(De Officiis) - XLVIII. Kapitel

XLVIII. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Dreifaches Verhalten gegen erlittenes Unrecht: der gewöhnliche Mensch braust auf (233), der Fortgeschrittene schweigt (234), der Vollkommene freut sich darüber, wie Paulus (235) und David (236—238). Das Vollkommene, d. i. das Ewige ist anzustreben. Hier schauen wir nur im Bilde (239).

  Wir wollen nun womöglich zeigen, wie es in der göttlichen Schrift dreierlei Menschen gibt, die Unrecht leiden. Die erste Klasse sind jene, welche der Sünder verhöhnt, beschimpft, verspottet. Da es zu Unrecht geschieht, brennt heißer die Schamröte, heftiger der Schmerz. Diesen gleichen eine ganze Menge von meinem Stand und meinem Rang. Fügte man mir Schwächling eine bloße Beleidigung zu, würde ich, obwohl ein Schwächling, vielleicht das Unrecht gegen mich verzeihen. Macht man mich zum Verbrecher, bin ich, obschon ich mich von solchem Vorwurf frei weiß, nicht so großmütig, daß ich mich mit meinem Gewissen zufrieden gebe, sondern wünsche in meiner Schwachheit den Schandfleck wegzuwischen, der mein empfindliches Schamgefühl verletzt. So fordere ich denn „Aug' um Aug' und Zahn um Zahn“ (Mt 5,38)und vergelte Schimpf mit Schimpf.

  Bin ich aber ein Fortschreitender, wenn auch noch kein Vollkommener, dann erwidere ich die Schmach nicht. Und wenn jener meine Ohren mit Schimpf überschüttet und mit Schmähungen überschwemmt: ich schweige und erwidere nichts.

  Bin ich aber ein Vollkommener — beispielsweise rede ich so; denn in Wahrheit bin ich ein Schwächling —: bin ich ein Vollkommener, segne ich den Schmähenden, wie auch Paulus ihn segnete, der beteuert: „Man schmäht uns, und wir segnen“ (1Co 4,12). Denn er hatte das Wort vernommen: „Liebet eure Feinde, betet für eure Verleumder und Verfolger!“ (Mt 5,44) Darum also litt und trug Paulus die Verfolgung (1Co 4,12), weil er ob des Lohnes der Kindschaft Gottes, der im Fall der Feindesliebe in Aussicht gestellt ward (Mt 5,44 f.), die menschliche Leidenschaft besiegte und beschwichtigte.

  Aber auch vom heiligen David können wir dartun, wie er auch in dieser Tugendart dem Paulus nicht unebenbürtig war. Und zwar schwieg er zunächst zur Schmähung des Sohnes Semeis und zu dessen Vorwurf auf Verbrechen und verdemütigte sich und äußerte bei seinem guten Gewissen, d. i. im Bewußtsein seines guten Handelns nichts. Sodann aber wünschte er sich geradezu die Schmähung, weil er durch solche Schmähung die göttliche Barmherzigkeit zu erlangen hoffte (2R 16,5 ff.).

  Doch sieh, wie er Demut, Gerechtigkeit und Klugheit wahrte, um der Gnade vom Herrn sich würdig zu machen. Sein erstes Wort lautete: „Deshalb flucht er mir, weil der Herr ihm sagte, er solle fluchen“ (2R 16,10). Da hast du die Demut; denn Gottes Gebot glaubte er als armseliger Knecht mit Gleichmut tragen zu müssen. Seine zweite Äußerung lautete: „Sieh, mein Sohn, mein leibliches Kind stellt mir nach dem Leben“ (Ebd. 11.). Da hast du die Gerechtigkeit; denn wenn wir von den Unsrigen noch Schlimmeres erleiden, warum sollten wir ungehalten sein über das, was uns Fremde zufügen? Seine dritte Rede war: „Laß ihn schmähen, weil der Herr es ihm geheißen, um meine Demut zu sehen; und der Herr wird mein Vergelter sein für diese Schmähung“ (Ebd. 11 f.). Und nicht bloß die Lästerung desselben ertrug er, sondern ließ ihn auch, da er Steine nach ihm warf und ihm nachschlich, unbehelligt, ja schenkte ihm sogar nach dem Siege gern Verzeihung, als er darum bat (Ebd. 19, 16 ff.).

  Das führte ich nun deshalb an, um zu zeigen, wie der heilige David im Geiste des Evangeliums nicht bloß nicht den Beleidigten spielte, sondern seinem Lästerer sogar noch gewogen, über Unbilden mehr erfreut als erbittert war und sich Lohn dafür versprach. Doch wiewohl schon vollkommen, strebte er nach immer größerer Vollkommenheit. Wie brennendes Feuer empfand er als Mensch den Schmerz des Unrechts, doch kraft des Geistes blieb er, ein guter Streiter, sieghaft; ein tapferer Wettkämpfer, standhaft. Des Duldens Zweck aber war die Erwartung der Verheißungen. Darum sein Flehen: „Mache mir kund, Herr, mein Ziel und Ende und welches die Zahl meiner Tage ist, damit ich weiß, was mir noch fehlt!“ (Ps 38,5) Nach jenem Ziel der himmlischen Verheißungen fragt er, bezw. nach jenem Ende, da „ein jeder in seiner Ordnung aufersteht: als Erstling Christus; danach die, welche Christus angehören, welche an seine Ankunft geglaubt haben; hierauf folgt das Ende“[146]. Nach der Übergabe des Reiches nämlich an Gott und den Vater und nach der Vernichtung aller Mächte beginnt nach der Versicherung des Apostels die Vollendung (1Co 15,24). Hier ist Behinderung, hier Schwäche selbst bei Vollkommenen, dort die volle Vollendung. Darum Davids Frage nach jenen Tagen des ewigen Lebens, „den seienden“, nicht „den vergehenden“, um zu erkennen, was ihm noch fehle; welches das Land der Verheißung sei mit seinem ewigen Fruchtertrage; welches die erste Wohnung beim Vater sei, welches die zweite, welches die dritte, woselbst jeder nach Verdienst seine Ruhe findet.

