Kommentar zum Evangelium Mt 2

Zweite Homilie: Kap. 1, V.1

2 Mt 1,1
1.

Kap.1,V.1: "Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams." 

   Wißt ihr noch, wie ich euch jüngst ermahnt und gebeten habe, ihr möchtet in aller Stille und mit heiliger[22] Ruhe während der ganzen Predigt aufmerken? Heute wollen wir ja die Schwelle des Heiligtums überschreiten, deshalb habe ich euch an die frühere Mahnung erinnert. Sehet, die Juden, die sich einem brennenden Berg, Feuer, Dunkel, Finsternis und Sturmwind nahen, oder vielmehr nicht sich nahen, sondern sie nur aus der Ferne sehen und hören wollten, mußten sich schon drei Tage zuvor ihren Frauen enthalten, mußten ihre Kleider waschen und lebten in Angst und Furcht, sie, und Moses mit ihnen. Wir aber, die wir eine so große Botschaft vernehmen sollen und nicht fern von einem rauchenden Berge stehen müssen, sondern in den Himmel selbst eintreten dürfen, wir müssen da um so mehr ein weit größeres Maß von Weisheit zeigen, nicht indem wir unsere Kleider waschen, sondern dadurch, dass wir das Gewand unserer Seele reinigen, und uns von jeder Berührung mit weltlichen Dingen frei halten. Denn wir werden keine Finsternis sehen, nicht Rauch und Ungewitter, sondern den König selbst, wie er auf dem Throne jener unaussprechlichen Herrlichkeit sitzt, mit den Engeln und Erzengeln, die neben ihm stehen, und zugleich mit deren ungezählten Legionen der Scharen der Heiligen. So sieht es in der Stadt Gottes aus, welche die Versammlung[23] der Erstgeborenen birgt, die Seelen der Gerechten, den Chor der Engel und das Blut der Erlösung, durch das alles verbunden ward, durch das der Himmel das Irdische[24] empfing, die Erde das Himmlische[25] , durch welches der so lange von Engeln und Heiligen herbeigesehnte Friede geschenkt wurde. In dieser Stadt ragt das herrliche und glänzende Siegeszeichen des Kreuzes, die Siegesbeute Christi, die Erstlingsfrucht unserer menschlichen Natur,[26] , die Kriegstrophäen unseres Königs; all das werden wir bis ins einzelne aus dem Evangelium erkennen. Und wenn du mit geziemender Ruhe aufmerkst, so kann ich dich überall herumführen und dir zeigen, wo der Tod überwunden liegt, wo die Sünde bezwungen, wo die zahlreichen und wunderbaren Weihegeschenke dieses Krieges, dieses Kampfes aufgestellt sind. Dort wirst du auch den Tyrannen gebunden sehen und die Unzahl von Gefangenen in seinem Gefolge, und die Hochburg, von der aus dieser unreine Dämon zuvor alles überfiel. Du wirst die Verstecke und Höhlen dieses Räubers sehen, die nunmehr zerstört und bloßgelegt sind; denn auch dorthin kam der König. 

   Indessen ermüde dich nicht, lieber Zuhörer. Wenn dir einer von einem wirklichen Krieg erzählte, von Triumphzeichen und Siegen, so bekämst du keine Langweile: du würdest im Gegenteil über der Schilderung Essen und Trinken vergessen. Wenn aber schon eine solche Erzählung anziehend ist, dann ist es diese noch viel mehr. Denke doch nur daran, was es Großes ist, zu hören, wie Gott aus dem Himmel und von dem königlichen Throne weg auf die Erde, ja bis in die Unterwelt hinabstieg und da im Kampfe stand; wie der Teufel sich ihm gegenüberstellte, und zwar nicht einem bloßen Gott, sondern Gott, in der menschlichen Natur verborgen. Und das ist doch etwas Wunderbares, dass du den Tod durch den Tod besiegt schauen wirst, den Fluch durch den Fluch gehoben, und die Tyrannei des Teufels durch die gleichen Mittel gebrochen, die ihn zuvor stark gemacht.[27] . Bleiben wir also wach und verfallen wir nicht dem Schlafe! Wahrlich, ich sehe, wie uns die Tore geöffnet sind. Treten wir ein in vollkommener Ordnung und mit Zittern, und schreiten wir geradeswegs auf die Pforten zu. Welches ist aber die Pforte? "Das Buch der Geburt Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams."Was sagst du? Du kündigtest an, du wolltest über den eingeborenen Sohn Gottes reden und du erwähnst David, einen Menschen, der erst ungezählte Generationen später auf die Welt kam, und ihn nennst du seinen Vater und Vorfahren? Gedulde dich ein wenig, und wolle nicht alles auf einmal erfahren, sondern langsam eines nach dem andern. Noch stehst du ja an den Toren der Vorhalle; was drängst du also schon nach dem inneren Heiligtum? Noch hast du ja das Äußere nicht ganz gesehen. Ich will nämlich jetzt nicht von jener[28] Geburt reden, ja auch nicht einmal von der[29] , die auf jene gefolgt ist; denn sie[30] ist unaussprechlich und geheimnisvoll. Das hat schon vor mir der Prophet Isaias gesagt, da er sein Leiden vorherverkündete und seine gewaltige Sorge um das Menschengeschlecht, und voll Staunen sah, wer er sei und was er wurde, und wie tief er herabstieg; da rief er mit lauter und weit vernehmbarer Stimme aus: "Wer kann erklären seine Geburt?" (Is 53,8).



2

Also nicht von jener Geburt reden wir jetzt, sondern von dieser zeitlichen, die in dieser Welt vor sich ging, und für die wir ungezählte Zeugen besitzen. Über diese also wollen wir so reden, wie wir es mit der Hilfe des Hl. Geistes am besten können. Denn auch sie vermögen wir nicht mit voller Deutlichkeit zu erklären, da auch sie überaus wunderbar und geheimnisvoll ist. Glaube darum ja nicht etwas Geringfügiges zu vernehmen, wenn du von dieser Geburt hörst; nimm vielmehr deine ganze Aufmerksamkeit zusammen, und erzittere alsbald, wenn du hörst, dass Gott auf die Welt gekommen. Dies ist ja so wunderbar und außergewöhnlich, dass selbst die Engel darob einen Reigen bildeten und die Welt deswegen glücklich priesen, dass auch Propheten in Staunen gerieten darüber, dass "Auf Erden man ihn schaute, und er unter Menschen wandelte" (Ba 3,38). Fürwahr, es ist etwas Außergewöhnliches, zu hören, dass Gott, der Unaussprechliche, Unfaßbare, Unbegreifliche, der dem Vater gleich ist, durch einer Jungfrau Schoß zu uns kam, dass er einwilligte vom Weibe geboren zu werden, und dass er David und Abraham zu Vorfahren haben sollte. Und was rede ich von David und Abraham? Noch weit staunenerregender ist es, dass auch jene Frauen dazu gehören sollten, die ich kurz zuvor erwähnte! Wenn du solches hörst, ermanne dich und laß keinen gemeinen Argwohn aufkommen, sondern bewundere gerade hierin das am meisten, dass er, der doch der Sohn des ewigen Gottes ist, sein wahrer Sohn, sich willig auch Davids Sohn nennen ließ, um dich zum Gottessohn zu machen; er duldete es, dass ein Knecht sein Vater werde, damit er dir, dem Knechte, deinen Herrn zum Vater geben könne. 

