Kommentar zum Evangelium Mt 53

Dreiundfünfzigste Homilie. Kap. XV, V.32-Kap XVI, V.12.

53 Mt 15,32-16
1.

V.32: "Jesus aber rief seine Jünger zu sich und sprach: Es erbarmt mich der Leute; denn drei Tage schon harren sie aus bei mir und haben nichts zu essen; und sie ungespeist entlassen will ich nicht, damit sie nicht etwa auf dem Wege verschmachten." 

   Als Jesus früher einmal ein derartiges Wunder zu wirken im Begriffe stand, heilte er zuerst die leiblich Kranken. Auch hier geht er so vor. Nachdem er die Blinden und Lahmen geheilt, kommt er wieder auf dasselbe Wunder zurück. Warum aber hatten wohl seine Jünger damals gesagt: "Entlasse die Volksscharen" (Mt 14,15), während sie es jetzt nicht sagen, obgleich doch schon drei Tage verflossen waren? Entweder waren sie bereits besser geworden, oder sie sahen, dass die Leute nicht allzusehr unter dem Hunger litten, weil sie ja Gott wegen dessen, was geschehen war, priesen. Beachte jedoch, wie der Herr auch dieses Mal das Wunder nicht so ohne weiteres wirkt, sondern sie dazu herausfordert. Die Volksscharen waren herbeigeeilt, um geheilt zu werden, und wagten deshalb nicht, um Brot zu bitten. Er aber in seiner Liebe und Fürsorge gibt, auch ohne gebeten zu sein, und deshalb sagt er zu seinen Jüngern: "Es erbarmt mich der Leute, ich will sie nicht ungespeist fortlassen." Damit man nämlich nicht sage, sie seien schon mit Nahrungsmitteln versehen gewesen, setzt er hinzu: "Drei Tage schon harren sie bei mir aus"; wenn sie daher auch etwas mitgebracht hatten, war es längst aufgezehrt. Darum wirkte er das Wunder auch nicht schon am ersten oder zweiten Tage, sondern nachdem sie alles verbraucht hatten; sie sollten zuerst in Not kommen, damit sie dann das Wunder mit um so größerem Verlangen aufnähmen. Deshalb sagt er: "Damit sie nicht verschmachten auf dem Wege"; er wollte damit andeuten, dass sie noch weit nach Hause hätten und nichts zu essen übrig hatten. Aber wenn du sie nicht ungespeist fortlassen willst, warum wirkst du das Wunder nicht? Er wollte die Jünger durch seine Frage zur Antwort auffordern und dadurch ihre Aufmerksamkeit wecken; zugleich sollten sie ihren Glauben offenbaren, nämlich zu ihm kommen und sagen: Schaffe Brot. Aber sie kamen doch nicht darauf, was er mit seiner Frage bezweckte, weshalb er auch nach dem Berichte des Markus zu ihnen sprach: "Sind eure Herzen noch immer so verblendet? Habet Augen und sehet nicht, und habt Ohren und höret nicht"? (Mc 8,17-18). Wenn das nicht seine Absicht war, warum hat er dann das Wort an die Jünger gerichtet und ihnen gezeigt, dass die Scharen dieser Wohltat gar wohl würdig seien, und noch hinzugefügt, er habe Mitleid mit ihnen? Matthäus aber erzählt, der Herr habe darnach auch getadelt: "Ihr Kleingläubigen, sehet ihr noch nicht ein und denket auch ihr nicht an die fünf Brote für die Fünftausend und wieviel Körbe ihr aufhobet? Noch auch an die sieben Brote für die Viertausend und wieviel Körbe ihr aufhobet?" (Mt 16,9-10). So stimmen also die Evangelisten miteinander überein. 

   Was tun nun die Jünger? Sie bleiben noch immer am Boden haften. Der Herr hatte fürwahr alles Erdenkliche getan, damit sie dieses Wunder nicht vergessen sollten: deshalb hatte er jene Frage an sie gerichtet, hatte sie die Antwort geben lassen, sich ihrer als Gehilfen bedient, ihnen die Körbe ausgeteilt; aber nichtsdestoweniger entsprachen sie seiner Absicht noch nicht. Das bezeugen ihre Worte: 

   V.33: "Wo sollen wir in der Wüste Brot hernehmen für so viele?" 

   Wie das erste Mal. so erwähnen sie auch dieses Mal die Wüste; sie reden so infolge ihrer schwachen Urteilskraft; stellen aber gerade dadurch das Wunder über jeden Verdacht. Damit nämlich, wie ich schon sagte, ja niemand einwenden könne, sie hätten das Brot aus einem benachbarten Dorfe geholt, so wird der Ort des Wunders ausdrücklich genannt, damit es so beglaubigt würde. Das war der Grund, weshalb er beide Wunder, das erste und dieses, in der Wüste wirkte, weit entfernt von jeder Ortschaft. Von all dem verstanden jedoch die Jünger nichts, daher ihre Rede: "Wo sollen wir in der Wüste soviel Brot hernehmen?" Sie meinten nämlich, er habe die Frage an sie gerichtet, um ihnen den Auftrag zu geben, sie sollten die Nahrung für die Leute besorgen, wahrlich eine sehr törichte Meinung. 

   Das erste Mal hatte er zu ihnen gesagt: "Gebet ihr ihnen zu essen" (Mt 14,16), um ihnen nahezulegen, ihn zu bitten. Dieses Mal sagte er nicht: "Gebet ihnen zu essen", sondern wie? "Ich habe Mitleid mit ihnen, und ich will sie nicht ungespeist fortlassen"; er wollte es ihnen damit noch mehr nahelegen und sie noch mehr anspornen und es durchblicken lassen, sie sollten ihn darum bitten. Denn das bezweckten ja seine Worte: er wollte zeigen, dass er die Leute nicht ungespeist entlassen könne, und zugleich auf seine Macht hinweisen. Die Worte: "Ich will nicht" deuten das an. Die Jünger haben also der großen Zahl, der Örtlichkeit und der Wüste Erwähnung getan. 

   V.33: "Woher sollen wir denn in der Wüste so viele Brote nehmen", sagten sie, "dass wir eine so große Schar damit sättigten?" 

   und weil sie seine Worte auch so nicht verstanden hatten, geht er nun selbst unaufgefordert ans Werk, indem er zu ihnen spricht: 

   V.34: "Wie viele Brote habt ihr? Sie aber sprachen: Sieben und wenige Fischlein." 

   Sie erwidern jetzt nicht mehr wie früher: "Doch was ist dies für so viele?" (Jn 6,9). So gewannen sie, wenn sie auch noch nicht alles erfaßt hatten, doch allmählich an Erkenntnis. Denn um sie aufmerksam zu machen, richtet er selbst auch die gleiche Frage wie das erste Mal an sie, um sie auch durch die gleiche Fragestellung an das damalige Wunder zu erinnern. Wenn du einerseits daraus ersiehst, wie unvollkommen sie waren, so sieh doch auch zugleich, wie gelehrig sie waren, und bewundere ihre Wahrheitsliebe, da sie in ihren Berichten ihre eigenen Schwächen, mochten diese auch noch so groß sein, nicht verbergen. Denn es war doch kein gewöhnlicher Fehler, dass sie jenes vor nicht allzu langer Zeit geschehene Wunder so bald wieder vergessen hatten. Deshalb wurden sie auch getadelt.



2.

Beherzige ferner auch ihren anderen Fortschritt, wie sie nämlich ihre leiblichen Bedürfnisse beherrschten und gelernt hatten, sich keine so großen Sorgen wegen des Tisches zu machen. Denn obwohl sie sich in der Wüste befanden und schon drei Tage daselbst zugebracht hatten, besaßen sie doch nur sieben Brote. Im übrigen machte es Jesus gerade so, wie das erste Mal: Er läßt die Leute sich niedersetzen und vermehrt die Brote unter den Händen der Jünger. 

   V.35: "Und er gebot den Scharen, sich auf der Erde zu lagern. 

   V.36: Und er nahm die sieben Brote und die Fische und danksagte, brach sie und gab sie den Jüngern, und die Jüngern gaben sie dem Volke. 

   V.37: Und sie aßen alle und wurden satt; und was übrig blieb von den Stücken, hoben sie auf, sieben volle Körbe. 

   V.38: Es betrug aber die Zahl derer, die gegessen hatten, viertausend Männer, ungerechnet Frauen und Kinder." 