  Das also müssen wir erstreben, was die Vollendung, was die Wahrheit in sich trägt. Hier haben wir den Schatten, hier das Bild, dort die Wahrheit: den Schatten im Gesetz, das Bild im Evangelium, die Wahrheit im Himmel. Ehedem brachte man ein Lamm, brachte man ein Kalb zum Opfer dar, jetzt wird Christus geopfert. Er wird geopfert als Mensch, als Leidensfähiger; und zwar ist er selbst der Priester, der sich zur Vergebung unserer Sünden opfert: hier im Bilde, dort in der Wahrheit, wo er beim Vater als Anwalt für uns eintritt. Hier wandeln wir im Bilde, schauen wir im Bilde; dort von Angesicht zu Angesicht, woselbst die volle Vollendung winkt, weil alle Vollendung in der Wahrheit beruht.


XLIX. Kapitel

Von der Mäßigkeit: Das Bild des Vollkommenen und Ewigen (240), nicht des Sündhaften und Vergänglichen soll sich in unserem Wandel spiegeln (241—244), das Bild Christi, nicht des Teufels in unserer Seele aufleuchten (245).

  Solange wir nun hier weilen, laßt uns das Bild festhalten, um dort zur Wahrheit zu gelangen! Das Bild der Gerechtigkeit sei in uns! Das Bild der Weisheit sei in uns! Denn es wird zu jenem Tage kommen, und nach dem Bilde wird man uns werten.

  Nicht finde der Feind sein Bild in dir: nicht Wut, nicht Raserei! In diesen Zügen verrät sich das Bild der Bosheit. Denn der Widersacher, der Teufel, sucht wie ein Löwe, wen er töte, wen er verschlinge (1P 5,8). Er finde keine Goldgier, keine Silbermengen, keine Lasterbilder, um dir nicht das freie Wort zu rauben! Das freie Wort besteht nämlich in dem Bekenntnis: „Der Fürst dieser Welt mag kommen, und er soll nichts an mir finden“ (Jn 14,30). Bist du sicher, daß er nichts an dir findet, wenn er zur Suche kommt, magst du das Wort des Patriarchen Jakob an Laban nachsprechen: „Überzeuge dich, ob sich etwas von dem Deinigen bei mir fin- det!“ (Gn 31,32) Selig mit Recht Jakob, weil Laban nichts von dem Seinigen bei ihm finden konnte! Rachel nämlich hatte seine goldenen und silbernen Götzenbilder verborgen (Ebd. 34.).

  Wenn nun deine Weisheit, wenn dein Glaube, wenn deine Weltverachtung, wenn deine Gnade mit aller Gottlosigkeit aufräumt, wirst du selig sein, weil dein Blick nicht „auf Eitelkeiten und trügerischen Aberwitz“ (Ps 39,5)gerichtet ist. Oder ist es gleichgültig, ob ich dem Gegner das Wort entziehen kann, so daß seine Anschuldigung wider mich jeder Beweiskraft ermangelt? Wer sein Auge nicht auf Eitelkeiten richtet, geht nicht irre: wer es darauf richtet, geht irre, und zwar ganz blindlings. Denn was anders bedeutet Schätze häufen als eitel Beginnen? Eitel genug ist es ja, nach Vergänglichem zu trachten. Hat man sie aber aufgehäuft, wer weiß, ob einem deren Besitz auch vergönnt ist?

  Ist es nicht eitel, wenn der Kaufmann Tag und Nacht auf Reisen ist, um womöglich Haufen Schätze zu sammeln? Wenn er Waren anhäuft, über deren Preis sich den Kopf zerbricht, um nicht unter dem Einkaufspreis zu verkaufen, die Ortspreise ablauert? Wenn er mit einem Mal einen Wegelagerer wider sich reizt, der mit scheelem Auge sein wohlbekanntes Handelsgeschäft verfolgte? Oder wenn er auf seiner Jagd nach Gewinn Schiffbruch leidet, weil er, des Harrens überdrüssig, keine günstigeren Winde abwartete.

  Oder ist nicht auch jener das Opfer eitlen Trugs, der mit größter Anstrengung (Schätze) zusammenrafft, ohne zu wissen, welchem Erben denn seine Hinterlassenschaft zufallen soll? Oftmals wirft ein genußsüchtiger Erbe das, was der Habsüchtige mit tausend Müllen und Sorgen zusammenscharrte, in jäher Verschwendung hinaus und verschleudert es, und läßt ein schändlicher Prasser, der blindlings in die Gegenwart, sorglos in die Zukunft hineinlebt, das langsam Erworbene wie in einem Abgrund verschwinden. Oft auch beschwört der Nachfolger, den man sich erhoffte, wegen der erworbenen Erbschaft den Neid herauf, muß rasch mit Tod abgehen und Fremde in den Genuß der eben angetretenen Erbschaft einsetzen.

