Kommentar zum Evangelium Mt 51

Einundfünfzigste Homilie. Kap. XV, V,1-20.

51 Mt 15,1-20
1.

V.1: "Dann traten die Schriftgelehrten und Pharisäer aus Jerusalem zu Jesus hin und sagten: V.2: Warum übertreten deine Jünger die Überlieferungen der Alten?" 

   Wann: "dann"? Damals als Jesus unzählige Wunder gewirkt, als er die Kranken durch die Berührung des Saumes seines Gewandes geheilt hatte. Gerade aus dem Grunde gibt nämlich der Evangelist den Zeitpunkt an, um zu zeigen, dass ihre unvergleichliche Bosheit vor gar nichts zurückschrecke. Was sollen aber die Worte bedeuten: "Die Schriftgelehrten und Pharisäer aus Jerusalem"? Sie lebten nämlich überall unter den Stämmen zerstreut und waren so in zwölf Teile geteilt; nur waren diejenigen, die in der Hauptstadt lebten, noch schlechter als die übrigen, da sie mehr Ehre genossen und sich ungemein viel einbildeten. Beachte nun aber, wie sie in ihrer eigenen Frage gefangen werden. Ihre Frage lautet nicht: Warum übertreten Deine Jünger das Gesetz des Moses, sondern "die Überlieferungen der Alten?" Daraus ist es ersichtlich, dass die Priester viele Neuerungen eingeführt hatten, obschon Moses unter vielen und furchtbaren Drohungen verboten hatte, zum Gesetze etwas hinzuzufügen oder davon wegzunehmen. "Zu dem Gesetze, das ich euch heute gebe, sollt ihr nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen" (Dt 4,2). Trotzdem führten sie Neuerungen ein, so zum Beispiel die, nicht mit ungewaschenen Händen zu essen, desgleichen die Becher und ehernen Gefäße zu reinigen und selbst auch eine Waschung vorzunehmen. Während sie aber dann im Verlaufe der Zeit diese Vorschriften hätten aufheben sollen, stellten sie vielmehr noch andere auf aus Furcht, man könnte ihnen die Herrschaft entreißen, und in der Absicht, sich als Gesetzgeber noch mehr Ansehen zu verschaffen. Soweit waren sie nun schon in ihrer Gesetzwidrigkeit gegangen, dass sie ihre eigenen Satzungen beobachteten, die Gebote Gottes dagegen übertraten, und solchen Einfluß hatten sie, dass die Übertretung ihrer Satzung sogar Gegenstand einer Anklage wurde. Ihr Unrecht war darum ein doppeltes, einerseits dass sie Neuerungen einführten, und andererseits, dass sie ihre eigenen Vorschriften so sehr betonten, während sie sich um die Gebote Gottes nicht kümmerten. Da wußten sie von nichts anderem zu reden, als von Krügen und Töpfen[522] ; das schien ihnen wichtiger als alles andere; davon reden sie. Ich glaube, sie taten dies in der Absicht, den Herrn zum Zorn zu reizen. Deshalb tun sie auch der Alten Erwähnung, damit er sich, wenn er geringschätzig von ihnen redete, eine Blöße gäbe. 

   Zuerst jedoch ist es der Mühe wert zu untersuchen, weshalb die Jünger überhaupt aßen, ohne vorher die Hände zu waschen? Weshalb aßen sie also ohne Waschung? Nicht absichtlich, sondern weil sie es als etwas Überflüssiges unbeachtet ließen und dafür das Notwendige im Auge hatten. Es galt ihnen weder als Vorschrift, die Hände zu waschen, noch als Verbot, sie nicht zu waschen; sie taten beides, wie es sich gerade traf. Da sie sich nicht einmal sonderlich um den notwendigen Unterhalt kümmerten, wie hätte ihnen an solchen nebensächlichen Dingen etwas gelegen sein sollen? Da nun dieses oft ganz unabsichtlich vorkam, wie z.B. damals, als sie in der Wüste aßen und als sie Ähren abstreiften, so machten es ihnen diejenigen zum Vorwurf, die am Wichtigen stets achtlos vorübergingen und auf Nichtigkeiten ein großes Gewicht legten. Was antwortet nun Christus? Er übergeht den Vorwurf, ohne sich zu verteidigen, und tritt sofort mit einer Gegenklage hervor, um ihre Dreistigkeit zu dämpfen und zu zeigen, dass derjenige, welcher sich selber große Vergehen zuschulden kommen läßt, es bei anderen in geringfügigen Dingen nicht so genau nehmen dürfe. Euch sollte man anklagen, so sagt er gleichsam, und ihr bringt Anklagen vor? Beachtet da, wie der Herr es in Form einer Entschuldigung tut, wenn er ein Gebot des Gesetzes aufheben will. Denn er befaßt sich nicht sofort mit der Übertretung, noch sagt er, es hat nichts auf sich; denn dadurch hätte er sie nur noch kühner gemacht; vielmehr weist er zuerst ihre Keckheit zurück, indem er eine weit stärkere Anklage vorbringt und sie auf ihr eigenes Haupt zurückschleudert. Auch sagt er nicht, die Jünger hätten recht getan mit der Übertretung[523] , um ihnen keine Handhabe zu bieten; er tadelt aber auch das Vorgefallene nicht, um nicht jenes[524] Gesetz zu bestätigen. Er beschuldigt ferner auch die Alten nicht der Gesetzesübertretung und des Frevels; denn dann hätten sie ihn als verleumderisch und hochmütig gemieden. Alle diese Möglichkeiten läßt er beiseite und schlägt einen anderen Weg ein. Es hat zwar den Anschein, als tadle er die Anwesenden; jedoch greift er nur diejenigen an, welche diese Satzungen aufgestellt hatten; ohne die Alten auch nur zu erwähnen, trifft er sie doch auch in seiner Anklage gegen diese, indem er zeigt, dass deren Verfehlung eine doppelte ist; denn einerseits gehorchen sie Gott nicht, andererseits halten sie diese Satzung nur um der Menschen willen. Der Herr sagt gleichsam: Das, gerade das hat euch ins Verderben gestürzt, dass ihr in allen Stücken den Alten gehorchet, Doch spricht er dies nicht aus; aber darauf spielt er an, wenn er ihnen antwortet: 

   V.3: "Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes wegen eurer Überlieferung? Denn Gott hat gesprochen: 

   V.4: Ehre den Vater und die Mutter! und: Wer verfluchet Vater oder Mutter, soll des Todes sterben" (Ex 20,12 u. Ex 21,27). 

   V.5: Ihr aber saget: Wer immer zum Vater oder zur Mutter spricht: Ein Geschenk ist es[525] , was du von mir haben willst[526] , der ehret auch nicht seinen Vater oder seine Mutter, 

   V.6: und das Gebot Gottes habt ihr aufgehoben wegen eurer Überlieferung."



2.

Der Herr sagte also nicht "[527] der Alten", sondern "wegen eurer" Überlieferung; und "ihr sagt", spricht er, nicht "die Alten sagten", um so seine Rede schonender zu gestalten. Denn da sie seine Jünger als Gesetzesübertreter hinstellen wollten, zeigt er, dass sie diesen Vorwurf nicht verdienen, während gerade jene selbst tun, was sie anderen vorwerfen. Denn was von Menschen bestimmt wird, und noch dazu von solchen, die so sehr selbst gegen das Gesetz verstoßen, das ist kein Gesetz[528] . Und weil es nicht gegen das Gesetz war, wenn man befahl, die Hände zu waschen, so führt er eine andere Überlieferung an, die wirklich dem Gesetze zuwiderlief. Was er aber sagt, ist das: Sie lehrten die Jugend unter dem Vorwande der Gottesverehrung ihre Väter verachten. Wie? Auf welche Weise? Wenn eines von den Eltern zu dem Kinde sagte: Gib mir das Schaf, das du hast, oder das Kalb oder etwas anderes der Art, so erwiderten sie: Was du von mir haben willst, ist eine für Gott bestimmte Gabe, du kannst es daher nicht erhalten. Dadurch wurde das Böse verdoppelt: denn sie brachten es Gott nicht dar, und ihren Eltern versagten sie es ebenfalls, unter dem Vorwand, es sei ein Opfer; so frevelten sie an den Eltern, indem sie sich auf Gott beriefen, und an Gott, indem sie sich auf die Eltern beriefen. Er sagt das aber nicht ohne weiteres, sondern führt zuerst das Gesetz an, durch welches er zeigt, es sei sein ausgesprochener Wille, dass die Eltern geehrt werden. Er sagt: "Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebst", ferner: "Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, der soll des Todes sterben." Er übergeht jedoch den Lohn, der denen verheißen ist, die ihre Eltern ehren, und hebt dafür das Schreckenerregende hervor, nämlich die Strafe, die den Verächtern ihrer Eltern angedroht ist; er will sie dadurch erschüttern und die Vernünftigen an sich ziehen; auch zeigt er damit, dass jene des Todes schuldig sind. Wenn schon derjenige gestraft wird[529] , der die Eltern mit einem Worte verunehrt, wieviel mehr ihr, die ihr es im Werke tut, die ihr sie nicht bloß selber verunehrt, sondern auch noch andere dazu anleitet. Ihr solltet demnach nicht einmal mehr am Leben sein; wie dürftet ihr da meine Jünger anklagen? Indes, was darf man sich wundern, wenn ihr gegen mich so frevelt, der ich euch bisher unbekannt geblieben bin, da man euch sogar gegen den eigenen Vater so handeln sieht? Überall sagt und zeigt er nämlich, dass daher ihre Frechheit rühre. Den Satz: "Ein Geschenk, was dir zum Nutzen sein soll", legen manche anders aus, nämlich: Ich schulde dir keine Ehrfurcht, sondern ich erweise dir einen Gefallen, wenn ich dich ehre. Aber eine solche Frechheit hätte Christus gar nicht erwähnt. Markus legt diese Sache klarer dar, indem er sagt: "Corban ist, was immer dir von mir her zum Nutzen sein soll" (Mc 7,11). Corban heißt nämlich nicht Gabe oder Geschenk schlechthin, sondern im eigentlichen Sinne Opfergabe. 

