Kommentar zum Evangelium Mt 16

Sechzehnte Homilie. Kap V. V.17-26.

16 Mt 5,17-26
1.

V. 17: Glaubet nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben." 

   Wer hat sich denn so etwas eingebildet oder wer hat einen diesbezüglichen Einwand gemacht, dass der Herr sich dagegen wendet? Aus dem, was er bisher gesagt hatte, konnte doch unmöglich ein solcher Gedanke sich nahelegen; denn wenn er uns befahl, sanftmütig zu sein, friedfertig und barmherzig, ein reines Herz zu besitzen und für die Gerechtigkeit zu streiten, so weist dies alles in keiner Weise auf eine derartige Absicht hin, sondern auf das gerade Gegenteil. Warum hat er also denn so geredet? Nicht ohne guten Grund. Er stand eben im Begriffe, ein höheres Gesetz zu geben, als es die alten Vorschriften waren. Er sagte: "Ihr habt gehört, dass euren Vorfahren gesagt wurde: Du sollst nicht töten; ich aber sage euch: Ihr sollt auch nicht einmal zürnen" (Mt 5,21-22); damit wollte er einer göttlichen, himmlischen Lebensnorm den Weg bahnen. Damit aber das Neue an der Sache in den Seelen seiner Zuhörer keine Verwirrung hervorrufe und sie zu zweifeln über seine Worte veranlasse, so kommt er ihnen gleich durch seine Richtigstellung zuvor. Denn wenn auch die Juden das Gesetz nicht beobachteten, so hielten sie dennoch große Stücke darauf, und während sie es in der Praxis jeden Tag übertraten., so wollten sie gleichwohl am Buchstaben des Gesetzes nicht rütteln und keinen einzigen hinzufügen; oder vielmehr sie ließen ihre Hohepriester etwas hinzufügen, aber nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren. So haben sie z.B. die den Eltern schuldige Ehre durch ihre eigenen Zusätze zunichte gemacht; auch eine Reihe anderer Gebote haben sie durch solche unangebrachte Zutaten aufgehoben. 

   Christus hingegen war nicht Mitglied der Priesterkaste, und was er einführen wollte, war allerdings ein Zusatz, aber ein solcher, der die Tugend nicht einschränkte, sondern ausdehnte. Da er aber voraus wußte, dass beides sie in Verwirrung bringen werde, so widerlegte er ihre geheimen Gedanken, noch bevor seine wunderbaren Vorschriften niedergeschrieben wurden. Was war es also, das sich in ihre Gedanken eingeschlichen und sie gegen den Herrn einnahmen? Sie glaubten, er wolle mit solchen Reden die Gesetzesvorschriften des Alten Bundes aufheben. Diesem Argwohn also begegnete der Herr und zwar nicht bloß hier, sondern auch ein zweites Mal an anderer Stelle. Da sie ihn nämlich deshalb für einen gottlosen Menschen hielten, weil er den Sabbat nicht halte, so heilte er sie von solchem Argwohn und verteidigte sich auch dagegen; das eine Mal, so wie es seiner Würde entsprach, wie z.B. wenn er sagte: "Mein Vater wirkt und auch ich wirke" (Jn 5,17); ein andermal in ganz schlichten, einfachen Worten, z.B. da, wo er von dem Schafe spricht, das sich am Sabbat verirrt hatte, und wo er zeigte dass zu dessen Rettung das Gesetz übertreten wurde, ja die Juden daran erinnert, dass das gleiche auch durch die Vornahme einer Beschneidung geschehe (Mt 12,11-12). Deshalb spricht er auch oft so demütig um den Schein zu vermeiden, als sei er ein Widersacher Gottes. Deshalb betete er auch, bevor er den Lazarus aus dem Grabe rief (Jn 11,41),obwohl er früher unzählige Tote mit einem einzigen Worte auferweckt hatte. Damit er aber deswegen nicht geringer erscheine als sein Vater, so wollte er alsbald einen solchen Argwohn richtig stellen und fügte hinzu: "So habe ich gesprochen wegen des umstehenden Volkes, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast (Jn 11,42). Er gibt sich weder den Anschein, als ob er alles aus eigener Kraft wirke, weil er ihrem schwachen Glauben zu Hilfe kommen wollte, noch schickte er jedesmal ein Gebet voraus, damit er den späteren Generationen keine Handhabe zu falschem Argwohn biete, als besäße er selber keine Kraft und Macht; vielmehr wechselte er mit beiden ab. Aber auch das tut er nicht ohne Grund, sondern mit Absicht und mit der ihm eigenen Weisheit. Die größeren wirkt er nämlich aus eigener Macht; bei den kleineren blickt er vorher zum Himmel empor. Wenn er Sünden nachläßt und Verborgenes offenbart, wenn er das Paradies öffnet und die Dämonen vertreibt, Aussätzige reinigt, dem Tode Zügel anlegt und zahllose Tote auferweckt, da wirkt er alles durch einen Befehl. Als er aber, was viel weniger ist als dies, aus wenigen Broten viele machte, da schaute er zum Himmel empor und zeigte damit, dass er dies nicht aus Ohnmacht tue. Wer nämlich das Größere aus eigener Kraft vermag, wie hätte der bei geringeren Dingen das Gebet nötig? Indes, wie ich schon gesagt habe, er tut dies, um dem bösen Willen der Juden entgegenzutreten. Das gleiche setze also auch bei seinen Worten voraus, wenn du ihn demütig und unterwürfig reden hörst. Denn auch für solche Reden und Handlungen hatte er gar mancherlei Beweggründe; wie z.B. damit niemand glaube, er stehe Gott ferne, damit er alle belehren[203] und auf die rechte Bahn führen könnte, um ihnen das Beispiel der Demut zu geben, um ihnen zu zeigen, dass er Fleisch angenommen, dass die Juden nicht alles auf einmal zu erfahren imstande seien, um sie zu belehren, niemals groß von sich selber zu reden. Deshalb hat er so oft demütig von sich selbst geredet und überließ es den anderen, seine Großtaten zu predigen.



2.