   Hast du also jetzt schon aus der Einleitung gesehen, welcher Art das Evangelium ist? Wenn du aber Zweifel hast über den Teil, der dich betrifft, so lerne an ihn glauben, wenigstens durch das, was er geworden ist; denn für den menschlichen Verstand ist es viel schwerer zu begreifen, dass Gott Mensch geworden sei, als dass ein Mensch Sohn Gottes genannt werde. Wenn du also hörst, der Sohn Gottes sei[31] der Sohn Davids und Abrahams, so zweifle nicht länger, dass auch du, ein Sohn Adams, Sohn Gottes sein wirst. Er hätte sich ja doch nicht ganz umsonst so sehr erniedrigt, wenn er nicht uns dadurch erhöhen wollte. Er wurde dem Fleische nach geboren, damit du aus dem Geiste geboren würdest; er wurde vom Weibe geboren, damit du aufhörest, der bloße Sohn eines Weibes zu sein. Deshalb hat er auch eine zweifache Geburt, eine, die der unseren ähnlich ist, und eine, die die unsere überragt. Vom Weibe geboren zu werden, ward unser Anteil; hingegen nicht aus dem Blute und nicht nach dem Willen des Fleisches oder eines Mannes geboren zu werden, sondern aus dem Hl. Geiste, das war schon ein Hinweis auf die zukünftige Geburt, die höher stehen sollte als die unsere, und die er uns durch die Gnade des Hl. Geistes vermitteln wollte. Mit allem übrigen war es ebenso, z.B. mit der Taufe, die etwas von der alten und etwas von der neuen Ordnung besaß. Von einem Propheten getauft zu werden, wies auf die alte Ordnung hin, die Herabkunft des Hl. Geistes aber auf die neue. Und wie einer, der in der Mitte zwischen zwei anderen steht, diese dadurch verbindet, dass er jedem eine Hand reicht, so hat auch er getan, indem er das Alte mit dem Neuen verband, die göttliche Natur mit der menschlichen, das Seinige mit dem Unserigen. 

   Siehst du jetzt, in welchem Glanze die Stadt erstrahlt, wie sehr sie dich schon gleich von Anfang an mit ihrem Lichte erhellt, wie schnell du in ihr wie in einem Heerlager den König in deiner eigenen Gestalt schauen durftest? Hienieden zeigt sich ja ein König nicht immer im Glanze seiner königlichen Würde, sondern er legt oft Purpur und Krone ab und zieht den Soldatenmantel an, damit er nicht erkannt werde und die Aufmerksamkeit der Feinde auf sich ziehe. Dort aber ist gerade das Gegenteil der Fall, damit er nämlich nicht erkannt werde, und dadurch dem Feinde Gelegenheit verschaffe, vor dem Kampfe zu fliehen, und um nicht seine eigenen Leute in Verwirrung zu bringen. Er will retten, nicht erschrecken. Deshalb hat ihm auch Gott alsbald diesen Namen gegeben, und ihn Jesus genannt. Denn dieser Name Jesus ist nicht griechisch, sondern hebräisch und bedeutet in griechischer Übersetzung Soter[32] ; Erlöser aber heißt er, weil er sein Volk erlöste.



3.

Siehst du, wie der Evangelist den Zuhörer in Spannung versetzte, indem er durch Ausdrücke, die uns vertraut sind, alle mit überirdischen Hoffnungen erfüllte? Die beiden Namen waren ja den Juden sehr wohl bekannt. Da nämlich die Dinge, die da geschehen wollten gar wunderbar waren, so deutete er sie schon im voraus durch vorbildliche Namen an; damit von Anfang an jede Gelegenheit benommen wäre, wegen angeblicher Neuerung Unruhe zu verursachen. Jesus hieß nämlich auch jener der nach Moses Tod das Volk in das Land der Verheißung einführte. Siehst du also da das Vorbild? dann blicke auch auf das Urbild. Jener führte das auserwählte Volk ins Land der Verheißung, dieser in den Himmel und zu den himmlischen Gütern; jener, nachdem Moses gestorben war, dieser, nachdem das Gesetz seine Geltung verloren; jener als Volksführer, dieser als König. Damit du aber nicht wegen des gleichlautenden Namens Jesus in Irrtum geführt werdest, fügte er hinzu: "Jesu Christi, des Sohnes Davids." Jener aber war nicht aus dem Geschlechte Davids, sondern aus einem anderen Stamme. Warum nennt er aber dann sein Evangelium das Buch der Geburt Jesu Christi? Es enthält ja doch nicht bloß seine Geburt, sondern sein ganzes Leben und Wirken. Eben deshalb, weil die Geburt der Anfang jenes Werkes war, der Ursprung und die Quelle aller Gnaden, die er uns brachte. Wie Moses[33] das Buch des Himmels und der Erde nannte, wiewohl es nicht allein von Himmel und Erde handelt, sondern auch von allem, was zwischen beiden liegt, so gab auch der Evangelist seinem Buche den Namen nach dem, womit das Wirken[34] seinen Anfang nahm. Denn das, was am meisten überrascht, was alle Hoffnung übersteigt und alle Erwartung übertrifft, ist die Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist; alles andere, was darnach kommt, ist nur eine natürliche Folge dieses Ereignisses. 

   Warum sagte aber der Evangelist nicht: des Sohnes Abrahams, und dann erst: des Sohnes Davids? Nicht deshalb, wie einige glauben, weil er von vorn nach rückwärts gehen wollte; damit hätte er nur getan, was Lukas tat; tatsächlich macht er es gerade umgekehrt. Warum also hat er den David erwähnt? Weil dieser Mann in aller Munde lebte, sowohl wegen seiner Berühmtheit, als auch wegen des geringeren zeitlichen Abstandes; denn es war noch nicht so lange her, dass er gestorben, wie bei Abraham. Wenn aber[35] Gott beiden die Verheißung gegeben hat, so ward doch jene wegen ihres Alters übergangen; diese hingegen, die verhältnismäßig erst vor kurzer Zeit ergangen, war allen wohlbekannt. Die Juden also sagen: "Kommt nicht Christus aus dem Geschlechte Davids und aus Bethlehem, dem Orte, in dem David lebte?" (Jn 7,42). Und niemand nannte ihn Sohn Abrahams, sondern alle Sohn Davids; denn, wie ich eben gesagt, sowohl wegen der kurzen Zeit, als auch, weil er König gewesen war, stand er eher in allgemeiner Erinnerung. So haben sie denn auch seine Nachfolger, die sie als Könige ehrten, alle nach ihm benannt, und zwar haben das sowohl sie getan wie auch Gott selbst. Denn auch Ezechiel und die übrigen Propheten verkündeten ihnen, David werde kommen und wieder erstehen; dabei meinten sie nicht den, der gestorben war, sondern alle die, die ihm an Tugend gleichzukommen trachteten. Zu Ezechias[36] sprach Gott: "Ich werde diese Stadt beschützen um meinet und um Davids, meines Knechtes willen" (2R 19,34). Zu Salomon sagte er, er wolle Davids wegen das Königreich zu seinen Lebzeiten nicht auseinanderreißen. So groß war das Ansehen dieses Mannes bei Gott und den Menschen. 

   Darum also beginnt der Evangelist gleich mit dem, der am, meisten bekannt war, und kommt dann auf den[37] Stammvater zurück. Da er es nämlich mit Juden zu tun hatte, so hielt er es für überflüssig, noch höher hinaufzugehen. Diese beiden waren ja die berühmtesten; der eine als Prophet und König, der andere als Patriarch und Prophet. 