   Aber wie kommt es, dass das erste Mal, wo ihrer fünftausend gewesen waren, zwölf Körbe übrig blieben, jetzt bei viertausend Männern nur sieben Körbe? Worin liegt der Grund, dass hier, trotzdem nicht so viele gespeist worden waren, weniger übrig blieb? Entweder muß man annehmen, dass hier die Körbe größer waren als dort, oder, wenn man das nicht annehmen will, dass der Herr deshalb einen Unterschied machte, damit nicht die Gleichheit des Wunders Ursache würde, dass sie es wieder vergäßen und dass er es ihnen einzuprägen sucht durch die Verschiedenheit beider, damit sie sich eben infolge des Unterschiedes an beide erinnerten. Darum fügte er es so, dass die Zahl der Körbe das erste Mal mit der Zahl der Apostel, diesmal mit der Zahl der Brote übereinstimmte. Damit gab er zu erkennen, dass seine Macht unaussprechlich ist und dass sie ganz in seinem Belieben stehe. weil er so große Wunder auf die eine oder die andere Weise zu wirken imstande ist. Denn es gehört keine geringe Macht dazu, die Zahl genau zu bemessen, sowohl das erste Mal als auch jetzt, während doch damals fünftausend, dieses Mal viertausend Mann gespeist wurden, und es doch so einzurichten, dass trotz der Verschiedenheit der Zahl der Bewirteten weder damals noch jetzt mehr oder weniger übrig blieb, als Körbe vorhanden waren. 

   Auch der Abschluß war ähnlich wie das erste Mal. Denn damals entfernte sich der Herr nach Entlassung des Volkes in einem Schifflein, ebenso jetzt; auch Johannes berichtet dies. Kein anderes Wunder bewog eben die Leute so sehr ihm nachzufolgen, wie das Wunder der Brotvermehrung. Ja, sie wollten ihm nicht bloß folgen, sondern ihn sogar zum Könige machen. Weil er nun den Schein der Herrschsucht zu vermeiden suchte, zieht er sich nach diesem Wunder zurück, und damit sie ihm nicht folgen könnten, begibt er sich nicht zu Fuß hinweg, sondern besteigt das Schiff. V.39: "Und nachdem er die Scharen entlassen, stieg er in das Schiff und kam in das Gebiet Magdala." 

   Kapitel XVI. V.1: "Und es traten die Pharisäer und Sadduzäer zu ihm heran und baten ihn, er möchte ihnen ein Zeichen vom Himmel zeigen. 

   V.2: Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Wenn es Abend geworden ist, saget ihr: es wird gutes Wetter werden; denn feuerrot ist der Himmel: 

   V.3: und am Morgen: heute ist stürmisches Wetter; denn es rötet sich der trübe Himmel. Das Aussehens des Himmels also wisset ihr zu beurteilen; jedoch die Zeichen der Zeit könnet ihr nicht verstehen! 

   V.4: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt nach einem Zeichen; und ein Zeichen wird ihnen nicht gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Jonas, des Propheten. Und er verließ sie und ging weg." 

   Markus berichtet: "Und aufseufzend in seinem Geiste, sagte er: Was sucht dieses Geschlecht nach einem Zeichen?" (Mc 8,12). Und fürwahr, ihre Frage konnte wohl Zorn und Unwillen erregen, aber in seiner Liebe und Güte wird er nicht zornig, sondern bemitleidet und bedauert sie vielmehr wie unheilbare Kranke, da sie ihn nach einem solchen Erweise seiner Macht noch versuchten, und zwar nicht, um zum Glauben zu gelangen, sondern um ihn zu fangen. Wären sie gekommen in der Absicht, den Glauben zu finden, so hätte er ihnen ihre Bitte sicher gewährt. Denn wenn er dem Weibe willfahrte, obschon er zuerst sagte: "Es ist nicht gut", um wieviel mehr würde er ihnen zu Willen gewesen sein. Weil sie aber nicht den Glauben suchten, so nennt er sie ein andermal Heuchler, weil sie anderes redeten als sie dachten. Denn hätten sie Glauben gehabt, so würden sie diese Forderung nicht an ihn gestellt haben. Noch ein anderer Umstand bezeugt, dass sie nicht glaubten, dass sie nämlich, obschon getadelt und Überführt, nicht ausharrten und sagten: Wir sind unwissend und möchten gern belehrt werden. Was ist das aber für ein Wunder vom Himmel, das sie verlangten? Sie wollten, dass er die Sonne zum Stehen bringe, oder den Mond anhalte, oder Blitze herabziehe, oder die Luft verändere, oder etwas Ähnliches tue. Was antwortet ihnen da Christus? Er sagt: "Das Aussehen des Himmels wisset ihr zu beurteilen, jedoch die Zeichen der Zeit könnt ihr nicht verstehen?" Seht ihr da seine Sanftmut und Milde? Er macht es nicht, wie vorher, wo er nur ablehnte und sprach: "Es wird ihr nicht gewährt werden" (Mt 12,39), sondern er gibt auch den Grund an, warum er das Verlangte abschlägt, wiewohl sie ihn nicht gefragt hatten, um sich belehren zu lassen. Welches ist nun dieser Grund? Wie am Himmel, sagt er, die Anzeichen für Sturm andere sind als für heiteres Wetter, und niemand, der die Anzeichen des Sturmes bemerkt, auf Windstille rechnet, oder bei heiterem Wetter auf einen Sturm, so muß man auch über mich urteilen. Denn die Zeit meines jetzigen Hierseins ist eine andere als die der zweiten Ankunft. Jetzt bedarf es dieser Zeichen auf Erden; die Zeichen am Himmel sind für jene Zeit aufgespart. Jetzt bin ich als Arzt gekommen; dann werde ich als Richter erscheinen. Jetzt, um zu suchen, was in die Irre gegangen, dann, um Rechenschaft zu fordern. Darum bin ich jetzt in der Stille gekommen, dann aber werde ich öffentlich vor den Augen aller das Himmelsgezelt aufrollen, die Sonne verfinstern und das Licht des Mondes verlöschen. Dann werden die Kräfte des Himmels erschüttert werden und mein Erscheinen bei der Wiederkunft wird sein wie ein Blitz, der plötzlich aufleuchtet. Aber jetzt ist nicht die Zeit für diese Zeichen; denn ich bin gekommen, um zu sterben und die ärgste Pein zu leiden. Habt ihr nicht vom Propheten gehört: "Nicht streiten wird er und nicht schreien, und nicht wird von außen vernommen seine Stimme (Is 42,2), und von den anderen Propheten: Niedersteigen wird er wie Regen auf das Vließ" (Ps 71,6).



3.

Wenn man dagegen auf die Zeichen unter Pharao hinweisen wollte, so wäre zu sagen, dass es sich damals um die Befreiung von einem Feinde handelte und jene Zeichen deshalb geschehen mußten. Wer aber zu Freunden kommt, bedarf keiner solchen Zeichen. Wie kann ich aber auch, sagt gleichsam der Herr, das große Zeichen gewähren, wenn man den kleinen nicht glaubt? Klein nenne ich sie nach dem äußeren Ansehen; denn hinsichtlich der Macht, mit der sie gewirkt wurden, waren sie größer als jene. Oder was wäre so groß wie Sünden nachlassen. Tote erwecken, Teufel austreiben, einen Leib erschaffen und andere derartige Werke verrichten? Beachte aber du, wie verhärtet die Herzen der Juden sind, da sie keine Frage stellen, obwohl sie hören: "Es wird ihnen kein Zeichen gegeben werden, es sei denn das Zeichen des Propheten Jonas." Da sie den Propheten und alle seine Schicksale kannten, und diese Rede schon zum zweiten Male hörten, hätten sie doch gewiß fragen und zu erfahren trachten sollen, was er mit diesen Worten sagen wollte. Allein, wie gesagt, sie handelten nicht aus Verlangen, sich zu belehren. Darum ließ er sie auch gehen und entfernte sich. 

   V.5: "Und nachdem die Jünger über den See gekommen waren, hatten sie vergessen, Brot mitzunehmen. 

   V.6: Jesus aber sprach zu ihnen: Sehet euch vor und hütet euch vor dem Sauerteige der Pharisäer und Sadduzäer." 