Der Herr selbst sagt ja im Gespräch mit den Juden: "Bevor Abraham ward, bin ich" (Jn 8,58). Sein Jünger hingegen schrieb anders: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort" (Jn 1,1). Dass er sodann den Himmel, die Erde und das Meer geschaffen, sowie alles Sichtbare und Unsichtbare, das hat er selber nirgends ausdrücklich gesagt. Der Jünger dagegen hat sich mit großer Deutlichkeit ausgesprochen, hat nichts verschwiegen, hat ein, zwei, ja oftmal eben dies betont und geschrieben: "Alles ist durch ihn geworden und ohne ihn ward auch nicht ein Ding" (Jn 1,3).Desgleichen: "Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden" (Jn 1,4). Was wunderst du dich übrigens, wenn andere größere Dinge von ihm aussagten als er selbst, da er ja so vieles durch Taten erwiesen, was er in seiner Absicht nicht mit Worten ausgesprochen hat? Dass er selbst die Menschen erschaffen, hat er ganz klar auch an dem Blinden gezeigt. Als er dagegen über den Ursprung der Menschen sprach, sagte er nicht: Ich habe sie geschaffen, sondern "der sie geschaffen schuf sie als Mann und Weib" (Mt 19,4 Gn 1,27). Dass er sodann die Welt erschaffen und was in ihr ist, hat er durch die Fische erwiesen, den Wein, die Brote, die Windstille auf dem Meere, die Sonne, die er am Kreuze sich verfinstern ließ, und durch anderes mehr. Mit Worten hat er dies aber nirgends deutlich gesagt; dagegen betonen es die Jünger unablässig, Johannes sowohl wie Paulus und Petrus. Wenn also sie, die Tag und Nacht seine Gespräche hörten und Zeugen seiner Wundertaten waren, denen der Herr vieles besonders offenbarte und so große Macht verlieh, dass sie sogar Tote auferweckten, die er auf solche Tugendhöhe gebracht hatte, dass sie um seinetwillen alles verließen, wenn sie, sage ich, trotz so großer Tugend und Weisheit nicht imstande waren, vor der Herabkunft des Hl. Geistes alles zu fassen, wie hätte das jüdische Volk, ohne Einsicht, so großer Tugend bar, nur zufällig bisweilen Zeuge seiner Taten und Reden, wie hätte ihn dieses Volk nicht für verschieden halten sollen von dem Gotte des Weltalls, wenn der Herr nicht in allem soviel Rücksicht auf dasselbe genommen hätte? Aus diesem Grunde also hat er, auch als er den Sabbat aufheben wollte, nicht vorher ein entsprechendes Gesetz eingeführt, sondern brachte verschiedenartige und zahlreiche Entschuldigungsgründe vor. Wenn er aber schon da, wo er nur ein Gebet aufheben wollte, solche Vorsicht in seinen Reden zeigt, um ja seine Zuhörer nicht zu verletzen. so mußte er um so mehr dann, als er dem gesamten Gesetz eine vollständig neue Gesetzgebung gegenüberstellen wollte[204] , große Vorsicht und Schonung gebrauchen, um seine damaligen Zuhörer nicht in Verwirrung zu bringen. 

   Das ist also der Grund, weshalb er auch über seine Gottheit sich nicht überall deutlich zu äußern scheint. Wenn schon die Moralvorschriften, die er hinzufügte, die Juden so verwirrten, so wäre dies eben noch viel mehr geschehen, wenn er sich selbst als Gott bekannt hätte. Deshalb sagt er vieles, was seine eigene Würde nicht erkennen ließ In unserem Falle wollte er also zur Verkündigung seines neuen Gesetzes schreiten; deshalb geht er mit großer Umsicht zu Werke. So hat er nicht bloß einmal betont, dass er das Gesetz nicht aufhebe, sondern hat dasselbe auch ein zweites Mal wiederholt, und noch etwas hinzugefügt, was viel mehr war; zu den Worten: "Glaubet nicht, dass ich gekommen bin,[205] aufzuheben" setzt er hinzu: "Ich bin nicht gekommen, es aufzuheben, sondern es zu erfüllen." Damit bringt er nicht nur die widerspenstigen Juden zum Schweigen, sondern stopft auch den Häretikern den Mund, die da behaupten, das Alte Testament stamme vom Teufel her[206] . Wenn nämlich Christus gekommen war, um die Tyrannei des Teufels zu brechen, wie konnte er dann das Alte Testament nicht bloß nicht aufheben, sondern sogar erfüllen? Er sagte ja nicht bloß: Ich hebe es nicht auf, obwohl dies genügt hätte, sondern: Ich erfülle es sogar. So konnte keiner reden, der es verwarf, sondern nur einer, der es sogar durchaus billigte. Indes, fragst du, wie sollte er es nicht aufgehoben haben, und wie sollte er es sogar erfüllt haben, sei es das Gesetz oder die Propheten? Die Propheten hat er erfüllt, indem er alles, was sie über ihn gesagt hatten, durch seine Taten bestätigte. Deshalb sagte der Evangelist auch jedesmal: "Damit erfüllt würde das Wort des Propheten" (Mt 5,17 Jn 19,28). So z.B., als der Herr geboren ward, als die Kinder ihren herrlichen Lobhymnus auf ihn sangen, da er auf der Eselin ritt und bei vielen anderen Gelegenheiten hat er gerade das entsprechende Prophetenwort erfüllt. Das alles wäre aber unerfüllt geblieben, wenn er nicht erschienen wäre. 

