Kommentar zum Evangelium Mt 4

Vierte Homilie: Kap.1, V.17-22.

4 Mt 1,17-22
1.

.1. V.17: "Der Geschlechter von Abraham bis David also sind es im ganzen vierzehn, und von David bis zur babylonischen Gefangenschaft wieder vierzehn, und ebenso von der babylonischen Gefangenschaft bis zu Christus vierzehn." 

   Der Evangelist hat die ganze Ahnenreihe in drei Gruppen geteilt. Er wollte dadurch zeigen, dass die Juden auch dann nicht besser wurden, als die Verfassung des Landes sich änderte, dass sie vielmehr gleich schlecht blieben, ob sie unter der Herrschaft des Adels, des Königtums oder der Oligarchie standen; und sei es, dass Volksanführer oder Priester oder Könige das Land regierten, sie wiesen nicht mehr Tugend auf. Warum aber hat der Evangelist in der mittleren Gruppe drei Könige übergangen, und in der letzten nur zwölf Ahnen genannt, während er doch sagte, es seien vierzehn? Den ersten Zweifel überlasse ich euch selber zur Lösung; man muß euch ja nicht alles gleich selber beantworten, damit die Sache nicht langweilig wird. Die zweite Frage dagegen will ich beantworten. Mir scheint, er habe hier auch die Zeit der[56] Gefangenschaft als Generation gerechnet, und dann Christus selbst, den er so nach allen Seiten hin mit uns verbindet. Mit Recht gedenkt er aber auch jener Gefangenschaft, weil er uns zeigen will, dass die Juden nicht einmal dadurch besser geworden sind. So erkennt man dann die absolute Notwendigkeit der Ankunft des Herrn. Warum aber, fragst du, tut Markus nicht das gleiche, und gibt nicht einmal die Stammtafel Christi, sondern faßt alles nur ganz kurz zusammen? Ich glaube, Matthäus hat früher als die anderen mit seiner Arbeit begonnen; darum stellte er auch das Geschlechtsregister sorgfältig zusammen und hebt hervor, was wichtig ist. Markus dagegen schrieb erst nach ihm und folgte deshalb dem kürzeren Weg, da er ja nur Dinge zu bieten hatte, die schon gesagt und allgemein bekannt waren. Wie kommt es aber dann, dass Lukas die Stammtafel bringt und sie sogar noch erweitert? Weil eben Matthäus ihm vorausgegangen war, so wollte er uns über einiges noch genauer unterrichten. Auch haben beide in gleicher Weise ihren Lehrmeister nachgeahmt: der eine den Paulus, dessen Reden reicher strömten als die Wasser der Flüsse, der andere den Petrus, der mehr auf Kürze bedacht war. Warum aber hat Matthäus nicht, wie der Prophet, mit den Worten begonnen: "Das Gesicht, das ich schaute" (Is 1,1), und: "Eine Rede ward mir mitgeteilt" (Jr 1,2). Weil er nur für gutgesinnte Leute schrieb, die ohnehin schon bereit waren, seinen Worten eifrig zu lauschen. Auch die geschehenen Wunder gaben ja lautes Zeugnis, und diejenigen, welche[57] angenommen hatten, waren gar stark in ihrem Glauben. Zur Zeit der Propheten dagegen geschahen keine so großen Wunder, die für sie Zeugnis abgelegt hätten, und außerdem erstand auch eine große Anzahl falscher Propheten, auf die das jüdische Volk noch lieber hörte. Darum war gerade für sie eine solche Einleitung notwendig. Wenn aber auch je einmal Wunderzeichen geschahen, so geschahen sie der Heiden wegen, damit viele von ihnen Proselyten würden, oder auch, damit die Macht Gottes gezeigt werde; wenn sie nämlich bisweilen von Feinden besiegt wurden, so schrieben sie diesen Sieg der Macht der[58] Götter zu. So z.B. in Ägypten, von wo ja eine ganz gemischte Bevölkerung auszog; den gleichen Zweck hatten später in Babylon die Wunder mit dem Feuerofen und den Traumgesichten. Aber auch in der Wüste, wo sie ganz unter sich waren, geschahen Wunder, wie ja auch bei uns. Denn auch bei uns geschahen viele Wunder zur Zeit, da wir uns vom Irrtum[59] bekehrten. Als aber dann der Same des Evangeliums überall ausgestreut war, hörten sie auf. Wenn aber auch später[60] noch Wunder geschahen, so kamen sie doch nur selten und vereinzelt vor, wie z.B. da die Sonne stille stand oder auch rückwärts ging. Etwas Ähnliches konnten wir aber auch in unserer Zeit beobachten. In unseren eigenen Tagen, unter der Regierung des gottlosen Julian ereigneten sich viele außergewöhnliche Dinge. Als nämlich die Juden sich anschickten, den Tempel zu Jerusalem wieder aufzubauen, brach Feuer aus dem Boden hervor und jagte alle auseinander. Und als er in seinem Taumel auch die heiligen Gefäße entweihte, da wurden sein Schatzmeister und sein Schwager, der ebenfalls Julian hieß, der eine von Würmern zerfressen, der andere barst mitten auseinander. Das größte Wunderzeichen aber war, dass die Quellen versiegten, als man dort Opfer darbringen wollte, und dass in allen Städten, die der Kaiser betrat, Hungersnot ausbrach.



2.

So pflegt es Gott zu machen. Wenn die Sünde überhand nimmt und er die Seinigen in Bedrängnis weiß, seine Feinde aber in tyrannischer Wut gegen sie entflammt sieht, dann zeigt er seine eigene Macht. So tat er, als die Juden in Babylonien[61] waren. Es geht also aus dem Gesagten klar hervor, dass der Evangelist die Vorfahren Christi nicht bloß nach Willkür oder Zufall in drei Gruppen geteilt hat. Beachte aber, wo er anfängt und wo er aufhört? Von Abraham geht er bis David; von David bis zum babylonischen Exil, und von diesem bis zu Christus. Auch im Anfang erwähnt er bereits beide nacheinander, und am Schluß wiederholt er ebenfalls beide. An sie waren nämlich, wie ich schon früher sagte, die Verheißungen ergangen. Warum aber hat er den Aufenthalt in Ägypten nicht erwähnt, während er des babylonischen Exils gedachte? Weil sie die Ägypter nicht mehr fürchteten, vor den Babyloniern aber immer noch zitterten; auch war das erst längst schon vorüber, das andere aber noch neu und in frischer Erinnerung; auch kamen sie nach Ägypten nicht ob ihrer Sünden, nach Babylon aber wurden sie ob ihrer Missetaten geführt. Wollte sich aber jemand auch auf die Auslegung ihrer Namen einlassen, so fände er auch da manch tiefe Gedanken, die viel zum Verständnis des Neuen Testamentes beitrügen; z.B. in den Namen Abraham, Jakob, Salomon, Zorobabel; denn nicht aus bloßem Zufall wurden ihnen diese Namen gegeben. Um aber nicht durch allzu große Weitläufigkeit lästig zu fallen, wollen wir diese Namen übergehen und das Folgende in Angriff nehmen. Nachdem also der Evangelist alle Vorfahren[62] aufgezählt hat und bis zu Joseph gekommen ist, blieb er bei diesem nicht stehen, sondern fügte hinzu: "Joseph, den Mann Mariä." Damit gab er uns zu verstehen, dass er dessen Vorfahren nur um ihretwillen aufgezählt hatte. Damit du aber nicht etwa glaubst, der Ausdruck "Mann Mariä" setze eine Geburt nach dem allgemeinen Naturgesetz voraus, so beachte, wie er dies in der Folge richtig stellt. Du hörtest das Wort "Mann", hörtest das Wort "Mutter", hörtest den Namen, der dem Kinde beigelegt wurde. Jetzt vernimm auch die Art und Weise, wie die Geburt stattfand. 

