „Wie eines der unverständigen Weiber hast du gesprochen. Haben wir das Gute aus der Hand des Herrn angenommen, wollen wir das Schlimme nicht auf uns nehmen?“ (Jb 2,10)


XXXIX. Kapitel

Vom Starkmut: Er ist ein Streiter der Tugend wider das Laster (193—194). Jobs Beispiel (195).

  Nichts Geringes also ist die Tapferkeit, auch nicht eine von den übrigen getrennte Eigenschaft, die mit den Tugenden im Krieg läge, sondern die allein aller Tugenden Schmuck und Zier verteidigt und ihre Entschließungen hütet[119]; die in unversöhnlichem Kampf wider alle Laster streitet, unbesieglich in Mühen, mutig in Gefahren, streng gegen die Lüste, verhärtet gegen die Lockungen, für die sie kein Ohr hat und kein ‚willkommen‘ (wie man sagt) spricht; die Geld verachtet, Habsucht wie die Pest meidet, weil sie die Tugend entnervt. Nichts widerstrebt ja der Tapferkeit so, als von Gewinnsucht sich besiegen zu lassen[120]. Schon oft fand ein Krieger, nachdem der Feind bereits geschlagen, das gegnerische Heer zum Fliehen gebracht war, unter eben denen, die er geschlagen hatte, ein klägliches Ende, indem er sich von der Beute der Gefallenen anlocken ließ; (schon oft) wurden Legionen, während sie über die Siegesbeute herfielen, um ihre Lorbeeren gebracht und führten den schon geflohenen Feind von neuem wider sich heran.

  So soll denn der Starkmut der so verhängnisvollen Pest (der Habsucht) wehren und sie vernichten, nicht durch Lüste sich beirren, noch durch Furcht sich entmutigen lassen[121]. Denn darin muß sich die Tugend treu bleiben, daß sie tapfer alle Laster als das Gift der Tugend verfolgt; den Zorn, der die Besinnung raubt, wie mit Waffengewalt abschlägt und wie eine Krankheit meidet; desgleichen vor Sucht nach Ruhm sich in acht nimmt, der, wenn übermäßig begehrt, häufig, wenn widerrechtlich, stets Schaden stiftete.

  Was wäre hierin dem heiligen Job sei es an Tugend entgangen, sei es an Laster unterlaufen? Wie ertrug er die harte Heimsuchung der Krankheit, der Kälte, des Hungers! Wie verachtete er die Gefahr für sein Leben! (Jb 13,14 ff.) War etwa sein Reichtum, von dem so viel den Dürftigen zufloß, durch Erpressungen zusammengerafft? Weckte das Vermögen den Geiz, oder die Lust und Begierde nach Genuß? Riß ihn der kränkende Hader der drei Könige (Ebd. c. 4 ff.) oder die Beschimpfung der Knechte (Ebd. c. 32 ff.) zum Zorn fort? War er leichten Sinnes, daß Ruhm ihn überhob: er, der schwere Strafe auf sich herabbeschwor, wenn er je auch nur unfreiwillige Schuld verheimlicht hätte, oder wenn er vor dem zahlreichen Volke sich gescheut hätte, sie vor aller Augen kundzutun? (Ebd. 31, 33 f.) Die Tugenden haben ja mit den Lastern nichts gemein, sondern bleiben sich selbst treu. Wer wäre also so tapfer wie der heilige Job? Wem könnte dieser nachgesetzt werden, nachdem er kaum seinesgleichen findet?


XL. Kapitel

Vom Starkmut: Auch den Unsrigen hat es nicht an kriegerischer Tapferkeit gefehlt. Biblische Beispiele (196—199).

  Doch vielleicht hält der Kriegsruhm manche so im Bann, daß sie meinen, es gebe nur eine kriegerische Tapferkeit, und ich sei deshalb auf die obigen Ausführungen abgeschweift, weil dieselbe den Unsrigen fehle. Wie tapfer war Jesus Nave (Josue), daß er in einem Treffen fünf Könige gefangen nahm und samt ihren Völkern zerschmetterte! (Jos 10,1 ff.) Als sich sodann wider die Gabaoniter Krieg erhob und Josue fürchtete, es möchte die Nacht den Sieg verhindern, rief er in seiner Geistes- und Glaubensgröße aus: „Die Sonne stehe still!“ „Und sie stand still“ (Ebd. 12 f.), bis der volle Sieg erkämpft war. Gedeon trug mit dreihundert Mann über ein gewaltiges Volk und einen erbitterten Feind den Sieg davon[122]. Der jugendliche Jonathas bewies seine Manneskraft in einer großen Schlacht (1R 14,1 ff.). Was soll ich von den Makkabäern sagen?