   Das Gesetz hat sodann der Herr nicht nur auf eine, sondern auf zweiund dreifache Weise erfüllt. Einmal dadurch, dass er keinen einzigen Punkt des Gesetzes übertrat. Dass er es nämlich in allem erfüllt, kannst du aus den Worten entnehmen, die er zu Johannes sprach: "So geziemt es uns, jegliche Gerechtigkeit zu erfüllen" (Mt 3,15). Und zu den Juden sagte er: "Wer von euch kann mir eine Sünde vorwerfen?" (Jn 8,46). Ebenso zu den Jüngern: "Es kommt der Fürst dieser Welt, aber in mir findet er nichts" (Jn 14,30). Auch der Prophet hat längst vorhergesagt, er habe keine Sünde begangen. Das war also die erste Art, wie der Herr das Gesetz erfüllte. Die zweite aber ist die, dass er es auch durch uns erfüllen läßt. Das ist ja das Wunderbare an der Sache, dass er nicht nur selbst das Gesetz erfüllt, sondern es auch für uns erfüllte. Das offenbart uns auch der hl. Paulus mit den Worten: "Der Zweck des Gesetzes ist Christus, zur Rechtfertigung für jeden, der an ihn glaubt" (Rm 10,4). Und von der Sünde sagt er, der Herr "habe sie im Fleische gerichtet, damit die Rechtfertigung durch das Gesetz[207] in uns erfüllt würde, wenn wir nicht nach dem Fleische leben" (Rm 8,4); und ein anderes Mal sagt er: "Heben wir also das Gesetz durch den Glauben auf? Durchaus nicht! Im Gegenteil, wir bestätigen das Gesetz" (Rm 3,31). Der Zweck des Gesetzes war nämlich, den Menschen gerecht zu machen. Doch fehlte es ihm an der Kraft dazu. Da kam Christus selbst, führte die neue Art der Rechtfertigung durch den Glauben ein, und erfüllte so den Zweck des Gesetzes. Was dieses durch die bloße Vorschrift nicht vermochte, das hat er durch den Glauben bewirkt. Darum sagt er: "Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben."



3.

Wer aber genau zusehen will, wird noch eine dritte Art finden, wie er das Gesetz erfüllte. Und welches wäre diese? Die Art und Weise, wie er sein neues Gesetz gab, das er eben zu verkünden im Begriffe stand. Durch seine Worte hat er nämlich das Frühere nicht aufgehoben, sondern nur bestätigt und erfüllt. Das Verbot, eine Feindschaft zu haben, hebt ja das Verbot, einen Mord zu begehen, nicht auf, sondern erfüllt es nur und bekräftigt es noch weit mehr. Ebenso verhält es sich mit allem anderen. Während also der Herr die erste Grundlage hierzu hatte legen können, ohne Verdacht zu erregen, gebraucht er solche Vorsichtsmaßregeln, sobald er anfing, durch die Nebeneinanderstellung des alten und des neuen Gesetzes in den ausgesprochenen Verdacht der Gegnerschaft zu jenem zu kommen. In verborgener Weise hatte er ja in seinen Reden das gleiche schon früher festgelegt. Denn das: "Selig sind die Sanftmütigen" ist doch dasselbe wie:"Du sollst nicht zürnen"; das "Selig sind diejenigen, die ein reines Herz haben" ist gleichbedeutend wie: "Du sollst keine begehrlichen Blicke werfen nach einem Weibe"; keine irdischen Schätze anhäufen stimmt zu dem: "Selig sind die Barmherzigen"; trauern, verfolgt und geschmäht werden ist dasselbe wie "durch das enge Tor eintreten"; Hunger und Durst leiden nach Gerechtigkeit nichts anderes, als was er nachher sagte: "Was immer ihr wollet, dass euch die Menschen tun, das tuet auch ihr ihnen" (Mt 7,12). Auch da er den Friedfertigen preist, sagt er wieder so ziemlich dasselbe, wie da er befiehlt, die Opfergabe stehen zu lassen, sich schleunigst mit dem Beleidigten auszusöhnen und dem Gegner wohlwollend gesinnt zu sein. Nur hat er dort den Lohn festgesetzt für die Folgsamen, hier die Strafe für die Zuwiderhandelnden. Darum sagte er auch dort, die Sanftmütigen würden die Erde besitzen; hier dagegen: Wer seinen Bruder einen Toren schilt, wird des höllischen Feuers schuldig sein. Dort sagt er: Die Herzensreinen werden Gott anschauen, hier: Wer unkeusch ist im Blicke wird dem Ehebrecher gleich gerechnet. Dort nannte er die Friedfertigen: Kinder Gottes, hier flößt er auf andere Art Furcht ein mit den Worten: "Auf dass euer Widersacher euch nicht dem Richter überantworte". Ebenso hat er auch im vorhergehenden die Bußfertigen und die Verfolgten gelobt; im nachfolgenden hat er ganz dasselbe im Auge, droht aber denen, die nicht diesen Weg wandeln, den Untergang: wer auf dem breiten Wege wandelt, wird darauf zugrunde gehen. 

   Aber auch die Worte: "Ihr könnt nicht Gott und zugleich dem Mammon dienen"  (Mt 6,24) scheinen mir gleichbedeutend zu sein mit dem: "Selig sind die Barmherzigen" und "die hungern nach Gerechtigkeit". Wie ich aber schon gesagt habe, zuerst bestätigt er den scheinbaren Widerspruch, sobald er beginnt, die gleiche Sache deutlicher zu sagen, und nicht bloß deutlicher zu sagen, sondern auch noch ziemlich vieles zu dem Gesagten hinzuzufügen. Er will ja, dass man nicht bloß barmherzig sei, sondern er heißt uns sogar den Mantel hergeben. Und nicht bloß sanftmütig sollen wir sein, sondern dem, der uns schlagen will, auch noch die andere Wange hinreichen. Das ist also, wie gesagt, der Grund, weshalb er dies nicht bloß einmal, sondern zweimal sagt. Zu den Worten: "Glaubet nicht, dass ich gekommen bin,[208] aufzuheben" fügt er nämlich hinzu:"Ich bin nicht gekommen, es aufzuheben, sondern es zu erfüllen."

   V.18: "Denn wahrlich sage ich euch: Wenn auch Himmel und Erde vergehen, von dem Gesetz wird nicht ein Jota und kein Strich vergehen, bis alles erfüllt ist." 

   Die Worte des Herrn haben diesen Sinn: Es ist unmöglich, dass das Gesetz unerfüllt bleibe; im Gegenteil, selbst die geringste Vorschrift muß ausgeführt werden. Er selbst hat es so gemacht und das Gesetz mit größter Genauigkeit beobachtet. Hier deutet er uns aber an, dass auch die ganze Welt umgebildet werden solle. Und das bemerkte er nicht bloß so nebenbei, sondern in der Absicht, seine Zuhörer aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass er mit Recht eine neue Lebensordnung einführe, da ja doch die ganze Schöpfung umgeändert, und das gesamte Menschengeschlecht in eine neue Heimat berufen und zu einem höheren Leben vorbereitet werden sollte.