   V.18: "Die Geburt Jesu Christi aber geschah in dieser Weise." 

   Welche Geburt meinst du? Du hast ja schon sämtliche Vorväter aufgezählt! Ja, ich will aber jetzt auch von der Art und Weise der Geburt reden. Siehst du, wie er das Interesse des Zuhörers weckt? Da er etwas ganz Neues vorbringen will, so kündigt er zum voraus an, er wolle auch über die Art und Weise sprechen. Da beachte auch die vollkommen logische Reihenfolge des Gesagten. Er fängt nicht ohne weiteres von der Geburt zu reden an, sondern macht uns zuerst darauf aufmerksam, das wievielte Glied der Herr sei von Abraham an gerechnet, das wievielte von David, und von der babylonischen Gefangenschaft. Dadurch veranlaßt er einen aufmerksamen Zuhörer, die Zeitabstände zu prüfen, und zeigt ihm so, dass dieser eben jener Christus ist, den die Propheten geweissagt haben. Wenn du nämlich die Generationen zählst und an der Zeit merkst, dass dieser der Verheißene ist, dann wird es dir auch leicht fallen, an seine wunderbare Geburt zu glauben. Da er eben etwas Großes verkünden wollte, nämlich seine Geburt aus der Jungfrau, so wollte er nicht gleich mit dem Ausrechnen des Zeitpunktes beginnen, sondern läßt die Sache zuerst im dunklen und redet nur von einem "Mann Mariä"; ja er unterbricht förmlich die Erzählung über die Geburt. Übrigens zählt er die Jahre auch deshalb auf, um den Zuhörer daran zu erinnern, dass gerade er derselbe ist, dessen Erscheinen der Patriarch Jakob (Gn 49,10) voraussagte für die Zeit, da es keine Fürsten aus dem Stamme Juda mehr geben werde; derselbe, von dem der Prophet Daniel (Da 9,25-27) weissagte, er werde nach jenen bekannten vielen Wochen erscheinen. Und wenn jemand diese Jahreswochen, von denen der Engel zu Daniel sprach, von der Erbauung der Stadt an berechnen und bis zur Geburt Christi herabführen wollte, so würde er sehen, dass diese[63] mit jenen[64] übereinstimmen. 

   Welches war also jetzt das besondere Merkmal seiner Geburt? "Als seine Mutter Maria verlobt war."Er sagte nicht "Jungfrau", sondern einfach "Mutter", damit man es leichter verstehe. Nachdem er also den Zuhörer durch die Erwartung auf etwas Natürliches vorbereitet und hingehalten hat, setzt er ihn erst in Erstaunen durch die Ankündigung von etwas ganz Außergewöhnlichem, indem er sagt: "Bevor sie zusammenkamen, fand man, dass sie vom Hl. Geiste empfangen hatte." Er sagte nicht: Bevor sie in das Haus ihres Bräutigams geführt wurde; denn sie war schon darin. Bei den Alten war es nämlich fast überall Sitte, die Bräute im Hause zu behalten, wie wir es ja auch in diesem Falle sehen; auch die Schwiegersöhne des Lot waren mit ihm im Hause. Es war also auch Maria zusammen mit Joseph.



3.

Warum hat sie aber nicht vor der Verlobung empfangen? Damit das Geschehene, wie ich schon anfangs sagte, vorläufig verborgen bliebe, und die Jungfrau jedem bösen Verdacht entginge. Wenn nämlich derjenige, der am ehesten von allen Veranlassung zu Argwohn gehabt hätte, sie nicht nur nicht an den Pranger stellt und sie nicht der Schande preisgibt, sondern sie auch bei sich aufnimmt und auch noch nach der Empfängnis für sie sorgt, so geht daraus klar hervor, dass er vollkommen überzeugt war, das Geschehene sei der Wirkung des Hl. Geistes zuzuschreiben; sonst hätte er sich nicht damit zufrieden gegeben, und wäre ihr nicht in allem zu Diensten gewesen. Ein meisterhafter Zug ist es sodann, dass der Evangelist die Worte hinzugefügt hatte; "Man fand, dass sie schwanger war"; das pflegte man nämlich bei wunderbaren und überraschenden, ganz unerwarteten Dingen zu sagen. Forsche also auch du nicht weiter nach; wolle nicht mehr wissen, als was der Evangelist gesagt hat, und frage nicht: "Aber wie hat der Hl. Geist dies bei einer Jungfrau vermocht?" Man kann ja schon das Wirken der Naturkräfte selber bei diesem Bildungsprozesse nicht erklären; wie sollen wir also die Wunder des Hl. Geistes verstehen? Dadurch, dass der Evangelist den Urheber des Wunders nennt, entzog er sich eben allen Einwänden und lästigen Fragen. Er sagt damit gleichsam: Ich weiß selber nicht mehr, als dass das, was geschehen ist, durch den Hl. Geist geschehen ist. Dadurch mögen auch diejenigen beschämt werden, welche die himmlische Geburt[65] grübelnd erforschen wollen. Wenn schon diese Geburt[66] , die doch tausend Zeugen hat, die vor so langen Zeiten vorherverkündet wurde, deren Frucht man sehen und betasten konnte, wenn schon diese niemand erklären kann, welches Übermaß von Torheit beweisen dann diejenigen, die jene unaussprechliche Geburt ergrübeln und fürwitzig erforschen wollen? Nicht einmal Gabriel, so wenig wie Matthäus, konnten uns mehr sagen, als dass diese vom Hl. Geist bewirkt wurde. Das Wie? aber und die nähere Art und Weise hat keiner von beiden erklärt, und sie konnten es auch nicht. Glaube auch nicht, du habest alles erfahren, wenn du hörst, die Empfängnis komme vom Hl. Geist. Auch so wissen wir noch gar vieles nicht. Zum Beispiel, wie es möglich ist, dass der Unendlich vom Mutterschoß umschlossen wird; wie der, der alles in sich begreift, im Schoße eines Weibes getragen werden kann; wie eine Jungfrau gebären und doch Jungfrau bleiben kann? Ja, sage mir doch, wie hat der Hl. Geist jenen Tempel gebildet? Warum hat er nicht den ganzen Leib durch den Mutterschoß bilden lassen, sondern nur einen Teil, der dann größer wurde und sich weiter ausbildete? Denn dass sein Leib aus dem Fleische der Jungfrau gebildet war, bezeugt uns der Evangelist mit den Worten: "denn, was aus ihr geboren ward", und Paulus sagt: "geworden aus dem Weibe" (Ga 4,4), womit er diejenigen widerlegte, die da behaupten, Christus sei durch Maria wie durch einen Kanal hindurchgegangen Denn wenn das wahr wäre, wozu brauchte er dann überhaupt eine Mutter? Er hätte dann aber auch gar nichts mit uns gemein; er wäre Fleisch aus anderem, nicht aus unserem Fleisch. Wie stammte er also noch aus der Wurzel Jesse; wie wäre er dann Reis geworden, wie der Menschensohn, wie die Blüte? Und wie wäre Maria Mutter? Wie stammte der Herr aus dem Geschlechte Davids; wie hätte er Knechtsgestalt annehmen, wie das Wort Fleisch werden können? (Jn 1,14). Wie könnte Paulus an die Römer schreiben:" Von denen Christus dem Fleische nach abstammt, der zugleich Gott ist, der über alles herrscht"? (Rm 9,5) Dass er also aus unserem Geschlechte und aus unserem Fleische stammt und aus dem jungfräulichen Mutterschoß, ergibt sich klar aus diesen und aus vielen anderen Gründen. Das Wie? aber ist noch nicht klar. Versuche also auch du nicht, es zu verstehen, sondern glaube einfach, was dir geoffenbart worden und grüble nicht dem nach, was dir geheim gehalten worden. 