   Nachdem er also gezeigt, dass sie nicht berechtigt waren, die Übertreter der Überlieferung der Alten anzuklagen, weil sie ja selbst das Gesetz übertraten, beweist er dasselbe auch aus den Propheten. Nachdem er sie gründlich überführt hat, geht er jetzt einen Schritt weiter. So macht er es übrigens jedesmal: Er führt die Hl. Schrift an und beweist durch sie, dass er mit Gott übereinstimmt. Was sagt nun der Prophet? 

   V.8: "Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz aber ist weit von mir (Is 29,13). 

   V.9: Umsonst aber verehren sie mich, indem sie[530] Lehren lehren, Menschengebote." Siehst du, dass die Weissagung genau zu dem paßt, was Christus gesagt hatte, und dass ihre Bosheit schon lange zuvor vorausgesagt worden? Denn was Christus ihnen jetzt vorhält, das hat Isaias schon früher gesagt, nämlich, dass sie die Gebote Gottes verachten. Denn "umsonst verehren sie mich", spricht er; ihre eigenen Satzungen halten sie hoch, denn "sie lehren Gebote, Lehren der Menschen". Mit vollem Rechte braucht man sie daher nicht zu beobachten. Da er ihnen so einen tödlichen Schlag versetzt und seine Anklage gegen sie aus den Tatsachen, aus ihrem eigenen Urteile und aus den Propheten erhärtet hat, so richtet Jesus das Wort nicht weiter an sie, da sie ja doch unverbesserlich waren, sondern wendet sich an die Volksscharen, um eine Lehre vorzutragen, die erhaben und groß und voll tiefer Weisheit ist. Er nimmt den vorliegenden Fall zum Anlaß, um etwas Größeres daran anzuknüpfen: er hebt das Speisegebot auf. Beachte zunächst, wann er dies tut. Nachdem er den Aussätzigen gereinigt, nachdem er den Sabbat aufgehoben, sich selbst als König der Erde und des Meeres gezeigt, Gesetze gegeben, Sünden nachgelassen, Tote erweckt und viele andere Beweise seiner Gottheit ihnen gegeben, da spricht er über die Speisen.



3.

Darauf beruht ja das ganze Judentum: hebt man die Speisegebote auf, so hebt man es ganz auf. Damit zeigt nämlich der Herr, dass auch die Beschneidung aufhören muß. Er selbst läßt aber vorläufig nichts davon verlauten, weil dieses Gebot älter war und in größerem Ansehen stand als alle übrigen; er trifft vielmehr diese Bestimmung durch seine Jünger. Diese Sache war nämlich so wichtig, dass auch die Jünger, als sie die Beschneidung nach so langem Bestande abschaffen wollten, sie anfangs noch anwendeten und sie dann erst aufhoben. Beachte nun, wie er das neue Speisegesetz einführt: 

   V.10: "Und nachdem er die Volksscharen zu sich herangerufen hatte, sprach er zu ihnen: Höret und verstehet." Er verkündet ihnen die Sache nicht so ohne weiteres, sondern macht seine Zuhörer zuerst bereitwillig für seine Worte, indem er ihnen Ehre und Aufmerksamkeit erweist[531] ; ferner auch durch den Zeitpunkt, den er wählt. Denn nachdem er die Pharisäer widerlegt und zurückgewiesen, nachdem er sie aus dem Propheten überführt hat, da waren sie geneigter, seine Worte aufzunehmen, und so nimmt er jetzt die neue Gesetzgebung in Angriff. Er ruft auch die Leute nicht einfach zu sich, sondern weckt ihre Aufmerksamkeit mit den Worten: "Verstehet", d.h. gebet acht, merket auf, denn das Gesetz, das gegeben werden soll, erheischt es. Wenn die Pharisäer das Gesetz abgeschafft haben, und zwar zur unrechten Zeit, um ihrer eigenen Überlieferung willen, und ihr sie angehört habt, um wieviel mehr müsset ihr mich hören, da ich euch zur rechten Zeit zu höherer Erkenntnis führen will? Der Herr sagt auch nicht, die Beobachtung des Speisegebotes habe nichts zu bedeuten, oder Moses habe damit eine verkehrte Verordnung gegeben oder er habe es nur aus Nachsicht gestattet. Vielmehr bedeuten seine Worte eine Aufmunterung und einen Rat; er nimmt dabei ein Beispiel aus der Natur zu Hilfe und sagt: 

   V.11: "Nicht was eingehet in den Mund, verunreinigt den Menschen, sondern was herauskommt auf dem Munde." Er gibt also sein Gesetz und legt seine Meinung dar unter Hinweis auf die Natur. Als jene das hörten, entgegneten sie nichts; sie sagten nicht: Was redest Du da? Gott der Herr hat unzählige Speisevorschriften erlassen und Du gibst ein solches Gesetz? Nein, die gehen schweigend davon, da er sie eben gehörig zum Schweigen gebracht hatte sowohl durch seine Widerlegung, als auch dadurch, dass er ihren Betrug aufdeckte, ihr heimliches Tun an den Pranger stellte und die Geheimnisse ihres Herzens offenbarte. 

   Beachte aber, wie er noch nicht offen gegen das Speisegebot aufzutreten wagt. Deshalb sagte er auch nicht: Die Speisen, sondern: "Nicht was eingehet in den Mund, verunreinigt den Menschen"; Das konnte man ebensogut auch von den ungewaschenen Händen verstehen. Er redet allerdings nur von den Speisen, man konnte es aber auch auf die ungewaschenen Hände beziehen. Soviel galt nämlich bei ihnen das Speisegebot, dass Petrus nach der Auferstehung noch sprach: "Nie, o Herr, aß ich irgend etwas Gemeines oder Unreines" (Ac 10,14). Dies sagte er freilich nur der anderen wegen, um sich gegen etwaige Angriffe den Rücken zu decken, d.h. um zu beweisen, dass er zwar Einsprache erhoben, aber nichts damit erreicht habe; gleichwohl zeigt der Vorfall, dass man dieser Sache große Wichtigkeit beimaß. Eben deshalb redet der Herr selbst zuerst nicht offen von den Speisen, sondern sagt: "Was eingeht in den Mund", und als er dann deutlicher zu sprechen schien, verhüllt er den Sinn schließlich wieder mit den Worten: "Mit ungewaschenen Händen zu essen, verunreinigt den Menschen nicht", damit es den Anschein gewinne, als ob er davon ausgegangen sei und immer nur davon gesprochen habe. Darum sagte er nicht: Der Genuß der Speisen verunreinigt den Menschen nicht, sondern er redet so, als spräche er vom Essen mit ungewaschenen Händen, damit ja die Gegner nichts einzuwenden hätten. Als sie das hörten, heißt es, nahmen sie Anstoß, nämlich die Pharisäer, nicht das Volk. Denn: 

   V.12: "Darauf traten seine Jünger zu ihm hin und sagten: Weißt Du, dass die Pharisäer Ärgernis nahmen, als sie diese Rede hörten?" 