  Doch zuvor möchte ich vom Vätervolke überhaupt sprechen. Sie standen schon bereit zum Kampf für den Tempel Gottes und für ihre Rechtsbräuche. Doch am Sabbattage wollten sie, obschon durch die List der Feinde gereizt, lieber den Leib unbewaffnet den Wunden preisgeben als kämpfen, um nicht den Sabbat zu verletzen. So weihten sie sich denn alle frohen Mutes dem Tode (1M 2,32 ff.). Da jedoch die Makkabäer erwogen, daß nach diesem Beispiele das ganze Volk zugrunde gehen könnte, rächten sie auch am Sabbate, nachdem auch sie zum Kampf herausgefordert wurden, die Hinmetzelung ihrer unschuldigen Brüder (Ebd. 9, 43 ff.). Als hierauf der König Antiochus, hierdurch gereizt, durch seine Feldherrn Lysias, Nikanor und Gorgias die Kriegsfackel entfachen ließ, wurde er mit seinen morgenländischen und assyrischen Truppen so vernichtend geschlagen, daß achtundvierzigtausend Mann von dreitausend mitten auf dem Schlachtfelde hingestreckt wurden[123].

  Die Tapferkeit des Feldherrn Judas des Makkabäers betrachtet an einem seiner Krieger! Als nämlich Eleazar einen Elefanten bemerkte, der aus den übrigen herausragte und mit königlichem Panzer bewappnet war, vermutete er darauf den König, stürzte sich raschen Laufs mitten durch die Legion vor, warf den Schild weg und versetzte mit beiden Händen dem Tiere den Todesstoß. Im gleichen Augenblick sprang er unter dasselbe, hielt das Schwert darunter und tötete es. Beim Fall nun erdrückte das Tier den Eleazar, und er fand seinen Tod (1M 6, 43—46.). Welch großer seelischer Starkmut! Fürs erste fürchtete er den Tod nicht; sodann stürzte er sich, rings von feindlichen Legionen umgeben, in die dichten Reihen des Feindes, durchbrach ihre Linie, warf, infolge der Todesverachtung noch trotziger, den Schild weg, kam und nahm es mit dem Tierkoloß auf, den er mit beiden Händen verwundete, und sprang dann unter denselben, um den Stoß noch gründlicher zu führen. Von dessen Sturz mehr eingeschlossen als erdrückt, fand er unter seiner Siegestrophäe sein Grab.

  Und den Helden trog das Urteil nicht, mochte ihn auch die königliche Tracht täuschen. Denn die Feinde, durch ein so unerhörtes Schauspiel der Tapferkeit gebannt, wagten nicht, über den Wehrlosen herzufallen, um ihn zu überwältigen, und gerieten nach dem Sturze des zusammenbrechenden Tieres in solche Angst, daß sie sich insgesamt der Tapferkeit des einen nicht gewachsen fühlten. König Antiochus, des Lysias Sohn, bat daher, voll Schrecken über die Tapferkeit des einen Helden, um Frieden (2M 9,14 ff.), er, der mit hundertzwanzigtausend Mann und zweiunddreißig Elefanten bewaffnet herangezogen kam, so daß beim Aufgang der Sonne jedes Tier wie ein Berg erschien, der von blitzenden Waffen wie von leuchtenden Fackeln schimmerte. So hinterließ denn Eleazar als Erben seiner Tapferkeit den Frieden. — Doch soviel von Sieg und Triumph.


XLI. Kapitel

Vom Starkmut: Der Triumph der Tapferkeit im Leiden und Martyrium. Vorbilder hierin Judas der Makkabäer (200), dessen Bruder Jonathas (201), die sieben makkabäischen Brüder (202) und deren Mutter (203), die Unschuldigen Kinder, die hl. Agnes (204), der Diakon Laurentius und dessen Bischof Xystus (205—207).