  Wozu arbeitest du in eitlem Mühen an einem Spinngewebe, das keinen Wert und Nutzen hat, und hängst Haufen Reichtümer wie unnützes Netzwerk auf? Und wenn sie in Strömen flössen, sie nützen nichts, sie streifen dir vielmehr nur das Bild Gottes ab und ziehen dir das Bild des Irdischen an[147]. Trägt einer das Bild des Tyrannen an sich, setzt er sich nicht der Verurteilung aus? Du willst das Bild des ewigen Herrschers ablegen und wünschst an dir das Bild des Todes? Hinweg vielmehr aus der Stadt deiner Seele mit dem Bilde des Teufels! Richte auf das Bild Christi! Das soll in dir leuchten, in deiner Stadt, d. i. in deiner Seele erstrahlen, um die Bildnisse der Laster schwinden zu machen! Von diesen spricht David: „Herr, Du wirst in Deiner Stadt ihre Bilder fortschaffen“ (Ps 72,20). Dann nämlich, wenn der Herr jenes Jerusalem nach seinem Bilde zeichnet, wird jedes Bild der Widersacher vernichtet.


L. Kapitel

Von den Leviten: Name und Standestugenden im allgemeinen (246—247). Ihre standesmäßige Keuschheit (248—249). Die Erhabenheit ihres Amtes (250). Ihre Hauptfunktionen entsprechend den Kardinaltugenden (251—253). Besondere Pflichten derselben (254—256). Der Levitensegen des Moses (257—259).

  Wenn durch das Evangelium des Herrn sogar auch das gewöhnliche Volk zur Verachtung des Reichtums angeleitet und angehalten ist, wieviel mehr dürft ihr Leviten nicht von irdischen Lüsten euch einnehmen lassen, da Gott euer Anteil ist. Als nämlich von Moses der Besitz des Landes an das Vätervolk ausgeteilt wurde, schloß der Herr die Leviten von der Teilnahme daran aus (Nb 18,20 ff.), weil er selbst ihr Erblos sein wollte (Ps 104,11). Daher Davids Bekenntnis: „Der Herr ist meines Erbes und meines Bechers Anteil“ (Ebd. 15, 5.). Das bedeutet denn auch der Name Levite: ‚er ist mein‘, oder aber: ‚er ist statt meiner‘[148]. Etwas Erhabenes muß es also um sein Amt sein, daß der Herr von ihm spricht: ‚er ist mein‘, oder wie er zu Petrus in Hinblick auf den im Rachen des Fisches gefundenen Stater sagte: „Gib ihnen denselben für mich und dich!“ (Vgl. Mt 17,27) Auch der Apostel fügte hinzu, nachdem er vom Bischof verlangt hatte, er solle nüchtern, ehrbar, würdevoll, gastfrei, zum Lehren geeignet, nicht geizig, nicht streitsüchtig sein, seinem Hause ein guter Vorgesetzter (1Tm 3,2 ff.): „Desgleichen sollen die Diakonen gesetzt sein, nicht doppelzüngig, nicht viel dem Wein ergeben, nicht nach schnödem Gewinn trachtend, das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen tragend. Auch sie sollen aber erst erprobt werden und so, wenn sie untadelig sind, den Dienst versehen“ (Ebd. 8 ff.).

  Wir sehen, wie große Anforderungen an uns gestellt werden. Der Diener des Herrn soll von Wein sich enthalten, auf einen guten Leumund nicht bloß der Gläubigen, sondern auch „von Seiten derer, die draußen sind“, sich stützen können (Ebd. 7.). Denn die öffentliche Meinung darf billig Zeuge unseres Handelns und Wirkens sein, damit der Ruf des Amtes nicht leide; damit, wer einen Diener des Altares im geziemenden Tugendschmucke erblickt, den Schöpfer preise und den Herrn ehre, der solche Diener hat. Denn wo rein die Habe und unsträflich die Zucht der Dienerschaft, erhebt sich das Lob des Herrn.

  Was soll ich aber von der Reinheit sprechen? Ist doch nur eine Ehe und keine weitere erlaubt. Und in der Ehe selbst liegt das Gesetz, die Ehe nicht zu wiederholen und keine zweite eheliche Verbindung einzugehen[149]. Verwunderlich erscheint so manchem nur das, warum sogar aus einer vor der Taufe wiederholt eingegangenen Ehe für die Wahl zum (Leviten-) Amte und für das Vorrecht zum Weiheempfang Hindernisse erwachsen sollen, während selbst Verfehlungen, wenn sie durch das Taufsakrament nachgelassen sind, kein Hindernis bilden. Doch wir müssen bedenken, daß durch die Taufe wohl die Schuld nachgelassen, nicht aber ein Gesetz aufgehoben werden kann. In solcher Ehe liegt nicht Schuld, sondern Gesetz. Was Schuld ist, wird in der Taufe getilgt, was Gesetz ist in der Ehe, nicht aufgehoben. Wie könnte aber auch einer zum Witwenstand aufmuntern, der selbst mehrere Ehen eingegangen hat?