   Wie kann man aber beweisen, dass Christus aus dem Geschlechte Davids stammt? Wenn er nicht von einem Manne gezeugt ward, sondern vom Weibe geboren, und die Stammtafel der Jungfrau nicht angegeben wird, wie können wir da wissen, dass er wirklich ein Sprosse Davids war? Es handelt sich hier um eine doppelte Frage: Warum wird die Ahnenreihe der Mutter[38] nicht aufgezählt, und warum wird Joseph von den Evangelisten erwähnt, der doch zur Zeugung gar nicht mitwirkte? Dieses erscheint überflüssig, jenes notwendig. Worauf soll ich da zuerst antworten? Auf die Frage, wie die Jungfrau von David abstamme. Wie sollen wir also wissen, dass sie wirklich von David stammt? Höre, was Gott zu Gabriel sprach: Gehe hin "zur Jungfrau, die einem Manne verlobt ist, der Joseph heißt, aus dem Hause und der Familie Davids"[39] . Was willst du also noch einen klareren Beweis, als wenn du hörst, dass die Jungfrau aus dem Hause und der Familie Davids stammte?



4.

Daraus geht aber klar hervor, dass auch Joseph daher stammte. Denn ein Gesetz schrieb vor, nicht außerhalb seines Geschlechtes zu heiraten, sondern innerhalb desselben Stammes. Auch hat der Patriarch Jakob geweissagt, der Messias werde aus dem Stamme Juda's erstehen, indem er sagte: "Nicht wird das Szepter von Juda weichen, noch der Führer aus seinem Stamme, bis dass derjenige kommt, der auserwählt ist; und er wird die Sehnsucht der Völker sein" (Gn 49,10). Diese Prophetie beweist also wenigstens, dass Christus aus dem Stamme Juda kam; dass er auch aus dem Geschlechte Davids sei, beweist sie allerdings noch nicht. Im Stamme Juda's gab es nämlich nicht bloß das Geschlecht Davids, sondern noch viele andere, und es war ganz gut möglich, aus dem Stamme Juda's zu sein, ohne deshalb dem Geschlechte Davids anzugehören. Ja, aber damit du das nicht etwa glaubest, benimmt dir der Evangelist deinen Zweifel, indem er[40] sagt, Christus stamme aus dem Hause und der Familie Davids. 

   Willst du aber noch andere Beweise haben, so fehlt es auch daran nicht. Denn es war nicht nur nicht erlaubt, aus einem anderen Stamme jemand zu heiraten, sondern auch nicht einmal aus einer anderen Familie, d.h. Verwandtschaft. Beziehen wir also die Worte: "aus dem Hause und der Familie Davids" auf die Jungfrau, so ist die Frage bewiesen; beziehen wir sie auf Joseph, so kommen wir durch ihn zum gleichen Resultat. Denn wenn er aus dem Hause und aus der Familie Davids stammte, so nahm er sein Weib sicher nur daher, wo er selber herstammte. 

   Wie aber, fragst du, wenn er das Gesetz außer acht gelassen hätte? Eben deshalb hat der Evangelist früher bezeugt, dass Joseph ein rechtschaffener Mann war, damit du dies nicht behaupten könntest, sondern dich von seiner Tugend überzeugest und wissest, dass er niemals das Gesetz übertrat. Er, der solche Nächstenliebe besaß und so ohne Leidenschaft war, dass er trotz zwingender Verdachtsgründe gegen die Jungfrau nicht vorgehen wollte, wie hätte er aus Lust das Gesetz übertreten sollen? Er, der vollkommener war als das Gesetz[41] , wie hätte er etwas gegen das Gesetz tun sollen, und zwar ohne irgendeinen zwingenden Grund? Dass also die Jungfrau aus dem Geschlechte Davids stammte, ist aus dem Gesagten klar. Weshalb hat aber der Evangelist nicht ihren Stammbaum aufgeführt, sondern den Josephs? Das bedarf einer Erklärung. Was war also der Grund? Es war nicht Sitte bei den Juden, den Stammbaum von Frauen anzugeben. Um also sowohl diesen Gebrauch zu achten, und sich nicht den Anschein zu geben, als wolle er ihn schon auf der ersten Seite verletzen, und um uns dabei doch mit der Jungfrau bekannt zu machen, deshalb übergeht er ihre Vorfahren und führt nur diejenigen Josephs an. Hätte er es bei der Jungfrau getan, so hätte er sich den Anschein gegeben, als wolle er etwas Neues einführen; hätte er[42] von Joseph geschwiegen, so hätten wir nichts über die Ahnen der Jungfrau erfahren. Damit wir also wüßten, wer und woher Maria sei, und damit doch Gesetz und Brauch unangetastet blieben, zählt er die Ahnen des Bräutigams auf und zeigt, dass dieser aus dem Hause Davids stamme. Denn wenn er das bewiesen hat, ist auch das andere mitbewiesen, dass nämlich die Jungfrau aus dem gleichen Geschlechte sei, da ja dieser Gerechte, wie ich eben gesagt, es nicht über sich gebracht haben würde, ein Weib aus fremdem Stamme heinzuführen. 

   Man kann aber auch noch einen anderen tieferen Grund angeben, weshalb die Ahnen der Jungfrau mit Schweigen übergangen werden; doch ist es jetzt nicht die Zeit hiefür, da ich schon soviel über den Gegenstand gesagt habe. Lassen wir es also jetzt bei den bisherigen Fragen bewenden, und behalten wir indessen genau die Aufschlüsse im Gedächtnisse, die ich euch gegeben; so z.B. über die Frage, weshalb David zuerst erwähnt wurde? weshalb der Evangelist sein Buch das Buch der Abstammung genannt? weshalb er sagte "Jesus Christus"? wie die Geburt eine gewöhnliche und zugleich eine außergewöhnliche sei? wie wir bewiesen haben, dass Maria von David abstamme, weshalb die Stammtafel Josephs angeführt und die Vorfahren der Jungfrau mit Stillschweigen übergangen werden? Wenn ihr euch all das merkt, dann ist das für mich eine bedeutende Ermutigung für die Zukunft. Wenn ihr euch aber nicht darum kümmert und es eurem Gedächtnis entschwinden lasset, dann werden auch wir in Zukunft an Eifer nachlassen. Auch der Landmann bearbeitet ja ungern wieder einen Acker, in dem ihm der Same zugrunde gegangen ist. Ich bitte euch also, behaltet, was ich gesagt habe. Wenn ihr euch mit solchen Erwägungen abgebt, so wird eurer Seele eine große und heilsame Gnade zuteil. Auch Gottes Wohlgefallen können wir durch solche Betrachtungen erlangen; wenn wir unseren Mund von anmaßenden, schimpflichen und tadelnswerten Reden rein bewahren und nur an göttliche Dinge denken. Selbst den Dämonen werden wir furchtbar werden, wenn wir unsere Zunge mit solchen Worten waffnen; Gottes Gnade werden wir uns in noch reicherem Maße zuziehen und unser[43] Auge wird dadurch noch mehr geschärft werden. Denn auch die Augen, den Mund, das Gehör hat Gott uns deshalb gegeben, damit ihm alle unsere Glieder dienen, damit wir reden und tun, was Gottes ist, damit wir ihm unablässig Loblieder singen, ihm Dank sagen, und durch solche Dinge unseren Geist erheben. Wie der Leib, der reine Luft einatmet, gesünder wird, so wird auch die Seele weiser, wenn sie durch solche Speise genährt wird.



5.