   Und doch war nichts gegen sie gesagt worden. Was tat nun Christus? Er beseitigte den Stein des Anstoßes nicht, sondern schalt noch mit den Worten: 

   V.13: "Jegliche Pflanzung, welche nicht mein himmlischer Vater gepflanzt hat, wird ausgerottet werden." 

   Er wußte wohl, welche Ärgernisse man mißachten dürfe, und welche nicht. Ein andermal sagte er nämlich: "Damit wir sie nicht ärgern, wirf die Angel aus" (Mt 17,26); hier aber sagt er: 

   V.14: "Lasset sie! Blinde sind sie und Führer von Blinden! Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in die Grube fallen." 

   Die Jünger aber hatten ihre Vorstellung nicht bloß deshalb gemacht, weil sie wegen der Pharisäer betrübt waren, sondern auch, weil sie selbst bis zu einem gewissen Grade sich beunruhigt fühlten. Da sie sich jedoch nicht getrauten, für ihre eigene Person zu reden, so reden sie von den anderen, um Belehrung zu erhalten. Dass dem so ist, kannst du daraus entnehmen, dass Petrus, der ein feuriges Temperament besaß und überall in den Vordergrund trat, hernach zu ihm kam und sagte: 

   V.15: "Erläutere uns dieses Gleichnis." 

   Er läßt die Unruhe seiner Seele durchblicken, wagt jedoch nicht offen zu sagen: Ich nehme Anstoß an der Sache, sondern bittet um eine Erläuterung, um so von seiner Unruhe befreit zu werden; deshalb erhielt er auch einen Verweis. Warum sagt nun Christus: "Eine jede Pflanzung, welche mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden"? Die vom Manichäismus angesteckt sind, behaupten, diese Worte bezögen sich auf das Gesetz. Allein das früher Gesagte muß sie zum Schweigen bringen. Denn wenn er das vom Gesetz gesagt hätte, wozu hätte er es da vorher verteidigt und wäre dafür eingetreten, als er sprach: "Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes wegen eurer Überlieferung?" Wie könnte er da den Propheten anführen? Nein, nicht dem Gesetze, sondern den Pharisäern und ihrer Überlieferung galten seine Worte. Gott hat ja gesprochen: "Ehre Vater und Mutter."Wie sollte nun das, was Gott selbst gesagt hat, nicht eine Pflanzung Gottes sein?



4.

Auch die folgenden Worte bekunden, dass von den Pharisäern und ihrer Überlieferung die Rede ist. Der Herr fuhr nämlich fort: "Blinde sind sie und Führer von Blinden."Hätte er vom Gesetze gesprochen, so würde er wohl gesagt haben: Es ist blind und ein Führer von Blinden. Seine Worte lauten aber nicht so, sondern: "Sie sind blind und Führer von Blinden"; so wendet er die Anschuldigung vom Gesetz ab und wälzt alles auf die Pharisäer. Um dann auch das Volk von ihnen abzuziehen, welches ihretwegen nahe daran war, in den Abgrund zu stürzen, fügt er hinzu: "Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in die Grube fallen." Es ist ein großes Unglück, blind zu sein; aber zweifach und dreifach ist die Schuld, wenn man blind ist und, ohne selbst einen Führer zu haben, sogar noch die Rolle eines Führers spielen will. Ist es schon gefährlich, wenn ein Blinder führerlos ist. um wieviel mehr noch, wenn ein Blinder den anderen Führer sein will. Was antwortet nun Petrus? Er sagt nicht: Wie verhält sich denn das, was du gesagt hast?", sondern er stellt eine Frage, als wäre er ganz im unklaren. Er sagt auch nicht: Warum hast Du gegen das Gesetz gesprochen? Er fürchtet nämlich, man könnte von ihm glauben, er habe Ärgernis genommen; er sagt vielmehr, die Sache sei unklar. Es liegt jedoch auf der Hand, dass es sich für ihn nicht um eine Unklarheit handelte, sondern dass er Anstoß genommen hatte; denn die Worte enthielten ja gar keine Unklarheit. Deshalb tadelt ihn auch Christus mit den Worten: 

   V.16: "Nun seid auch ihr noch unverständig?" 

   Das Volk hatte zwar das Gesagte ebensowenig verstanden; aber die Jünger hatten auch noch Anstoß genommen. Deshalb suchten sie anfänglich eine Aufklärung, indem sie taten, als fragten sie der Pharisäer wegen; erst dann ließen sie davon ab, als sie seine schwere Drohung hörten und als er sagte: "Jegliche Pflanzung, welche mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden", und: Sie sind Blinde und Führer von Blinden." Nur der allzeit ungestüme Petrus bringt es auch jetzt noch nicht über sich, zu schweigen; er sagt: "Erläutere uns dieses Gleichnis." Was tut nun Christus? Mit scharfem Tadel antwortet er: "Nun seid auch ihr noch unverständig?" 

   V.17: "Seht ihr es noch nicht ein?" 

   Mir diesen Worten tadelt er sie, um ihnen ihre vorgefaßte Meinung zu benehmen. Er blieb aber hierbei nicht stehen, sondern fügte noch das andere hinzu: 

   V.17: "Alles, was in den Mund hineinkommt, gelangt in den Bauch und wird in die Kloake befördert. 

   V.18: Was aber herauskommt aus dem Munde, geht von dem Herzen aus, und das verunreinigt den Menschen. 

   V.19: Denn aus dem Herzen kommen die bösen Anschläge, Mordtaten, Ehebrüche, Unzucht, Diebstähle, falsche Zeugnisse, Lästerungen. 

   V.20: Und das ist es, was den Menschen verunreinigt. Mit ungewaschenen Händen aber zu essen, verunreinigt den Menschen nicht." 

   Siehst du, wie scharf der Herr die Jünger tadelt? Daraufhin führt er zur Erklärung ein Beispiel aus der Natur an, um sie so auf den rechten Weg zu weisen. Die Worte: "Es gelangt in den Bauch und wird in den Abort ausgeworfen", sind eben noch der niedrigen Denkweise der Juden angepaßt. Denn er sagt, es bleibt nicht, sondern es geht fort. Aber auch wenn es bliebe, würde es nicht unrein machen. Die Juden waren jedoch noch nicht imstande, das zu hören. Deshalb gewährte der Gesetzgeber[532] so viel Zeit, als die[533] inwendig bleibt; ist sie aber weggegangen, so wartet er nicht mehr, sondern befiehlt mit Rücksicht auf die zur Verdauung und Absonderung notwendige Zeit, am Abend sich zu waschen und rein zu sein. Das[534] aber, was im Herzen vorgeht, sagt er, bleibt inwendig und verunreinigt nicht bloß solange es innen bleibt, sondern auch wenn es hervorkommt. 

   An erster Stelle erwähnt Christus die bösen Gedanken - das war besonders den Juden eigen - und da nimmt er den Beweis nicht mehr aus der Natur der Dinge, sondern von dem, was der Magen und das Herz hervorbringen, und davon, dass das eine bleibt, das andere nicht. Denn das, was von außen eingeht, geht auch wieder weg: was aber im Innern entsteht, verunreinigt euch, wenn es herausgeht, und zwar dann noch mehr. Doch waren sie, wie gesagt, noch nicht imstande, diese Darlegungen mit dem gehörigen Verständnis anzuhören. Markus berichtet, der Herr habe jene Worte gesprochen, um die Speisen für rein zu erklären; doch hat er nichts dergleichen angedeutet noch gesagt, solche Speisen zu essen, verunreinigt den Menschen nicht; denn sie hätten es noch nicht ertragen, wenn er so deutlich gesprochen hätte. Deshalb fügt er hinzu: "Mit ungewaschenen Händen essen, verunreinigt den Menschen nicht." 

   Lernen wir darum, was den Menschen verunreinigt; lernen wir es und meiden wir es. Denn wir sehen, dass auch in der Kirche viele es so zu machen pflegen; dass ihnen gar sehr daran liegt, mit reinen Kleidern zu erscheinen und ihre Hände zu waschen, dass sie aber keinen Wert darauf legen, eine reine Seele Gott darzubringen. Das sage ich natürlich nicht, als wollte ich davon abhalten, die Hände oder den Mund zu waschen, sondern weil ich wünsche, dass man sich wasche, wie es sich geziemt, nämlich nicht allein mit Wasser, sondern auch mit den Tugenden an Stelle des Wassers. Die Unreinigkeit des Mundes besteht in: Fluchen, Gotteslästerung, Schmähung, Zornreden, Zoten, Spötteleien, Sticheleien. Bist du dir nicht bewußt, Derartiges berührt und mit solchem Schmutz dich befleckt zu haben, so darfst du getrost erscheinen; hast du aber solchen Unrat unzähligemale auf dich geladen, wie magst du da so töricht sein, die Zunge mit Wasser abzuspülen, während du auf derselben den verderblichen und schädlichen Schmutz mit dir herumträgst?