  Ihr, die ihr in leiblicher Unversehrtheit, in unverletzter Reinheit, selbst in ehelicher Enthaltsamkeit das Gnadenamt eures heiligen Dienstes empfangen habt, begreift wohl, daß dieser Dienst sonder Tadel und Makel geleistet werden muß. Das ließ ich deshalb nicht unerwähnt, weil vielfach an abgelegeneren Orten Kleriker, da sie den Kirchendienst oder selbst das Priesteramt bekleideten, Kinder bekamen. Sie wollen dies gleichsam mit einem alten Herkommen beschönigen aus der Zeit, da man nach tagelangen Unterbrechungen das Opfer darbrachte. Und doch beobachtete, wie wir im Alten Testamente lesen, das gewöhnliche Volk, um rein zum Opfer zu treten, durch zwei und drei Tage hindurch keusche Enthaltsamkeit und wusch sich die Kleider (Ex 19,10 f.). Wenn schon im vorbildlichen Kulte so strenge Observanz herrschte, wie streng muß sie im wahren sein! Verstehe, Priester und Levite, was es bedeutet: ‚deine Kleider waschen‘. Du sollst einen reinen Leib zur Feier der Geheimnisse mitbringen! Wenn es dem Volke verboten war, ohne Reinwaschung seiner Kleider zum Opfer hinzutreten: du wolltest es wagen, unreines Geistes und Leibes zugleich für andere zu beten, für andere des Dienstes zu walten?

  Nichts Geringes ist es um den Dienst der Leviten, von welchen der Herr spricht: „Sieh, ich erwähle die Leviten aus der Mitte der Söhne Israels statt jedes Erstgeborenen, der den Kindern Israels den Mutterleib öffnet. Sie sollen deren Lösegeld sein. Und mein sollen die Leviten sein; denn für mich habe ich die Erstgeburt im Lande Ägypten geheiligt“ (Nb 3,12 f.). Wir wissen, daß die Leviten (in der Schrift) nicht unter die Zahl der übrigen gerechnet, sondern allen vorgezogen werden; sie werden aus allen auserwählt und geheiligt wie die Erstgeburt und die Erstlinge der Früchte, welche für den Herrn bestimmt sind, welche die Einlösung von Gelübden und die Loslösung von Sünden bedeuten: „Du sollst sie“, heißt es, „nicht unter die Söhne Israels aufnehmen, sondern sollst festsetzen, daß die Leviten über dem Zelte des Zeugnisses und über allen Gefäßen desselben und über allen Gerätschaften in demselben stehen. Sie sollen das Zelt und alle Gefäße desselben tragen und in demselben dienen und das Lager um das Zelt aufschlagen. Und beim Aufbruch sollen sie, die Leviten, das Zelt zusammenlegen. Und beim abermaligen Aufschlagen des Lagers sollen sie auch das Zelt aufstellen. Jeder Fremde, der hinzutritt, soll des Todes sterben“ (Ebd. 1, 49 ff.).

  Du nun bist der aus der Gesamtzahl der Söhne Israels Erkorene, gleichsam der als Erstling unter den heiligen Früchten Erlesene, der dem Zelte Vorgesetzte, so daß du den Vortritt im Lager der Heiligkeit und des Glaubens hast, dem kein Fremder nahen darf, ohne des Todes zu sterben; du der hierzu Berufene, die Lade des Bundes zu verhüllen. Denn nicht alle schauen die hohen Geheimnisse, weil sie von den Leviten verhüllt werden, damit die, welche sie nicht schauen dürfen, sie nicht schauen; die, welche sie nicht bewahren können, sie nicht empfangen. So schaute auch Moses die Beschneidung im geistigen Sinn, legte aber eine Hülle darüber, so daß er die Beschneidung nur im Zeichen vorschrieb. Er schaute „das ungesäuerte Brot der Wahrheit und Reinheit“ (1Co 5,8); er schaute das Leiden des Herrn: er verhüllte das ungesäuerte Brot der Wahrheit unter dem physischen; er verhüllte das Leiden des Herrn unter dem Opfer eines Lammes oder Kalbes. Gute Leviten wahrten das Geheimnis unter der Hülle ihres Glaubens: und du wolltest das, was dir anvertraut ward, für gering halten? Das erste ist, daß du die Erhabenheit Gottes schaust: das verlangt die Wahrheit; das zweite, daß du für das Volk wachst: das verlangt die Gerechtigkeit; daß du das Lager verteidigst und das Zelt hütest: das verlangt die Tapferkeit; dich selbst enthaltsam und nüchtern erweist: das verlangt die Mäßigkeit.

  Diese Arten der Haupttugenden stellten auch jene auf, „die draußen sind“ (1Co 5,12 f.; Col 4,5 Col 4,11 1Tm 3,7), räumten jedoch der Gemeinschaftstugend (Gerechtigkeit) einen höheren Rang ein als der Weisheit, da doch die Weisheit das Fundament, die Gerechtigkeit der Bau darüber ist, der ohne das Fundament nicht denkbar ist[150]. Das Fundament aber ist Christus (1Co 3,11).