   V.19: "Joseph aber, ihr Mann, da er gerecht war und sie nicht überführen wollte, trug sich mit dem Gedanken, sie heimlich zu entlassen." 

   Nachdem der Evangelist gesagt hat: "aus dem Hl. Geist" und "ohne menschliches Zutun", bekräftigt er seine Worte auch noch auf andere Weise. Damit keiner sage: Wie kannst du das beweisen? Wer hat jemals etwas Ähnliches gesehen oder gehört? Damit du den Jünger nicht im Verdacht habest, er hätte nur seinem Meister zu Gefallen so etwas erfunden, führt er den Joseph ein, der durch seine eigene Erfahrung das Gesagte bestätigen kann und sagt damit gleichsam: Wenn du mir nicht glaubst und gegen mein Zeugnis Argwohn hegst, glaube wenigstens diesem: "denn Joseph, ihr Mann war gerecht". Gerecht heißt aber hier soviel wie: in allem vollkommen Zur Gerechtigkeit gehört es ja auch, nicht habsüchtig zu sein; ja sie ist der Inbegriff jeglicher Tugend. Ganz besonders in diesem Sinne gebraucht die Hl. Schrift das Wort: "Gerechtigkeit", wie wenn sie z.B. sagt: "Der Gerechte ist wahrhaftig" (Jb 1,1), und ein anderes Mal: "Es waren beide gerecht" (Lc 1,6).



4.

"Da also Joseph gerecht war", das heißt: recht und tugendhaft,"wollte er sie heimlich entlassen". 

   Deshalb erzählt der Evangelist, was geschehen sei, bevor Joseph darum wußte, damit du um so eher glaubest, was nachher geschah. Gewiß, wäre sie schuldig gewesen, sie hätte es nicht bloß verdient, öffentlich der Schande preisgegeben zu werden, sondern hätte auch der gesetzlichen Strafe unterliegen müssen. Joseph aber ersparte ihr nicht nur diese schwerere, sondern auch die geringere Strafe, die Schande. Er wollte sie nicht nur nicht strafen, sondern sie nicht einmal bloßstellen. Siehst du, wie edel er ist und wie frei von der tyrannischsten aller Leidenschaften? Ihr wißt ja doch, was Eifersucht vermag. Deshalb sagte auch einer, der es wohl wußte: "Voll von Eifersucht ist der Zorn des Mannes, keine Schonung kennt er am Tag der Rache" (Pr 6,34), und: "Erbarmungslos wie die Hölle ist die Eifersucht" (Ct 8,6). Auch wir kennen viele, die lieber ihr Leben lassen, als den Verdacht eines eifersüchtigen Mannes wecken möchten. Hier handelte es sich aber nicht mehr um bloßen Verdacht, denn die fortgeschrittene Schwangerschaft war unverkennbar. Trotzdem war Joseph auch da so frei von aller Leidenschaft, dass er die Jungfrau auch nicht mit einem Gedanken betrüben wollte. Während nämlich auf der einen Seite die Schwangerschaft eine sündhafte zu sein schien, und andererseits die Sache bekannt geben und sie selbst vor Gericht ziehen soviel hieß, als sie dem Tode überliefern, so tut er keines von beiden, sondern handelt viel vollkommener, als das Gesetz es verlangte. Denn, da die Zeit der Gnade herannahte, so sollten sich auch die Beispiele solch hohen Lebensideals vervielfältigen. Wie nämlich die Sonne, auch wenn wir ihre Strahlen noch nicht sehen, doch schon von ferne durch ihr Licht den größten Teil der Welt erleuchtet, so hat auch Christus, als er bald aus dem Mutterschoß hervorgehen sollte, den ganzen Erdkreis erleuchtet, noch bevor er selbst sichtbar wurde. Deshalb haben schon vor seiner Geburt die Propheten vor Freude gejubelt, haben Frauen geweissagt, ist Johannes schon im Mutterschoße gehüpft, ehe er noch zur Welt gekommen war. Darum gibt uns auch Joseph ein so erhabenes Beispiel edler Gesinnung: er hat Maria nicht verklagt, hat sie nicht geschmäht, sondern gedachte nur, sie zu entlassen. In diesem Augenblick, als die Sache schon so stand und nirgends Rat war, da erschien der Engel und machte allen Zweifeln ein Ende. Es ist aber der Mühe wert zu untersuchen, weshalb der Engel nicht früher erschien, bevor dem Mann solche Gedanken gekommen waren, sondern erst dann, als er bereits solche Erwägungen anstellte? Es heißt nämlich: 

   V.20: "Während er solches bei sich erwog, kam der Engel". 

   Der Jungfrau hatte er ja auch vor ihrer Empfängnis die Botschaft gebracht, und das gibt uns daher ein neues Rätsel auf. Wenn nämlich der Engel[67] auch nichts offenbarte, warum hat aber die Jungfrau geschwiegen, nachdem sie die Botschaft des Engels empfangen hatte. warum hat sie die Zweifel nicht gelöst, als sie ihren Bräutigam in Sorgen sah? Warum also hat der Engel nicht eher gesprochen, bis Joseph unruhig geworden war? Wir müssen nämlich diese erste Frage zuerst lösen. Warum also hat er nicht gesprochen? Damit Joseph ihm nicht etwa den Glauben verweigerte, und es ihm nicht ebenso erginge, wie dem Zacharias. Denn nachdem er einmal das Geschehene selber gesehen, war es leicht, zu glauben. Vorher aber war es nicht ebenso leicht. Deshalb schwieg der Engel im Anfang, und auch die Jungfrau sagte aus dem gleichen Grunde nichts. Sie dachte eben, sie würde bei ihrem Bräutigam mit einer so merkwürdigen Geschichte keinen Glauben finden, sondern ihn nur noch erzürnen, durch den Versuch, ihre[68] Sünde zu verbergen. Denn wenn schon sie, die einer solchen Gnade teilhaft werden sollte, menschlich dachte und fragte: "Wie kann dies geschehen, da ich keinen Mann erkenne?" (Lc 1,34), um wieviel mehr hätte er Verdacht geschöpft, zumal da er es aus dem Munde eben des Weibes vernahm, auf das er den Verdacht hatte?



5.