   V.19: "Wenn also irgend jemand auch nur eine der geringsten dieser Vorschriften aufhebt, und so die Menschen lehrt, so wird er der letzte genannt werden im Himmelreich." 

   Nachdem sich also der Herr von dem bösen Verdachte gereinigt und diejenigen zum Schweigen gebracht, die ihm widersprechen wollten, da erst fängt er an, ihnen Furcht zu machen, und bringt eine gar gewaltige Drohung vor betreffs seiner zukünftigen Gesetzgebung. Dass nämlich seine Worte nicht vom Alten Testament zu verstehen sind, sondern von den Satzungen, die er selber geben wollte, ergibt sich aus dem Folgenden:

   V.20: "Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen." 

   Hätte also die Drohung des Herrn dem alttestamentlichen Gesetze gegolten, wie konnte er da sagen:"Wenn sie nicht größer ist"? Wer nämlich das gleiche tat wie jene, der konnte eben überhaupt nicht über die Gerechtigkeit des Gesetzes hinauskommen. Worin bestand aber dann dieses "größer sein"? Darin, dass man niemanden zürne, dass man keine Frau mit unzüchtigem Blicke ansieht.



4.

Weshalb hat aber der Herr diese Vorschriften als die geringsten bezeichnet, obwohl sie so groß und erhaben sind? Weil er selbst diese Gesetze einführen wollte. Weil er nämlich sich selbst erniedrigte und gar oft bescheiden von sich redete, so machte er es auch mit seiner Gesetzgebung; er gab uns damit die Lehre, auch für uns selbst in gleicher Weise überall maßvoll und bescheiden zu sein. Übrigens redet er auch deshalb so bescheiden, weil er noch im Verdachte eines Neuerers zu stehen schien. Unter den Worten: Der Geringste im Himmelreich" darfst du sodann nichts anderes verstehen, als Hölle und Verdammnis. Mit "Himmelreich" will er nämlich nicht bloß das Weltende bezeichnen, sondern auch den Tag der Auferstehung und seine furchtbare Wiederkunft. Wie wäre es denn sonst gerecht, dass derjenige, der seinen Bruder einen Narren schilt und nur ein einziges Gebot übertritt, in die Hölle kommt, während ein anderer, der sich um gar kein Gebot kümmert und auch andere dazu verleitet, in den Himmel gelangte? Das ist also nicht der Sinn jener Worte, sondern der Herr will sagen, ein solcher werde an jenem Tage[209] der letzte sein, verworfen und verstoßen. Wer aber an diesem Tage der letzte ist, wird sicher in die Hölle stürzen. 

   Da Christus Gott war, so wußte er eben zum voraus, dass viele Menschen lau und gleichgültig sein würden und dass gar manche seine Worte für eine bloße Übertreibung ansehen, a n seinen Gesetzen herumdeuteln und sagen werden: Also soll einer schon gestraft werden, wenn er jemand einen Toren schilt? und man soll schon ein Ehebrecher sein, wenn man jemand einen bloßen Block zuwirft? Um also dieser Gleichgültigkeit entgegenzutreten, drohte er beiden mit den schwersten Strafen, sowohl denen, die das Gesetz übertreten, wie denen, die andere dazu verleiten. Da wir also jetzt seine Strafandrohungen kennen, wollen wir seine Vorschriften weder selbst übertreten, noch jene, die sie beobachten wollen, davon abhalten."Wer sie dagegen hält und lehrt, wird groß genannt werden." Wir müssen nämlich nicht bloß auf unseren eigenen Nutzen bedacht sein, sondern auch auf den der anderen. Auch der Lohn wird ja nicht der gleiche sein für den, der nur sich selber auf dem rechten Wege hält, wie für den, der mit sich auch noch einen anderen dahin führt. Wie das bloße Lehren ohne das Vollbringen das Gericht bringt über den Lehrer (du lehrst einen anderen", sagt der hl. Paulus,"und dich selber lehrst du nicht?" Rm 2,21), so mindert es auch den Lohn, wenn man zwar selber das Gesetz beobachtet, dagegen andere nicht dazu anleitet. Es muß also beides voll und ganz getan werden; man muß zuerst sich selbst vervollkommnen, und dann auch anderen seine Fürsorge zuwenden. Darum hat der Herr auch selbst das Gesetz zuerst beobachtet und dann erst andere gelehrt, und hat damit gezeigt, dass man nur auf diese Weise erfolgreich lehren kann, anders aber nicht. Man würde ja sonst einem solchen nur antworten: "Arzt, heile dich selbst" (Lc 4,23). Wer nämlich sich selbst nicht belehren kann und dabei andere zu bessern sich unterfängt, wird viele Spötter finden; oder vielmehr, ein solcher wird überhaupt nicht imstande sein, andere zu belehren, da seine eigenen Taten gegen ihn sprechen. Ist er aber nach beiden Seiten hin tadellos, so wird er im Himmelreich groß genannt werden.

   V.20: "Denn ich sage euch, wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen." 

   Hier versteht der Herr unter Gerechtigkeit die Gesamtheit aller Tugenden, wie er auch von Job gesagt hatte: "Und er war ein Mann, tadellos und gerecht" (Jb 1,1). Im gleichen Sinne nennt auch Paulus denjenigen gerecht, von dem er sagte, es gelte für ihn nicht einmal das Gesetz: "Für den Gerechten", schreibt er, "ist das Gesetz nicht gegeben" (1Tm 1,9). Auch an vielen anderen Stellen kann man diesen Ausdruck zur Bezeichnung der Gesamtheit aller Tugenden angewendet finden. Du aber beachte, um wieviel stärker die Gnade[210] ist, da der Herr will, dass schon seine ungebildeten Schüler besser seien, als selbst die Lehrmeister im Alten Testament. Er meinte nämlich hier mit den Schriftgelehrten und Pharisäern nicht einfachhin die Gesetzesübertreter, sondern die Rechtschaffenen; wenn sie nämlich das nicht wären, so hätte er auch nicht gesagt, sie besäßen Gerechtigkeit, und hätte nicht eine Tugend, die nicht vorhanden ist, einer wirklich vorhandenen an die Seite gestellt. Außerdem beachte auch, wie ehrenvoll er hier das Alte Testament behandelt, indem er einen Vergleich anstellt zwischen ihm und dem Neuen. Das beweist, dass beide verwandt und verschwistert sind; denn die Dinge, die sich nur durch ein Mehr und ein Weniger unterscheiden, gehören doch zur selben Familie.