   Warum sagt er nicht gerade heraus: Hütet euch vor ihrer Lehre? Er will ihnen das Vorhergeschehene ins Gedächtnis zurückrufen, weil er wußte, dass sie es schon vergessen hatten. Es schien jedoch nicht zweckmäßig, sie ohne weiteres zu tadeln; wenn er jedoch den Anlaß hierzu von ihnen selbst nahm, so machte er den Tadel erträglicher. Warum schalt er sie aber nicht damals, als sie sagten: "Woher sollen wir in der Wüste so viele Brote nehmen?" Damals schien es am Platze zu sein, so zu reden. Weil er sich nicht den Anschein geben wollte, als dränge es ihn selbst, das Wunder zu wirken. Dann wollte er ihnen auch nicht vor der ganzen Volksmenge Vorwürfe machen, noch sich gleichsam als über sie erhaben zeigen. Jetzt aber war der Tadel wohl berechtigt, weil sie nach dem doppelten Wunder noch immer so warten[543] . Deshalb wirkt er noch ein Wunder, ehe er sie tadelt; er spricht nämlich das aus, was sie bei sich dachten. Und was dachten sie? 

   V.7: "Weil wir kein Brot mitgenommen haben", heißt es. Sie waren noch den jüdischen Reinigungen und Speisevorschriften ergeben. Aus all diesen Gründen macht er ihnen scharfe Vorwürfe und spricht: 

   V.8: "Was denket ihr bei euch, Kleingläubige, weil ihr keine Brote mit habet?" Habt ihr noch immer keine Einsicht und keinen Verstand? Ist euer Herz verhärtet? Seid ihr blind trotz eurer Augen? Seid ihr taub, obwohl ihr Ohren habt? 

   V.9: "Erinnert ihr euch nicht an die fünf Brote für die Fünftausend und wieviel Körbe ihr aufhobet? 

   V.10: Noch auch an die sieben Brote für die Viertausend und wieviel Körbe ihr aufhobet?" 

   Siehst du, wie heftig sein Unwille ist? Sonst finden wir ja nie, dass er sie in solcher Weise getadelt hätte. Weshalb handelt er nun so? Um ihnen noch einmal ihr Vorurteil betreffs der Speisen zu nehmen. Denn deshalb sagte er früher: "Ihr wisset nicht, ihr verstehet nicht" (Mt 15,16); jetzt aber sagt er mit scharfem Tadel: "Ihr Kleingläubige!" Denn Sanftmut ist nicht in jedem Falle angebracht. Er wirkt eben ihr Heil durch wechselndes Verhalten: er spricht ihnen einmal Mut zu, dann weist er sie aber auch wieder zurecht. Beachte dazu auch, dass zwar sein Tadel groß ist, groß aber auch seine Milde. Denn fast wie eine Entschuldigung dafür, dass er sie so strenge zurechtgewiesen, klingt es, wenn er sagt: "Sehet ihr noch nicht ein und denket auch nicht an die fünf Brote und wieviel Körbe ihr aufhobet?" Darum erwähnt er, wie viele gesättigt worden waren und wieviel übrig geblieben war, um ihnen das Vergangene ins Gedächtnis zu rufen und sie zugleich auf das Kommende aufmerksam zu machen. Damit du aber sehest, was für eine Wirkung der Tadel hatte, wie er ihren schläfrigen Geist weckte, vernimm, was der Evangelist berichtet. Erst erzählt er, Christus habe weiter nichts gesagt, sondern sie bloß gescholten und nur hinzugesetzt: 

   V.11: "Wie könnt ihr nicht einsehen, dass ich nicht von Brot zu euch gesprochen habe; Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und Sadduzäer?" 

   Dann fährt er fort: 

   V.12: "Da verstanden sie, dass er nicht davon gesprochen habe, man solle sich hüten vor dem Sauerteige des Brotes, sondern vor der Lehre der Pharisäer und Sadduzäer"; 

   und doch hatte er ihnen das nicht selbst erklärt. Siehe, welch gute Wirkung der Tadel hatte. Er brachte sie von den Vorschriften der Juden ab, machte sie gegenüber ihrer früheren Sorglosigkeit achtsamer, und befreite sie von der Kleingläubigkeit, so dass sie sich nicht mehr fürchteten oder ängstigten, wenn es sich etwa zeigen sollte, dass sie zu wenig Brot besaßen, noch auch sich wegen des Hungers Sorgen machten, sondern sich über alles das hinwegsetzten. Also wollen auch wir nicht bei jeder Gelegenheit den Untergebenen schmeicheln, noch darnach trachten, von unseren Vorgesetzten nur immer Angenehmes zu hören. Die Seele des Menschen braucht eben beide Heilmittel. Gerade deshalb leitet Gott die ganze Welt so, dass er bald das eine, bald das andere[544] gebraucht, und läßt es nicht zu, dass das Angenehme oder das Unangenehme allein und ausschließlich vorherrsche. Denn wie es bald Tag, bald Nacht ist, bald Sommer, bald Winter, so herrscht auch bei uns bald Leid, bald Freude; manchmal sind wir krank, dann wieder gesund. Wundern wir uns daher nicht, wenn wir krank sind, da wir uns auch wundern müßten, wenn wir gesund sind. Beunruhigen wir uns nicht, wenn wir Schmerzen leiden, denn wir müßten uns auch beunruhigen, wenn wir voll Freuden sind. Denn alle diese Dinge treten ein nach den Gesetzen und dem Laufe der Natur.



4.

Was wunderst du dich also, wenn dir etwas zustößt? Man sieht ja, dass es auch den Heiligen ebenso ergangen ist. Und damit du dies klar erkennest, wollen wir dir ein Leben vor Augen stellen, das du für ganz besonders reich am Freuden und frei von aller Drangsal hältst. Wenn du willst, so untersuchen wir zuerst das Leben Abrahams. Was mußte also dieser Mann gleich zu Anfang hören? "Gehe aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft" (Gn 12,1). Siehst du, wie bitter der Auftrag ist? Aber beachte, wie auch Angenehmes darauf folgt. "Und gehe in ein Land, das ich dir zeigen werde, und ich will dich zum Vater eines großen Volkes machen." Aber denkst du, dass nun alles Bittere aufhörte, als er in das Land gekommen war und sein Ziel erreicht hatte? Mitnichten; andere Widerwärtigkeiten, schlimmer als die früheren, folgten: Hungersnot, Auswanderung, Raub seines Weibes; darauf erwartete ihn wieder Tröstliches: die Bestrafung Pharaos, die Entlassung, die Ehrenbezeugung, viele Geschenke und die Heimkehr. Und später ist alles wieder so, eine Kette von Annehmlichkeiten und Widerwärtigkeiten. Bei den Aposteln war dasselbe der Fall. Deshalb sagt auch Paulus: "Der uns tröstet in all unserer Drangsal, auf dass auch wir diejenigen zu trösten vermögen, die in irgendeiner Drangsal sind" (2Co 1,4). Aber, sagt man, was geht das mich an, der ich immerfort in Kummer lebe? Sei nicht unbillig und undankbar. Es ist ja gar nicht möglich, dass jemand beständig in Leiden schmachte: das hält unsere Natur nicht aus. Weil wir jedoch fortwährend in Freuden schwelgen wollen, deshalb meinen wir, wir seien immer voller Leiden; und nicht bloß deshalb klagen wir immer über Leiden, sondern auch, weil wir das Angenehme und Gute rasch wieder vergessen, das Widerwärtige hingegen stets lebendig vor unserer Seele steht. Aber es ist, wie gesagt, ganz unmöglich, dass ein Mensch immer voll Leiden sei. 

   Wenn es euch beliebt, wollen wir ein Leben voll Üppigkeit, Weichlichkeit und Überfluß, und ein anderes voll Beschwerden, Lasten und Bitterkeiten untersuchen. Da werden wir euch zeigen, dass ersteres auch seine Leiden, und letzteres auch seine Freuden hat. Aber bleibet schön ruhig. Stellt euch also einen Sklaven und einen jungen König vor, der verwaist ist und großen Reichtum ererbt hat, stellt euch ferner einen Taglöhner vor, der den ganzen Tag schwer arbeitet, sowie einen Mann, der beständig in Üppigkeit lebt. Sollen wir nun zuerst die Kümmernisse jenes Mannes, der in Üppigkeit lebt, schildern? Bedenke einmal, wie es in seinem Innern stürmen muß, wenn er nach größeren Ehren verlangt als ihm zukommt; wenn ihn seine Dienerschaft geringschätzt; wenn er von Niedrigen geschmäht wird; wenn er wegen seines Aufwandes tausend Nörgler und Verleumder findet? Und das andere, was so großer Reichtum naturgemäß mit sich bringt, läßt sich gar nicht alles aufzählen: Gehässigkeiten, Mißhelligkeiten, Beschuldigungen, Verluste, Anschläge von seiten der Neider, welche, wenn sie seinen Reichtum nicht an sich bringen können, den jungen Mann bei jeder Gelegenheit in den Staub ziehen, herabwürdigen und tausenderlei Stürme gegen ihn hervorrufen. Soll ich nun auch von den Freuden des Taglöhners sprechen? Von all den genannten Widerwäptigkeiten ist er frei, und wenn ihn jemand geringschätzig behandelt, so tut es ihm nicht sonderlich weh, weil er sich selbst über niemanden stellt; Furcht um sein Vermögen kennt er nicht, er ißt mit viel Appetit, schläft mit großer Seelenruhe. Diejenigen, welche den Wein aus Thasos trinken, schwelgen nicht so dabei wie er, wenn er zur Quelle geht und an ihrem Wasser sich labt. Bei jenem anderen ist das alles nicht der Fall. 