  Weil aber die Tapferkeit nicht bloß im Glück, sondern auch im Unglück sich bewährt, so laßt uns den Tod Judas' des Makkabäers betrachten! Derselbe fing nämlich nach der Besiegung Nikanors, des Feldherrn des Königs Demetrius, in allzu sicherem Gefühle sich wiegend, mit neunhundert Mann gegen zwanzigtausend des königlichen Heeres Krieg an. Da die ersteren weichen wollten, um nicht von der Überzahl erdrückt zu werden, riet er ihnen lieber zu einem ruhmvollen Tod als zu einer schimpflichen Flucht: „Hinterlassen wir“, mahnte er, „an unserer Ehre keinen Schandfleck!“ () So lieferte er denn die Schlacht. Und da der Kampf bereits vom frühen Morgen bis zum Abend dauerte, griff er den rechten Flügel an, wo er die Hauptmacht des Feindes gewahrte, und bog ihn leicht zurück. Aber bei der Verfolgung des fliehenden Feindes setzte er sich im Rücken der Verwundung aus. So fand er die Todeswunde, herrlicher denn Triumphe (1M 9,10).

  Was soll ich dazu dessen Bruder Jonathas erwähnen, der mit einer kleinen Mannschaft wider des Königs Heere kämpfte und, von den Seinigen verlassen und nur mit zweien zurückbleibend, den Kampf erneute, den Feind schlug, die Seinigen aus der Flucht zurückrief, um sie am herrlichen Sieg teilnehmen zu lassen? (Ebd. 11, 67 ff.)

  Da hast du die Tapferkeit im Kriege, die nicht wenig Ehrenhaftes und Schickliches an sich hat, insofern sie den Tod der Knechtschaft und Schande vorzieht. Was soll ich aber erst von den Leiden der Märtyrer sagen? Und um nicht zu weit abzuschweifen: haben etwa die makkabäischen Jünglinge über den übermütigen König Antiochus einen geringeren Sieg davongetragen als deren Väter?[124] Siegten doch diese mit Waffengewalt, diese ohne Waffen. Unbesieglich stand die Schar der sieben Jünglinge, umringt von des Königs Legionen. Die Qualen versagten, die Quäler ermüdeten, die Märtyrer nicht. Dem einen ward die Kopfhaut abgezogen: das Aussehen hatte er geändert, die Tugendkraft gesteigert. Einem anderen befahl man, die Zunge hervorzustrecken, um sie abzuschneiden, und er antwortete[125]: Der Herr hört nicht allein die Sprechenden, er hörte auch den schweigenden Moses (Vgl. Ex 14,15). Er hört besser die stillen Gedanken der Seinigen als das laute Rufen aller. Der Zunge Geißel fürchtest du, die Geißel des Blutes fürchtest du nicht? Auch das Blut hat seine Stimme, mit der es zu Gott schreit, wie es bei Abel geschrien hat (Gn 4,10).

  Was soll ich von der Mutter sagen, die freudig in ihren Söhnen ebensoviele Siegestrophäen als Leichen schaute und an den Worten der Sterbenden wie an Sangestönen sich ergötzte, indem sie in den Söhnen der Mutter lieblichste Harfe und des Frommsinns Harmonie erblickte, süßer denn jede Melodie, die der Leier entströmt? (2M 7,20 ff.)

  Was soll ich von den kleinen Zweijährigen sagen, die noch vor dem natürlichen Vernunftgebrauch in den Besitz der Siegespalme gelangten? (Vgl. Mt 2,16 ff.) Was von der heiligen Agnes, die an den zwei höchsten Gütern, der Keuschheit und dem Leben, Gefahr lief? Die Keuschheit hütete sie, das Leben tauschte sie mit der Unsterblichkeit ein.

  Auch den heiligen Laurentius wollen wir nicht übergehen. Als er seinen Bischof Xystus zum Martyrium geführt werden sah, fing er zu weinen an, nicht über dessen Leidenstod, sondern weil er selbst zurückbleiben mußte. Er begann daher mit folgenden Worten ihn anzureden: Wohin gehst du, Vater, ohne den Sohn? Wohin eilst du, heiliger Priester, ohne deinen Diakon? Nie pflegtest du das Opfer ohne den Diener darzubringen. Was also mißfiel dir, Vater, an mir? Hast du mich deiner unwürdig befunden? Prüfe doch, ob du einen tauglichen Diener erwählt hast! Ihm hast du das konsekrierte Blut des Herrn, ihm die Teilnahme am Vollzuge der Geheimnisse anvertraut: ihm willst du die Teilnahme an deinem Blute verweigern? Sieh zu, daß dein Urteil nicht wanke, während dein Starkmut Lob verdient! Die Abweisung des Schülers ginge zu Schaden des Lehrers. Wie? Siegen denn nicht berühmte und hervorragende Männer ebenso durch die Kampfestaten ihrer Schüler wie durch die eigenen? So brachte Abraham seinen Sohn zum Opfer dar; so ließ Petrus den Stephanus vorausgehen (Vgl. Apg. Ac 7,57 ff.). Auch du, Vater, zeige deine Tugend in deinem Sohne! Opfere ihn, den du herangezogen hast, und sei deiner Überzeugung sicher: du wirst unter würdiger Begleitung zur Krone gelangen!