5.

Sage mir doch nur einmal, würdest du es wohl wagen zu beten, wenn du Kot oder Mist in den Händen hättest? Gewiß nicht! Und doch sind das ganz unschädliche Dinge; jene Reden dagegen bringen das Verderben. Wie kann man nun in den gleichgiltigen Dingen so vorsichtig, in den verbotenen so leichtsinnig sein? Wie also, sagt mir da einer, soll man etwa nicht mehr beten? Freilich soll man beten, aber nicht, wenn man mit solchem[535] Schmutz und Kot beladen ist. Wie aber, wenn ich durch andere zu Fall gebracht werde? Dann reinige dich! Wie? auf welche Art? Weine, seufze, gib Almosen, leiste dem Beleidigten Abbitte, versöhne dich mit ihm wegen dieser Dinge, reinige dein Zunge, damit du Gott nicht noch mehr erzürnest. Denn würde jemand mit Mist in den Händen deine Knie flehend umfassen, du würdest ihn nicht anhören, sondern mit dem Fuß wegstoßen, wie kannst du es also wagen, in solchem Zustand vor Gott hinzutreten? Denn bei den Betern ist die Zunge gleichsam die Hand, mit der wir Gottes Knie umfassen. Beflecke sie darum nicht, damit er nicht zu dir spreche: "Selbst wenn ihr eure Gebete vervielfältiget, werde ich euch nicht erhören" (Is 1,15), denn:"Tod und Leben sind in der Hand der Zunge" (Pr 18,21), und: "Nach deinen Worten wirst du gerechtfertigt, und nach deinen Worten wirst du verurteilt werden" (Mt 12,37). Hüte also deine Zunge mehr als deinen Augapfel. Die Zunge ist wie ein königliches Roß. Legst du ihr Zügel an und lehrest sie ebenmäßig einherschreiten, so wird der König darauf ruhen und sich darauf setzen; läßt du sie aber ohne Zaum dahinstürmen und Seitensprünge machen, so werden der Teufel und die Dämonen auf ihr reiten. 

   Nach einem ehelichen Verkehre mit deinem Weibe wagst du nicht zu beten, obwohl darin nichts Böses liegt; wenn du aber geschmäht oder gelästert hast, was dir die Hölle einträgt, erhebst du deine Hände, ohne dich vorher gehörig zu reinigen? Sag mir, wie ist es möglich, dass du darüber nicht zitterst? Hast du nicht gehört, was Paulus sagt? "Etwas Ehrenvolles ist die Ehe in allem und unbefleckt das Ehebett" (He 13,4). Wenn du nun vom unbefleckten Ehebette dich erhebst und es nicht wagst, sofort zu beten, wie kannst du den furchtbaren und ehrfurchtgebietenden Namen anrufen, wenn du von jenem Lager der Teufels kommst? Es ist ja doch ein Lager des Teufels, wenn man sich in Schmähungen und Lästerungen wälzt. Der Zorn verkehrt mit uns voll Wollust wie ein gottloser Ehebrecher, ergießt in uns den verderblichen Samen, erzeugt den teuflichen Haß in uns und wirkt in jeder Beziehung der Ehe entgegengesetzt. Die Ehe vereinigt ja zwei in einem Fleische; der Zorn hingegen zerreißt diejenigen, die eins waren; er spaltet und trennt selbst die Seele. Damit du also mit Zuversicht vor Gott hintreten könnest, gewähre dem Zorn keinen Zutritt, wenn er dich befällt und sich zu dir gesellen will; jage ihn wie einen tollen Hund von dir: So hat es auch Paulus befohlen mit den Worten: "Erhebend reine Hände sonder Zorn und Gezänke" (1Tm 2,8).  

   Schände deshalb deine Zunge nicht; denn wie kann sie für dich bitten, wenn sie selber schuldbeladen ist? Schmücke sie vielmehr mit Sanftmut, mit Demut; mache sie Gottes würdig, den sie anruft; erfülle sie mit Lobpreisung, mit vieler Barmherzigkeit; denn man kann auch durch Worte Barmherzigkeit üben. "Ein Wort ist besser als eine Gabe" (Si 18,16), und: "Entgegne dem Armen friedlich in Sanftmut" (Si 4,8). Verschönere deine ganze übrige Zeit durch Gespräche über göttliche Dinge: "All dein Gespräch sei nach den Geboten des Allerhöchsten" (Si 9,33). So geschmückt wollen wir vor den König hintreten und auf die Knie sinken, nicht nur dem Leibe, sondern auch der Seele nach. Bedenken wir, vor wem wir erscheinen, und für wen und um was wir uns bemühen. Vor Gott erscheinen wir, bei dessen Anblick die Seraphim ihr Antlitz abwenden müssen, da sie den Glanz nicht ertragen können, vor dessen Anblick die Erde erbebt. Vor Gott erscheinen wir,"der in unzugänglichem Lichte wohnt" (1Tm 5,16). Und wir erscheinen vor ihm, um Erlösung von der Hölle, um Nachlassung der Sünden zu erlangen, um befreit zu werden von jenen unsäglichen Strafen und um des Himmels und der Güte des Jenseits teilhaft zu werden.



6.

Werfen wir uns also mit Leib und Seele nieder, damit er uns aus der Erniedrigung wieder aufrichte; reden wir mit ihm in aller Bescheidenheit und Demut. Du sagst: Wer wäre so nichtswürdig und unselig, dass er nicht einmal beim Beten bescheiden würde? Derjenige, der unter Verwünschungen, der voll Zorn und unter Schmähungen gegen seine Feinde betet. Willst du also jemanden anklagen, so klage dich selbst an; willst du deine Zunge schärfen und wetzen, so tue es gegen deine eigenen Sünden; erwähne nicht, was der Nächste dir Böses getan hat, sondern vielmehr, was du selbst dir angetan hast, denn das ist ganz besonders schlimm. Es kann dir ja der Nebenmensch keinen Schaden zufügen, wenn du ihn dir nicht selbst zufügst. Willst du daher gegen deine Feinde vorgehen, so gehe zuerst mit dir selbst ins Gericht, niemand wird dich daran hindern. Trittst du aber gegen deinen Nächsten auf, so wirst du nur um so größeren Schaden davontragen. Über welches Unrecht wirst du dich überhaupt zu beklagen haben? Etwa: er hat mich gröblich beleidigt, er hat mich beraubt, er hat mich in Gefahr gebracht? Aber darin liegt ja für uns gar kein Nachteil, sondern vielmehr, wenn wir es recht betrachten, der größte Vorteil. Der eigentlich Geschädigte ist ja hierbei nicht der leidende Teil, sondern der Übeltäter. Darin gerade ist der Grund alles Unheils zu suchen, dass man gewöhnlich sich nicht einmal bewußt wird, wer der Geschädigte und wer der Schädiger ist. Wären wir uns dessen immer wohlbewußt, wir würden uns nicht selbst Unrecht tun,würden dem Nächsten nichts Böses wünschen, überzeugt, dass uns vom Nebenmenschen nichts Böses widerfahren kann. Denn nicht das Bestohlenwerden ist schlimm, sondern das Stehlen. 

   Klage dich demnach selber an, wenn du Raub verübt hast; bist du aber beraubt worden, so bete für den Räuber, weil er dir äußerst nützlich war. Mag das immerhin der Täter nicht beabsichtigt haben, du hast doch den größten Nutzen davon, wenn du es hochherzig erträgst. Jenen erklären die Menschen und die Gebote Gottes für unselig; dich aber, der du Unrecht erlitten, krönen und preisen sie. Würde jemand in der Hitze des Fiebers einem anderen ein Gefäß mit Wasser entwenden, um sein schädliches Verlangen zu stillen, so würden wir nicht behaupten, dass der Bestohlene dabei Schaden erlitten hat, sondern der Kranke; denn er hat sein Fieber gesteigert und die Krankheit verschlimmert. So mußt du auch von einem Habsüchtigen und Geldgierigen denken. Auch er leidet an einem Fieber, einem viel heftigeren als der erwähnte Kranke, und hat durch den Raub die Flamme in seinem Innern noch mehr entfacht. Und wenn einer im Wahnsinn jemanden ein Schwert wegnimmt und sich selbst umbringt, wer ist da der Geschädigte? Der, dem es genommen wurde, oder der, der es nahm? Offenbar letzterer. Sollen wir nun aber beim Raub von Hab und Gut nicht ebenso urteilen? Denn was für den Wahnsinnigen ein Schwert ist, das ist für den Habsüchtigen der Reichtum; ja noch etwas viel Schlimmeres. Denn der Wahnsinnige, der das Schwert nimmt und sich durchbohrt, ist vom Wahnsinn befreit und versetzt sich auch keinen zweiten Hieb; der Habsüchtige hingegen empfängt jeden Tag zahllose schlimmere Wunden als jener, und wird doch von seinem Wahnsinn nicht befreit, vielmehr steigert er ihn noch; und je mehr Wunden er empfängt, desto empfänglicher macht er sich für andere schlimmere Schläge. 