   Wenn dir das Bisherige noch nicht genügt, wohlan, so wollen wir, damit du völlig überzeugt werdest, auch den König und den Sklaven miteinander vergleichen, und du wirst sehen, dass dieser oft voll Freude ist und jauchzt und jubelt, während jener trotz Krone und Purpur niedergeschlagen und in tausenderlei Sorgen und halbtot ist vor Angst. Denn es ist nun einmal absolut unmöglich, ein Menschenleben zu finden, das ganz frei von Leid wäre, und ebenso keines, dem nie eine Freude zuteil würde; das würde, wie schon früher gesagt, unsere Natur nicht aushalten. Wen n aber b eil den einen die Freuden, bei den anderen das Leid überwiegt, so ist die Ursache für die Leiden nicht in der Natur der Verhältnisse, sondern darin zu suchen, dass der Leidende kleinmütig ist. Denn wenn wir nur wollten, wir hätten reichlichen Anlaß, uns beständig zu freuen. Wir brauchen uns nur auf die Übung der Tugend zu verlegen, so kann uns nichts mehr betrüben. Denn die Tugend stellt allen, die sie üben, herrliche Güter in Aussicht, macht sie wohlgefällig vor Gott und an gesehen bei den Menschen, und erfüllt das Herz mit unbeschreiblicher Wonne. Mag die Übung der Tugend immerhin mühevoll sein, sie gibt doch dem Gewissen große Freudigkeit und flößt uns ein solch inneres Glück ein, dass man es mit Worten gar nicht schildern kann. Was kommt dir denn in diesem irdischen Leben so angenehm vor? Eine wohlbesetzte Tafel, Gesundheit, Ehre, Reichtum? Vergleichst du aber diese Annehmlichkeiten mit der Wonne, welche die Tugend bietet, so erscheint all das bitter. Es gibt eben nichts Süßeres als ein ruhiges Gewissen und eine gute Hoffnung.



5.

Wenn ihr euch von dieser Wahrheit überzeugen wollt, so lasset uns jemand befragen, der schon dem Tode nahe ist, oder wenigstens im hohen Greisenalter steht. Wir wollen einerseits an die leckeren Mahlzeiten erinnern, die er genossen, an seine Ehre und sein Ansehen, anderseits an die guten Werke, die er verrichtet und geübt hat, und ihn befragen, worüber er sich am meisten freut. Da werden wir sehen, dass er sich wegen ersterer schämt und sich verbergen möchte, wegen letzterer dagegen frohlockt und jubelt. So war es bei Ezechiel der Fall, als er krank darniederlag; da gedachte er nicht seines wohlbesetzten Tisches, nicht seines Ansehens und seiner königlichen Würde, wohl aber seiner Rechtschaffenheit. "Gedenke doch, o Herr, wie ich vor Dir gewandelt bin in Wahrheit" (2R 20,3 u. Is 38,3). Höre auch, wie sich Paulus über diese Dinge freut:"Den guten Kampf habe ich gekämpft, habe den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt" (2Tm 4,7). Ja, was hätte der auch sonst zu sagen gehabt? meinst du. O, gar vieles und größeres als das: die Ehre, die man ihm erwiesen, das bewaffnete Geleite, das man ihm gegeben hatte, und sie Bedienung, die ihm sooft geleistet worden war. Oder hast du ihn nicht sagen hören: "Wie einen Engel Gottes nahmet ihr mich auf, gleichwie Christum Jesum", und: "Hätte es geschehen können, ihr hättet eure Augen ausgerissen und mir gegeben" (Ga 4,14 Ga 4,15), und: "Sie haben für mein Leben ihren Nacken eingesetzt"? (Rm 16,4). Von all dem führt er aber nichts an, sondern nur die Mühen und Gefahren, die er überstanden, und die Krone, die er dafür erhalten; und da hatte er ganz recht. Denn jene Dinge muß man hier lassen, diese hingegen begleiten uns hinüber; über jene muß man Rechenschaft ablegen, für diese aber darf man Lohn gewärtigen. Wisset ihr nicht, wie am jüngsten Tage die Sünden die Seele beängstigen, wie sie das Herz niederdrücken werden? Sobald nun das geschehen wird, wird auch die Erinnerung an die guten Werke auftauchen und wie die Windstille nach dem Sturme die geängstigte Seele trösten. Wenn wir wachsam wären, würde uns diese Furcht zeitlebens begleiten; da wir jedoch gedankenlos dahinleben, so wird sie uns sicherlich dann befallen, wenn wir von hier abberufen werden. Auch der Gefangene empfindet ja dann die größte Angst, wenn man ihn vor das Gericht führt, und zittert am meisten dann, wenn er vor dem Richterstuhl steht und Rechenschaft ablegen soll. 

   Deshalb kann man auch hören, wie manche Sterbende erzählen, dass sie dann Schreckbilder und fürchterliche Erscheinungen haben, und da sie diesen Anblick nicht ertragen können, rütteln sie mit großer Heftigkeit an ihrem Lager und werfen entsetzte Blicke auf die Anwesenden, während sich ihre Seele in ihnen zusammenkrampft, da sie sich fürchtet, vom Leibe zu scheiden und den Anblick der herannahenden Engel nicht ertragen kann. Denn wenn man schon beim Anblicke schrecklicher Menschen erbebt, was wird man da erst empfinden, wenn man die drohenden Engel und rächenden Mächte nahen sieht, während die Seele vom Leibe getrennt und fortgezogen wird und dabei vergeblich in laute Klagen ausbricht? Auch der reiche Prasser mußte ja nach seinem Tode vieles leiden; und doch hatte er keinen Nutzen davon. Malen wir uns nur alles das aus und erwägen wir es reichlich, damit nicht auch uns dasselbe Schicksal widerfahre; bewahren wir vielmehr die Furcht, die bei solcher Betrachtung geweckt wird, auf dass wir der Strafe für unsere Missetaten entgehen und wir die ewigen Güter erlangen. Mögen sie uns allen zuteil werden durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem im Verein mit dem Vater und dem heiligen und lebenspendenden Geiste Ehre sei jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen!





Vierundfünfzigste Homilie. Kap. XVI, V.13-23.

54 Mt 16,13-23
1.

V.13: "Es kam aber Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi, und er fragte seine Jünger und sagte: Für wen halten die Leute den Menschensohn?" 

   Weshalb erwähnt der Evangelist auch den Gründer der Stadt[545] ? Weil es noch ein zweites Cäsarea gibt, nämlich das des Straton. Nicht in der letzteren, sondern in jener ersten richtete der Herr die Frage an seine Jünger; weit weg aus dem Jordanlande führt er sie, damit sie frei von aller Befangenheit alles, was sie auf dem Herzen hatten, ungescheut sagen könnten. Warum fragte er sie aber nicht geradewegs um ihre eigene Meinung, sondern um die der Leute? Sie sollten erst die Ansicht jener anführen, um dann schon durch die Art der Frage: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" zu tieferem Verständnis geführt zu werden und nicht in der unzulänglichen Meinung der Menge befangen zu bleiben. Deshalb stellt er diese Frage auch nicht im Anfange seiner Lehrtätigkeit an sie, sondern erst nachdem er schon zahlreiche Wunder gewirkt und ihnen viele Beweise für manche erhabene Wahrheit, für seine Gottheit und seine Übereinstimmung mit dem Vater gegeben hatte. Seine Worte lauten auch nicht: Für wen halten mich die Schriftgelehrten und die Pharisäer? trotzdem sie oft zu ihnen gekommen und sich mit ihnen besprochen hatten, sondern: "Für wen halten mich die Leute?" Die unverfälschte Meinung des Volkes will er erfahren. Denn war sie auch viel unvollkommener, als sie hätte sein sollen, so war sie doch frei von Falsch; die Gesinnung der Pharisäer hingegen strotzte von Bosheit. Um zu erkennen zu geben, wie sehr ihm daran gelegen war, dass man zum Verständnis der Menschwerdung gelange, sagt er: "den Sohn des Menschen"; damit bezeichnet er, wie auch sonst oft, seine Gottheit. So z.B.:"Niemand stiege auf in den Himmel, außer dem Sohne des Menschen, der da ist in dem Himmel" (Jn 3,13), ebenso: "Wenn ihr nun den Sohn des Menschen hinaufsteigen sehen werdet, wo er vordem war" (Jn 6,63). 