  Der Herr will also die Bedeutung des Alten Testamentes nicht vermindern, sondern erhöhen. Wäre dasselbe vom Bösen gewesen, so hätte der Herr nicht einen höheren Grad von Güte angestrebt, hätte es nicht verbessert, sondern verworfen. Wenn dies aber so ist, fragst du, wie kommt es dann, dass es nicht zum Himmelreich führt? Nur diejenigen führt es nicht dahin, die nach der Ankunft Christi leben, da eben sie größere Gnade empfangen haben und zu größeren Kämpfen berufen sind. Seine früheren Anhänger dagegen führt es alle dahin. Es werden ja "viele von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang kommen und werden ruhen in Schoße Abrahams, Isaaks und Jakobs" (Mt 8,11). Auch Lazarus, der so hohe Siegespreise empfing, sehen wir in deren Schoß ruhen (Lc 16). Ebenso sind alle, die sich im Alten Testamente besonders auszeichneten, gerade durch dasselbe berühmt geworden. So hätte denn auch Christus dasselbe bei seiner Ankunft nicht voll und ganz erfüllt, wenn es schlecht und fremden Ursprungs gewesen wäre. Denn hätte er dies nur deshalb getan, um die Juden an sich zu ziehen, und nicht um dessen Verwandtschaft und Übereinstimmung mit dem Neuen Testament zu zeigen, so frage ich: weshalb hat er dann nicht auch die Satzungen und Gebräuche der Heiden beobachtet, um auch diese anzulocken



5.

Aus all dem geht also klar hervor, dass das Alte Testament nicht deshalb nicht zum Himmel führt, weil es etwa schlecht wäre, sondern weil die Zeit für ein höheres Gesetz gekommen war. Wenn aber dann das Alte Testament nicht soviel[211] Kraft verleihen kann wie das Neue, so ist auch das noch kein Beweis, dass es schlecht ist; sonst müßte man ja auch vom Neuen dasselbe sagen. Denn die Erkenntnis, die dieses Vermittelt, ist im Vergleich zu der, die unser im Himmel erwartet, nur gering und unvollkommen, und muß weichen, wenn jene eintritt. "Denn", sagt der hl. Paulus," wenn die Vollendung kommt, dann muß alles Stückwerk verschwinden" (1Co 13,10). So ging es dem Alten Testament, als das Neue kam. Dadurch setzen wir aber seinen Wert durchaus nicht herab, denn auch der Neue Bund hört auf, wenn wir einmal im Himmel sind. "Denn dann", heißt es, "wird alles Stückwerk verschwinden." Aber gleichwohl sagen wir, dass es etwas Großes ist. 

   Weil also der Lohn größer ist und reicher auch die Gnade des Hl. Geistes, so verlangt es mit Recht auch unsererseits größerer Anstrengung. Uns ist ja nicht ein Land verheißen, das von Milch und Honig fließt, kein langes Alter und reicher Kindersegen, nicht Brot und Wein, Schafund Rinderhürden; nein, unser harrt der Himmel und sein Glück, wir werden Kinder Gottes sein und Brüder seines Eingeborenen, gemeinsam unser Erbe besitzen, mit ihm Ruhm und Herrschaft teilen und tausend andere Gaben empfangen. Dass wir aber auch größere Gnadenhilfe erlangt haben, kannst du vom hl. Paulus vernehmen, der da sagt: "Keine Verdammung also gibt es jetzt für diejenigen, die in Jesus Christus sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geiste. Denn das Gesetz des leben spendenden Geistes hat mich befreit von dem Gesetz der Sünde und des Todes" (Rm 8,12). So hat also der Herr den Gesetzesverächtern gedroht, denen aber, die auf dem rechten Wege wandeln, großen Lohn verheißen und hat gezeigt, dass er an uns mir Recht einen strengeren Maßstab anlegt als dies früher geschehen. Darauf beginnt er denn, sein eigenes Gesetz zu verkünden, nicht ohne alle Vorbereitung, sondern erst, nachdem er es dem Gesetze des Alten Bundes an die Seite gestellt. Damit wollte er zwei Dinge zeigen, erstens, dass er seine Satzungen gibt, nicht im Gegensatz, sondern in vollster Übereinstimmung mit den früheren Gesetzen, zweitens, dass er sie mit Recht und ganz zur richtigen Zeit zu den anderen hinzufügt. Damit ihr dies aber noch deutlicher einsehet, wollen wir die Worte des Gesetzgebers selber hören. Was sagt er also?

   V.21: "Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten." 

   Zwar ist er es selbst gewesen, der jene Gebote gegeben; aber vorläufig spricht er in unpersönlicher Redeweise. Hätte er nämlich gesagt: Ihr habt gehört, dass ich zu den Alten gesagt habe, so hätten seine Worte keine Zustimmung gefunden, sondern bei all seinen Zuhörern Anstoß erregt; oder wenn er gesagt hätte: Ihr habt gehört, dass den Alten von meinem Vater befohlen wurde, und dann hinzugefügt hätte:; Ich aber sage euch, so wäre der Schein der Anmaßung noch größer gewesen. So sagt er einfach nur dies und bezweckte damit bloß das eine, zu zeigen, dass seine Redeweise ganz den Umständen entsprach. Durch die Worte: "dass den Alten gesagt worden ist" deutet er an, dass es schon lange her sei, dass sie dieses Gebot erhalten hatten. Das tat er aber, um diejenigen Zuhörer zu beschämen, die da zögerten, die höheren Satzungen anzunehmen; so wie etwa ein Lehrer zu einem faulen Jungen sagt: Weißt du denn nicht, wieviel Zeit du schon auf das Erlernen der Buchstaben verwendet hast? Darauf wollte auch der Herr anspielen durch die Erwähnung der Alten, um so ihre Aufmerksamkeit auf Höheres zu lenken. Er wollte gleichsam sagen: Ihr hattet Zeit genug, euch damit abzugeben; jetzt heißt es zu höheren Dingen übergehen. 