   Wir wollen also dieses beherzigen und diesem Schwerte aus dem Wege gehen, wollen diesen Wahnsinn fliehen und, wenn auch spät, so doch endlich einmal Maß halten lernen. Denn auch diese Tugend[536] muß man Mäßigkeit nennen, nicht weniger als jene, die gemeinhin so heißt. Die Mäßigkeit führt den Kampf gegen die Tyrannei einer Leidenschaft, hier aber gilt es, über viele und verschiedenartige Leidenschaften zu siegen. Denn nichts, nichts ist törichter als ein Sklave des Geldes. Er meint zu herrschen und ist beherrscht; er glaubt Herr zu sein und ist Knecht; er legt sich selbst Fesseln an und freut sich noch darüber;er macht das wilde Tier noch wilder und fühlt sich wohl dabei; er wird zum Gefangenen gemacht und jubelt und frohlopckt darüber; er sieht, wie eion toller Hund seine Seele anfällt, aber anstatt ihn zu hindern und durch Hunger zu zähmen, gibt er ihm noch reichliche Nahrung, damit er um so wütender angreife und noch fürchterlicher werde. Lasset uns also all das beherzigen, die Fesseln lösen, das wilde Tier umbringen, die Krankheit beseitigen, diesen Wahnsinn vertreiben, damit wir dann Ruhe und volle Gesundheit genießen, unter großer Freude in den Hafen des Friedens einlaufen und der ewigen Güter teilhaftig werden, die wir alle erlangen mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!





Zweiundfünfzigste Homilie. Kap. XV, V.21-31.

52 Mt 15,21-31
1.

V.21: "Und Jesus ging von dort hinweg und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. 

   V.22: Und siehe, ein chananäisches Weib kam von jenem Grenzstriche her und rief ihm zu und sagte: Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem bösen Geiste arg geplagt." 

   Markus erzählt, Jesus habe nicht verborgen bleiben können, als er in das Haus gekommen war (Mc 7,24). Warum aber ging er überhaupt in diese Gegend? Nachdem er das Speisegebot aufgehoben hat, schreitet er auf dem eingeschlagenen Wege weiter und öffnet auch den Heiden das Tor. So wird auch Petrus zu Kornelius gesandt, sobald er den Auftrag erhalten hat, dieses Gesetz aufzuheben. Wenn aber jemand einwendet, wie es komme, dass Jesus zu den Jüngern sprach: "Auf den Weg zu den Heiden gehet nicht" (Mt 10,5), während er ihn selbst betritt, so erwidere ich erstlich, dass er selbst keineswegs an die Vorschriften, die er seinen Jüngern gab, gebunden war, dann, dass er nicht dahin ging, um zu predigen; das deutet auch Markus an, wenn er sagt, dass er sich zwar verbergen wollte, aber nicht verborgen blieb. Es lag allerdings in der Ordnung der Dinge, dass er nicht zuerst zu ihnen ging, aber anderseits widerstrebte es doch auch seiner Liebe zu den Menschen, sie abzuweisen, wenn sie sich von selbst ihm nahten. Mußte er sogar denen nachgehen, die nichts von ihm wissen wollten, so durfte er noch viel weniger jene abweisen, die nach ihm verlangten. Siehe nun, wie das Weib sich jeglicher Wohltat würdig erweist. Sie hatte es nicht einmal gewagt, nach Jerusalem zu kommen, weil sie sich scheute und sich dessen für unwürdig hielt. Sonst wäre sie wohl dahin gereist; das läßt sich daraus schließen, dass sie so beherzt ist und aus ihrer Heimat herbeieilt. 

   Einige erklären den Vorgang im bildlichen Sinn und sagen: Als Christus das Judenland verlassen, da habe es auch die Kirche gewagt, aus ihrem Lande herauszutreten und sich ihm zu nahen; denn es heißt: "Vergiß dein Volk und das Haus deines Vaters" (Ps 44,11). Christus war aus seinem Land herausgegangen und das Weib aus dem ihrigen, und so konnten sie miteinander zusammentreffen. Denn "Siehe ein chananäisches Weib kam von jenem Grenzstriche." Der Evangelist tadelt das Weib, um das Wunder hervorzuheben und sie dann um so mehr zu loben. Wenn du hier von einer Chananäerin hörst, so denke an all die gottlosen Heiden, welche die Gesetze der Natur von Grund aus verkehrten; und dazu beachte auch, wie mächtig Christus durch seine bloße Gegenwart wirkt. Diese Heiden waren vertrieben worden, damit sie die Juden nicht verführen konnten, und jetzt zeigen sie sich viel williger als die Juden und verlassen sogar ihr Land, um zu Christus zu kommen, indes jene ihn sogar abwiesen, da er zu ihnen kam. Wie nun das Weib vor ihn tritt, sagte sie nichts anders als nur: "Erbarme Dich meiner",und veranlaßt durch ihr Geschrei einen großen Auflauf. Es war auch in der Tat ein mitleiderweckender Anblick, ein Weib zu sehen, das mit solchem Schmerze rief, eine Mutter, die für ihre Tochter bat, und zwar für eine Tochter, die so elend daran war. Sie wagte es gar nicht, die Besessene vor den Meister zu bringen, sondern sie hat sie daheim gelassen und fleht selbst um Hilfe. Sie führt bloß die Leiden an, ohne selbst etwas hinzuzufügen, ohne den Arzt in ihr Haus einzuladen, wie es der Hauptmann getan hatte, der da sprach: "Komm und lege Deine Hand auf", und: "Gehe hinab, bevor der Knabe stirbt" (Jn 4,49). Sie berichtet nur kurz über das Unglück und über die Schwere der Krankheit, und wendet sich dann an die Barmherzigkeit des Herrn durch lautes Rufen. Auch sagt sie nicht: Erbarme Dich meiner Tochter, sondern: "Erbarme Dich meiner." Meine Tochter fühlt ja ihr Leiden nicht, ich aber habe schon unzählige Schmerzen gelitten, weil ich es empfinde, dass ich leide, weil ich weiß, dass ich[537] von Sinnen bin. 

   V.23: "Er aber antwortet ihr nicht ein Wort." 

   Ist das nicht neu und befremdlich? Mit den undankbaren Juden gibt er sich ab und spricht zu ihnen trotz ihrer Lästerungen, und weist sie nicht von sich, obschon sie ihn wiederholt versuchten; sie aber, die zu ihm eilt und ruft und bittet, die weder im Gesetze noch in den Propheten unterrichtet, und dennoch eine so große Frömmigkeit an den Tag legt, sie würdigt er nicht einmal einer Antwort. Mußten nicht alle Anstoß nehmen, wenn sie jetzt das Gegenteil von dem sahen, was sie gehört hatten? Sie hatten doch gehört, dass er in den Dörfern umherging und Kranke heilte; dieses Weib aber, das sich ihm naht, weist er ab. Wen hätte nicht ihr Kummer und ihre Bitte für ihre so schwer leidende Tochter gerührt? Sie war auch nicht gekommen, als wäre sie würdig[538] , oder als wollte sie etwas verlangen, das ihr gebühre, sondern sie bittet nur um Erbarmen und legt ihr Unglück mit rührenden Worten dar; dennoch wird sie nicht einmal einer Antwort gewürdigt! Viele der Anwesenden nahmen vielleicht Anstoß daran; sie jedoch nicht. Aber was sage ich "der Anwesenden"? Ich meine, auch die Jünger, die Mitleid mit dem Weibe fühlten, wurden bestürzt und entmutigt. Obschon erschüttert, wagten sie aber doch nicht zu sagen: Gewähre ihr die Gnade, sondern: 

   V.23: "Es traten seine Jünger heran, baten ihn und sprachen: Entlasse sie, weil sie hinter uns her schreit." 

   So sagen auch wir oft das Gegenteil, wenn wir jemanden überreden wollen. Christus aber spricht: 

   V.24: "Ich ward einzig nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt."



2.