Darum also hat die Jungfrau nichts gesagt; dagegen erschien der Engel zur rechten Zeit. Warum aber, fragst du, hat er es nicht auch bei der Jungfrau so gemacht, und hat ihr nicht erst nach der Empfängnis seine Botschaft gebracht? Damit sie nicht erschreckt und ganz verwirrt würde. Wenn ihr nämlich der Sachverhalt nicht ganz klar gewesen wäre, so hätte man fürchten müssen, sie würde sich mit Selbstmordgedanken tragen, würde zum Strick oder zum Schwert greifen, wenn sie die Schmach nicht hätte zu ertragen vermocht.[69] In Wirklichkeit verdient die Jungfrau Bewunderung, und Lukas zeigt uns die Größe ihrer Tugend, indem er sagt, dass sie bei dem Engelsgruß sich nicht sogleich der Freude überließ und die Botschaft nicht angenommen, dass sie vielmehr verwirrt ward und fragte, was dieser Gruß bedeute? Bei solcher Seelenverfassung wäre sie vielleicht vor lauter Mutlosigkeit gar in Verzweiflung geraten, wenn sie an die[70] Schande dachte; denn sie konnte doch kaum erwarten, dass sie, was immer sie sagen würde, irgend jemand überzeugen könnte, sie habe keinen Ehebruch[71] begangen. Um also solches zu verhüten, erschien der Engel schon vor der Empfängnis. Jener Schoß sollte nicht in Aufruhr sein, in den der Schöpfer des Weltalls einziehen wollte. Von allen Verwirrungen sollte die Seele frei sein, die gewürdigt war, bei solchen Geheimnissen mitzuwirken. Darum also erschien der Engel der Jungfrau vor der Empfängnis, dem Joseph aber erst zur Zeit der herannahenden Geburt. Das haben manche nicht verstanden, die zu wenig unterrichtet waren, und sagten, es sei ein Widerspruch vorhanden zwischen Lukas, der sage, der Engel habe Maria die Botschaft gebracht, und Matthäus, der ihn dem Joseph erscheinen läßt; sie sahen nicht, das beides wahr ist. Das müssen wir durch das ganze Evangelium hindurch im Auge behalten; denn auf diese Weise können wir viele scheinbare Widersprüche lösen. 

   Es kam also der Engel, als Joseph bereits unruhig geworden war. Denn sowohl dessentwegen, was ich früher gesagt, als auch damit seine Gottesfurcht offenbar würde, hatte der Engel gezögert zu kommen. Als es aber Zeit war, der Sache ein Ende zu machen, erschien er. "Während er dies bei sich überlegte, erschien der Engel dem Joseph im Traume." Siehst du, wie gut der Mann war? Nicht nur hat er seine Braut nicht bestraft, er hat auch mit niemand davon geredet, nicht einmal mit ihr selber, an deren Treue er zweifelte, sondern einzig und allein mit sich selbst ging er zu Rate; ja er suchte die Ursache seines Vorhabens sogar vor der Jungfrau selbst noch zu verbergen. Es heißt nämlich nicht: Er wollte sie davonjagen, sondern: sie ihres Versprechens entbinden; so milde und maßvoll war der Mann. "Während er solches bei sich überlegte, erschien der Engel im Traume." Warum denn nicht am hellen Tag, wie den Hirten, dem Zacharias und Maria? Weil der Mann voll Glauben war und eine solche Erscheinung nicht nötig hatte. Die Jungfrau, der etwas so außerordentlich Großes angekündigt ward, und mehr noch Zacharias, bedurften schon zum voraus einer außergewöhnlichen Erscheinung; die Hirten aber deshalb, weil sie gar ungebildete Leute waren. Er aber, dessen Seele zwar von bösen Zweifeln gequält wurde, der aber doch bereitwillig der erlösenden Hoffnung Raum geben wollte, wenn nur jemand kommen und ihm den Weg dahin zeigen möchte, er nimmt die Aufklärung auch nach der Empfängnis[72] bereitwillig an. Darum bringt der Engel die Aufklärung erst, nachdem Joseph bereits Verdacht geschöpft, damit eben dieser Umstand ihm als Beweis für das Gesagte diene. Denn mit niemanden über etwas reden, und dann das, was er nur in Gedanken mit sich herumgetragen, aus dem Munde des Engels hören, war für ihn ein ganz unzweifelhaftes Zeichen, dass derselbe von Gott gesandt sei. Er allein kann ja die geheimen Gedanken des Herzens schauen. Sieh also, wozu dies alles gut war: der fromme Sinn Josephs hat sich geoffenbart; was ihm zur rechten Zeit gesagt ward, bestärkt ihn in seinem Glauben, ohne Verdacht zu wecken, da es ihm klar machte, dass ihm nur widerfahren sei, was jedem Manne hätte widerfahren können.



6.

Wie stellt es nun der Engel an, damit Joseph ihm glaubte? Höre und bewundere die Weisheit seiner Worte! Er kam und sagte: "Joseph, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria zu deinem Weibe zu nehmen!" Gleich zu Anfang erinnert er ihn an David, von dem Christus abstammen sollte, und damit er nicht verwirrt werde, nennt er seine Vorfahren und macht ihn so auf die Verheißung aufmerksam, die dem ganzen Geschlecht zuteil geworden. Denn, weshalb nennt er ihn Sohn Davids? Damit er sich nicht fürchte. Freilich hat Gott bei einer anderen Gelegenheit nicht so gehandelt, sondern als jemand mit einem Weibe verbotene Absichten hatte[73] , da gebrauchte er viel stärkere Worte und sogar Drohungen; und doch lag auch dort der Sache Unwissenheit zugrunde; denn nur aus Unwissenheit nahm Pharao die Sara zu sich; gleichwohl ließ Gott ihn hart an; hier aber machte es der Engel viel gelinder. Es handelte sich eben da um ganz bedeutende Dinge, und ein großer Unterschied bestand zwischen den beiden. Darum bedurfte es keiner Einschüchterung. Denn durch die Worte: "Fürchte dich nicht", zeigt er, dass Joseph in Angst war, er möchte Gott beleidigen, wenn er eine Ehebrecherin zum Weibe behielte; sonst hätte er ja nicht überlegt, ob er sie fortschicken solle? Alles wies also darauf hin, dass der Engel von Gott kam; denn er brachte ja genau alles vor, was Joseph bei sich überlegt und in seinem Inneren gelitten hatte. Nachdem er dann ihren Namen genannt hatte, blieb er dabei nicht stehen, sondern setzte hinzu: "dein Weib"; so hätte er sie aber nicht genannt, wenn sie sich verfehlt gehabt hätte. Weib aber sagt er hier statt Braut, wie ja auch die Hl. Schrift Brautleute auch vor der Hochzeit oft Eheleute nennt. Was soll aber das: "Nehmen" bedeuten? Bei sich behalten; denn im Geiste war er ja bereits von ihr getrennt. Diese von dir Geschiedene, will das heißen, behalte bei dir, da ja Gott es ist, der sie dir gibt, nicht ihre Eltern. Er übergibt sie dir aber nicht zur Ehe, sondern damit sie mit dir unter einem Dache wohne, und er übergibt sie dir durch diese meine Worte. Wie Christus in späterer Zeit sie dem Jünger übergab, so übergab sie jetzt der Engel dem Joseph. Als er dann auch die Ursache andeutete, redete er nicht von dem bösen Argwohn; er machte dies viel zarter und rücksichtsvoller; er rechtfertigte sie gerade durch die Ursache ihrer Schwangerschaft, indem er zeigte, dass Joseph gerade aus dem Grunde sie nehmen und mit Recht bei sich behalten solle, der ihm zuerst Furcht eingeflößt und um dessentwillen er sie hatte entlassen wollen; dadurch befreite er ihn vollkommen von seinem inneren Kampfe. Nicht nur, sagte er, ist sie keiner Sünde schuldig, sie hat sogar auf übernatürliche Weise empfangen. Verbanne also nicht nur jegliche Furcht, sondern gib dich nur um so größerer Freude hin. "Denn was aus ihr geboren wird, ist vom Hl. Geist." Welch ein Wunder, das alle menschlichen Begriffe übersteigt, und über die Gesetze der Natur hinausgeht! Wie wird der Mann dies glauben, der nie solches erfahren hat? Auf Grund dessen, sagst du, was geschehen ist, und dessen, was ihm geoffenbart ward. Gerade darum hat er ja alles in seinem Herzen verborgen, was er gelitten, was er gefürchtet, was er im Sinne gehabt hatte, damit er durch dies auch zum Glauben an jenes geführt werde; ja nicht nur durch das Vergangene, sondern auch durch das Zukünftige bringt er ihn dazu. 