Hast du noch nicht gesehen, wie auch die leiblichen Augen, wenn sie in Rauch kommen, unwiderstehlich zu tränen beginnen? wie sie dagegen schärfer und gesünder werden, wenn wir in reiner Luft, auf Wiesen, an Quellen, in paradiesischer Landschaft uns aufhalten? So geht es auch mit dem Auge der Seele. Wenn dieses auf den Fluren geistiger Betrachtung sich ergötzen kann, so ist es rein, hell und scharf; gerät es dagegen in den Rauch weltlicher Geschäfte, dann wird es tausendfache Tränen vergießen und weinen in diesem und im anderen Leben. Denn die weltlichen Händel sind wie Rauch. Darum hat auch jemand gesagt: "Meine Tage sind wie Rauch dahin geschwunden" (Ps 101,4). Jener dachte aber dabei nur an die Kürze und Unbeständigkeit der Zeit; ich möchte indes diese Worte nicht nur darauf beziehen, sondern auch auf die Wirrsale dieses Lebens. Denn nichts trübt und schmerzt das Auge der Seele so sehr, als die Menge weltlicher Sorgen und die Schar unserer Begierden; denn die sind das Holz, das diesen Rauch erzeugt. Und wie das Feuer, das feuchtes, morsches Holz erfaßt, viel Rauch entwickelt, so erzeugt auch die starke, feurige Begierde nur gewaltigen Rauch, wo sie eine modrige, morsche Seele ergreift. Deshalb haben wir den Tau des Hl. Geistes vonnöten, und seinen sanften Hauch, damit er das Feuer lösche und den Rauch verscheuche und unserem Geiste Flügel verleihe. Denn es ist vollkommen unmöglich, mit dem Gewichte so vieler Leidenschaften belastet, den Flug zum Himmel zu nehmen; vielmehr müssen wir wünschen, wohlvorbereitet diese Reise beginnen zu können; aber selbst dann vermögen wir sie nicht zu machen, es sei denn auf den Schwingen des Hl. Geistes. Wenn wir also ein freies Gemüt und die Gnade des Geistes brauchen, um uns zu jener Höhe empor zu schwingen, wie werden wir sie da erreichen können, wenn wir nicht bloß nichts von all dem haben, sondern uns sogar mit dem Gegenteil, mit dem Gewicht der Hölle belastet, und durch dessen Schwere uns in die Tiefe ziehen lassen? Wenn einer all unsere Reden gleichsam auf eine Wage legen wollte, er fände unter zehntausend Talenten weltlicher Reden kaum hundert Denare geistlicher Gespräche; Ja nicht einmal zehn Obolen. Ist es also nicht eine Schande und ein bitterer Hohn, dass wir wohl einen Knecht meist nur zu notwendigen Arbeiten verwenden, unseren Mund aber, unser eigenes Glied nicht einmal wie einen Knecht gebrauchen, sondern im Gegenteil nur zu nutzlosen, überflüssigen Dingen verwenden? Und wären sie doch nur überflüssig! In der Tat sind es aber nachteilige und schädliche Dinge, die uns keinerlei Nutzen bringen. Denn wenn uns unsere Reden Nutzen brächten, wären sie ohne Zweifel auch Gott wohlgefällig. 

   In Wahrheit reden wir aber, was immer uns der Teufel ins Ohr flüstert; jetzt lachen wir, dann ergehen wir uns in höfliche Redensarten; das einmal stoßen wir Verwünschungen und Schimpfworte aus, fluchen, lügen und werden meineidig; ein andermal grollen wir oder reden unnützes Zeug, plappern ärger als alte Weiber, und kümmern uns um lauter Dinge, die uns ganz und gar nichts angehen. Sagt mir, wer von euch, die ihr hier steht, vermöchte auch nur einen einzigen Psalm herzusagen, wenn man ihn darum bäte, oder sonst einen Abschnitt aus der Hl. Schrift? Kein einziger! Und nicht bloß das ist das Schlimme, sondern noch mehr der Umstand, dass ihr für geistliche Dinge so träge seid, für die des Teufels aber heftiger entbrennt als Feuer. Wollte euch jemand die Lieder des Teufels abhören, unzüchtige, ausgelassene Gesänge, wahrlich, er fände viele, die sie vorzüglich kennen, und sie mit dem größten Vergnügen hersängen. Und was bringt man da gewöhnlich für Entschuldigungen vor gegen solche Vorwürfe? Ach, heißt es, ich bin ja kein Mönch, sondern habe Frau und Kinder und muß für mein Hauswesen sorgen. Ja, das hat alles Unheil verschuldet, dass ihr glaubet, nur Mönche brauchten die Hl. Schrift zu lesen, während gerade ihr es viel nötiger hättet als sie. Diejenigen, die mitten im Kampfe stehen und jeden Tag neue Wunden empfangen, die haben die Heilmittel am nötigsten. Es ist also viel schlimmer, die Lesung der Hl. Schrift für überflüssig zu halten, als sie nur faktisch nicht zu lesen; solche Gedanken sind Einflüsterungen des Teufels.



6.

Habt ihr nicht gehört, wie Paulus sagt: "Zu unserer Besserung ist das alles geschrieben worden"? (1Co 10,11). Wenn du das Evangelium in die Hände nehmen müßtest, würdest du es nicht wagen, dies mit ungewaschenen Händen zu tun; und da solltest du glauben, sein Inhalt sei nicht so übermäßig wichtig? Ja, darum ist jetzt alles so verkehrt. Wenn du wissen willst. welchen Gewinn du aus der Hl. Schrift ziehen kannst, dann prüfe dich selbst, in welcher Stimmung du bist, wenn du Psalmengesang hörst, und in welcher, wenn du auf teuflische Lieder horchst? wie du dich in der Kirche benimmst und wie im Theater? Da wirst du dann sehen, welch ein Unterschied ist zwischen der Seele hier und der Seele dort, und doch ist's nur eine Seele. Darum sagte ja der hl. Paulus: "Schlechte Reden verderben gute Sitten" (1Co 15,33). Aus diesem Grunde haben wir fortwährend die Gesänge des Hl. Geistes vonnöten. Gerade sie erheben uns ja über die unvernünftigen Tiere, obwohl wir wegen der anderen Dinge gar sehr unter ihnen stehen. Sie sind die wahre Seelenspeise, sie ihr Schmuck, sie ihr Halt. Auf sie nicht zu hören bedeutet Hunger und Verderben. "Ich werde", sagt der Herr, ihnen nicht Hunger noch Brot geben und nicht Durst noch Wasser, sondern das Verlangen, das Wort des Herrn zu hören" (Am 8,11). Was konnte es also Schrecklicheres geben, als wenn du gerade das Unheil, das dir Gott als eine Strafe androhte, freiwillig dir zuziehst; wenn du deine Seele dem schlimmsten Hunger preisgibst und sie schwächer machst als alles andere? Durch Reden wird sie gewöhnlich verdorben oder gerettet; durch sie wird sie zum Zorn gereizt oder besänftigt; ein unzüchtiges Wort lockt sie zu böser Lust, sittsame Rede macht sie keusch. Wenn aber das einfache Wort schon solche Macht besitzt, sag' mir, wie kannst du die Hl. Schrift verachten? Wenn eine einfache Ermahnung solches vermag, wieviel mehr erst die Ermahnungen im Hl. Geiste? Das Wort der Hl. Schrift vermag die verhärtete Seele besser zu erweichen als Feuer, und macht sie bereit zu allem Guten. So hat auch Paulus die aufgeblasenen, hochmütigen Korinther gedemütigt und bescheiden gemacht. Sie bildeten sich etwas ein auf Dinge, deretwegen sie sich hätten schämen und verbergen sollen. Als sie aber den Brief[44] erhielten, da höre nur, wie sie sich bekehrten, wovon ihr Lehrmeister selber Zeugnis ablegt, indem, er sagt: "Die bloße Betrübnis in Gott, wie sehr hat sie euren Eifer entfacht; Rechtfertigung bewirkt Unwillen, Furcht, Verlangen, Eifer, Sühne?" (2Co 7,11). Auf diese Weise sollten wir also auch unser Gesinde unterweisen, die Kinder, die Frauen und die Freunde; dadurch machen wir sogar unsere Feinde zu Freunden. So wurden auch große gottbegnadete Männer noch besser gemacht. Als David gesündigt hatte, wurde er durch mündliche Ermahnung zu jener herrlichen Buße bewogen. Auch die Apostel wurden auf diese Weise das, was sie geworden sind; ja, den ganzen Erdkreis haben sie dadurch erobert. 