   Sehr gut war es auch, dass er die Reihenfolge der Gebote nicht durchbrochen, sondern zuerst mit dem anfing, mit dem auch das alte Gesetz begonnen hatte; auch das mußte er ja tun, wenn er die beiderseitige Übereinstimmung zeigen wollte.

   V.22: "Ich aber sage euch, wer seinem Bruder grundlos zürnt, wird des Gerichtes schuldig sein." Siehst du, wie vollkommen seine Gewalt ist? Siehst du, wie seine Haltung wirklich eines Gesetzgebers würdig ist? Welcher Prophet hat je in solchem Tone geredet? Welcher Gerechte? Welcher Patriarch? Keiner! Vielmehr hieß es nur immer: "Also spricht der Herr." Ganz anders der Sohn. Jene brachten eben die Botschaft des Herrn; er diejenige des Vaters. Wenn ich aber sage des Vaters, so sage ich damit auch seine eigene. "Denn", sagt er selbst, "das Meine ist Dein, und das Deine mein" (Jn 17,10). Sie verkündeten das Gesetz denen, die gleich ihnen Gottes Knechte waren; er befahl seinen eigenen Untertanen. Fragen wir also jene, die das Gesetz[212] verwerfen: das Gebot niemand zu zürnen, widerspricht es dem anderen, niemand zu töten; oder ist es nicht vielmehr dessen Vollendung und zugleich die Vorbereitung zu ihm? Es ist doch ganz klar, dass das eine Gebot die Ergänzung des anderen ist und eben deshalb höher steht als jenes. Wer sich nämlich vom Zorne nicht beherrschen läßt, wird um so eher von einem Morde abstehen; wer seinen Unmut zügelt, wird um so eher seine eigenen Hände bemeistern. Der Zorn ist ja die Ursache des Mordes. Wer also die Wurzel abschneidet, tötet dadurch um so sicherer auch die Zweige; oder vielmehr, er macht es überhaupt unmöglich, dass Wurzeln entstehen.



6.

Also nicht zur Abschaffung des Gesetzes, sondern zu seinem besseren Schutze hat der Herr diese Vorschrift gegeben, Denn zu welchem Zweck hat das Gesetz solches vorgeschrieben? Doch wohl, damit keiner seinem Nächsten das Leben nehme? Das Gesetz bekämpfen war also soviel als den Mord zur Pflicht machen; Denn das Gegenteil von "Nicht töten" ist eben das Töten. Wenn Christus hingegen sogar das bloße Zürnen verbietet, so hat er damit den Zweck des Gesetztes nur um so sicherer gestellt. Wer nämlich den Willen hat, bloß nicht zu töten, wird von einem Morde nicht ebenso leicht abstehen, als wer selbst seinen Zorn beherrscht; denn der steht einem solchen Verbrechen um vieles ferner. Um sie aber auch von einer anderen Seite zu fassen, wollen wir all ihre Einwände vornehmen. Was haben sie also vorzubringen? Sie sagen, der Gott, der die Welt erschaffen hat, der die Sonne aufgehen läßt über Gute und Schlechte, der den Gerechten wie den Ungerechten Regen sendet, der muß ein böses Wesen sein. Jene allerdings, die etwas maßvoller urteilen, nehmen dies nicht an; sie sagen, er sei ein gerechter Gott, wollen aber damit verneinen, dass er gut sei. Dafür geben sie Christus einen anderen Gott zum Vater, der in Wirklichkeit gar nicht existiert, und der nichts von dem gemacht haben soll, was ist. Und der Böse, sagen sie, beschränke sich auf seinen eigenen Bereich und behüte nur das Seine; der Gute aber dränge sich in fremdes Gebiet ein, und wolle ohne Grund der Erlöser von Geschöpfen werden, die er gar nicht gemacht habe. Siehst du da die Kinder des Teufels, und wie dieser ihr Vater ihnen ihre Reden eingibt, wenn sie Gott die Schöpfung absprechen, während doch Johannes sagt: "Er kam in sein Eigentum" und: "Die Welt ist durch ihn erschaffen worden"?  (Jn 1,11 u. Jn 1,10)

   Dann nehmen sie das Gesetz des Alten Bundes vor, das da befiehlt, Aug um Aug und Zahn um Zahn zu fordern, und wenden sogleich ein: Aber wie kann einer gut sein, der also spricht? Was sollen wir darauf erwidern? Dass eben hierin die Liebe Gottes zu den Menschen sich am meisten kundgibt. Gott hat ja dieses Gesetz nicht deshalb gegeben, damit wir anderen die Augen ausreißen, sondern damit die Furcht vor Wiedervergeltung uns abschrecke, anderen so etwas zu tun. Auch den Einwohnern von Ninive drohte er ja den Untergang, nicht um sie wirklich zu verderben[213] , sondern damit sie in ihrer Furcht sich besserten und so seinen Zorn besänftigten. Ebenso hat er auch eine Strafe festgesetzt für diejenigen, die sich verwegen an den Augen anderer vergreifen. Denn wenn sie schon gutwillig nicht von ihrer Roheit ablassen wollen, so soll wenigstens die Furcht sie daran hindern, die Augen des Nächsten zu schädigen. Wenn das aber eine Grausamkeit ist, so ist es auch grausam, jemand vom Morde abzuhalten und den Ehebruch zu verhindern. Doch solche Einwände machen nur Toren und Leute, die allen Verstand verloren haben. Ich hingegen nenne dies so wenig eine Grausamkeit, dass ich es vielmehr für eine Sünde gegen den gesunden Menschenverstand erkläre, das Gegenteil zu behaupten. Du sagst also, Gott sei deshalb grausam, weil er befohlen, Aug um Auge auszureißen. Ich aber sage, hätte er dies nicht getan, dann möchten ihn vielleicht die meisten für das halten, wofür du ihn ausgibst. Setzen wir doch einmal den Fall, jegliches Gesetz sei aufgehoben und keiner brauche seinetwegen mehr Furcht zu haben; vielmehr soll es den Bösen erlaubt sein, vollkommen frei und furchtlos ihren Neigungen nachzugehen, den Ehebrechern, den Mördern, den Dieben, den Meineidigen, den Vatermördern! Würde denn da nicht alles drunter und drüber gehen, würden nicht die Städte und Märkte und die Wohnhäuser, Land und Meer, ja die ganze Welt tausendfach erfüllt werden von Feindschaft und Mord? Das sieht doch jeder ein! Wenn die Böswilligen schon trotz der bestehenden Gesetze, trotz Furcht und Drohung nur mit Mühe in Schranken gehalten werden, was würde sie da noch vom Bösen abhalten, wenn auch diese Schutzwehr fiele? 