  Da antwortete Xystus: Nein, ich lasse dich nicht zurück, mein Sohn, und verlasse dich nicht. Noch größere Kämpfe gebühren dir. Ich als Greis trete den Waffengang zu einem leichteren Kampf an; deiner als Jüngling harrt ein herrlicherer Triumph über den Tyrannen. Bald wirst du kommen: höre auf zu weinen! Nach drei Tagen wirst du mir folgen. Diese Zahl (der Tage) dazwischen geziemt dem Priester und Leviten. Es wäre deiner nicht würdig gewesen, an der Seite des Lehrers zu siegen, als hättest du eines Helfers bedurft. Was begehrst du nach der bloßen Teilnahme an meinem Leidenstode? Sein ganzes Erbe hinterlasse ich dir. Was verlangst du nach meiner Gegenwart? Schwache Schüler mögen dem Lehrer vorausgehen, starke folgen ihm, um ohne den Lehrer zu siegen, nachdem sie der Belehrung nicht mehr bedürfen. So ließ auch Elias den Elisäus zurück. Auf dich übertrage ich denn die Nachfolge meiner Mannestugend.

  Das war der Streit, fürwahr ein würdiger Streit, den Priester und Diener um den Vorrang führten, wer zuerst für Christi Namen leiden dürfe (Vgl. ebd. 5, 41.). In der Trauerspieldichtung löste es, wie man erzählt, bei den Zuschauern großen Beifall aus, da Pylades sich für den Orestes ausgab, Orestes hingegen, wie es der Fall war, beteuerte, er sei Orestes: ersterer, um sich für Orestes töten zu lassen; Orestes, um nicht zu dulden, daß Pylades sich für ihn dem Tode weihe. Doch diese hatten ihr Leben verwirkt, weil beide des Muttermordes schuldig waren, der eine als Täter, der andere als Helfer. In unserem Fall drängte nichts den heiligen Laurentius hierzu als hingebende Liebe. Auch er jedoch spottete nach drei Tagen des Tyrannen und sprach, als er auf dem Roste liegend verbrannt wurde: Der Braten ist fertig, wende ihn und iß! So besiegte er durch den Starkmut der Seele die Natur des Feuers.


XLII. Kapitel

Vom Starkmut: Warnung vor herausforderndem Verhalten gegen Behörden (208) und vor Nachgiebigkeit gegen Schmeichler (209).

  Man soll sich auch, meine ich, in acht nehmen, daß nicht der eine oder andere aus überspanntem Ehrgeiz herausfordernd gegen die Behörden sich benehme und die uns meist abgeneigten Gemüter der Heiden zur Verfolgung reize und zur Erbitterung stachle. Wie vielen bereiten sie, um selbst die Standhaften und Sieghaften in Martern spielen zu können, den Untergang?

  Auch soll man vorsichtig sein, um nicht Schmeichlern sein Ohr zu leihen. Durch Schmeichelei sich umstimmen lassen, scheint nicht bloß keine Tapferkeit, sondern vielmehr Feigheit zu sein[126].


XLIII. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Name und Aufgabe der vierten Kardinaltugend (210). Sittsamkeit (211), Umgang mit älteren Personen (212), Erwägung der näheren Umstände des Handelns (213—214) wesentliche Erfordernisse einer rechten Lebensordnung.

  Nachdem wir von drei (Kardinal-) Tugenden gesprochen haben, erübrigt noch, von der vierten zu sprechen. Ihr Name heißt Mäßigkeit und Selbstbeherrschung[127]. In ihr erblickt und sucht man vor allem die Ruhe der Seele, das Streben nach Sanftmut, den Vorzug der Selbstbeherrschung, die Pflege des Sittlichguten, den Sinn für das Schickliche.