   V.21: "Sie wird aber", sagte der Engel, "einen Sohn gebären, und du wirst ihm den Namen Jesus geben." 

   Denn wenn er auch vom Hl. Geiste ist, glaube deshalb nicht, die göttliche Vorsehung habe dir keine Aufgabe dabei zugewiesen. Wenn du auch zur Menschwerdung nicht mitgewirkt hast, wenn auch die Jungfrau unversehrt geblieben, so sollst du, freilich ohne das Vorrecht der Jungfrauschaft ihr zu nehmen, dennoch wie ein wirklicher Vater das Recht haben, dem Kinde diesen Namen beizulegen. Du sollst ihm diesen Namen geben. Denn wenn es auch nicht dein Kind ist, du sollst ihm dennoch sein wie ein Vater. Deshalb knüpfe ich schon von dem Augenblick an, wo ihm, der Name gegeben wird, ein Band zwischen dir und dem Kinde. Damit ihm aber deswegen doch nie jemand für den Vater[74] hielte, so höre, mit welcher Genauigkeit er sich im folgenden ausdrückt: "Sie wird einen Sohn gebären", sagt er. Nicht: "Sie wird dir gebären", sondern einfach und ganz allgemein: "Sie wird gebären"; denn nicht ihm hat sie geboren, sondern der ganzen Welt.



7.

Deshalb brachte auch der Engel den Namen vom Himmel und hat auch dadurch gezeigt, dass es sich um eine wunderbare Geburt handle; denn es war ja Gott selbst, der durch den Engel dem Joseph den Namen[75] vom Himmel sandte. Das war durchaus nichts Nebensächliches, sondern eine Quelle unendlicher Gnaden. Darum hat auch der Engel diesen Namen genauer erklärt, weckt so große Hoffnungen, und bringt Joseph auch dadurch zum Glauben. Solche Dinge gefallen uns ja meistens schnell; darum setzen wir auch lieber unser Vertrauen auf sie. Nachdem er ihn also mit all diesen Dingen auf den Glauben vorbereitet hat, mit dem Vergangenen, dem Zukünftigen und Gegenwärtigen, ja sogar durch die Ehre, die er ihm erwies, führt er zur rechten Zeit auch noch den Propheten ein, der allem dem die letzte Entscheidung gibt. Noch ehe er ihn aber zum Wort kommen läßt, kündigt er selbst an, welche Gnaden der Welt durch ihn zuströmen sollten. Was sind dies für Gnaden? Die Befreiung und Erlösung von den Sünden. "Denn er", sagt der Engel, "wird sein Volk erlösen von dessen Sünden." Auch hier weist er auf etwas Wunderbares hin. Nicht Befreiung von sichtbaren Feinden, von Barbaren verheißt er ihm; nein, etwas viel Größeres, die Erlösung von Sünden; das hatte noch niemand zuvor vermocht. Warum aber, fragst du, sagte er: "Sein Volk" und fügte nicht auch die Heiden hinzu? Um den Zuhörer nicht jetzt schon zu erschrecken. Für den, der den tieferen Sinn der Worte verstand, hatte er ohnehin auch die Heiden mit inbegriffen "Sein Volk" sind eben nicht bloß die Juden, sondern alle, die zu ihm kommen und den Glauben annehmen. Beachte aber, wie er uns auch auf seine Würde aufmerksam macht, indem er die Juden sein Volk nennt. Das bedeutet nichts anderes, als dass das Kind der Sohn Gottes ist, und dass es sich hier um den König des Himmels handelt. Sünden nachzulassen steht ja in keines anderen Macht, außer der göttlichen allein. 

   Da uns also ein so herrliches Geschenk zuteil geworden, so wollen wir auch alles tun, uns einer so großen Wohltat nicht unwürdig zu zeigen. Denn wenn schon die Sünden, die vor der Menschwerdung vorkamen, strafbar waren. um wieviel mehr diejenigen, die man nach dieser so unaussprechlichen Gnade begeht? Das sage ich euch nicht ohne Grund, sondern weil ich sehe, dass viele nach der Taufe viel leichtsinniger leben als Ungetaufte, so dass man ihnen den Christen ganz und gar nicht mehr ansieht. Darum kann man weder auf der Straße, noch in der Kirche recht wissen, wer getauft ist und wer nicht, es sei denn, man wohne zur rechten Zeit den Mysterien bei und passe auf, wen man hinausweist und wer drinnen bleibt. Es sollte aber eigentlich nicht der Ort, sondern das praktische Leben einen kenntlich machen. Weltliche Würden erkennt man ja schon mit Recht an äußeren Abzeichen; die unsrigen aber zeigen sich nur durch die Seele. Den Getauften sollte man nicht bloß an seiner Gabe[76] erkennen, sondern auch daran, dass er ein neues Leben beginnt. Der Gläubige soll das Licht der Welt sein und das Salz der Erde. Wenn du aber nicht einmal in dir selber Licht hast, und deine eigene Fäulnis nicht hintanhalten kannst, woran sollen wir dich dann erkennen? Vielleicht daran, dass du in die heiligen Fluten hinabgestiegen[77] . Aber gerade das wird dir Strafe zuziehen. Je größer die Gnade, um so größer die Strafe für diejenigen, die in ihrem Leben der Gnade nicht entsprachen. Der[78] Christ soll eben nicht bloß mit den Talenten glänzen, die er von Gott erhalten, sondern auch mit den Zinsen, die er aus ihnen genommen. An allem soll man ihn erkennen, am Gang, am Blick, an der Haltung, an der Stimme. Damit will ich aber nicht sagen, dass wir uns so verhalten sollen, bloß um gesehen zu werden, sondern um diejenigen, die uns sehen, zu erbauen. Woran immer ich dich nun aber auch zu erkennen suche, immer finde ich, dass du durch das Gegenteil auffällst. Wenn ich dich an deinem Platz[79] zu erkennen suche, so finde ich, dass du im Zirkus, im Theater und mit sonstigen unerlaubten Dingen den Tag zubringst, mit bösen Reden auf der Straße oder in Gesellschaft verdorbener Menschen. Will ich dich am Ausdruck deines Gesichtes erkennen, so sehe ich nur immer ausgelassenes Lachen, wie man es höchstens bei einer verkommenen, frechen Dirne gewöhnt ist; wenn aber an deinen Kleidern, so finde ich dich nicht besser als Schauspieler; wenn an deinen Freunden, so ziehst du nur mit Schmarotzern und Schmeichlern herum; wenn an deinen Reden, so höre ich da kein gesundes Wort, keines, das nicht überflüssig, keines, das lebenspendend wäre; schaue ich endlich auf deine Tafel, so finde ich da noch weit mehr Stoff zu Vorwürfen.



8.

Woran also, sag mir, soll ich dich als Christ zu erkennen vermögen, da doch alles, was ich da aufgezählt habe, auf das Gegenteil hinweist? Was rede ich aber von Christ? Man kann ja nicht einmal recht sehen, ob du überhaupt ein Mensch bist? Denn wenn du ausschlägst wie ein Esel, Sprünge machst wie ein Stier, nach Weibern gierst wie ein Hengst, so gierig frissest wie ein Bär, dich mästest wie ein Maulesel, rachsüchtig bist wie ein Kamel, räuberisch wie ein Wolf, zornmütig wie eine Schlange, wenn du stichst wie ein Skorpion, verschmitzt bist wie ein Fuchs, giftgeschwollen wie eine Natter und eine Viper, gehässig bist gegen deine Brüder wie der böse Dämon, wie soll ich dich da noch für einen Menschen halten, da ich in dir die Merkmale der Menschennatur nicht mehr sehe? Während ich den Unterschied zwischen Katechumenen und Getauften suche, bin ich in Gefahr, nicht einmal den zwischen einem Menschen und einem, wilden Tiere zu finden. Oder wie soll ich dich nennen? ein wildes Tier? Aber jedes wilde Tier hat doch nur eine dieser schlechten Eigenschaften, du aber vereinigst sie alle zugleich und übertriffst sie durch deine Schlechtigkeit noch bedeutend. Oder soll ich dich einen Dämon heißen? Aber der Teufel dient wenigstens nicht der Lust des Fleisches und ist nicht lüstern nach Reichtum. Wenn du also noch schlechter bist als wilde Tiere und Dämonen, sag' mir, wie soll ich dich da einen Menschen nennen? Wenn du aber den Namen Mensch nicht verdienst, wie soll ich dir den eines Christen geben? 