  Das erste nun ist der Glaube. Er gehört zur Weisheit. So beteuert Salomo, seinem Vater folgend (Ps 110,10): „Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn“ (Pr 9,10). Und das Gesetz gebietet: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben“ (Dt 6,5 Dt 11,13), „du sollst den Nächsten lieben“ (Vgl. Lv 19,18). Schön ist es, dein Herz und deine Dienste der menschlichen Gesellschaft zu widmen: doch als erstes geziemt sich, daß du das Kostbarste, was du hast, deinen Geist — Kostbareres als ihn hast du nicht —, Gott weihst. Erst wenn du gegen den Schöpfer deine Schuld eingelöst hast, magst du dein Wirken dem Wohltun und der Hilfeleistung der Menschen weihen und ihrer Not sei es durch eine Geldspende, sei es durch eine Gefälligkeit oder einen sonstigen Dienst, wozu in eurem Amte so reichliche Gelegenheit sich bietet, steuern: durch eine Geldspende, um eine Unterstützung zu gewähren; durch ein Darlehen, um einen Überschuldeten zu befreien; durch eine Gefälligkeit, um eine Hinterlage in Gewahrsam zu nehmen, deren Verlust der Gläubiger befürchtete.

  Es ist nun Pflicht, die Hinterlage zu bewahren oder heimzuzahlen[151]. Zuweilen bedingt freilich die Zeit oder die Not etwas anderes, so daß keine Pflicht zur Rückgabe des Empfangenen besteht[152]: so, wenn jemand als ein offenkundiger Feind das Geld zur Unterstützung der Barbaren wider das Vaterland zurückfordern würde; oder wenn man es einem zurückerstatten wollte, der sich in den Händen eines Erpressers befindet; wenn man es einem Rasenden heimzahlen wollte, da er ja außerstande ist, es aufzubewahren. Einem Wahnsinnigen ein anvertrautes Schwert, mit dem er sich töten will, nicht vorenthalten, wäre solche Rückerstattung nicht pflichtwidrig? Wissentlich zur Hintergehung des Verlustträgers gestohlenes Gut annehmen, wäre das nicht pflichtwidrig?

  Manchmal wäre es auch pflichtwidrig, ein Versprechen einzulösen, einen Eid zu halten[153]. So gab Herodes, welcher der Tochter der Herodias alles zu geben schwur, was nur verlangt würde, selbst die Ermordung des Johannes zu, um sein Versprechen nicht zu brechen (Mt 14,7 ff.). Was soll ich denn von Jephte sagen, der zur Erfüllung des Gelübdes, das er gelobt hatte, nämlich Gott darzubringen, was immer ihm zuerst begegnen würde, seine Tochter opferte, weil sie ihm nach dem Siege zuerst in den Weg gekommen war? (Richt. 11, 30 ff.) Besser wäre es gewesen, nichts Derartiges zu versprechen, als das Versprechen mit einem Kindesmord einzulösen.

  Es ist euch nicht unbekannt, wieviel Besonnenheit dazu gehört, hier das Richtige zu treffen. Daher die Auswahl des Leviten, der das Heiligtum bewachen soll, damit er sich nicht in seiner Unbesonnenheit täuschen lasse, nicht vom Glauben abfalle, nicht den Tod fürchte, nichts überhaste, um schon äußerlich ein würdevolles Benehmen an den Tag zu legen, nicht bloß in der Gesinnung, sondern auch in den Blicken enthaltsam zu sein: auch eine zufällige Begegnung sollte schicklicherweise seine züchtige Stirn nicht erröten machen; denn ,,jeder, der ein Weib ansieht, um es zu begehren, hat mit ihr in seinem Herzen Ehebruch getrieben“ (Mt 5,28). So läßt sich nicht bloß durch eine Schandtat im Werk, sondern auch schon durch einen absichtlichen Blick Ehebruch begehen.

  Das scheinen große, ja allzu strenge, aber in einem großen Amte nicht müßige Anforderungen zu sein. Ist doch das Gnadenamt der Leviten so erhaben, daß Moses in seinen Segenssprüchen von denselben sagt: „Gebt dem Levi seine Männer, gebt dem Levi seine Erlauchten, gebt dem Levi das ihn treffende Los und dem heiligen Mann seine Wahrheit! Denn in Prüfungen versuchten sie ihn, über dem Wasser des Widerspruches schmähten sie ihn. Der zu seinem Vater und seiner Mutter spricht: ‚ich kenne dich nicht‘, und seine Brüder nicht kennt und auf Kinder seinerseits verzichtete, er hütet deine Worte und wahrte deinen Bund“ (Dt 33,8 f.).

  Die Leviten nun sind „seine Männer“ und „seine Erlauchten“, welche „seine Worte hüten“ und in ihrem Herzen überdenken, wie Maria sie überdachte (Lc 2,19 Lc 2,51). Sie „kennen ihre eigenen Eltern nicht“, um sie etwa ihrem Dienste vorzuziehen, hassen die Schänder der Keuschheit, rächen die Verletzung der Jungfräulichkeit und kennen die jeweiligen Anforderungen ihres Dienstes: welche Verrichtung die wichtigere, welche die weniger wichtige sei, zu welchem Zeitpunkt sie sich eigne. So wollen sie nur das Schickliche befolgen und, wo wirklich ein zweifaches Schickliches vorliegt, für das Schicklichere sich entscheiden. Sie sind mit Recht „die Gesegneten“.