Was tat nun das Weib, als sie diese Worte hörte? Wurde sie still? ging sie hinweg? stand sie von ihrem Vorhaben ab? Keineswegs, Sie wurde vielmehr noch zudringlicher. Wir handeln freilich nicht so: wenn wir etwas nicht gleich erhalten, so lassen wir ab vom Bitten, während wir gerade dann um so eifriger flehen sollten. Und doch, wen hätten die Worte des Herrn nicht entmutigen sollen? War schon das Schweigen darnach angetan gewesen, das Weib zur Verzweiflung zu bringen, wieviel mehr erst diese Antwort! Denn zu sehen, dass auch ihre Fürbitter mit ihr abgewiesen wurden, und zu hören, dass die Sache überhaupt aussichtslos sei, mußte sie ja in die größte Mutlosigkeit versetzen. Gleichwohl verzweifelt das Weib nicht; sondern, als sie merkte, dass ihre Fürsprecher nichts ausrichteten, nahm sie zu einer hübschen Unverschämtheit ihre Zuflucht. Vorher hatte sie nicht gewagt, dem Herrn unter die Augen zu treten, denn, heißt es: "sie schreit hinter uns her"; jetzt aber, wo man hätte erwarten dürfen, sie werde sich in ihrer Hoffnungslosigkeit noch weiter zurückziehen, jetzt kommt sie sogar noch näher heran, betet ihn an und spricht: 

   V.25: "Herr, hilf mir!" 

   Was soll das heißen, o Weib? Hast du vielleicht mehr voraus als die Apostel? mehr Einfluß als sie? Mehr Recht und Einfluß? sagt sie, o nein, ja ich bin sogar voll Scham; dennoch ziehe ich jetzt die Kühnheit dem Flehen vor; er wird schon meine Zuversicht achten. Aber wozu denn das? Hast du ihn nicht sagen hören: "Ich ward gesandt einzig nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel"? Freilich habe ich es gehört, aber er ist der Herr. Deshalb sagte sie auch nicht: Bitte und flehe für mich, sondern: "Hilf mir." Was tut nun Christus? Nicht zufrieden mit dem Bisherigen, steigert er noch ihre Verlegenheit, indem er spricht: 

   V.26: "Es ist nicht recht, das Brot der Kinder zu nehmen und es den jungen Hunden hinzuwerfen." 

   Jetzt, wo er sie eines Wortes würdigt, versetzt er sie in noch größere Bestürzung als durch sein Schweigen. Auch schiebt er die Schuld nicht mehr auf einen anderen wie vorher, da er sprach: "Ich bin nicht gesandt", sondern je dringlicher die Bitten des Weibes werden, desto deutlicher schlägt er die Erhörung ab. Dabei nennt er die Juden nicht mehr Schafe, sondern Kinder, das Weib aber ein Hündlein. Was antwortet nun das Weib? Auf seine eigenen Worte baut sie ihre Verteidigung auf. Wenn ich ein Hündlein bin, sagt sie, so bin ich keine Fremde. Mit Recht hatte Christus gesagt: "Zu einem Gerichte bin ich gekommen" (Jn 9,39). Das Weib zeigt sich weise, sie legt große Ausdauer und großen Glauben an den Tag, und zwar trotzdem sie so verdemütigt wird; die Juden hingegen, die von ihm geheilt und bevorzugt worden waren, lohnen ihn durch das Gegenteil. Das Weib sagt: Dass man die Nahrung für die Kinder braucht, weiß ich wohl, allein auch mir kann sie nicht verweigert werden, da ich wenigstens ein Hündlein bin. Wenn es überhaupt nicht gestattet ist, etwas zu nehmen, so ist es ja auch nicht erlaubt, die Brosamen zu erhalten; darf man aber auch nur am Geringsten teilnehmen, so werde auch ich nicht zurückgewiesen, wenn ich auch nur ein Hündlein bin; im Gegenteil, gerade so erhalte ich am sichersten einen Anteil, wenn ich ein Hündlein bin. 

   Christus wußte, dass sie so reden würde; deshalb hatte er sie hingehalten, darum hatte er ihr die Gewährung verweigert, um ihre Klugheit zeigen zu können. Denn hätte er ihre Bitte wirklich gewähren wollen, so hätte er sie auch nachher nicht erhört und sie nicht noch einmal in Verlegenheit gesetzt. So machte er es auch bei dem Hauptmann, da er sprach: "Ich will kommen und will ihn heilen" (Mt 8,7), damit wir dessen Frömmigkeit kennen lernen und ihn sagen hörten: "Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehest unter mein Dach" (Mt 8,8); so machte er es bei der blutflüssigen Frau, zu der er sprach: "Ich weiß, dass eine Kraft ausgegangen ist von mir" (Lc 8,46), um ihren Glauben zu offenbaren; so verfuhr er mit der Samariterin, um darzutun, dass sie trotz ihrer Zurechtweisung nicht von ihm wegging; so machte er es endlich in diesem Falle. Er wollte eben nicht, dass die große Tugend des Weibes verborgen bliebe. So lag also in seinen Worten keine Verachtung, sondern eine Aufmunterung und er deckte durch sie einen großen Schatz auf. Du aber beachte, wie das Weib nicht bloß Glauben, sondern auch Demut besitzt. Der Herr nannte die Juden Kinder, ihr ist das nicht genug, sie nennt sie Herren, so weit war sie entfernt davon, sich über den Vorzug anderer zu betrüben. 

   V.27: "Denn auch die Hündchen", sagt sie, "essen von den Brosamen, welche von dem Tische ihrer Herren fallen." 

   Siehe, wie einsichtsvoll das Weib ist; sie wagt nicht zu widersprechen, ist nicht empfindlich beim Lobe anderer, sie wird nicht aufgebracht über die Beschimpfung. Siehst du also, wie beharrlich sie ist? Der Herr sagte: "Es ist nicht gut", sie spricht: "Ja, Herr"; er nennt die Juden Kinder, sie heißt sie Herren; er gibt ihr den Namen Hündlein, sie fügt noch das Benehmen eines Hündchens hinzu. Siehst du, wie demütig sie ist? Höre, wie die Juden prahlen: "Abrahams Nachkommenschaft sind wir, und nie sind wir jemals anderen dienstbar gewesen" (Jn 8,33), und: Aus Gott sind wir geboren" (Jn 8,41). Nicht so das Weib; sie nennt sich selbst ein "Hündlein", jene aber "Herren"; eben deshalb wurde sie auch unter die Kinder aufgenommen. Was antwortet nun Christus? Er sagt: 

   V.28: "O Weib, dein Glaube ist groß." 

   Hier haben wir den Grund, weshalb er die Erhörung hinausschob; er wollte, dass das Weib diese Worte laut ausrufe, um ihre Tugend krönen zu können."Es geschehe dir, wie du willst!"Der Sinn dieser Worte ist der: Dein Glaube vermag noch Größeres zustande zu bringen, aber es geschehe, wie du willst. Diese Worte sind jenen ähnlich, wo es heißt: "Es werde der Himmel und er ward" (Gn 1,1). 

   V.28: "Und ihre Tochter ward von jener Stunde an geheilt." 

   Siehst du, dass das Weib nicht wenig zur Heilung ihrer Tochter beigetragen hat? Darum sagte ja auch Christus nicht: "Deine Tochter werde gesund", sondern: Dein Glaube ist groß; es geschehe, wie du willst." Du sollst daraus ersehen, dass diese Worte nicht so obenhin oder gar nur aus Höflichkeit gesprochen wurden, sondern dass die Kraft ihres Glaubens wirklich groß war. Die Probe und den schlagenden Beweis dafür lieferte er durch den Ausgang der Sache:Ihre Tochter wurde augenblicklich gesund.



3.

Erwäge nun, wie es kam, dass das Weib ihr Ziel erreichte, indes die Apostel keine Erhörung fanden und nichts ausrichteten. Etwas so Großes ist es eben um die Beharrlichkeit im Gebete. Gott will, dass wir lieber selbst in unseren eigenen Bedürfnissen ihn bitten, als dass andere es für uns tun. Die Apostel hatten allerdings den Vorrang vor ihr; aber das Weib bekundete um so größere Beharrlichkeit. Durch den Ausgang der Sache rechtfertigte sich aber der Herr auch den Jüngern gegenüber wegen des Aufschubes und zeigte, dass er gut daran getan hatte, ihre Bitte zu erhören. 

   V.29: "Und nachdem Jesus von dort weggegangen war, kam er an den See von Galiläa, und er stieg auf den Berg hinaus und setzte sich dort nieder. 