   Was nützt es aber, fragst du, wenn einer nur hört und das Gehörte nicht befolgt? Auch vom bloßen Hören kann man viel Nutzen ziehen. Ein solcher wird sich schuldig erkennen, wird erschüttert werden, und dann auch einmal dazu kommen, das Gesagte zu befolgen. Wer aber seine Sünden nicht einmal erkennt, wie soll der von seinen Fehltritten abstehen, wie sich selbst anklagen? Denken wir also nicht gering vom Anhören der göttlichen Schriften. Die Absicht des Teufels geht dahin, uns den Schatz zu verbergen, damit wir den Reichtum nicht beheben sollten. Darum flüstert er uns ein, es habe keinen Wert, das Wort Gottes zu hören, weil er fürchtet, wir möchten das Gehörte befolgen. Da wir aber jetzt seine bösen Kunstgriffe kennen, so schützen wir uns allseits, damit wir mit Hilfe solcher Waffenrüstung selber unbesiegt ihm den Kopf zerschmettern können. Wenn wir einmal mit solch herrlichen Siegeskränzen geschmückt sind, dann werden wir auch den ewigen Lohn erhalten durch die Gnade und die Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Herrschaft gebührt in alle Ewigkeit. Amen!.





Dritte Homilie: Kap. 1, V.1-16.

3 Mt 1,1-16
1.

Kap. I, V.1-16: "Das Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams." 

   Schon beginnen wir die dritte Predigt, und noch sind wir mit der Einleitung noch nicht zu Ende. Es war also nicht umsonst, dass ich gesagt habe, dieselbe enthalte gar tiefe Gedanken. Heute also wollen wir suchen, den Rest zu Ende zu bringen. Wovon handelt derselbe? Von der Frage, weshalb die Ahnenreihe Josephs aufgezählt wird, obgleich dieser bei der Menschwerdung[45] gar nicht mitgewirkt hat. Den einen Grund habe ich bereits namhaft gemacht; ich muß aber auch den zweiten angeben, der noch viel geheimnisreicher und schwieriger zu erklären ist als der erste. Welches ist dieser Grund? Der Herr wollte den Juden nicht vorzeitig offenbaren, dass Christus aus einer Jungfrau sollte geboren werden. Verwundert euch aber nur nicht über solch merkwürdige Antwort. Ich gebe sie ja nicht aus mir selbst, sondern folge damit nur unseren Vätern, die bewundernswerte und hochbedeutende Männer waren. Denn wenn der Herr im Anfang manches im Dunkel ließ, sich selbst nur den Menschensohn nannte, und seine Gleichheit mit dem Vater uns durchaus nicht überall deutlich offenbarte, was wunderst du dich, wenn er auch das solange verborgen hielt, nachdem er doch etwas Wunderbares und Großes dabei im Auge hatte? Was war aber das für eine wunderbare Absicht, fragst du? Er wollte dadurch die Jungfrau retten und von jedem bösen Verdacht befreien. Denn hätte man dies den Juden von Anfang an bekannt gegeben, so hätten sie es nur mißbraucht, hätten die Jungfrau zu Tode gesteinigt und gesagt, sie sei eine Ehebrecherin. Wenn sie schon in anderen Dingen, für die ihnen oft sogar Vorbilder im Alten Bunde zu Gebote standen, sich öffentlich so unverschämt zeigten, wenn sie den Herrn einen Besessenen hießen, da er Teufel austrieb, wenn sie ihn gottlos nannten, da er am Sabbat heilte, obgleich das Gebot des Sabbat auch früher oft übertreten worden war, was hätten sie nicht alles gesagt, wenn man ihnen das mitgeteilt hätte! Sie hätten ja alle früheren Jahrhunderte zu Zeugen aufrufen und sagen können, so etwas sei noch niemals erhört worden. Sogar nach all seinen großen Wundern nannten sie ihn noch den Sohn Josephs; wie hätten sie da, noch bevor er Wunder gewirkt hatte, glauben sollen, er sei der Sohn einer Jungfrau? Darum also wird die Stammtafel Josephs angegeben und nimmt dieser die Jungfrau zur Braut. Denn wenn es schon bei Joseph, diesem rechtschaffenen, bewundernswerten Manne, so viel brauchte, bis er an das Geschehene glaubte, wenn es eines Engels bedurfte, des Traumgesichtes und es Zeugnisses der Propheten, wie hätten da die Juden, verkehrt und verderbt wie sie waren, und voll Feindseligkeit gegen Christus, wie hätten sie eine solche Sache gläubig angenommen? Das Befremdende und Neue daran hätte sie doch gar zu sehr verwirren müssen, da sie ja von ihren Vätern etwas Ähnliches niemals auch nur gehört hatten. Ja, wer einmal glaubte, dass er der Sohn Gottes sei, der durfte an dieser seiner Geburt aus der Jungfrau nicht weiter zweifeln; wer ihn aber für einen Verführer und Feind Gottes ansah, wie hätte der nicht noch größeres Ärgernis daran nehmen und nicht noch mehr in seiner Meinung bestärkt werden sollen? Darum sprachen auch die Apostel nicht gleich am Anfang hiervon; sondern reden viel und oft über die Auferstehung, da sie eben hierfür aus den früheren Zeiten Beispiele hatten, wenn auch keine ganz vollwertigen. Von seiner Geburt aus der Jungfrau dagegen reden sie nicht immer; ja sogar die[46] Mutter selbst wagte es nicht, solche Äußerungen zu tun. Höre nur, wie die Jungfrau ihn selber anredet: "Siehe, ich und dein Vater haben dich gesucht." Hätte man also[47] eine Ahnung gehabt, so wäre er wohl nicht mehr länger Sohn Davids genannt worden; daraus hätten sich aber wieder viele andere schlimme Folgen ergeben. Darum haben auch die Engel dies niemand kundgetan, außer Maria und Joseph; sogar damals, als sie den Hirten das Geschehene verkündeten, haben sie dies verschwiegen. Warum aber erwähnt er Abraham, während er nach den Worten: "Er erzeugte den Isaak, und Isaak den Jakob", dessen Bruder übergeht, der auf Jakob folgte, dagegen Juda und seine Brüder nennt?



2.