  Verkündet nun einer Gottes Recht und Gerechtigkeit, nimmt er die Räucherung vor, so „segne, Herr, seine Tugend, nimm auf die Werke seiner Händel“ (Dt 33,10 f.)Er möge die Gnade des prophetischen Segensspruches bei dem finden, der lebt und herrscht in die Ewigkeiten der Ewigkeiten, Amen.







Zweites Buch: Vom Nützlichen

I. Kapitel

Vom seligen Leben: Quelle desselben das Sittlichgute (1). Es wird innerlich erlebt, unabhängig von fremder Beurteilung (2). Sein Lohn das ewige Leben, dem es die Hl. Schrift gleichsetzt (3).

  Im vorausgehenden Buche haben wir von den Pflichten gehandelt, die nach unserem Urteil dem Sittlichguten entsprechen. Niemand konnte zweifeln, daß hierin das selige Leben ruht, das die Heilige Schrift das ewige Leben nennt. So groß ist nämlich der Glanz des Sittlichguten, daß gerade die Ruhe des Gewissens und der sichere Besitz der Unschuld das selige Leben ausmachen. Wie die Sonne nach ihrem Aufgang den Mondball und die übrigen Lichtkörper am Sternenhimmel schwinden macht, so überstrahlt der Glanz des Sittlichguten, wo er in wahrer und ungebrochener Schönheit aufblitzt, alles andere, was nach Maßgabe der Sinnenlust für gut, oder nach dem Urteil der Welt für herrlich und ruhmvoll gilt.

  Selig fürwahr das Leben, dessen Wertschätzung nicht von fremdem Urteil abhängt, sondern das, ein Selbstrichter, im eigenen Empfinden erlebt wird! Es bedarf des Leumundes der Leute nicht als Lohnes, fürchtet ihn aber auch nicht als Strafe. Je weniger es nach Ruhm strebt, desto mehr ist es darüber erhaben. Denn wer nach Ruhm verlangt, besitzt in diesem Lohne des Gegenwärtigen nur den Schatten des Zukünftigen, und damit ein Hindernis des ewigen Lebens, wie es im Evangelium geschrieben steht: „Wahrlich ich sage euch, sie haben ihren Lohn schon erhalten“ (Mt 6,2). Jene sind gemeint, die wie mit Posaunenschall ihre Freigebigkeit, die sie gegen Arme üben, bekanntzumachen wünschen; ebenso ihr Fasten, mit dem sie Aufsehen machen wollen. „Sie haben ihren Lohn“, so heißt es (Ebd. 16.).

  So ist es denn dem Sittlichguten eigen, im Verborgenen sei es Barmherzigkeit zu üben, sei es Fasten zu halten; es soll sich damit zeigen, daß du allein nur von deinem Gott, nicht auch von den Menschen deinen Lohn suchst. Denn wer ihn von den Menschen sucht, „der hat seinen Lohn“; wer hingegen von Gott, der hat das ewige Leben, das nur der Urheber der Ewigkeit (Vgl. Is 9,6) verleihen kann gemäß jenem Ausspruche: „Wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lc 28,43). So nannte denn die Schrift das selige Leben deutlich genug das ewige Leben: es sollte seine Würdigung nicht menschlichen Auffassungen überlassen, sondern dem göttlichen Urteil unterstellt werden.


II. Kapitel

Vom seligen Leben: Die verschiedenen Auffassungen der Philosophie (4). Die Hl. Schrift verlegt es in die Gotteserkenntnis und die guten Werke (5), lange bevor man von einer Philosophie hörte (6): die beiden Elemente sind unzertrennlich (7).

  Von den Philosophen nun verlegten die einen das selige Leben in die Schmerzlosigkeit, wie Hieronymus, andere in die Erkenntnis der Dinge, wie Herillus. Dieser hörte nämlich, wie Aristoteles und Theophrast der Erkenntnis der Dinge wunderbares Lob spendeten, und setzte darum in sie allein das höchste Gut, während jene sie wohl als ein Gut, nicht aber als das einzige Gut priesen. Andere, wie Epikur, nannten den Genuß; andere, wie Kallipho und nach ihm Diodor, erklärten sich dahin, daß der eine das Sittlichgute mit dem Genusse, der andere mit dem Freisein von Schmerz zugleich verband, indem es ohne dasselbe kein seliges Leben geben könne. Der Stoiker Zeno behauptete, das Sittlichgute sei das einzige und höchste Gut; Aristoteles hingegen, bezw. Theophrast und die übrigen Peripatetiker, das selige Leben beruhe zwar in der Tugend, d. i. im Sittlichguten, aber zum Vollmaß ihrer Seligkeit gehörten auch die leiblichen und äußeren Güter.

  Die göttliche Schrift dagegen verlegte das ewige Leben in die Erkenntnis Gottes und die Frucht des guten Wirkens. Für beide Behauptungen spricht denn auch das Zeugnis des Evangeliums. Was einerseits die Erkenntnis anlangt, so äußerte sich der Herr Jesus folgendermaßen: „Das ist aber das ewige Leben, daß sie Dich, den alleinigen wahren Gott, erkennen, und den Du gesandt hast, Jesus Christus“ (Jn 17,3). Was andrerseits die Werke betrifft, so gab er folgenden Bescheid: „Jeder, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verläßt, wird hundertfältig empfangen und das ewige Leben besitzen“ (Mt 19,29).