  Wir sollen eine gewisse Lebensordnung einhalten. Die ersten Grundvoraussetzungen dazu sind von der Sittsamkeit abzuleiten: sie ist die Genossin und Vertraute eines gelassenen Geistes, flieht Ausgelassenheit, hält jeder Völlerei sich fern, liebt die Nüchternheit, pflegt die Ehrbarkeit und bestrebt sich jenes Schicklichen.

  Hieran reihe sich die Wahl im Umgang. Nur ganz erprobten älteren Personen sollen wir uns anschließen. Der Verkehr mit Altersgenossen bietet süßeren Genuß, der mit alten Personen bietet größere Sicherheit. Eine Art Lebensschule und Lebenseinführung, veredelt er das sittliche Verhalten der Jugend und verleiht ihm gleichsam den Purpur der Rechtschaffenheit. Wenn Personen ohne Ortskenntnis gerne mit des Weges kundigen Personen eine Reise unternehmen, wieviel mehr sollten junge Leute an der Seite der alten den ihnen neuen Lebensweg antreten, um nicht in die Irre gehen und vom wahren Tugendpfade abweichen zu können? Nichts Schöneres gibt es, als gerade sie zu Lehrern wie zu Zeugen des Lebens zu haben.

  Ebenso ist bei jedem Tun zu fragen, was sich nach Person, Zeit und Alter schickt, desgleichen was den geistigen Anlagen eines jeden entspricht. Denn oft ziemt dem einen nicht, was dem andern ziemt. Das eine paßt für einen jungen, das andere für einen alten Menschen; das eine in Gefahr, anderes im Glück.

  David tanzte vor der Bundeslade des Herrn (2R 6,14), Samuel tanzte nicht. Ersterer verdiente deswegen keinen Tadel, freilich letzterer noch mehr Lob. Er (David) verstellte sein Gesicht vor dem Könige namens Anchus[128]. Doch hätte er das nicht aus Furcht getan, erkannt zu werden, hätte er nimmer dem Vorwurf der Leichtfertigkeit entgehen können. Ebenso hat Saul, umgeben von einem Chor von Propheten, auch seinerseits geweissagt; und nur über ihn, den Unwürdigen, raunte man sich zu: „Auch Saul unter den Propheten“ (Ebd. 19, 23 f.).


XLIV. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Der Kirchendienst soll der Anlage und Neigung eines Kandidaten entsprechen (215—216). Die besonderen Schwierigkeiten, die sich dem Eintritt in diesen Beruf entgegenstellen (217—218).

  Ein jeder soll seine natürliche Anlage kennen[129] und sich dem widmen, was er als das Passende für sich erwählte[130]. Er soll daher zum voraus die Folgen überdenken. Er mag das Gute, das er an sich hat, erkennen, aber auch seiner Fehler sich bewußt sein und als unparteiischer Selbstrichter sich erweisen, um des Guten sich zu befleißigen, die Fehler abzulegen.

  Der eine eignet sich mehr zum deutlichen Vorlesen, ein anderer singt die Psalmen schöner, ein dritter hat mehr Eifer für den Exorzismus über die vom bösen Geiste Heimgesuchten, wieder einen anderen hält man tauglicher für den Sakristeidienst. Auf dies alles soll der Priester sein Augenmerk richten und jedem den Dienst zuweisen, für den er sich eignet. Denn die Handlung, zu der einen schon seine natürliche Anlage hinzieht, bezw. den Dienst, der für einen paßt, erfüllt man mit größerer Lust.

  Macht dies aber in jedem Lebensstand Schwierigkeit, so die größte Schwierigkeit in unserem Berufswirken. Jeder möchte nämlich dem Lebensberuf seiner Eltern folgen[131]. So zieht es denn so manche, deren Eltern dem Militärdienst obliegen, zur militärischen Laufbahn, andere zu den verschiedenen sonstigen Berufstätigkeiten.

  Im Kirchendienst hingegen dürfte man nichts seltener finden als einen, der dem Berufe des Vaters folgt[132]. Teils schreckt der schwere Dienst hiervon ab, teils fällt im schlüpfrigen Alter die Enthaltsamkeit schwerer, teils dünkt der heiteren Jugend diese Lebensart zu finster. Daher wendet man sich solchen Beschäftigungen zu, die mehr den Beifall finden. Die Mehrzahl zieht ja das Gegenwärtige dem Zukünftigen vor. Doch ihr Kämpfen gilt dem Gegenwärtigen, das unsrige dem Künftigen. Je erhabener eine Sache, desto größer die Sorgfalt, mit der man auf sie bedacht sein soll.