   Welche Kloake von Schmutz und Sünde würde sich da nicht über die Menschheit ergießen! Nicht bloß das ist ja eine Grausamkeit, den Bösen erlauben, zu tun, was sie wollen; eine andere nicht geringere Grausamkeit ist es, denjenigen schutzlos zu lassen, der niemand etwas zuleide getan, während ihm ohne Grund und Ursache Böses zugefügt wird. Sage mir doch, wenn jemand aus allen Himmelsgegenden verworfene Menschen zusammenriefe, sie mit Schwertern bewaffnete und ihnen Befehl gäbe, die ganze Stadt zu umzingeln, und jeden, der ihnen in den Weg kommt, niederzumachen, gäbe es da wohl etwas Unmenschlicheres als dies? Wie aber, wenn dann ein anderer diese bewaffneten Horden in Fesseln schlüge und sie ohne Erbarmen in den Kerker würfe, und diejenigen, die schon in Gefahr standen, hingeschlachtet zu werden, aus deren ruchlosen Händen befreite, gäbe es da etwas Verdienstlicheres als dies? Wende also nur dieses Beispiel auf das Gesetz des Alten Bundes an. Derjenige, der da befohlen, Aug um Auge auszureißen, hat den Bösen durch die Furcht gleichsam starke Fesseln angelegt, und ist dem ähnlich, der jene Bewaffneten eingekerkert hat. Hätte er ihnen aber keine Strafe angedroht, so hätte er nur das Verbrechen gleichsam bewaffnet, und wäre demjenigen gleich geworden, der jenen Menschen Schwerter in die Hand gab und sie gegen die ganze Stadt losließ.



7.

Siehst du also, wie dieser Befehl Gottes nicht bloß keine Grausamkeit ist, sondern im Gegenteil große Fürsorge für die Menschen bekundet? Wenn du aber deswegen den Gesetzgeber hart und unverträglich nennst, so sage mir: was ist mühevoller und schwerer, nicht zu töten oder niemand zu zürnen? Wer ist strenger? Derjenige, der nur einen Mord, oder derjenige, der sogar schon den Zorn bestraft? Derjenige, der nur den Ehebrecher nach vollbrachter Missetat der Strafe unterwirft, oder der selbst für die bloße Begierde schon Strafe anbefiehlt und zwar ewige Strafe? Seht ihr, wie ihre Einwände sich gegen sie gekehrt haben? Der Gott des Alten Bundes, den sie grausam nennen, erweist sich als milde und sanft; der des Neuen, den sie für gut erklären, ist, nach ihrer Torheit zu urteilen, hart und schwer zu ertragen. Wir sagen, der Gesetzgeber der beiden Testamente sei ein und derselbe Gott, der alles ordnet, wie es sich gebührt, und die Verschiedenheit der beiden Gesetze dem Unterschied der Zeiten angepaßt hat. Es sind darum jene Vorschriften nicht unbarmherzig und diese nicht hassenswert und unerträglich, vielmehr sind beide der Ausfluß ein und derselben Fürsorge. Dass Gott der Urheber auch des Alten Bundes ist, kannst du von den Propheten hören, oder besser gesagt, von Gott und dem Propheten: "Ich werde einen Bund mit euch schließen, aber nicht gleich dem, den ich mit euren Vätern schloß" (Jr 31,31-32). Sollte aber einer, der an der manichäischen Irrlehre krankt, dies nicht annehmen, so möge er wenigstens auf Paulus hören, der ganz dasselbe sagt: "Abraham hatte nämlich zwei Söhne, einen von der Sklavin, den anderen von der Freigeborenen. Das sind die beiden Testamente" (Ga 4,22 Ga 4,24). Wie also dort zwei verschiedene Frauen waren, aber nur ein Mann, so sind auch hier zwei Testamente, aber nur ein Urheber. Um dir sodann zu zeigen, dass beiden ein und dieselbe Güte und Milde zugrunde liegt, sagt Gott im Alten Testament: "Aug um Aug"; im Neuen aber: "Wenn einer dich auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die linke dar" (Mt 5,39). Hier wie dort will Gott den Übeltäter durch die Furcht vor Strafe zur Besinnung bringen. Aber wie, fragst du, soll dies der Fall sein, wenn er ihm befiehlt, auch die andere Wange hinzuhalten? Aber weshalb denn nicht? Der Herr hat ja dies nicht gesagt, um dem anderen die Furcht zu nehmen, sondern befiehlt nur, denselben sich ganz austoben zu lassen. Er sagt auch durchaus nicht, jener werde straflos ausgehen, sondern nur: Du sollst ihn nicht strafen. Damit jagt er dem. der auf seiner Mißhandlung beharrt, nur um so größeren Schrecken ein und tröstet zugleich den Mißhandelten. Indes habe ich das alles nur gleichsam als Nebenbemerkung, die für alle Gebote zusammen gelten, gesagt. Jetzt ist es Zeit, zum vorliegenden Texte überzugehen und an das früher Gesagte wieder anzuknüpfen. 