   V.30: Und es kamen zu ihm zahlreiche Scharen Volkes; sie hatten Lahme bei sich, Blinde, Bresthafte und Taubstumme; und sie legten sie vor ihm nieder und er heilte sie. 

   V.31: Darüber erstaunten die Scharen, als sie Stumme redend, Lahme gehend, Blinde sehend gewahrten; und sie lobpriesen den Gott Israels." 

   Christus geht bald umher, bald setzt er sich und erwartet die Kranken und führt die Lahmen auf den Berg. Sie berühren jetzt schon nicht mehr den Saum seines Kleides, sondern steigen eine Stufe höher hinan und werfen sich ihm zu Füßen; sie bekunden damit auf zweifache Weise ihren Glauben, dadurch, dass sie trotz ihrer Lähmung auf den Berg hinaufgehen, und dadurch, dass sie nichts anderes wollen, als nur sich ihm zu Füßen werfen. Es war ein sehr wunderbares und auffallendes Schauspiel, dass diejenigen, die man sonst tragen mußte, nun umhergingen und die Blinden keines Führers mehr bedurften. Das Staunen der Leute wurde erregt sowohl durch die Menge der Geheilten, als durch die Leichtigkeit, mit der Jesus heilte. Siehst du auch, dass er dem Weibe erst nach so langem Zögern half, diesen Leuten hier aber sofort? Nicht etwa, als ob diese besser gewesen wären als jenes Weib, sondern weil sie stärker im Glauben war als diese. Bei ihr zögert und zaudert er, um ihre Beharrlichkeit ins Licht zu stellen; diesen gewährt er sofort die Hilfe, um den ungläubigen Juden den Mund zu schließen und ihnen jegliche Entschuldigung zu benehmen. Je größere Wohltaten jemand empfängt, desto größerer Strafe macht er sich schuldig, wenn er undankbar ist und durch die Gunstbezeugung nicht besser wird. Eben deshalb werden die Reichen, wenn sie böse sind, strenger gestraft als die Armen, da sie trotz ihres Reichtums nicht besser geworden sind. 

   Wende mir da nur nicht ein, dass sie ja Almosen gaben. Denn wenn sie es nicht nach Maßgabe ihres Vermögens taten, so entgehen sie der Strafe doch nicht. Man muß eben das Almosen nicht nach der Größe der Gabe, sondern nach der guten Meinung beurteilen, die man dabei hat. Wenn aber schon solche bestraft werden, um wieviel mehr erst diejenigen, die nach Überflüssigem verlangen, die drei- und vierstöckige Häuser bauen und dabei sich nicht um die Hungernden kümmern, die nur auf Gelderwerb bedacht sind, aber nicht darauf, Almosen zu geben? Weil wir aber nun doch schon einmal auf das Almosen zu sprechen kamen, so wollen wir heute die Rede über die Nächstenliebe, die ich vor drei Tagen unvollendet ließ[539] , wieder aufnehmen. Erinnert euch, dass ich damals von der übertriebenen Sorgfalt für die Fußbekleidung sprach, von jenem eitlen Tand und der läppischen Torheit der jungen Leute, und wie ich damals vom Almosen auf jene tadelnswerten Dinge zu sprechen kam. Was war es also, wovon wir damals handelten? Dass das Almosengeben eine Kunst ist, deren Werkstätte der Himmel und deren Lehrer nicht ein Mensch, sondern Gott ist. Dann untersuchten wir, was eigentlich Kunst sei und was nicht, und kamen so auf gewisse törichte und schlechte Künste zu sprechen, wobei wir auch die Schuhmacherkunst erwähnten. Habt ihr euch wieder erinnert? Nun gut, so wollen wir heute den damaligen Gegenstand wieder aufgreifen und beweisen, dass das Almosengeben eine Kunst und zwar die beste aller Künste ist. 

   Wenn es nämlich zum Begriff der Kunst gehört, etwas Nützliches zu schaffen, und wenn es nichts Nützlicheres gibt als das Almosengeben, so ist es klar, dass auch dies eine Kunst ist, und zwar die beste aller Künste. Denn diese Kunst verfertigt uns keine Schuhe, webt uns keine Gewänder und baut uns keine Häuser aus Lehm, dafür vermittelt sie uns das ewige Leben, entreißt uns den Händen des Todes, verleiht uns Herrlichkeit im anderen Leben und baut uns die Wohnungen im Himmel und jene Gezelte, die für die Ewigkeit dauern. Das Almosen macht, dass unsere Lampen nicht erlöschen und dass wir nicht mit schmutzigen Gewändern bei der Hochzeit erscheinen; es reinigt sie vielmehr und macht sie weißer als Schnee. "Wenn eure Sünden wären wie Scharlach, sie sollen doch weiß werden wie Schnee" (Is 1,18). Das Almosen läßt uns nicht dahin kommen, wohin jener Reiche gekommen war, und macht, dass wir nicht die schrecklichen Worte wie er hören müssen, sondern führt uns in den Schoß Abrahams. Von den weltlichen Künste leistet jede für sich etwas Gutes; z.B. der Landbau liefert Nahrung, die Webekunst Kleidung; aber genau besehen ist keine einzige imstande, für sich allein ihre Aufgabe zu erfüllen.



4.

Wenn es euch recht ist, wollen wir zuerst den Landbau ins Auge fassen. Er ist auf die Schmiedekunst angewiesen, von der er Hacke und Pflugschar, Sichel und Axt und anderes mehr entlehnt; dann braucht er die Wagnerei, die den Pflug baut, das Joch zimmert und die Wagen zum Dreschen der Ähren; ferner die Sattlerei, die Riemen macht, und die Baukunst, welche den Pflugstieren Ställe und den Feldarbeitern Wohnungen errichtet; ferner die Sägerei, welche das Holz schneidet, und zu guter Letzt auch die Bäckerei; ohne das kann sie nicht bestehen. Ähnlich verhält es sich mit der Weberei; um etwas zustande zu bringen, bedient sie sich vieler anderer Künste, die mithelfen müssen; denn wenn diese ihr nicht beistehen und ihr die Hand reichen, steht auch sie ratlos da. Und so bedarf jede Kunst einer anderen. Zum Almosengeben brauchen wir jedoch gar nichts anderes, als nur die gute Absicht. Wenn du aber einwendest, es seien dazu Geld, Häuser, Kleider, Schuhe notwendig, so lies nur, was Christus von der Witwe sagte (Lc 21,3) und du wirst deinen Widerstand aufgeben. Denn wenn du auch noch so arm, ja selbst ein Bettler bist, wenn du zwei Heller gibst, hast du alles getan, und wenn du bloß ein Gerstenbrot hast und gibst es, so hast du das höchste in dieser Kunst geleistet. Diese Kunst wollen wir also recht gut erlernen und sie eifrig betreiben; denn sie zu verstehen ist besser, als König zu sein und eine Krone zu tragen. 

   Es ist aber nicht ihr einziger Vorzug, dass sie keiner anderen Künste bedarf; sie bringt auch selbst mannigfaltige Werke in großer Zahl und der verschiedensten Art zuwege. Sie baut Häuser im Himmel, die ewig stehen, und lehrt diejenigen, die sie üben, wie sie dem ewigen Tode entgehen können; sie beschenkt dich mit unvergänglichen Schätzen, die vor jeder Schädigung sicher sind, vor Räubern, Würmern, Motten und vor dem Zahn der Zeit. Wahrlich, könnte dich jemand dasselbe hinsichtlich der Aufbewahrung des Weizens lehren, was würdest du nicht darum geben, um imstande zu sein, das Getreide auf viele Jahre hinaus unversehrt zu bewahren? Diese Kunst unterweist dich aber nicht etwa bloß über die Aufbewahrung von Weizen, sondern über alle Dinge, sie zeigt, wie nicht bloß dein Vermögen, sondern auch Leib und Seele unversehrt bleiben. Doch wozu alle Vorzüge dieser Kunst im einzelnen aufzählen? Sie lehrt dich, wie du Gott ähnlich werden kannst, und das ist die Krone aller Güter. Siehst du also, wie sie nicht nur eine gute Wirkung erzielt, sondern deren viele? Ohne einer anderen Kunst zu bedürfen, baut sie Häuser, webt Kleider, vermittelt unvergängliche Schätze, hilft den Tod überwinden, den Teufel besiegen und macht die Menschen Gott ähnlich. Was könnte es also Nützlicheres geben als diese Kunst? Denn abgesehen von dem, was ich schon sagte, hören die anderen Künste mit dem gegenwärtigen Leben auf, sie werden vom Künstler nicht betrieben, wenn er krank ist, ihre Werke haben keinen dauernden Bestand, erheischen aber viel Arbeit, Zeit und manch anderes dazu; diese Kunst kommt aber gerade dann besonders zur Geltung, wenn die Welt vergangen sein wird, wenn wir gestorben sind; dann steht sie in vollem Glanze da und zeigt die Werke, die sie vollbracht. Sie verlangt weder Arbeit noch Zeit, noch eine andere besondere Mühe, und wenn du krank oder alt geworden bist, kann sie noch immer geübt werden, sie geht auch mit dir in das andere Leben hinüber und verläßt dich niemals. 