XLV. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Verhältnis des Schicklichen zum Sittlichguten (219); ihre mehr formale als sachliche Verschiedenheit (220). Biblische Beleuchtung beider Begriffe (221).

  Halten wir denn fest an der Sittsamkeit und jener Selbstbeherrschung, welche den Schmuck des ganzen Lebens erhöht! Denn nichts Geringes ist es, allem sein Maß anzuweisen und seine Ordnung zu bestimmen. Und doch leuchtet fürwahr gerade hierin das hervor, was man das Schickliche nennt. Dieses nämlich ist mit dem Sittlichguten so eng verbunden, daß es unzertrennlich davon ist[133]. Ist doch das Schickliche auch gut, das Gute schicklich, so daß es sich mehr um eine Verschiedenheit im Ausdruck als um einen Unterschied in der Tugend handelt. Ein Unterschied zwischen ihnen läßt sich denken, nicht ausdrücken[134].

  Um nun doch den Versuch zu machen, einigen Unterschied herauszustellen, so ist das Sittlichgute, was für den Leib das Wohlbefinden, gleichsam die Gesundheit ist; die Schicklichkeit aber, was seine Anmut und Schönheit ist[135]. Wie nun die Schönheit sichtlich über die Gesundheit und das Wohlbefinden hinaus einen Vorzug besagt und gleichwohl nicht ohne diese bestehen kann und in keiner Weise davon sich trennen läßt, weil es ohne blühende Gesundheit keine Schönheit und Anmut geben kann: so schließt auch das Sittlichgute jenes Schickliche derart in sich, daß es sich augenscheinlich von ihm herleitet und ohne dasselbe nicht bestehen kann. So bedeutet denn das Gute sozusagen die Gesundheit unseres gesamten Tuns und Treibens, das Schickliche gleichsam seine äußere Schönheit: es ist eins mit dem Guten und nur im Denken davon verschieden. Denn wenn es auch anscheinend einen besonderen Vorzug darstellt, so gründet es doch im Guten, aber wie eine einzig schöne Blüte: ohne sie fällt sie ab, in ihr blüht sie. Was ist denn die Ehrbarkeit anders als etwas, was die Schande wie den Tod flieht? Was aber ist das Unehrbare anders als Dürre und Tod, die es herbeiführt? Solange nun die Tugend sproßt, leuchtet daran jenes Schickliche als deren Blüte, weil die Wurzel gesund ist; ist dagegen die Wurzel unserer Tugendhaftigkeit krank, treibt sie keine Blüte.

  Man findet das noch bedeutend klarer bei den Unsrigen ausgesprochen. David nämlich versichert: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“[136]. Und der Apostel mahnt: „Wie am Tage wandelt ehrbar!“ (Rm 13,13) Was (hier) die Griechen e?s??µ???? nennen, das bezeichnet aber eigentlich: ‚von guter Haltung‘, ‚von Wohlgestalt‘. Da nun Gott den ersten Menschen schuf, gab ihm seine formende Hand die gute Haltung, die gute Gliederung und verlieh ihm ein gar schönes Aussehen. Nachlaß der Sünden hatte er ihm nicht verliehen; den Schmuck der menschlichen Erlösung empfing er vielmehr erst, nachdem ihn der in Knechtsform und Menschengestalt Erschienene im Geist erneut und begnadet hatte. Daher des Propheten Ausspruch: „Der Herr ist Herrscher, sein Gewand Schönheit“ (Ps 92,1). An einer anderen Stelle sodann bekennt er: „Dir geziemt Lobgesang, o Gott, auf Sion“ (Ebd. 64, 2.). Das will sagen: Es ist geziemend und ehrbar, daß wir Dich fürchten, Dich lieben, Dich bitten, Dich ehren; denn es steht geschrieben: „Alles von euch geschehe in Ehrbarkeit!“ (1Co 14,40) Freilich wir können auch einen Menschen fürchten, lieben, bitten und ehren: Lobgesang singt man einzig Gott. Was wir Gott darbringen, das muß, wie wir schicklich glauben, alles andere übertreffen. Auch der Frau geziemt, „in zierlichem Gewände zu beten“ (1Tm 2,9); insbesonders aber steht ihr wohl an, „verschleiert zu beten“ (1Co 11,13), zu beten und in Verbindung mit einem guten Wandel die Keuschheit zu geloben (Vgl. 1Tm 2,10).