   Was aber noch viel schlimmer ist: obwohl wir so schlecht sind, wir beachten gar nicht, wie mißgestaltet unsere Seele ist, kennen nicht einmal ihre Häßlichkeit. Wenn du aber in der Barbierstube sitzest, um deine Frisur ordnen zu lassen, da nimmst du den Spiegel und siehst genau wie die Haare liegen, ja fragst auch noch die Umstehenden und den Barbier selbst, ob auch die Frisur um die Stirne herum recht schön gelungen sei. Ja sogar Greise schämen sich oft nicht, noch jünger erscheinen zu wollen, als sie sind. Wenn aber unsere Seele mißgestaltet, ja tierisch geworden ist wie die einer Szilla oder einer Chimäre, wie die heidnischen Fabeln lehren, so geht uns das nicht im geringsten zu Herzen. Und doch gibt es auch hierfür einen geistigen Spiegel, der noch viel besser und brauchbarer ist als jener; denn er zeigt uns nicht nur unsere Häßlichkeit, sondern er verwandelt sie auch in unvergleichliche Schönheit, wenn wir es nur wollen. Dieser Spiegel aber ist das Andenken an edle Männer, die Geschichte ihres Lebens ist die Lesung der Hl. Schrift, sind die Gesetze, die uns Gott gegeben. Ja, wenn du nur ein einziges Mal die Bilder jener Heiligen sehen wolltest, und deine eigene häßliche Seele daneben schautest, du brauchtest nichts anderes mehr, um dich von solcher Makel zu befreien. Gerade dafür dient uns dieser Spiegel, dass er uns die Bekehrung erleichtert. Keiner mache es also fernerhin noch den unvernünftigen Tieren gleich. 

   Wenn schon der Knecht[80] das Haus seines Vaters nicht betrat, wie willst du die Schwelle überschreiten, der du einem wilden Tiere gleichgeworden bist? Und was sag' ich: einem wilden Tiere? Wer so geworden, ist ja noch viel schlimmer als ein wildes Tier; denn diese sind von Natur aus wild und doch werden sie oft durch die Kunst der Menschen gezähmt; du aber, der du jene natürliche Wildheit in unnatürliche Zahmheit verwandelst, was hast du noch für eine Entschuldigung, wenn du deine eigene natürliche Zahmheit in unnatürliche Wildheit verkehrst? Das Tier, das von Natur aus wild ist, lässest du sehen, nachdem du es gezähmt hast, dich selbst aber, der du von Natur aus zahm sein solltest, zeigst du in unnatürlichem Zorne. Den Löwen bändigst du und machst ihn zahm, deinen eigenen Zorn aber lässest du wilder werden, als je dein Löwe war. Und doch erschwerten dir zwei Umstände die Sache: erstens, dass dieses Tier keine Vernunft besitzt, und zweitens, dass es von allen das wildeste ist. Und doch hast du mit dem von Gott dir verliehenen Verstande auch seine Natur besiegt. Nachdem du also sogar die Natur wilder Tiere bezwungen, warum gibst du bei dir selbst nicht bloß die Natur, sondern sogar das Vorrecht freier Selbstbestimmung preis? Ja, hieße ich dich einen anderen Menschen zähmen, du würdest nicht glauben, ich hätte dir etwas Unmögliches aufgetragen; und doch könntest du mir einwenden, du seiest nicht der Herr über den Willen eines anderen. Hier aber handelt es sich um das wilde Tier, das in dir selber steckt, über das du vollkommene Macht besitzest.



9.

Welche Entschuldigung hast du also, welch' annehmbare Ausrede kannst du vorbringen, wenn du einen Löwen zum Menschen machst, und es für nichts achtest, dass du selbst aus einem Menschen ein Löwe geworden bist? Jenem hast du gegeben, was über seine Natur hinausging, für dich selbst hast du nicht einmal das behalten, was deiner Natur entsprach. Wilden Tieren hast du mit Mühe die Zahmheit des Menschen beizubringen gesucht; dich selber stürzest du vom königlichen Thron herab und überläßt dich der Wildheit jener Tiere. Ja, denke doch nur daran, dass auch der Zorn ein wildes Tier ist. Die Mühe, die andere auf Löwen verwenden, die gib dir doch auch um deinetwillen, und mache, dass deine Seele sanft und milde wird. Auch dieser Löwe[81] hat furchtbare Zähne und Krallen, und richtet alles zugrunde, wenn du ihn nicht zähmst. Ja, kein[82] Löwe, keine Schlange kann so die Eingeweide zerfleischen wie der Zorn. der dies fortgesetzt mit eisernen Krallen tut. Denn der Zorn schadet nicht nur dem Leibe, auch die Gesundheit der Seele richtet er zugrunde, verzehrt, zerreißt, vernichtet ihre ganze Kraft, macht sie zu allem unbrauchbar. Wenn jemand Würmer in seinen Eingeweiden hat, so kann er kaum mehr atmen, da alles sich in seinem Innern verzehrt; wie werden dann wir, denen eine solche Schlange[83] das ganze Innere zernagt, etwas Ordentliches leisten können? Wie können wir also diese Seuche los werden? Wenn wir einen gewissen Trank nehmen, dann können wir die Würmer und Schlangen in unserem Innern vertilgen. Doch welcher Trank, fragst du, hätte wohl so große Kraft? Das ehrwürdige Blut Christi, wenn mit reinem Gewissen genommen. Dies kann jede Krankheit heilen, und mit ihm kann es das eifrige Anhören der Hl. Schrift, das von Almosen begleitet wird; durch all dies können wir die Leidenschaften tilgen, die unsere Seele entstellen. Erst dann werden wir wirklich sein wie Lebende, während wir jetzt um nichts besser daran sind als Tote; denn es ist nicht möglich, dass, während jene[84] leben, auch wir leben; sie müssen uns zugrunde richten. Wenn wir sie nicht in dieser Welt zuerst abtöten, so werden sie uns in der anderen vollständig verderben; ja selbst vor jenem ewigen Tod legen sie uns schon hienieden die schrecklichsten Strafen auf. Denn von all diesen Leidenschaften, roh, gewalttätig, unersättlich, wie sie sind, hört keine einzige jemals auf, uns täglich zu verzehren. Ihre Zähne sind wie die des Löwen, ja weit furchtbarer noch. Sobald nämlich der Löwe gesättigt ist, läßt er auch alsbald von dem Opfer, das ihm in die Klauen fiel; diese Leidenschaften hingegen werden niemals satt, lassen niemals[85] ab, bis der Mensch, den sie ergriffen, dem Teufel nahe ist. So groß ist ihre Macht, dass sie dieselbe Knechtschaft, zu der Paulus sich gegenüber Christus bekannte, um dessentwillen er Hölle und Himmel gering achtete, auch von ihren Opfern verlangen. Denn wenn einer der Fleischeslust, der Habsucht, dem Ehrgeiz verfallen ist, so spottet auch er der Hölle und des Himmels. 