   Da antworteten die Jünger und 

   V.14: "Die einen sagten: Johannes der Täufer, andere hingegen; Elias, andere aber: Jeremias oder einer der Propheten"; 

   so hatten sie ihre verwirrten Ansichten vorgebracht. Da fuhr der Herr fort: 

   V.15: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" 

   Durch diese zweite Frage regt er sie an, höher von ihm zu denken, und gibt ihnen zu verstehen, dass die eben erwähnte Ansicht weit hinter seiner Würde zurückbleibe. Er erwartet bei ihnen eine andere Meinung und richtet eine zweite Frage an sie, damit sie nicht auf derselben Stufe ständen wie die große Menge, die da größere Wunder gesehen hatte, als ein Mensch sie wirken kann, und ihnen doch für einen bloßen Menschen hielt, wenn auch für einen, der von den Toten auferstanden sei, wie übrigens auch Herodes meinte. Um sie jedoch von einer solchen Vermutung abzubringen, fragte er: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" das heißt: Ihr, die ihr immer mit mir beisammen seid, die ihr mich Wunder wirken sehet und selber durch mich viele Wunder verrichtet habt? Was antwortet nun Petrus, gleichsam der Mund der Apostel, der allzeit feurige, das Oberhaupt des Apostelchores? Die Frage war an alle gerichtet, aber er allein antwortet. Als der Herr zuvor nach der Meinung des Volkes gefragt hatte, hatten alle geantwortet; jetzt, da er nach ihrer Meinung allein fragt, tritt Petrus vor, ergreift das Wort und spricht: 

   V.16: "Du bist Christus der Sohn des lebendigen Gottes." 

   Was sagt nun Christus dazu? Er sagt: 

   V.17: "Selig bist du, Simon Bar Jona! Denn nicht Fleisch und Blut hat es dir geoffenbart." 

   Wäre sein Bekenntnis, dass Christus aus dem Vater selbst geboren sei, nicht richtig gewesen, so wäre es nicht die Folge einer Offenbarung gewesen: hätte er ihn auch für einen gewöhnlichen Menschen gehalten, so hätte seine Rede keine Seligpreisung verdient. Schon früher, nach dem Sturme, den sie erlebt hatten, hatten sie im Schiffe zu ihm gesagt: "Wahrhaft, Gottes Sohn bist Du!" (Mt 14,33), und waren doch nicht selig gepriesen worden, obgleich die Worte der Wahrheit entsprachen. Sie hatten ihn nicht in derselben Weise wie Petrus als Sohn Gottes bekannt, sondern sie glaubten, dass er einer aus dem Volke und dabei in Wahrheit ein Sohn Gottes sei, auserkoren zwar vor allen, aber nicht unmittelbar aus dem Wesen des Vaters.



2.

Auch Nathanael hatte gesagt: "Rabbi, Du bist der Sohn Gottes, Du bist der König Israels" (Jn 1,49). Aber weit entfernt, selig gepriesen zu werden, wird er vielmehr noch zurechtgewiesen, als reichten seine Worte bei weitem nicht an die Wahrheit heran. Denn wir lesen weiter: "Weil ich zu dir gesprochen habe: Ich sah dich unter dem Feigenbaume, glaubst du? Größeres denn dieses wirst du noch sehen" (Jn 1,50). Weshalb wird also Petrus selig gepriesen? Weil er bekannte, dass er der wirkliche Sohn Gottes ist. Darum hatte der Herr bei jenen anderen nichts dergleichen gesagt; bei Petrus dagegen teilt er sogar mit, wer es ihm geoffenbart hatte. Weil nämlich Petrus Christus überaus liebte, hätten die Leute meinen können, er habe diese Worte nur aus Zuneigung und Schmeichelei gesagt oder um ihm eine Freude zu machen; darum sagt Christus, wer es ihm eingegeben habe; er will dir eben zu erkennen geben, dass Petrus zwar die Worte sprach, der Vater sie aber gleichsam diktierte; und will dich davon überzeugen, dass seine Worte nicht mehr bloß die Ansicht eines Menschen, sondern eine Lehre Gottes enthalten. Warum spricht er dies aber nicht selbst aus und sagt nicht: Ich bin Christus; warum führt er vielmehr durch seine Fragen darauf hin und leitet sie so zum Bekenntnisse an? Diese Art und Weise war unter jenen Umständen für ihn schicklicher und notwendig; denn er bewog dadurch die Jünger leichter zum Glauben an das, was er sagte. Bemerkst du, wie der Vater den Sohn offenbart, und der Sohn den Vater? Christus sagte ja: "Niemand erkennt den Vater, ausgenommen der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren will" (Mt 11,27 Lc 10,22). Man kann also durch niemand anderen den Sohn kennen lernen als durch den Vater, und den Vater durch niemand anderen als durch den Sohn. Daraus geht auch klar und deutlich hervor, dass beiden gleiche Ehre und gleiches Wesen eigen ist. 

   Was sagt nun Christus? "Du bist Simon, der Sohn des Jona, du sollst Fels heißen."Weil du ausgesprochen hast, wer mein Vater ist, so nenne ich auch den, der dich gezeugt hat. Doch sagt er nicht: Wie du der Sohn des Jona bist, so bin ich auch der Sohn meines Vaters. Es wäre ja doch überflüssig gewesen zu sagen: Du bist der Sohn des Jona. Weil aber Petrus ihn Sohn Gottes genannt hatte, so fügte er es bei, um zu zeigen, dass er in derselben Weise der Sohn Gottes ist, wie jener der Sohn des Jona, nämlich der gleichen Wesenheit wie der Erzeuger. 

   V.18: "Und ich sage dir: Du bist Fels, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen"; 

   d.h. auf den Glauben deines Bekenntnisses. Hiermit weist er zugleich darauf hin, dass viele schon in Bereitschaft stehen zu glauben, und richtet seinen Mut auf und setzt ihn zum Hirten ein. "Und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen." Wenn sie aber wider die Kirche nichts vermögen, dann noch viel weniger gegen mich! Daher beunruhige dich nicht, wenn du einst hören wirst: Ich werde verraten und gekreuzigt werden. Daraufhin erwähnt Christus auch noch eine zweite Auszeichnung. 

   V.19: "Und ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben." 

   Was soll das heißen: "Und ich werde dir geben?" Wie dir der Vater es gegeben hat, dass du mich erkanntest, so will auch ich dir geben. Er sagte nicht: Ich werde den Vater bitten, obschon das, was er andeutete, eine große Machtbefugnis voraussetzte und das Geschenk unbeschreiblich groß war; er sagte nur: Ich will dir geben. Was willst du geben? "Die Schlüssel des Himmelreiches, damit alles, was du auf Erden bindest, auch im Himmel gebunden sei, und alles, was du auf Erden lösest, auch im Himmel gelöst sei." Wie kommt es nun, dass derjenige, welcher spricht: "Ich will dir geben", es nicht auch gewähren kann, dass jemand zu seiner Rechten oder Linken sitze? Siehst du, wie er wieder den Petrus zu einem tieferen Verständnis seiner Person führt, einerseits sich selbst verbirgt und anderseits durch diese beiden Verheißungen sich als Sohn Gottes bekundet? Denn er verspricht ja, ihm selbst das zu geben, was nur Gott allein zusteht, nämlich Sünden nachzulassen und die Kirche trotz des größten Ansturmes der Wogen unzerstörbar, ja einen einfachen Fischer unerschütterlicher zu machen als jeden Fels, und wenn auch die ganze Welt ihn bekämpfte. Ähnlich hat ja auch der Vater dem Jeremias verheißen:"Ich mache dich zu einer eisernen Säule und einer ehernen Mauer" (Jr 1,18). Und doch wir Jeremias nur für ein einziges Volk bestellt, Petrus aber für die ganze Erde. Diejenigen, welche den Sohn an Würde niedriger stellen wollen, möchte ich fragen: Welche Gaben sind größer, die, welche der Vater, oder die, welche der Sohn dem Petrus verlieh? Der Vater zeichnete ihn aus, indem er ihm den Sohn offenbarte, der Sohn aber, indem er ihm die Vollmacht gab, die Offenbarung des Vaters und des Sohnes in alle Welt zu verbreiten, und ihm, einem sterblichen Menschen, durch die Überreichung der Schlüssel die Gewalt erteilte über alles, was im Himmel ist; er, der die Kirche so groß wie die ganze Erde und den Petrus stärker als den Himmel machte. Denn: "Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber werden nicht vergehen" (Mt 24,35). Wie sollte derjenige geringer sein, der solche Gaben verleiht, solche Anordnungen trifft? Damit will ich keineswegs die Werke des Sohnes von denen des Vaters trennen, denn: "Alles ist durch das Wort geworden und ohne dasselbe ist nichts geworden" (Jn 1,3). Damit sollen nur Leute, die unverschämte Behauptungen aufstellen, zum Schweigen gebracht werden.