XLVI. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Einteilung des Schicklichen (222). Alles Natürliche ist schicklich, alles Naturwidrige schimpflich (223). Das zweifache Schickliche im Spiegelbild der Schöpfung (224).

  Das Schickliche ist sonach etwas, was in die Erscheinung tritt. Seine Einteilung ist eine zweifache. Es gibt nämlich eine Art allgemeine Schicklichkeit, die sich durch das Ganze des Sittlichguten erstreckt und sozusagen an seinem ganzen Leibe sichtbar ist; und auch eine besondere, die an irgendeinem Teile desselben hervorleuchtet[137]. Mit jener allgemeinen verhält es sich so, als böte sie in jeder ihrer Handlungen in schönem Einklang das Gleichförmige und Ganze des Sittlichguten, indem ihr Leben mit sich selbst übereinstimmt, ohne daß der geringste Mißton es störte[138]. Die besondere (tritt hervor), so oft sie innerhalb des Tugendbereiches eine besonders vorzügliche Handlung setzt.

  Zugleich beachte folgendes: Schicklich ist das naturgemäße Leben, die naturgemäße Lebensführung, schimpflich das Naturwidrige. Denn so warnt der Apostel in Form einer Frage: „Geziemt dem Weibe unverhüllt zu Gott zu beten? Lehrt euch nicht die Natur selbst, daß es dem Manne, wenn er (langes) Haar trägt, zur Unehre gereicht“ (1Co 11,13 f.), weil es wider die Natur ist? Und wiederum versichert er: „Trägt aber das Weib (lange) Haare, ist's für sie eine Zierde“ (Ebd. 15.); denn das ist naturgemäß, weil die Haare als Schleier dienen: es ist der natürliche Schleier. Person und äußere Tracht bestimmt uns sonach die Natur selbst, und wir müssen sie wahren[139]. O daß wir auch ihre Unschuld hätten bewahren können! Daß unsere Bosheit sie nicht, nachdem wir sie empfangen hatten, verkehrt hätte!

  Das allgemeine Schöne (Schickliche) findet man vor, weil die Schönheit dieser Welt Gottes Schöpfung ist. Aber auch in den einzelnen Teilen trifft man es an; denn auch das Einzelne fand Gottes Gutheißung, als er das Licht schuf und den Tag und die Nacht ausschied, als er den Himmel festigte, als er die Lande und Meere voneinander absonderte, als er die Sonne, den Mond und die Sterne zu Leuchten über die Erde setzte (Gn 1,1 ff.). So strahlte denn dieses Schöne, indem es in den einzelnen Teilen der Welt aufleuchtete, im ganzen All wider, wie es die Weisheit mit den Worten bestätigt: „Ich war es, die seinen Beifall fand, da er sich des vollendeten Erdkreises freute“ (Pr 8,30 f.). Ähnlich ist auch am menschlichen Körperbau jedes Teilglied gefällig; doch mehr noch ergötzt der symmetrische Gliederbau als Ganzes, indem so die Glieder in ihrer gegenseitigen Anpassung und Übereinstimmung in die Erscheinung treten[140].


XLVII. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Das Schickliche im Spiegelbild unseres Lebens. Von den allgemeinen (225) und besonderen Erfordernissen des Schicklichen (226—227), insbesonders von der Beherrschung der Begierlichkeit (228—230) und des Zornes (231—232).

  Wenn nun jemand in seinem Gesamtleben sich gleichförmig bleibt und in den Einzelhandlungen das rechte Maß einhält, desgleichen Ordnung, Beständigkeit und Mäßigung in seinem Reden und Handeln wahrt, so tritt in seinem Leben jenes Schickliche hervor und strahlt daraus wie in einem Spiegel wider.

  Damit verbinde sich jedoch eine liebenswürdige Redeweise, um die Hörer für sich zu gewinnen und bei Angehörigen oder bei Mitbürgern oder womöglich bei allen den Eindruck des Gefälligen zu machen. Niemand schmeichle man, und von niemand lasse man sich schmeicheln! Das eine verriete Verstellung, das andere Eitelkeit.