  Damit man jedoch nicht glaube, das sei etwas Neues und, bevor es im Evangelium ausgesprochen ward, von den Philosophen behandelt worden — die Philosophie nämlich, d. i. Aristoteles und Theophrast, oder auch Zeno und Hieronymus, sind wohl älter als das Evangelium, doch jünger als die Propheten —, so höre man, wie beide Punkte, lange bevor man von den Philosophen auch nur dem Namen nach vernahm, durch den Mund des heiligen David offen ausgesprochen erscheinen. Denn es steht geschrieben: „Selig, wen Du, o Herr, unterweist und über Dein Gesetz belehrst!“ (Ps 93,12) Auch anderen Orts lesen wir: „Selig der Mann, der den Herrn fürchtet! An seinen Geboten wird er übergroße Lust haben“ (Ps 111,1). Auf die Erkenntnis bezog sich unsere Belehrung. Als deren Lohn nannte der Prophet die Frucht der Ewigkeit und setzte bei, im Hause eines Menschen, der den Herrn fürchtet, bezw. der im Gesetze unterrichtet ist und an den göttlichen Geboten seine Lust hat: „Ehre und Reichtum ist in seinem Hause, und seine Gerechtigkeit währt in alle Ewigkeit“ (Ebd. 3.). Ebenso fügte er bezüglich der Werke im gleichen Psalme hinzu, sie verschaffen dem gerechten Mann den Lohn des ewigen Lebens. So beteuert er: „Selig der Mann, der mitleidig ist und leiht! Er wird seine Worte stellen im Gerichte; denn in Ewigkeit wird er nicht zum Wanken gebracht werden“ (Ebd. 5 f.). Und im folgenden: „Er teilte aus, gab den Armen: seine Gerechtigkeit währt in Ewigkeit“ (Ebd. 9.).

  Der Glaube besitzt das ewige Leben: er ist dessen gute Grundlage. Aber auch die guten Werke besitzen es. In Wort und Tat zugleich bewährt sich nämlich der Gerechte. Denn wenn er nur im Reden bewandert, in Werken aber lässig ist, straft das Tun seine Einsicht Lügen, und um so schwerer ist die Verantwortung, wenn man weiß, was man tun sollte, aber nicht tat, was man zu tun für notwendig erkannte. Aber auch umgekehrt, Im Handeln gewissenhaft, in der Gesinnung schwankend sein, hieße über schlechter Grundlage schöne Giebelbauten aufführen wollen. Je mehr man aufbaut, umso mehr stürzt ein. Ohne die feste Stütze des Glaubens können die guten Werke nicht bestehen. Eine unzuverlässige Reede im Hafen macht das Schiff zerschellen; und ein sandiger Boden entweicht rasch und vermag die Last des aufgeführten Baues nicht zu tragen. Dort also winkt der volle Lohn, wo vollendete Tugend herrscht und vernünftiges Handeln mit vernünftigem Reden gleichsam gleichen Schritt hält.


III. Kapitel

Vom seligen Leben: Es beruht nach der Schrift in der Tugendhaftigkeit und ist unabhängig vom leiblichen und äußeren Wohl und Wehe des Menschen (8), ja offenbart sich vorzugsweise im Leiden (9).

  Weil nun die bloße Wissenschaft von den Dingen, nach den müßigen Streitreden der Philosophie zu urteilen, sei es als Scheinwissen, sei es als Halbwissen dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen ist, so laßt uns erwägen, wie klar die göttliche Schrift das Problem löst, über das wir in der Philosophie so vielerlei verworrene und unklare Fragen aufgeworfen sehen. Nur das Ehrenhafte ist nach der Schrift gut; und nur die Tugend, die weder durch leibliche oder äußere Güter einen Zuwachs, noch durch Widerwärtigkeiten einen Eintrag erleidet, ist nach ihrem Urteil in jeder Sachlage selig, und nichts so selig, als was von Sünde frei, voll Unschuld und voll Gnade Gottes ist. Denn es steht geschrieben: „Selig der Mann, der nicht nach dem Rate der Gottlosen wandelt und nicht auf dem Wege der Sünder steht und nicht auf dem Stuhle der Pest sitzt, sondern seine Lust am Gesetze des Herrn hat!“ (Ps 1,1) Und an einer anderen Stelle: „Selig, die unversehrt ihren Weg gehen; die wandeln im Gesetze des Herrn!“ (Ebd. 118, 1.)

  Unschuld und Wissen also machen selig. Auch vom guten Handeln bemerkten wir oben, daß sein Lohn die Seligkeit des ewigen Lebens sei. So erübrigt denn noch zu zeigen, wie man es unter seiner Würde halten soll, als Anwalt der Lust aufzutreten, oder aber den Tod zu fürchten: das eine verächtlich, weil entnervt und weichlich, das andere, weil unmännlich und schwächlich; wie vielmehr gerade in Schmerz und Leiden das selige Leben sich vorzüglich bekundet. Dies läßt sich leicht dartun, wenn wir lesen: „Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse mit Unwahrheit wider euch redet um der Gerechtigkeit willen! Freuet euch und frohlocket! Denn euer Lohn ist groß im Himmel. Ebenso hat man ja auch die Propheten verfolgt, die vor euch waren“ (Mt 5,11 f.). Und an einer anderen Stelle: „Wer mir nachfolgen will, nehme sein Kreuz und folge mir“ (Ebd. 16, 24.).