3.

Aus all dem magst du nun ersehen, welche Macht er besitzt. "Ich sage dir, du bist Petrus, ich werde die Kirche gründen; ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben." Nach diesen Worten 

   V.20: "Da gebot er den Jüngern, sie sollten zu niemanden sagen, dass er der Christus ist." 

   Weshalb verbot er es ihnen? Damit erst alle Ärgernisse beseitigt, der Kreuzestod vollendet, alle seine Leiden vorüber und nichts mehr übrig wäre, was den Glauben des Volkes an ihn erschüttern und trüben könnte; dann erst sollte die wahre und richtige Meinung über ihn rein und fest in die Herzen der Zuhörer eingeprägt werden. Noch hatte ja seine Macht nicht ihren vollen Glanz entfaltet. Darum wollte er, dass die Apostel ihn erst dann verkündeten, wenn die offenkundige Wahrheit der Tatsachen und die Wucht der Ereignisse ihren Worten Nachdruck verliehe. Es war ja auch nicht einerlei, zu sehen, wie er in Palästina bald Wunder wirkte, bald verspottet und beschimpft wurde, namentlich, da auch noch der Kreuzestod auf seine Wunder folgen sollte, und zu sehen, wie man ihn in aller Welt anbetet, an ihn glaubt, und wie er von all dem, was er leiden mußte, nichts mehr zu leiden braucht. Deshalb befahl er ihnen, niemanden etwas davon zu sagen. Denn wenn ein Ding einmal bei dem Volke Wurzel gefaßt hat und dann ausgerissen wird, kann es nur schwer wieder eingepflanzt und erhalten werden; was aber einmal gefestigt ist und ungestört bleibt und von keiner Seite Schaden leidet, das wächst empor und nimmt immer mehr zu. Wenn schon diejenigen, welche Zeugen so vieler Wunder gewesen waren und an so vielen unaussprechlichen Geheimnissen teilgenommen hatten, beim bloßen Hören Anstoß nahmen, ja nicht nur diese, sondern sogar Petrus, der erste von allen, so kannst du dir vorstellen, wie es wohl dem Volke ergangen wäre, wenn man ihm zuerst gesagt hätte, Christus sei der Sohn Gottes, und sie dann gesehen hätten, wie er gekreuzigt und angespieen wurde, besonders da sie in den tieferen Sinn dieser Geheimnisse noch nicht eingedrungen waren, den Hl. Geist noch nicht empfangen hatten. Mußte der Herr ja sogar zu den Jüngern sprechen: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, jedoch ihr könnt es jetzt nicht fassen" (Jn 16,12); um wieviel mehr hätte das übrige Volk Anstoß genommen, wenn er ihnen vor der Zeit das erhabenste dieser Geheimnisse geoffenbart hätte. Das ist also der Grund, warum er ihnen zu reden verbot. 

   Damit du also zur Erkenntnis kommst, wie wichtig es war, erst dann den vollen Inhalt der Lehre zu erfahren, wenn die Gründe des Anstoßes nicht mehr vorhanden waren, so nimm gerade den obersten der Apostel als Beispiel. Gerade er, Petrus, zeigte sich trotz so großer Wunder so schwach, dass er sogar den Herrn verleugnete und vor einer einfachen Magd Furcht hatte; nachdem aber der Kreuzestod vorüber und die Auferstehung klar erwiesen und nichts mehr übrig war, was ihm zum Anstoß oder zur Beunruhigung hätte gereichen können, da hielt er an der Lehre des Hl. Geistes so unerschütterlich fest, dass er mit dem Mute eines Löwen vor das Judenvolk hintrat, ob auch tausendmal Gefahren und Tod drohten. Es war demnach wohl am Platze, dass Christus befahl, der Menge vor seiner Kreuzigung nichts zu sagen, da er ja vor seinem Kreuzestode selbst ihnen, die später predigen sollten, nicht alles zu eröffnen wagen durfte. Denn: "Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen." Sie verstehen auch vieles von dem nicht, was er sagte, da er es ihnen vor seiner Kreuzigung nicht verständlich machte. Erst nach seiner Auferstehung ging ihnen das Verständnis von einigen seiner Reden auf. 

   V.21: "Von da an begann Jesus seinen Jüngern begreiflich zu machen, dass er leiden müsse." 

   Wann, von da an? Als er sie in seiner Lehre gefestigt hatte, als er auch die Erstlinge der Heiden zugelassen hatte. Aber auch so verstanden sie seine Rede noch nicht. Denn, heißt es: "Dieses Wort war verborgen vor ihnen" (Lc 18,34). Sie waren wie in einem Dunkel befangen, und wußten nicht, dass er auferstehen sollte. Deshalb verweilte er auch lange bei diesen schwierigen Punkten und redet ausführlich darüber, um ihnen Einblick zu gewährend, und damit sie verständen, was seine Worte zu bedeuten haben. Aber "sie verstanden nichts davon, und was er sagte, war verborgen vor ihnen" und sie scheuten sich, ihn zu fragen; nicht ob er sterben werde, sondern wie und auf welche Weise, und was es mit diesem Geheimnis für eine Bewandtnis habe. Denn sie begriffen nicht, was diese Auferstehung zu bedeuten haben sollte und hielten es für besser, nicht zu sterben. Da nun alle bestürzt und voller Zweifel waren, nimmt sich Petrus wieder in seinem Eifer allein das Herz, darüber zu reden, aber doch nicht öffentlich, sondern allein, d.h. abgesondert von den übrigen Jüngern. Er sagte: 

   V.22: "Ferne sei es von Dir, Herr, nimmer soll Dir solches begegnen." 

   Wie ist nun das zu verstehen? Petrus hat eine Offenbarung erhalten, er ist selig gepriesen worden und kommt so schnell zum Straucheln und zu Falle, dass er vor dem Leiden Angst hat? Allein, darf es wundernehmen, dass ihm das widerfährt, da er darüber keine Offenbarung empfangen hatte? Damit es dir klar werde, dass er seine früheren Worte nicht aus sich selbst gesprochen hatte, betrachte, wie er in den Dingen über die ihm nichts geoffenbart worden war, befangen und unsicher ist und das Gesagte nicht versteht, auch wenn er es tausendmal hört. Dass Christus der Sohn Gottes ist, das hatte er begriffen; aber das Geheimnis des Kreuzes und der Auferstehung war ihm noch nicht klar geworden. "Denn die Rede", heißt es, "war vor ihnen verborgen." Siehst du jetzt ein, wie richtig der Herr handelte, dass er es den übrigen mitzuteilen verbot? Denn, wenn schon diejenigen, die es erfahren mußten, derart in Bestürzung gerieten, wie wäre es erst den übrigen ergangen? Um also zu zeigen, dass er durchaus nicht wider seinen Willen sich dem Leiden unterzog, tadelt der Herr den Petrus und heißt ihn einen Satan.



4.

Hören sollen das alle, die vor dem Leiden des Kreuzes Christi zurückschrecken. Wenn schon der oberste[546] wegen seiner Furcht ein Satan genannt wurde, und dies, bevor er noch über alles eine klare Erkenntnis erlangt hatte, welche Entschuldigung können dann diejenigen haben, welche das Werk der Erlösung nach so vielen, klaren Beweisen noch leugnen? Wenn Petrus, der so feierlich selig gepriesen worden war, der ein so herrliches Bekenntnis abgelegt hatte, so harte Worte hören muß, so kannst du dir denken, was mit denen geschehen wird, welche nach all dem das Geheimnis des Kreuzes verwerfen? Der Herr sagte nicht: Der Satan hat aus dir gesprochen, sondern: 

   V.23: "Weiche zurück hinter mich, Satan." 