Einige sagen, es sei dies wegen der Schlechtigkeit des Esau und der anderen vorhergehenden geschehen. Ich möchte aber diese Ansicht lieber nicht teilen. Denn wenn es so wäre, wie kommt es dann, dass er gleich darauf Frauen erwähnt, die gerade so schlecht wie jene waren? Hier wirft eben gerade die Gegenüberstellung ein besonders glänzendes Licht auf den Herrn; und zwar nicht der Umstand, dass er große Vorfahren hatte, sondern dass er deren unbedeutende und verkommene hatte. Für den Hochstehenden ist es gar ehrenvoll, große Verdemütigungen ertragen zu können. Weshalb hat er also diese Personen nicht genannt? Weil die Sarazenen. die Ismaeliten und Araber, und wer sonst noch von jenen Vorfahren abstammte, nie mit dem Volke Israel in Berührung kamen. Deshalb hat er jene mit Stillschweigen übergangen, um alsbald auf seine und des jüdischen Volkes Vorfahren zu sprechen zu kommen. Deshalb heißt es: "Jakob zeugte den Judas und dessen Brüder." Hier wird nämlich das ganze Volk der Juden mit inbegriffen. "Judas aber gebar den Phares und den Zara aus der Thamar." Wie! Der Evangelist erwähnt sogar die Geschichte eines Ehebruches? Und was verschlägt dies? Hätten wir die Familiengeschichte eines gewöhnlichen Menschen zu erzählen, so möchte man derlei wohl mit Recht übergehen. Wenn es sich aber um den menschgewordenen Gott handelt, so darf man nicht nur nicht davon schweigen, sondern muß es noch ganz besonders hervorheben, damit so Gottes Vorsehung und Allmacht deutlich hervortreten. Denn darum ist er ja gekommen, nicht um unserer Schmach zu entrinnen, sondern um uns von ihr zu befreien. Wir bewundern ja nicht so sehr, dass er starb, als vielmehr, dass er am Kreuze starb; denn das war zwar eine Schande, aber je größer die Schmach, um so herrlicher zeigt sich darin seine Liebe. Das gleiche kann man auch von der Menschwerdung sagen. Nicht bloß, dass er Fleisch angenommen und Mensch geworden, verdient unsere Bewunderung, sondern vor allem, dass er auch solche Verwandte haben wollte und in nichts sich unserer Armseligkeiten schämte. Denn das hat er uns schon vom ersten Anfang seiner Menschwerdung an gezeigt, dass er uns nirgends verleugnete, und hat uns eben dadurch auch gelehrt, ob der Schlechtigkeit unserer Vorfahren uns nicht scheu zu verbergen, sondern nur eines zu suchen, die Tugend. Denn hätte ein solcher auch eine Barbarin, oder eine Ehebrecherin, oder was immer für eine andere unter seinen Vorfahren, so könnte ihm das gar nichts schaden. Denn wenn sogar dem Unzüchtigen selber nach seiner Bekehrung das frühere Leben nicht mehr zur Schande gereicht, so kann das schlechte Leben der Voreltern noch viel weniger über denjenigen Schande bringen, der selbst tugendhaft ist, aber von einer Buhlerin oder Ehebrecherin abstammt. Damit wollte er aber nicht bloß uns belehren, sondern auch den Hochmut der Juden demütigen. Jene mißachteten die Tugend der Seele, führten bei jeder Gelegenheit den Abraham im Munde und glaubten, sie hätten in der Tugend ihrer Vorfahren eine genügende Rechtfertigung. Darum zeigt der Evangelist gleich am Anfang an, dass man nicht mit fremden Verdiensten prahlen dürfe, sondern auf die eigenen hoffen müsse. Damit verfolgt er auch noch den anderen Zweck, zu zeigen, dass alle, auch ihre eigenen Vorväter, mit Sünden beladen seien. Deshalb zeigt er ihnen auch ihren namensverwandten Stammvater als einen nicht geringen Sünder; denn da steht Thamar daneben und klagt ihn seiner Unzucht an. Und auch Davids Sohn, Salomon, war die Frucht gewaltsamer Unzucht. Wenn aber von den Großen das Gesetz nicht erfüllt wurde, um wieviel weniger von den Kleinen? Wurde es aber nicht erfüllt, so haben alle gesündigt, und damit wurde das Erscheinen Christi zur Notwendigkeit. Deshalb erwähnt er auch die zwölf Patriarchen, weil er auch da wieder den Stolz wegen vornehmer Ahnen dämpfen wollte. Denn viele von diesen waren Kinder von Mägden, und doch ward der Rangunterschied der Eltern nicht auf die Kinder übertragen; vielmehr waren alle in gleicher Weise Patriarchen und Stammeshäupter. Denselben Vorzug hat auch die Kirche. Sie ist die eigentliche Urheberin all unseres Adels, da sie das Urbild allen Adels von oben empfängt. Ob du daher ein Sklave bist oder ein Freier, du bist deswegen nicht mehr und nicht weniger, sondern nur auf eines wird gesehen, auf die Gesinnung des Herzens und die Verfassung der Seele.



3.

In dem Gesagten liegt aber auch noch ein anderer Grund, der den Evangelisten veranlaßte, diese Geschichte anzufügen. Nicht ohne Grund wird nämlich nach Phares auch Zara erwähnt. Es war ja eigentlich umständlich und überflüssig, nach Erwähnung des Phares, von dem er Christi Abstammung weiterführen wollte, auch den Zara nochmals zu nennen. Weshalb kam er also überhaupt auf ihn zu sprechen? Als Thamar im Begriffe war, ihre beiden Kinder zur Welt zu bringen, und schon in Geburtswehen lag, streckte zuerst Zara seine Hand hervor; als die Amme dieses sah, band sie einen roten Faden um seine Hand, um so den Erstgeborenen wieder zu erkennen. Kaum war das geschehen, da zog das Kind seine Hand zurück, und während dessen ward Phares geboren und dann erst Zara. Da sagte die Amme: "Weshalb ward deinetwegen das Gehege durchbrochen?" (Gn 38,29) Siehst du, dass ein Geheimnis darin verborgen liegt? Nicht umsonst ist also dies für uns niedergeschrieben worden. Denn an sich wäre es ja von gar keiner geschichtlichen Bedeutung zu wissen, was einmal diese Amme gesagt hat, noch ist es besonders interessant zu erfahren, dass der Zweitgeborene zuerst seine Hand hervorstreckte. Worin liegt also das Geheimnis? Zunächst finden wir in der Benennung des Knaben eine Antwort auf unsere Frage. Phares bedeutet nämlich Trennung, Öffnung; dann aber auch in der Sache selbst: der natürliche Vorgang bringt es ja nicht mit sich, dass eines zuerst die Hand vorstreckt und sie dann mit einem Band daran wieder zurückzieht; auch war eine solche Bewegung weder absichtlich gewollt, noch lag sie in der Natur der Sache. Dass der eine die Hand hervorstreckt, der andere aber zuerst geboren wird, das läßt sich natürlicherweise denken; sie aber wieder zurückziehen und dem anderen den Vortritt lassen, ist bei Geburten etwas ganz Außergewöhnliches. Es war eben die Gnade Gottes, die also über die Knaben verfügte, weil sie uns in ihnen ein Vorbild der Zukunft zeichnen wollte. Und welches? Einige von denen, die die Sache genau studiert haben, sagen, die beiden Knaben seien der Typus der zwei Völker. Um uns nämlich zu zeigen, wie das erste Volk bereits seine Bedeutung hatte, noch ehe das zweite erschienen war, streckte der erste Knabe seine Hand hervor, ohne selber ganz zum Vorschein zu kommen, und auch sie zog er alsbald wieder zurück. Erst nachdem sein Bruder ganz geboren war, ist auch er vollständig erschienen. So geschah es auch mit den beiden Völkern. Zur Zeit Abrahams trat das Reich der Kirche in die Erscheinung; dann verschwand es wieder und es kam das jüdische Volk und das Gesetz und erst dann erschien das Volk des Neuen Bundes mit seinen neuen Gesetzen. Darum also sprach die Amme: Weshalb ward deinetwegen das Gehege durchbrochen? Weil das Gesetz[48] Freiheit unterbrach; denn auch die Hl. Schrift pflegte das Gesetz immer einen Zaun zu nennen. So sagt z.B. auch der Prophet: "Du hast ihr Gehege durchbrochen und alle, die des Weges kommen, sammeln Trauben darin" (Ps 79,13), und: "Einen Zaun hat er um sie gezogen" (Is 5,2). Ebenso spricht Paulus: "Und niedergeworfen hast du due Hauptmauer seines Geheges" (Ep 2,14).



4.