   Seien wir also nicht ungläubig, wenn Paulus sagt, er habe Christus so sehr geliebt. Denn wenn man Menschen findet, die ihren Leidenschaften so ergeben sind, wie wird man jenes unglaublich finden können? Darum ist ja unsere Liebe zu Christus oft so schwach, weil die Liebe zu diesen Leidenschaften unsere ganze Kraft verzehrt. Wir rauben, übervorteilen, jagen eitlem Ruhme nach; und was gäbe es Nichtigeres als ihn? Denn wenn du auch tausendmal angesehen wirst, du bist darum nicht besser als jene, die niemand ehrt, ja gerade darum noch verächtlicher. Denn wenn diejenigen, die bereit sind, dich zu loben und bei anderen als ausgezeichneten Menschen hinzustellen, sich eben deshalb über dich lustig machen, weil du nach ihren Lobhudeleien Verlangen trägst, wie wird dir da das Begehren nach solchen[86] Dingen nicht weit eher das Gegenteil eintragen? Sie werden nur zu deinen Anklägern werden.



10.

Wie derjenige, der einen geilen Ehebrecher und Unzüchtigen lobt und ihm schmeichelt, ihn eben dadurch weit mehr anklagt als lobt, so sind auch wir, wenn wir alle den Ehrgeizigen loben, weit mehr Ankläger als Lobspender derer, die gerühmt sein wollen. Was jagst du also Dingen nach, die dir doch immer gerade das Gegenteil eintragen? Willst du geehrt werden, so verachte die Ehre, und du wirst berühmter sein als alle anderen. Warum willst du, dass es dir ergehe wie dem Nabuchodonosor? Auch er hat ein Bild aufgestellt und glaubte, er könne durch Holz und leblosen Stoff noch größere Berühmtheit erlangen; er, der Lebende, wollte durch unbelebte Dinge noch mehr verherrlicht werden! Siehst du, wie groß solche Torheit ist? Er glaubte sich selber zu ehren und hat sich nur dem Gespött preisgegeben. Denn wenn man sieht, wie er auf unbeseelte Dinge mehr vertraute als auf sich und seine eigene Seele, und deshalb bloßem Holze solche Ehre erwies, wie sollte man sich da nicht mit Recht über ihn lustig machen, da er lieber durch Bretter aus Holz,[87] als durch sein eigenes Leben geehrt werden wollte? Das ist gerade so, wie wenn einer mehr auf den Fußboden oder die schöne Stiege, die er zu Hause hat, stolz sein wollte, als darauf, dass er ein Mensch ist. So machen es aber heutzutage gar viele. Denn wie jener mit seiner Bildsäule, so wollen die einen wegen ihrer Kleider bewundert werden, andere wegen ihres Hauses, wegen ihrer Maulesel und Wagen, auch wegen der Säulen, die in ihrem Hause stehen. Da sie eben verlernt haben, Menschen zu sein, so gehen sie herum und suchen ihren unaussprechlich lächerlichen Ruhm in anderen Dingen. 

   Die hervorragenden und großen Diener Gottes hingegen haben nicht mit solchen Dingen geglänzt, sondern in ganz anderen, die sich mehr für sie ziemten. Unter ihnen konnte man Gefangene sehen, Sklaven, Jünglinge, Fremde und solche, die nichts Eigenes hatten, und die doch größer dastanden als einer, der mit all diesen Reichtümern beglückt ist. Dem Ehrgeiz und Größenwahn des Nabuchodonosor genügte auch die größte Bildsäule nicht, so wenig wie seine Satrapen, Heerführer, zahllosen Armeen, Berge von Gold und was immer er sich sonst noch ausdenken mochte. Jenen aber, die von all dem nichts besaßen, genügte ihr Glauben allein; und sie, die nichts dergleichen ihr Eigen nannten, überragten jene, die mit Kronen und Purpur geschmückt waren, um ebensoviel mehr an Glanz, als die Sonne heller strahlt denn Staub und Erde. Da, im Angesichte der gesamten Welt werden die Jünglinge vorgeführt als Kriegsgefangene und Sklaven. Bei ihrem Erscheinen sprühen die Augen des Herrschers Feuer; ringsum stehen die Feldherrn, die Anführer und Obersten und die gesamte Heerschau des Teufels; der Klang von Pfeifen und Trompeten und jeglicher Instrumente tönt zum Himmel und betäubt von allen Seiten ihre Ohren; der Feuerbrand loht auf zu unermeßlicher Höhe, bis in die Wolken reichen seine Feuerzungen; alles ist erfüllt von Furcht und Schrecken. Sie aber schreckt von all dem nichts; sie lachen der Umstehenden, wie über spielende Knaben; sie zeigen sich mannhaft und gefaßt, und mit einer Stimme, weit schöner als Trompetenklang, sprechen sie: "Wisse, o König" (Da 3,18). Sie wollten nämlich den Tyrannen auch nicht mit einem Worte beleidigen, sondern nur ihre Ehrfurcht bezeugen. Darum hielten sie auch keine langen Reden, sondern setzten ihm alles in Kürze Auseinander: "Im Himmel", so sagen sie, "ist Gott, und er hat die Macht, uns zu befreien. Wozu zeigst du uns die Scharen des Volkes, wozu den Feuerofen, die geschliffenen Schwerter, die schrecklichen Speerträger? Unser Herr steht hoch über all dem, an Größe und Macht." Wie sie aber bedachten, es könnte Gott so gefallen, oder er könnte zulassen, dass sie verbrannt würden, da wollten sie in diesem Falle nicht als Lügner dastehen und sagten darum: "Wenn er uns aber auch nicht befreit, so wisse, wir werden deine Götter doch nicht anbeten."



11.

Hätten sie gesagt, Gott will uns wegen unserer Sünden nicht befreien, und wären dann wirklich nicht gerettet worden, so hätte man ihnen keinen Glauben geschenkt. Deshalb reden sie hier nicht davon; dafür tun sie es dann im Feuerofen selbst, wo sie ununterbrochen ihrer Sünden gedenken. Vor dem König tun sie nichts dergleichen, sondern versichern nur, sie werden ihre Religion auch dann nicht verraten, wenn das Feuer sie verzehren sollte. Denn nicht um Lohn und Entgelt haben sie so gehandelt, sondern allein aus Liebe, obgleich sie ja Kriegsgefangene und Sklaven waren und keinerlei Annehmlichkeiten sich erfreuten. Vaterland, Freiheit und Eigentum hatten sie alles verloren. Da komme mir nicht mit den Ehren, die sie am Hofe genossen. Als heilige und gerechte Männer hätten sie tausendmal lieber zu Hause als Bettler gelebt und sich an der Herrlichkeit des Tempels erfreut. "Lieber möchte ich der letzte sein im Hause meines Gottes, als mit Sündern unter einem Dache wohnen", und: "Besser ist ein Tag in Deinen Zelten, als tausend andere" (Ps 83,11). Tausendmal lieber wäre es ihnen also gewesen, zu Hause verachtet, als wie in Babylon König zu sein. Das beweisen auch ihre Reden im Feuerofen, dass ihnen nämlich der Aufenthalt in Babylon gar schwer fiel. Denn wenn ihnen auch viele Ehrenbezeugungen zuteil wurden, so schmerzte sie doch der Anblick des Unglückes ihrer Brüder gewaltig. So ist es gewöhnlich bei den Heiligen. Nicht Ruhm, nicht Ehre, gar nichts ziehen sie dem Wohle ihrer Brüder vor. Siehe also nur, wie sie mitten im Feuerofen für das ganze Volk flehen. Und wir? Wir denken nicht einmal in Zeiten der Ruhe und des Friedens an unsere Brüder. Und da sie Traumgesichte erforschten, hatten sie nicht ihr eigenes Wohl im Auge, sondern das der Gesamtheit; denn dass sie selbst des Todes nicht achteten, haben sie nachher auf vielfache Weise gezeigt. Überall bieten sie sich selbst als Opfer an, um Gott zur Milde zu stimmen, Dann, als sie sich allein nicht für genügend halten, nehmen sie ihre Zuflucht zu ihren Vätern; von sich selbst aber sagen sie, dass sie nichts anderes mitbringen, als einen zerknirschten Geist (vgl. Da 3,211). 