  Es sei ihm nicht gleichgültig, was einer, namentlich ein guter Mensch von ihm denkt. Auf diese Weise lernt er Achtung haben vor den Guten. Über der Guten Urteil sich hinwegsetzen, wäre nämlich entweder ein Zeichen von Anmaßung oder von Gleichgültigkeit, wobei ersteres dem Hochmut, letzteres der Nachlässigkeit zuzuschreiben wäre.

  Er gebe auch acht auf die Regungen seines Herzens. Er muß sich selbst genau und allseitig beobachten und wie vor sich in acht nehmen, so auf sich sehen. Denn es gibt Regungen, worunter sich jene Begierlichkeit befindet, die mit einem gewissen Ungestüm hervorbricht. ??µ? heißt sie darum bei den Griechen, weil sie gleichsam mit Gewalt plötzlich hervorstürmt. Keine geringe geistige und physische Kraft ruht in diesen Regungen. Diese Kraft aber ist eine zweifache. Die eine liegt im Begehrungsvermögen, die andere in der Vernunft. Diese soll die Begierlichkeit zügeln, sich unterwürfig machen, nach ihrem Willen leiten, in strenger Zucht darüber aufklären, was zu tun, was zu meiden sei, um ihrer Zuchtmeisterin zu folgen[141].

  Wir müssen nämlich eifrig darüber wachen, daß wir nichts unbesonnen und unbedachtsam tun, noch überhaupt etwas, wofür wir keinen stichhaltigen Grund angeben können[142]. Denn wenn man auch nicht allen den Grund seines Handelns mitteilt, unterliegt er doch der Prüfung aller. Wir könnten auch nichts zu unserer Entschuldigung vorbringen. Denn wenn auch in jeder Begierde eine gewisse Naturgewalt liegt, so ist doch diese nämliche Begierde durch das Naturgesetz selbst der Vernunft unterworfen und muß ihr folgen. Es ist daher Aufgabe eines gewissenhaften Beobachters, innerlich auf der Hut zu sein, daß die Begierlichkeit weder der Vernunft zuvorkommt, noch derselben sich entzieht. Sie soll dieselbe durch Zuvorkommen nicht verwirren und ausschalten, und durch Sichentziehen nicht der Herrschaft berauben. Verwirrung hebt die Standhaftigkeit auf; die Einbuße der Herrschaft deutet auf Feigheit und berechtigt zur Anklage auf Trägheit. Ist nämlich der Geist verwirrt, greift die Begierlichkeit weiter und länger um sich, läßt sich gleichsam in ihrem wilden Ungestüm keine Zügel der Vernunft mehr anlegen und bleibt fühllos gegen alles Leiten des Lenkers, das sie womöglich zurückdämmen möchte. Die Folge ist so häufig nicht bloß innere Erregung und Einbuße der Vernunft: auch das Gesicht rötet sich vom Feuer des Zornes oder der Begierde, wird blaß vor Furcht, verliert im Vergnügen die Fassung über sich und gerät vor überschäumender Lust in Ausgelassenheit[143].

  Ist dies der Fall, geht jene natürliche Sittenstrenge und Sittenhoheit verloren, und läßt sich die Standhaftigkeit nicht wahren, die allein, wenn es zu taten und raten gibt, ihre Autorität und jenes Schickliche festzuhalten vermag.

  Am heftigsten aber entbrennt die Leidenschaft aus jener übermächtigen Zornesregung, die so oftmals der Schmerz über erlittenes Unrecht entfacht. Darüber belehren uns zur Genüge die Weisungen des Psalmes (38), den wir in der Vorrede anführten[144]. Es war gar wohl aber auch am Platz, daß wir, als wir an die Schrift über die Pflichtenlehre gingen, zu dieser Ausführung unserer Vorrede (über den Zorn), die selbst ein Beitrag zur Pflichtenlehre war, griffen[145].

  Doch weil wir oben aus Besorgnis, es möchte die Vorrede zu lang werden, notgedrungen nur kurz die Art und Weise berührten, wie ein jeder vor der Aufregung über erlittenes Unrecht sich in achtzunehmen vermag, so glaube ich jetzt noch ausführlicher darüber sprechen zu sollen. Gerade in den Einzelausführungen über die Mäßigkeit bietet sich der passende Ort, davon zu reden, wie man den Zorn unterdrücken soll.



(De Officiis) - XXXVII. Kapitel