Andere hingegen sagen, der Vers:"Weshalb ist deinetwegen das Gehege durchbrochen worden?" beziehe sich auf das neutestamentliche Volk. Denn dieses kam erst nachträglich und machte dem Gesetz ein Ende. Siehst du also, dass der Evangelist nicht ohne tiefen Grund die ganze Geschichte des Judas erwähnte? Eben darum bringt er auch die Ruth und die Raab, von denen die eine eine Ausländerin war, die andere eine Hure, damit du sehest, dass er gekommen ist, um uns von all unserem[49] Elend zu befreien; denn er kam ja als Arzt und nicht als Richter. Wie also jene[50] Huren zu Frauen genommen, so hat auch Gott mit unserer unreinen Natur sich verbunden. Dasselbe haben ja auch die Propheten von der Synagoge vorhergesagt. Während aber diese ihrem Herrn untreu wurde, verharrte die Kirche, einmal von den Sünden der Väter befreit, in ihrem Bunde mit dem Bräutigam. Und jetzt, siehe wie die Erlebnisse der Ruth auch den unsrigen gleichen. Sie war eine Fremde und befand sich in drückendster Armut. Gleichwohl hat Booz, als er sie sah, sie weder ihrer Armut wegen gering geschätzt, noch wegen ihrer fremden Stammeszugehörigkeit sie verachtet. So hat auch Christus die Kirche aufgenommen, obwohl sie fremd und arm war, und ihr von seinem großen Reichtum mitgeteilt. Wie aber diese niemals zu dieser Verbindung gekommen wäre, wenn sie nicht zuvor ihre Eltern verlassen, ihr Haus, ihre Familie, ihr Vaterland, ihre Verwandten mißachtet hätte, so ward auch die Kirche erst dann von ihrem Bräutigam geliebt, als sie die Sitten der Väter verlassen hatte. So spricht auch der Prophet sie an und sagt: "Vergiß dein Volk und dein Vaterhaus und der König wird deiner Schönheit gedenken" (Ps 44,11-12). So machte es also die Ruth. Dafür wurde sie aber auch geradeso wie die Kirche die Mutter von Königen; denn von ihr stammt David ab. Durch all dies wollte also der Evangelist die Juden beschämen und sie vor Hochmut bewahren; darum hat er diese Stammtafel hierhergesetzt und auch diese Frauen darin erwähnt. Denn die Ruth ist die Ahnfrau dieses großen Königs geworden; und David schämt sich dessen nicht. Nein, nein, es soll nur niemand glauben, ob der Tugend oder Schlechtigkeit von Vorfahren selbst gut oder schlecht, berühmt oder unberühmt zu sein. Im Gegenteil, ist möchte fast sagen, dass derjenige um so mehr Lob verdient, der rechtschaffen ist, obwohl seine Eltern sich nicht besonders auszeichneten. Keiner überhebe sich also ob solcher Dinge, sondern denke vielmehr an die Vorfahren des Herrn; dann wird ihm aller Dünkel vergehen. Persönliche Verdienste dagegen haltet hoch; oder richtiger, selbst diese nicht. Dadurch erniedrigte sich nämlich der Pharisäer unter den Zöllner. Willst du also, dass man deine Verdienste sehe, so bilde dir nichts auf sie ein; dann erscheinst du dadurch nur um so größer. Denke nicht, du habest etwas Großes getan, dann hast du alles getan. Wenn wir, als Sünder, uns für das halten, was wir wirklich sind, so werden wir gerechtfertigt wie der Zöllner; um wieviel mehr, wenn wir rechtschaffen sind und uns doch für Sünder halten? Wenn die Demut aus Sündern Gerechte macht obwohl es eigentlich nicht so fast Demut ist als Wahrhaftigkeit , wenn also Wahrhaftigkeit solches bei Sündern vermag, was wird dann die Demut aus Gerechten machen? Verdirb dir also deine eigenen Werke nicht, bring dich nicht selbst um die Früchte deines Schweißes, laufe nicht umsonst und mache nach langem Wettlauf deine ganze Mühe nicht selbst zuschanden. Der Herr kennt ja deine Werke weit besser als du selbst. Reichest du auch nur einen Becher frischen Wassers, so entgeht ihm auch das nicht, und wenn du nur einen Heller opferst, wenn du nur ein Stoßgebet verrichtest[51] , das alles nimmt der Herr mit großem Wohlgefallen an, erinnert sich daran, und setzt dir einen großen Lohn dafür aus. Warum aber wägst du deine Verdienste so genau ab und hältst sie uns immer wieder vor? Weißt du nicht, dass Gott dich nicht mehr loben wird, wenn du dich selbst lobst? wie er denn anderseits auch nicht aufhören wird, dich bei anderen zu rühmen, wenn du dich selbst verdemütigst. Er will ja nicht, dass dein Verdienst geschmälert werde. Ja was sage ich: geschmälert werde? Er tut ja doch alles und jegliches, um dich auch für kleine Verdienste zu[52] und sucht nach allen möglichen Mitteln, um dich vor der Hölle zu bewahren.



5.

Wenn du daher auch nur in der elften Stunde des Tages noch arbeitest, gibt er dir dennoch den vollen Lohn. Und wenn du auch kein Verdienst hättest, das dich retten könnte, sagt er, so will ich doch um meinetwillen sorgen, dass mein Name nicht entweihet werde (Ez 36,22-23). Wenn du auch nur seufzest zum Herrn, oder stille Tränen vergießest, gleich benützt er diesen Anhaltspunkt, um dich zu retten. Überheben wir uns also nicht selbst; sondern heißen wir uns selbst unnütz, damit wir brauchbar erfunden werden. Denn wenn du dich selbst für vortrefflich ausgibst, so bist du schal geworden, auch wenn du sonst tüchtig wärest; nennst du dich aber einen unnützen Menschen, so bist du brauchbar geworden, auch wenn du äußerlich nicht viel bedeutest. Deswegen sollen wir also unsere eigenen Verdienste vergessen. Aber wie können wir Dinge vergessen, um die wir doch recht gut wissen?. Was sagst du? Du beleidigst jeden Tag den Herrn, lebst in Üppigkeit und Ausgelassenheit, und weißt dabei nicht einmal, dass du gesündigt hast, denkst nicht mehr daran, und nur deine guten Taten solltest du nicht vergessen können? Und doch ist die Furcht stärker.[53] Wir aber tun, als wäre es umgekehrt. Jeden Tag verfehlen wir uns und doch denken wir nicht einmal daran; geben wir aber einem Armen ein kleines Almosen, so bilden wir uns schon, wer weiß wieviel, darauf ein; und doch ist dies äußerst töricht und bringt dem, der also tut, den größten Schaden; in einer sicheren Schatzkammer hinterlegen wir unsere guten Werke nur dann, wenn wir sie vergessen. Wenn wir schöne Kleider und Gold auf offenem Markte zur Schau tragen, ziehen wir uns nur viele Neider zu; legen wir sie aber zu Hause ab und verbergen sie, dann ist alle Gefahr beseitigt. So ist es auch mit den guten Werken; wenn wir sie immer in Gedanken mit uns herumtragen, so erzürnen wir damit den Herrn, liefern unserem Feinde Waffen, laden die Diebe selber ein. Kennt sie dagegen niemand, außer der, der allein um sie wissen soll, so sind sie sicher geborgen. Trage sie also nicht immer mit dir herum, damit keiner sie dir stiehlt. So ging es nämlich dem Pharisäer, der seine guten Werke auf seiner Zunge zur Schau trug. Ihm hat sie der Teufel gestohlen, obwohl jener derselben mit Dank gedachte, und alles Verdienst daran Gott zuschrieb. Er ließ es eben dabei nicht bewenden. Denn Gott Dank sagen und dazu andere schmähen, von allen geehrt werden wollen, und gegen Fehlende in Zorn entbrennen, das paßt nun einmal nicht zusammen. Wenn du Gott Dank sagen willst, so beschränke dich auch darauf und laß die Menschen aus dem Spiel und klage nicht deinen Nächsten an; denn das heißt man keine Danksagung. Willst du wissen, wie man Dank sagen soll? Höre, wie die drei Jünglinge[54] es machten: Wir haben gesündigt, wir haben dein Gesetz übertreten; du bist gerecht, o Herr, in allem, was du uns getan, nach gerechtem Urteil hast du alles angeordnet" (Da 3,29 Da 3,27 Da 3,31). Also seine eigenen Sünden bekennen, das heißt man Gott Dank sagen; sich selbst unzähliger Fehltritte schuldig bekennen, und sich nicht weigern, die verdiente Buße zu tragen, das ist wirklicher Dank gegen Gott. 