   Es war nämlich das Verlangen des Widersachers, Christus möge nicht leiden. Deshalb schalt ihn der Herr mit so scharfen Worten, weil er wußte, dass Petrus und die übrigen Scheu davor hatten und sich nicht gelassen darin fanden. Deshalb enthüllt er ihnen auch seine geheimen Gedanken: "Du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was des Menschen ist." Was heißt aber das: "Du sinnest nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist"? Weil Petrus an diese Sache nur den menschlichen und irdischen Maßstab anlegte, glaubte er, es sei für Christus schimpflich und ungeziemend. Um ihn also zu widerlegen, sagt er: Dass ich leide, ist nicht ungeziemend, wohl aber urteilst du nur dem Fleische nach; hättest du die fleischliche Gesinnung abgelegt und im Sinne Gottes meine Worte angehört, so wüßtest du, dass gerade darin meine eigentliche Aufgabe besteht. Du meinst, das Leiden sei meiner unwürdig; ich aber sage dir, es entspricht der Absicht des Teufels, dass ich nicht leide. Auf diese Weise überwindet er seinen Widerstand durch den Hinweis auf das Gegenteil. Ähnlich brachte er auch Johannes, der sich für unwürdig hielt, ihn zu taufen, dazu, dass er ihn taufte, indem er sprach: "Also geziemt es uns" (Mt 3,15). Desgleichen überzeugte er Petrus selbst, der ihn abhalten wollte, ihm die Füße zu waschen, mit den Worten: "So ich dich nicht wasche, hast du keinen Teil an mir" (Jn 13,8). So weist er ihn auch jetzt durch Hinweis auf das Gegenteil in die Schranken und erstickt seine Furcht vor dem Leiden durch eine strenge Zurechtweisung. 

   Niemand schäme sich also des ehrwürdigen Zeichens unserer Erlösung, der größten aller Wohltaten, durch die wir leben, durch die wir sind. Wir wollen vielmehr das Kreuz Christi wie eine Krone tragen. Denn durch das Kreuz wird ja unser ganzes Heil vollbracht. So oft jemand wiedergeboren wird, ist das Kreuz dabei; so oft er genährt wird mit jener geheimnisvollen Speise, so oft jemand geweiht wird, so oft irgendeine andere Handlung vorgenommen wird, überall steht dieses Zeichen des Sieges und zur Seite. Deshalb zeichnen wir es voll Eifer auf die Häuser, Wände und Fenster, auf die Stirn und auf das Herz. Ist es ja doch das Sinnbild unserer Erlösung, unserer gemeinsamen Befreiung, sowie der Güte unseres Herrn. "Wie ein Lamm wurde er zur Schlachtbank geführt" (Is 53,7). So oft du dies also mit dem Kreuze bezeichnest, beherzige alles, was im Kreuze liegt, dämpfe den Zorn und alle übrigen Leidenschaften. Wenn du dich bekreuzest, erfülle deine Stirn mit großer Zuversicht, mache deine Seele frei. Ihr wisset doch sicherlich, wodurch wir die Freiheit erlangen. Um uns dafür zu gewinnen, für die Freiheit nämlich, die uns zukommt, erwähnt Paulus das Kreuz und das Blut des Herrn, indem, er spricht: "Um einen Preis seid ihr erkauft worden; werdet nicht Sklaven der Menschen" (1Co 7,23). Er will sagen: Bedenke, was für ein Preis für dich bezahlt worden ist und du wirst keines Menschen Knecht sein; das Kreuz nennt er nämlich einen Kaufpreis. Man darf das Kreuz aber nicht einfach nur mit dem Finger machen, sondern zuerst mit dem Herzen, voll innigen Glaubens. Wenn du es in dieser Weise auf deine Stirne zeichnest, dann wird dir kein unreiner Geist nahen, weil er die Waffe sieht, die ihm die Wunde geschlagen, das Schwert, das ihm den tödlichen Streich versetzte. Wenn wir beim Anblick der Richtstätten erschaudern, was wird wohl der Teufel empfinden beim Anblick der Waffe, mit der Christus seine ganze Macht gebrochen und dem Drachen den Kopf abgehauen hat? 

   Schäme dich also nicht eines so großen Gutes, damit auch Christus sich deiner nicht schäme, wenn er in seiner Herrlichkeit kommen und wenn vor ihm sein Zeichen erscheinen wird, leuchtender als die Strahlen der Sonne. Ja, dann wird das Kreuz kommen und durch sein Erscheinen laut predigen, wird über die ganze Erde für den Herrn Zeugnis ablegen und zeigen, dass er nichts unterlassen hat von dem, was von ihm abhing. Dieses Zeichen hatte schon zur Zeit unserer Vorfahren und hat auch jetzt noch die Kraft, verschlossene Türen zu öffnen, Giftmittel unschädlich zu machen, dem Schierling seine Wirkung zu nehmen, vom Bisse giftiger Tiere zu heilen; denn wenn es die Pforten der Vorhölle erschloß, das Tor des Himmels öffnete, den Eingang zum Paradiese wieder auftat und die Fesseln des Teufels sprengte, was braucht man sich da zu wundern, dass es mächtiger ist, als giftige Tränke und Tiere und alles andere der Art?



5.

Präge dir also diese Wahrheit tief ins Gedächtnis ein und drücke das Heil unserer Seelen an dein Herz. Denn dieses Kreuz hat die Welt erlöst und bekehrt, hat den Irrtum verscheucht, die Wahrheit gebracht, die Erde in einen Himmel verwandelt, aus Menschen Engel gemacht. Mit dem Kreuze braucht man die Teufel nicht mehr zu fürchten, sondern darf sie verachten, ist der Tod kein Tod mehr, sondern nur ein Schlaf, sind alle uns feindlichen Mächte zu Boden gestreckt und niedergetreten worden. Wenn jemand dich fragt: Betest du den Gekreuzigten an? so entgegne mit freudebebender Stimme und frohstrahlendem Antlitze: Ja, ich bete ihn an und werde ihn immer anbeten. Und wenn er dich auslacht, so beweine ihn, weil er von Sinnen ist. Danke dem Herrn, dass er uns so große Wohltaten erwiesen hat, dass man sie ohne eine Offenbarung von oben nicht einmal erkennen kann. Auch jener Mensch lacht ja nur, weil "der sinnliche Mensch nicht annimmt, was des Geistes Gottes ist" (1Co 2,14). Auch den Kindern geht es ja so, wenn sie etwas Großes und Wunderbares sehen; und willst du ihnen das Geheimnis erklären, so lachen sie. Solchen Kindern gleichen auch die Heiden, ja sie sind noch verkehrter und darum auch schlimmer als die Kinder, weil sie nicht unmündig sind, sondern im gereiften Alter stehen und doch wie Kinder sich benehmen. Deshalb verdienen sie aber auch keine Nachsicht. 

   Wir aber wollen feierlich, laut und stolz unsere Stimme erheben und rufen und mögen auch alle Heiden miteinander es hören, wollen mit desto größerer Zuversicht es verkünden: Das Kreuz ist unser Ruhm, der Angelpunkt aller Güter, unsere Zuversicht und unser ganzer Lohn. Ich möchte auch mit Paulus sagen können: "Durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt" (Ga 6,14), aber ich kann nicht, weil ich in mannigfachen Leidenschaften befangen bin. Darum ermahne ich euch und mich selbst noch vor euch, wir möchten der Welt gekreuzigt werden und nichts mit der Erde gemein haben, vielmehr die Heimat dort oben lieben und die Herrlichkeit und die Güter im Jenseits. Sind wir doch Streiter des himmlischen Königs, angetan mit den Waffen des Geistes. Warum führen wir also ein Leben wie Schankwirte und Landstreicher, ja eigentlich das Leben von Würmern? Wo der König ist, da soll auch sein Streiter sein. Und wir sind Soldaten nicht zu Unternehmungen in weiter Ferne, sondern zu solchen ganz in der Nähe des Königs. Ein irdischer Herrscher würde es freilich nicht dulden, dass alle Krieger an seinem Hofe oder gar an seiner Seite seien; der himmlische König aber wünscht, dass alle in nächster Nähe seines königlichen Thrones weilen. 