   Diese[88] wollen also auch wir nachahmen. Auch vor uns steht ja ein goldenes Götzenbild, der verführerische Mammon. Horchen wir aber nicht auf die Pauken, nicht auf die Flöten und die Zimbeln, noch auf anderen eitlen Schein des Reichtums. Nein, lieber wollen wir in den Feuerofen der Armut geworfen werden, als vor jenem unsere Knie beugen; dann wird auch uns in diesem Feuerofen kühlender Tauwind umwehen. Bangen wir also nicht, wenn wir vom Feuerofen der Armut hören. Auch damals gingen ja diejenigen, die in den Feuerbrand geschleudert wurden, viel herrlicher daraus hervor, während die anderen, die vor dem Bild niederfielen, zugrunde gingen. Allerdings geschah damals beides zugleich. Bei uns aber geschieht der eine Teil in dieser Welt, der andere in jener, zuweilen aber auch schon hienieden und in der anderen Welt. Diejenigen nämlich, die lieber die Armut erwählt haben, als vor dem Mammon niederzufallen, werden hienieden und drüben mehr Ehre finden; wer aber hier ungerechten Reichtum angesammelt, wird dort die allerschwerste Strafe finden. Aus diesem Feuerofen ging auch Lazarus hervor, der nicht weniger glorreich ist als jene drei Jünglinge. Der Reiche hingegen, der die Rolle der Bildanbeter vertrat, ward zur Hölle verdammt. Jenes war nämlich ein Gleichnis für dieses. Wie dort denen, die im Feuerofen waren, kein Leid geschah, während die Außenstehenden in der schrecklichsten Weise umkamen, so wird es auch da sein. Die Heiligen, die durch den Feuerofen gehen, bleiben unversehrt, ja ernten Ruhm; die aber das Bild anbeten, werden es erleben müssen, wie das Feuer, wilder als ein wildes Tier, sie anfällt und hineinzieht. Wer aber nicht an die Hölle glaubt, der schaue auf diesen Feuerbrand, und lasse sich durch das, was er sieht, von jenem, was erst bevorsteht, überzeugen, und sei nicht in Furcht vor dem Glühofen der Armut, sondern dem der Sünde. Denn dieser ist in der Tat Feuer und Schmerz. jener nur kühlender Tau und Linderung; bei jenem Ofen steht der Teufel daneben, bei diesem verwehen die Engel die Flammen.



12.

Das mögen sich die Reichen gesagt sein lassen, die den Feuerofen der Armut anzünden. Den Armen werden sie gar nicht schaden; sie finden den erquickenden Tau; nur sich selbst überantworten sie als leichte Beute dem Feuer, das sie mit eigenen Händen angezündet. Damals stieg ein Engel herab zu den Jünglingen; so wollen auch wir jetzt herabsteigen zu denen, die im Feuerofen der Armut sitzen; verschaffen wir ihnen durch Almosen Linderung und verscheuchen wir die Flammen, damit auch wir an ihrem Lohne Teil erhalten, damit auch das Feuer der Hölle durch die Stimme Christi vor uns verschlossen werde, wenn er spricht: "Ihr habt mich hungern sehen, und ihr habt mich genährt" (Mt 25,35). Diese Stimme wird dann für uns gleich kühlem Winde sein, der mitten im Feuerbrande weht.[89] Steigen wir darum durch unsere Almosen hinab in den Glutofen der Armut; schauen wir hin auf die, so in Gottesfurcht darin wandelnd und die glühende Kohlen zu ertragen haben; blicken wir hin auf dieses neue, wunderbare Schauspiel, das uns einen Menschen zeigt, der im Glühofen Loblieder singt, mitten im Feuer Gott Dank sagt, der von äußerster Armut bedrängt, dennoch Christus lobt und preist. Ja, diejenigen, die ihre Armut mit Dank gegen Gott ertragen, stehen auf gleicher Stufe wie jene drei Jünglinge. Denn die Armut ist noch einschneidender als Feuer, und pflegt noch mehr zu brennen. Jene Jünglinge aber brannte das Feuer nicht; im Gegenteil, da sie Gott noch Danklieder sangen, lösten sich alsbald auch ihre Fesseln. So geht es auch jetzt. Wenn du in Armut gerätst, und Gott dafür dankst, so lösen sich nicht nur deine Bande[90] , das Feuer selbst wird ausgelöscht; ja, selbst wenn es nicht ausgelöscht wird, o verwandelt sich das Feuer in eine sprudelnde Quelle, und das ist noch wunderbarer. Das geschah auch damals; mitten im Feuerofen erfreuten sie sich des reinsten Taues. Das Feuer löschte er nicht aus, aber er ließ auch diejenigen nicht verbrennen, die man hineingeworfen hatte. Dasselbe kann man auch bei denen beobachten, die nach Gottes Geboten wandeln; denn bei ihrer Armut fürchten sie sich viel weniger als die Reichen. 

   Suchen wir daher unseren Platz nicht außerhalb des Feuerofens, indem wir kein Erbarmen haben mit den Armen; sonst wird es uns ergehen wie jenen. Wenn du also zu ihnen hinabsteigst, dich gleichsam zu den Jünglingen gesellst, dann kann dir das Feuer nichts weiter mehr anhaben. Bleibst du dagegen oben, und schaust von da auf die, die im Feuer der Armut liegen, dann wird gerade dich das Feuer verzehren. Steige also hinab in das Feuer, damit das Feuer dich nicht verbrenne; sitze nicht außerhalb desselben, damit es dich nicht erfasse. Denn wenn es dich bei den Armen sieht, wird es dich verschonen, wenn aber fern von ihnen, wird es sich alsbald auf dich stürzen und dich verzehren. Halte dich also nicht fern, während jene hineingeworfen werden. Wenn der Teufel befiehlt, man solle diejenigen, die vor dem Golde ihr Knie nicht beugen, in den Brandofen der Armut werfen, dann geselle dich nicht zu den Henkern, sondern zu den Opfern, damit du zu denen gehörst, die gerettet, nicht zu denen, die verbrannt werden. Es ist ein unendlicher Trost, nicht von der Begierde, noch vom Reichtum beherrscht zu sein, sondern mit den Armen zu verkehren. Die sind die reichsten von allen, die das Verlangen nach Reichtum mit Füßen treten. So glänzten auch diejenigen, die damals dem Könige nicht willfahrten, herrlicher als der König. Auch du, wenn du nicht auf die Reichtümer dieser Welt achtest, wirst einmal mehr geehrt sein als die ganze Welt, gleich jenen Heiligen, "deren die Welt nicht würdig war" (He 11,38). Damit du also des Himmlischen wert werdest, verachte das Irdische. Auf diese Weise wirst du hienieden schon mehr Ruhm erlangen und auch der zukünftigen Güter teilhaft werden, durch die Gnade und Huld unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Herrschaft gebührt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 4