   Hüten wir uns also, von uns selber zu reden. Das macht uns schon bei den Menschen verächtlich und dem lieben Gott ist es zum Abscheu. Je größer daher unsere Verdienste sind, um so bescheidener sollen wir von uns reden; so werden wir die höchste Ehre erlangen, bei den Menschen wie bei Gott; oder vielmehr bei Gott nicht bloß Ehre, sondern auch überreichen Lohn. Fordere darum den Lohn nicht selbst, damit du des Lohnes nicht verlustig gehest. Bekenne, dass es nur eine Gnade ist, wenn du gerettet wirst, dann wird Gott sich als deinen Schuldner bekennen, nicht wegen deiner guten Werke, sondern auch ob solcher edlen Gesinnung. Wenn wir nämlich gute Werke verrichten, so ist er nur unser Schuldner für die guten Werke, wenn wir das Gute aber nicht uns zuschreiben, so belohnt er uns auch noch für diese Gesinnung, und für sie noch mehr als für die Verdienste selber. Sie ist also mindestens ebensoviel wert wie jene. Denn wo diese nicht ist, erscheinen auch jene nicht groß. Auch wir haben ja unsere Dienstboten dann am liebsten, wenn sie in allem gutwillig dienen, und sich doch nicht einbilden, etwas Großes geleistet zu haben. 

   Willst du also den Wert deiner Verdienste erhöhen, so halte sie nicht für etwas Großes; dann erst werden sie groß. So sprach auch der Hauptmann: "Ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach" (Mt 8,8); eben dadurch aber machte er sich würdig, und ward höher geschätzt als alle Juden. Ebenso sagt Paulus: "Ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden" (1Co 15,9), und gerade deswegen ward er der erste von allen. Auch Johannes der Täufer sagt: "Ich bin nicht würdig, ihm auch nur den Riemen seiner Schuhe aufzulösen" (Mc 1,7 Mt 6,11). Deswegen aber liebte ihn der Bräutigam, und die Hand, die er für unwürdig hielt, die Schuhriemen zu berühren, die hat Christus auf sein eigenes Haupt niedergezogen. In gleicher Weise sagt auch Petrus: "Geh fort von mir, ich bin ein sündiger Mensch" (Lc 5,8); dafür wurde er zum Fundament der Kirche gemacht. Nichts liebt eben Gott so sehr, als sich selbst unter die Geringsten zu rechnen. Das ist der Anfang aller Weisheit. Wer demütig und zerknirscht ist, wird nicht dem Ehrgeiz, nicht dem Zorne und nicht dem Neid, auch keiner anderen Leidenschaft verfallen. Eine zerschmetterte Hand werden wir gegen niemand erheben können, wenn wir auch noch so gern Streit anfangen möchten. Wenn also die Seele in ähnlicher Weise zerknirscht ist, so wird sie sich nicht im geringsten überheben können, und wollten auch tausend Leidenschaften sie aufgeblasen und hochmütig machen. Wenn schon der, der in irdischen Dingen einen Verlust zu beklagen hat, alle Leidenschaften der Seele verbannt, um wieviel mehr wird der, der seine Sünden bereut, aus solcher Weisheit Nutzen schöpfen? 

   Aber, fragst du, wer kann sein Herz also zerknirscht machen? Höre, was David sagt, der sich ja hierin mehr als irgend jemand ausgezeichnet hat, und sieh, wie zerknirscht er in seinem Herzen war. Als er schon tausend große Taten verrichtet hatte, stand er in Gefahr, sein Land, sein Haus, ja sein Leben zu verlieren. Gerade in dieser Stunde des Unglücks sah er einen gemeinen, verworfenen Soldaten, der ihm schmähte und beschimpfte. Er aber, weit entfernt, ihn ebenfalls zu schmähen, hinderte sogar einen der Heerführer, denselben zu töten und sagte: "Laßt ihn, der Herr hat ihn also geheißen" (2S 16,11). Als ein andermal die Priester ihn baten, in seiner Begleitung die Bundeslade mit sich führen zu dürfen, da duldete er es nicht, sondern antwortete wie? "Stellet[55] in den Tempel, wenn der Herr mich befreit aus den Händen der Bösen, werde ich ihre Herrlichkeit schauen. Wenn er mir aber sagt: Ich habe kein Wohlgefallen an dir, so bin ich bereit; er möge mit mir verfahren, wie es am besten ist vor seinem Angesicht" (2S 15,25-26). Auch die Art, wie er an Saul ein, zwei, ja mehreremal gehandelt hat, welches Übermaß von Frömmigkeit beweist sie nicht! Das ging sogar über das alttestamentliche Gesetz hinaus und kam bereits den Satzungen der Apostel nahe. Darum hat er alles willig angenommen, was vom Herrn kam, hat nicht gerechtet wegen dessen, was geschah, sondern auf eines nur war all sein Sinnen und Trachten gerichtet, überall zu gehorchen und seine Gesetze zu befolgen. Da, nachdem er sich schon so großmütig gezeigt, sah er den Tyrannen, den Vater- und Brudermörder, den Übermütigen, den Wutschnaubenden, der statt seiner die ihm gehörende Königskrone trug, und auch darüber geriet er noch nicht in Zorn. Wenn es Gott gefällt, sagte er, dass ich vertrieben und flüchtig umherirre, jener aber in Glanz und Ehre sei, bin ich's zufrieden und nehme es an, und ich werde ihm nur Dank wissen für das viele Böse, das er mir zufügt. Nicht so machen es die Anmaßenden und Verwegenen. Auch wenn sie nicht den hundertsten Teil von seinen Verdiensten aufzuweisen haben, so brauchen sie nur andere Leute in Glück zu sehen. während es ihnen ein wenig schlecht geht, und gleich stürzen sie auch noch ihre eigene Seele durch tausend Lästerungen ins Verderben. So hat es David nicht gemacht; er zeigte in allem Maß und Milde. Darum hat auch Gott gesagt: "Ich fand in David, dem Sohn des Jesse, einen Mann nach meinem Herzen" (Ps 88,4 Ps 88,21) Diese Gesinnung sollen auch wir uns erwerben, und was immer uns widerfahren möge, alles bereitwillig ertragen; dann werden wir noch vor dem Jenseits hienieden schon die Frucht unserer Demut pflücken. Denn: "Lernet von mir," sagte der Herr, "ich bin sanftmütig und demütig von Herzen und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen" (Mt 11,29). Damit wir also in dieser wie in der anderen Welt Ruhe und Frieden genießen, seien wir eifrig darauf bedacht, die Mutter aller Tugenden, die Demut, unseren Seelen einzupflanzen. So werden wir nicht bloß das Meer dieses irdischen Lebens ohne Stürme durchfahren können, sondern auch in den ruhigen stillen Hafen des Jenseits gelangen, durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht sei in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 2