   Sie macht dich auch den Gelehrten und Rednern überlegen. Denn wer sich in diesen Fächern auszeichnet, hat viele Neider; wer aber im Almosengeben hervorragt, hat unzählige Fürbitter. Jene stehen vor einem menschlichen Gerichtshofe und verteidigen diejenigen, denen Unrecht geschieht, oft auch diejenigen, die im Unrecht sind; diese Kunst steht vor dem Gerichtshofe Christi und verteidigt den Angeklagten nicht bloß allein, sondern überredet sogar die Richter, ihn zu verteidigen und das Urteil zu seinen Gunsten zu fällen; und hätte er tausendmal gefehlt, sie krönt ihn und preist ihn laut. Denn: "Gebet Almosen und alles ist rein für euch" (Lc 11,41). Aber was rede ich von zukünftigen Dingen? Schon im gegenwärtigen Leben, wenn ich die Leute frage, was sie lieber wollten, viele Gelehrte und Redner oder mehr mildtätige und barmherzige Menschen, so wirst du hören, dass sie letztere vorziehen. Und mit Recht. Denn gäbe es keine Beredsamkeit mehr, so erlitte das Leben keinen Schaden, da es ja lange schon vor ihr bestand: scheidest du aber die Mildtätigkeit aus, so ist alles dahin und verloren. Und wie man das Meer nicht mehr befahren könnte, wenn man alle Häfen und Ankerplätze verschüttete, so hätte auch das Leben keinen Bestand, wenn Barmherzigkeit, Versöhnlichkeit und Menschenfreundlichkeit verbannt würden.



5.

Deshalb hat Gott die Übung dieser Tugenden nicht dem Verstand allein überlassen, sondern sie großenteils auch als Naturgesetz dem Menschen eingepflanzt. Derart ist das Erbarmen, das Väter und Mütter für ihre Kinder haben, und die Kinder für ihre Eltern. Ja, nicht bloß bei den Menschen finden wir dies, sondern sogar bei sämtlichen vernunftlosen Tieren. Solcher Art ist die Liebe zwischen Brüdern, Verwandten und Angehörigen, und zwischen den Menschen überhaupt. Wir besitzen eben von Natur aus eine gewisse Neigung zur Barmherzigkeit. Daher kommt es, dass wir entrüstet sind, wenn jemandem Unrecht geschieht; daher unser Abscheu, wenn jemand umgebracht wird; daher unsere Tränen beim Anblick von Betrübten. Gott will ausdrücklich, dass dem so sei; darum hat er in die Natur mächtige Antriebe dazu gelegt, um anzudeuten, wieviel ihm daran gelegen ist. Das wollen wir also beherzigen und wollen uns selbst, unsere Kinder und Angehörige in die Schule der Mildtätigkeit führen. Das soll ja der Mensch vor allen Dingen lernen; denn das gerade heißt Mensch sein. Etwas Großes ist es um den Menschen, und geachtet ist der Mann, der barmherzig ist. Wer diese Eigenschaft nicht besitzt, hat aufgehört, Mensch zu sein. Durch sie wird man weise. Wundert es dich, dass barmherzig sein: Mensch sein heißt? Es heißt sogar: Gott sein. Denn es steht geschrieben: "Seid barmherzig wie euer Vater" (Lc 6,36). Lernen wir also aus all diesen Gründen, barmherzig sein, hauptsächlich aber deshalb, weil auch wir selbst gar sehr der Barmherzigkeit bedürfen. Und seien wir überzeugt, dass wir die ganze Zeit umsonst gelebt haben, wenn wir keine Barmherzigkeit üben. Ich meine jedoch eine Barmherzigkeit, die frei ist von Habsucht. Denn wenn schon derjenige nicht barmherzig ist, der von seinem Eigentum, niemand etwas mitteilt, wie kann es der sein, der andere um das ihrige bringt, wenn er auch noch soviel weggäbe? Gilt es schon als Lieblosigkeit, wenn einer sein Eigentum allein genießt, wieviel mehr erst, wenn er sich Fremdes aneignet? Wenn die gestraft werden, welche niemand ein Unrecht zufügen, bloß weil sie anderen nichts mitteilen, um so mehr diejenigen, welche anderen ihr Eigentum nehmen. 

   Sage ja nicht, dass es ein anderer ist, der Unrecht erleidet, und ein anderer, dem das Almosen gegeben wird. Das ist ja gerade das Strafbare. Denn gerade derjenige sollte das Almosen empfangen, dem Unrecht geschehen ist; nun aber tust du den einen weh, und tust wohl denen, welchen du nicht weh getan hast, da du doch jenen eher wohl tun solltest, oder vielmehr ihnen vorher nichts zuleide tun. Nicht derjenige übt ja Nächstenliebe der erst schlägt und dann heilt, sondern wer diejenigen heilt, die von anderen geschlagen wurden. Heile also die Wunden, die von anderen, nicht die von dir geschlagen sind; ja schlage und wirf niemanden zu Boden[540] ; richte im Gegenteil die Niedergeworfenen auf. Auch ist es gar nicht möglich, das von der Habsucht angestiftete Unheil durch ebenso großes Almosen wieder gut zu machen. Hat man jemanden um einen Obolus[541] betrogen, so genügt es nicht, einen Obolus Almosen zu geben, um das Geschwür zu entfernen, sondern dazu ist ein ganzes Talent[542] notwendig. Darum muß auch ein Dieb, der ertappt wird, das Vierfache bezahlen (Ex 22,1); und ein Räuber ist noch schlechter als ein Dieb. Wenn nun ein Dieb den vierfachen Wert des Gestohlenen ersetzen muß, so wird der Räuber das Zehnfache und noch viel mehr erstatten müssen. Ja, er mag noch froh sein, dass er auf diese Weise das Unrecht sühnen kann; und dazu wird es ihm nicht einmal als Almosen angerechnet und belohnt. Darum sprach Zachäus: "Wenn ich jemand in etwas überfordert habe, gebe ich es vierfach zurück, und dazu will ich die Hälfte meines Vermögens den Armen schenken" (Lc 19,8). Wenn man aber schon im Alten Bunde das Vierfache geben mußte, wieviel mehr dann im Neuen Bunde der Gnade; und wenn schon der Dieb, um wieviel mehr der Räuber? Er fügt ja zu der Schädigung noch eine große Unbill hinzu. Wenn du daher auch das Hundertfache gibst, so gibst du immer noch nicht alles. 

   Siehst du also, dass ich nicht ohne Grund gesagt habe; Wenn du einen Obolus geraubt hast und erstattest ein Talent, so heilst du auch so kaum den Schaden? Und wenn du das schon kaum erreichst, wenn du soviel zurückgibst, womit wilölst du dich dann entschukldigen, wenn du auch das Gegenteil davon tust, ganze Vermöägen raubst und nur wenig davon zurückgibst, und dann nicht einmal denen, die du geschädigt hast, sondern ganz anderen? Welche Nachsicht darfst du da erwarten? welche Hoffnung auf Seligkeit bleibt dir da? Willst du sehen, wie böse du handelst, wenn du solche Almosen spendest? Höre, was die Schrift sagt: "Wer Opfer darbringt vom Gute der Armen, gleicht dem, welcher einen Sohn opfert vor dem Angesichte seines eigenen Vaters" (Si 34,24). Wir wollen also nicht hinweggehen ohne uns diese Drohung ins Herz einzuprägen; ja schreiben wir sie an die Wände, auf die Hände, ins Gewissen, überallhin, damit wenigstens diese Furcht in unseren Herzen wurzle und unsere Hände von solch täglichem Morden abhalte. Denn der Raub, der den Armen ganz allmählich umbringt, ist noch schlimmer als Mord. Um uns also von dieser Seuche zu befreien, wollen wir das Gesagte wohl beherzigen, sowohl für uns als auch anderen gegenüber. Dann werden wir geneigter sein zur Mildtätigkeit, werden den lauteren Lohn dafür erhalten und die ewigen Güter erlangen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem die Ehre und die Macht sei mit dem Vater und dem Hl. Geiste jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 51