   Wie aber, entgegnet einer, kann man hier auf Erden sein und zugleich an seinem Throne stehen? Ebenso wie Paulus auf Erden lebte und doch dort war, wo die Cherubim und Seraphim weilen, und noch näher bei Christus, als die Leibwache beim Könige. Diese läßt ihre Augen auf allen Seiten umherschweifen, während Paulus durch nichts abgelenkt oder abgezogen wurde, sondern seinen Geist immerfort gespannt auf den König gerichtet hielt. Wenn wir nur den guten Willen hätten, so wäre dies auch uns möglich. Wäre der Herr örtlich entfernt, so könnte man allerdings in Verlegenheit sein; da er jedoch überall zugegen ist, so ist er auch jedem nahe, der sich redlich Mühe gibt und gesammelt ist. Darum sagte auch der Prophet:"Kein Unglück werde ich fürchten, denn du bist mit mir" (Ps 22,4), und Gott selber sprach: "Bin ich ein Gott aus der Nähe und nicht ein Gott aus der Ferne?" (Jr 23,23). Wie uns nämlich die Sünde von ihm entfernt, so führt uns die Übung der Gerechtigkeit zu ihm hin. "Während du noch redest, spricht er: Siehe, hier bin ich" (Is 58,9). Wann hätte je ein Vater so rasch die Bitte seiner Kinder erhört? Welche Mutter wäre so beredt und stände gleichsam stets auf dem Sprunge, ob etwa ihre Kinder nach ihr rufen? Solch einen Vater und solch eine Mutter gibt es nirgends. Gott aber steht allzeit bereit und wartet, ob ihn einer der Seinigen anrufe, und nie überhört er es, wenn wir ihn geziemender Weise rufen. Deshalb sagt er: "Noch während du flehest"; ich warte nicht, bis du zu Ende bist, ich erhöre dich sofort. Rufen wir also zu ihm, sowie er angerufen werden will. Und wie will er es? "Löse die Bande des Frevels, streife ab niederziehende Fesseln, lasse die Geknechteten frei und zerreiße jegliches Joch: brich dem Hungernden dein Brot, und Elende und Heimatlose führe in dein Haus; so du einen Nackten siehst, kleide ihn, und behandle dein eigenes Fleisch nicht verächtlich; dann wird hervorbrechen wie Morgenrot dein Licht, und deine Heilung rasch gedeihen, und gehen wird vor dir her Gerechtigkeit und die Herrlichkeit des Herrn wird dich geleiten. Dann wirst du mich rufen und ich werde dich erhören; während du noch flehest, werde ich sagen: Siehe, hier bin ich" (Is 58,69). Wer ist aber imstande, das alles zu tun, fragst du? Sage mir vielmehr, wer ist dazu nicht imstande? Was ist denn von all dem Aufgezählten schwer? was, mühevoll? was nicht leicht? Ja, es ist nicht nur möglich, sondern sogar so leicht, dass viele noch über das Angeführte hinausgegangen sind und nicht bloß ungerechte Urkunden zerrissen, sondern selbst allen eigenen Besitz aufgegeben haben, die Armen nicht allein in ihr Haus aufnahmen und an ihren Tisch zogen, sondern sogar im Schweiße ihres Angesichtes sich abmühten, um sie zu speisen, und dass sie nicht nur den Angehörigen, sondern selbst den Feinden Wohltaten erwiesen.



6.

Was sollte auch unter den erwähnten Dingen schwierig sein? Christus hat ja nicht gesagt: Übersteige die Gebirge, durchmiß das Meer, mache so und so viele Morgen Land urbar, faste lange, lege ein Bußkleid an, sondern nur: Teile deinem Hausgenossen von dem Deinen mit, gib ihnen Brot, vernichte ungerechte Schriftstücke. Sage mir, gibt es etwas Leichteres als das? Aber selbst wenn es dir schwer fallen sollte, so richte deine Blicke doch auch auf den Lohn, und es wird dir leicht werden. Denn wie die Könige in den Rennbahnen den Bewerbern Kränze, Kampfpreise und Gewänder vor Augen stellen lassen, so stellt auch Christus die Belohnungen auf den Kampfplatz, und läßt sie durch die Aussprüche des Propheten, wie durch ebensoviele Hände ausbreiten. Die Könige, und mögen sie tausendmal Könige sein, sind doch auch nur Menschen. deren Reichtum sich verbraucht und deren Freigebigkeit Grenzen gezogen sind;deshalb suchen sie eine Ehre darin, recht vieles zur Schau zu stellen, was im Grunde genommen doch nur wenig ist, und lassen darum doch jedes einzelne Stück von einem eigenen Diener auf den Preistisch tragen.Ganz anders unser himmlioscher König. Da er überaus reich ist und nichts bloß der Schaustellung wegen tut, so bringt er alles zusammen auf einmal und breitet es öffentlich aus, unzählbar viele Dinge, zu deren Besitznahme es vieler Hände bedürfen wird. 

   Um das zu erfassen, betrachte jedes einzelne Stück mit besonderer Sorgfalt. "Dann, wird hervorbrechen wie Morgenrot dein Licht", sagt er. Kommt es dir nicht vor, als wäre das nur eine Gabe? Es ist aber nicht nur eine, denn sie umfaßt gar vieles in sich: Siegespreise,Ruhmeskränze und andere Belohnungen. Wenn es euch beliebt, wollen wir die Gabe zerlegen, um den ganzen Reichtum, soweit es uns möglich ist, im einzelnen zu zeigen: nur dürft ihr nicht dabei müde werden. Zuerst wollen wir untersuchen, was das heißt: "hervorbrechen"; er sagt nicht: wird erscheinen, sondern "hervorbrechen", um auf die Raschheit und Fülle des Erscheinens hinzuweisen und zu zeigen, wie sehr er nach unserem Heile verlangt, und wie er sich bemüht und sich sehnt, uns all diese Güter mitzuteilen, und wie nichts imstande ist, diesen unaussprechlichen Drang zu hemmen. Durch all das soll der Reichtum und die unbegrenzte Fülle angedeutet werden.Was heißt sodann: "wie Morgenrot"? das will besagen, dass er nicht erst viele Prüfungen eintreten, nicht erst Unglück kommen läßt, sondern alles das ferne hält. Denn wie das sogenannte Frühobst vor der Zeit reif wird, so will er auch hier durch das Wort "Morgenrot" das rasch Eintreten ausdrücken, ähnlich wie er früher sagte: "Während du noch flehest, wird er sagen: Siehe, hier bin ich." Was ist aber das, was er mit Licht bezeichnet? Und was für ein Licht soll das sein? Nicht dieses irdische Licht, sondern ein viel besseres, das uns den Himmel sehen läßt, die Engel, die Erzengel, die Cherubim, die Seraphim, die Throne, die Fürstentümer, die Herrschaften, die Mächte, die ganze himmlische Heerschar, die Königsburg, das hl. Gezelt. Denn wenn du jenes Lichtes würdig befunden wirst, dann wirst du alle diese Dinge schauen, wirst befreit sein von der Hölle, von dem giftgeschwollenen Drachen, von Zähneknirschen, von den unlösbaren Fesseln, von aller Angst und Beklemmung, von der undurchdringlichen Finsternis, von den körperlichen Qualen, von dem Feuerstrom, von den Verwünschungen und von dem Ort der Peinen. Dafür wirst du dorthin kommen, wo "Schmerzen und Leid vorüber ist", wo große Wonne und Friede, Liebe, Freude und Genuß, wo ewiges Leben, unbeschreiblicher Glanz und unsagbare Schönheit,wo die ewigen Wohnungen und die alle Begriffe übersteigende Herrlichkeit des Königs ist und jene Güter, die "kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und die in keines Menschen Herz gedrungen" (1Co 2,9) sind, wo der Seelenbräutigam und das himmlische Brautgemach, wo die Jungfrauen mit brennenden Lampen sind und alle, welche das hochzeitliche Gewand tragen, wo der ganze Reichtum des Herrn und die Schatzkammer des Königs sich befinden. 

   Siehst du nun wohl, welch große und zahlreiche Belohnungen der Herr durch ein einziges Wort angedeutet und wie er alles darin zusammengefaßt hat? Wenn wir auf diese Weise ein Wort nach dem anderen durchgehen, werden wir darin eine Überfülle, ja ein unermeßliches Meer finden. Sage mir, wollen wir noch zaudern und Bedenken tragen, uns der Dürftigen zu erbarmen? Nein, rufe ich, und müßten wir auch alles hingeben, uns ins Feuer werfen und mit Waffen bedrohen lassen, in gezückte Schwerter rennen oder was sonst immer leiden, alles lasset uns mutig ertragen, damit wir das Gewand der himmlischen Königsburg erhalten und jene unaussprechliche Herrlichkeit erlangen, welche uns allen zuteil werden möge durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem sie Ehre und die Macht sei von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 53