IV. Kapitel

Vom seligen Leben: Durch Leiden und Widerwärtigkeiten erfährt es nicht bloß keinen Eintrag, sondern vielmehr Förderung. Biblische Beispiele (10—14) und Christi Seligpreisungen (15) beweisen das.

  Selbst mit dem Schmerz verträgt sich die Seligkeit; denn die Tugend, voll Süßigkeit, sich selbst überreich an inneren Gütern, sei es an Gewissens-, sei es an Gnadengütern, dämpft und stillt ihn. Nicht wenig selig war Moses, da er, vom ägyptischen Volke rings bedrängt und vom Meere eingeschlossen, kraft seiner frommen Verdienste für sich und das Vätervolk einen gangbaren Weg durch die Fluten gefunden hatte (). Wann aber wäre er starkmütiger gewesen als damals, da er, von äußersten Gefahren umgeben, nicht an der Rettung verzweifelte, sondern den Sieg erzwang?

  Wie steht es bei Aaron? Wann hätte er sich seliger gefühlt als damals, da er in der Mitte zwischen den Lebenden und Toten stand und sich selbst dem Tode entgegenstellte und ihm Einhalt gebot, daß er nicht von den Leichen der Toten zu den Scharen der Lebendigen überginge? (Nb 16,47 f.) Was soll ich vom Knaben Daniel reden, der so weise war, daß er inmitten der von Hunger gereizten Löwen nimmer aus Angst vor der Wut der Bestien die Fassung verlor; so furchtlos, daß er ohne Besorgnis, er möchte durch sein Beispiel die wilden Tiere zur Freßgier reizen, zu essen vermochte? (Da 14,30 ff.)

  So birgt auch im Leid sich Tugend, die das süße Glück eines guten Gewissens genießt und so den Beweis liefert, daß der Schmerz den Genuß der Tugend nicht beeinträchtigt. Wie nun die Tugend durch Schmerz keinerlei Einbuße erfährt, so durch leiblichen Genuß oder günstige äußere Vorteile keinerlei Zuwachs. Mit Rücksicht darauf spricht der Apostel so schön: „Was mir Gewinn gewesen, das erachtete ich um Christus willen für Nachteil“ (Ph 3,7). Und er fügte hinzu: „Um seinetwillen erachtete ich alles für Schaden und halte es für Kot, um Christus zu gewinnen“ (Ebd. 8.).

  Darum glaubte denn auch Moses, die Schätze der Ägypter seien für ihn nur Nachteil, und zog ihnen die Schmach des Kreuzes des Herrn vor: weder damals reich trotz Überfluß an Geld, noch später arm trotz Mangel an Nahrung, es müßte denn sein, daß er einem damals, als es ihm und seinem Volke in der Wüste an Nahrung gebrach, weniger selig dünkte. Doch da ward ihm — und niemand dürfte dem den Charakter höchsten Gutes und höchster Seligkeit abzusprechen wagen — das Manna, d. i. das Brot der Engel vom Himmel gereicht; desgleichen gab es auf den täglichen Regen Fleisch im Überfluß zur Nahrung des ganzen Volkes (Ex 18,13 ff. Nb 11,31 ff.).

  Ebenso hätte es dem heiligen Elias an Brot zum Lebensunterhalte gefehlt, würde es dessen Erwerbes bedurft haben; aber es mangelte offensichtlich nicht, weil es dessen nicht bedurfte: durch der Raben täglichen Dienst ward ihm des Morgens Brot, des Abends Fleisch herbeigebracht (8 Kön. 17, 6.). War er etwa deshalb weniger selig, weil er für sich selbst dürftig war? Keineswegs. Im Gegenteil, um so seliger, weil er für Gott reich war (Vgl. Lc 12,21). Denn besser ist es für andere, als für sich reich zu sein, wie er es war. Er erbat sich in der Hungersnot von einer Witwe Speise, um ihr die Wohltat zu erweisen, daß der Mehltopf drei Jahre und sechs Monate lang nicht ausging, und das Ölgefäß der armen Witwe den täglichen Bedarf hinlänglich deckte und bot (3 Kön. 17, 10 ff.). Mit Recht wollte Petrus dort sein, wo er solche Selige schaute (Mt 17,4). Mit Recht erschienen sie auf dem Berge mit Christus in der Verklärung (Ebd. 3.), weil auch dieser arm wurde, da er reich war (2Co 8,9).

  So trägt denn Reichtum nichts zum seligen Leben bei. Das bezeugte der Herr klar im Evangelium mit den Worten: „Selig, ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes! Selig, die jetzt hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden! Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen!“ (Lc 6,20 f.) Damit ist klar und deutlich ausgesprochen, daß Armut, Hunger, Schmerz, die man für Übel hält, nicht bloß kein Hindernis, sondern sogar eine Förderung für das selige Leben bilden.



(De Officiis) - XLVIII. Kapitel