   "Wer seinem Bruder grundlos zürnt", sagt der Herr, "wird des Gerichtes schuldig sein." Er hat also das Zürnen nicht absolut verboten. Fürs erste, weil es für die menschliche Natur nicht möglich ist, von allen Affekten freizubleiben[214] ; sodann, weil eine solche Gemütsbewegung sogar nützlich sein kann, wenn wir es nur verstehen, uns ihrer zur rechten Zeit zu bedienen. Bedenke nur, wie viel Gutes der Unwille des Paulus gegen die Korinther gestiftet hat; durch ihn hat er sie ja von einer wahren Pest befreit. Auch das Volk der Galater wurde nach seinem Galle auf diese Weise wiedergewonnen, und noch andere mehr. Wann ist es aber nun wirklich am Platze, zu zürnen? Wenn wir nicht aus persönlichen Rücksichten zürnen, sondern nur, um andere von Fehltritten abzuhalten und Verirrte zur Umkehr zu bewegen. Und wann ist es nicht am Platze zu zürnen? Wenn wir es nur tun, um unsere beleidigte Eigenliebe zu befriedigen. Das hat ja auch der hl. Paulus verboten, da er sagte:"Suchen wir uns nicht selbst zu rächen, Geliebte, sondern weichet dem Zorne aus" (Rm 12,19). Ferner, wenn wir wegen Geldangelegenheiten streiten. Auch das hat er verboten mit den Worten: "Warum wollt ihr nicht lieber Unrecht dulden, warum nicht lieber Nachteil leiden?" (1Co 6,7). Wie also dieser Zorn schädlich ist, so ist jener notwendig und nützlich. Freilich die meisten tun das gerade Gegenteil; sie werden wie wilde Tiere, wenn ihnen ein Unrecht geschieht, sind aber feig und gleichgültig, wenn sie einen anderen mißhandelt sehen. Das steht beides im Widerspruch mit den Vorschriften des Evangeliums. Also nicht das Zürnen an sich ist Sünde, sondern nur, wenn man nicht am rechten Platze zürnt. Deshalb sagte ja auch der Prophet: "Zürnet, aber sündigt nicht" (Ps 4,5).

   V.22: "Wer zu seinem Bruder sagt: Rakka, wird des Rates schuldig sein." 

   Unter Rat versteht hier der Herr den Gerichtshof der Juden. Er erwähnte ihn aber hier, um sich nicht den Anschein zu geben, als führe er überall fremde Neuerungen ein. Dieses Rakka bedeutet aber keine besonders starke Beschimpfung, sondern dient mehr zum Ausdruck einer gewissen Verachtung und Geringschätzung. Wie etwa wir unserem Gesinde oder gewöhnlichen Leuten einen Befehl geben mit den Worten: Geh fort du; sag du dem und dem, so gebrauchen auch die Syrer das Wort Rakka im Sinne des "du". Indes verbietet der liebe Gott auch die geringsten Lieblosigkeiten und will, dass wir uns gegenseitig rücksichtsvoll und mit der gebührenden Achtung behandeln, um auf diese Weise auch unsere größeren Fehler zu beseitigen. "Wer aber sagt: du Tor, wird des höllischen Feuers schuldig sein." Vielen kam dies als ein schweres und unerträgliches Gebot vor, da wir wegen eines einfachen Wortes eine solche Strafe gewärtigen sollen. Einige sagten auch, es sei dies nur hyperbolisch gemeint gewesen. Indes fürchte ich, wenn wir uns in diesem Leben in Worten täuschen, werden wir in Wirklichkeit im anderen die schwersten Strafen zu dulden haben.



8.

Sage mir doch, weshalb erscheint dir dieses Gebot so schwer? Weißt du nicht, dass die meisten Strafen und Sünden in Worten ihre Ursache haben? Mit Worten werden Gotteslästerungen begangen, mit Worten wird der Glaube verleugnet, geschehen Beleidigungen, Beschimpfungen, Meineide, falsche Zeugnisabgabe. Sieh also nicht darauf, dass es sich um ein bloßes Wort handelt. Um zu sehen, ob es nicht wirklich eine ganz gefährliche Sache ist, erwäge vielmehr folgendes: Ist dir etwa unbekannt, dass zur Zeit, in der man Feindschaft hegt, solange der Zorn entflammt ist, und die Seele wie von Feuer brennt, auch das Kleinste groß erscheint, und einem auch das unerträglich vorkommt, was gar nicht besonders beleidigend ist? Auch haben oft solch kleine Dinge Mord im Gefolge gehabt und ganzen Städten den Untergang gebracht. Wie nämlich von Freundesseite auch unangenehme Dinge leicht ertragen werden, so erscheinen unter Feinden auch kleine Dinge unerträglich, und wenn man selbst etwas ganz Unschuldiges sagt, so glaubt der andere doch, es sei aus böser Absicht gesprochen. Es ist dies wie bei einem Feuer. Solange nur ein kleiner Funke vorhanden ist, kann noch so viel Holz umherliegen, er wird es nicht leicht entzünden. Sobald aber die Flamme groß und mächtig geworden ist, erfaßt sie mit Leichtigkeit nicht bloß Holz, sondern sogar Steine und jede andere Materie, die ihr nahe kommt; Ja selbst die Dinge, durch die das Feuer gelöscht wird, bieten ihr nur noch mehr Nahrung. Es gibt nämlich Leute, die sagen, nicht bloß Holz, Werg und andere leicht brennbare Stoffe, sondern sogar Wasser, das man darauf gießt, steigern die Macht des Feuers.[215] . Gerade so ist es beim Zorn; was man auch sagen mag, sofort dient es als Nahrung für dieses unselige Feuer. All dies wollte Christus im Keime ersticken. Darum hat er mit Recht den Zornigen dem Gerichte überantwortet[216] , und den, der Rakka sagt, dem hohen Rate. Das sind aber noch keine besonders großen Strafen, weil sie nur zeitlich sind. Darum hat er auch den, der seinen Nächsten einen Toren schilt, zum höllischen Feuer verurteilt, das er hier zum erstenmal erwähnt. Zuerst sprach er nämlich lange über das Himmelreich; dann erst erwähnt er die Hölle. Er wollte uns damit zeigen, dass wir jenes seiner Liebe und Gnade zu verdanken haben, diese unserer eigenen Fahrlässigkeit. Beachte auch, wie der Herr nur zögernd fortfährt in der Androhung seiner Strafen, gleichsam als wollte er sich bei dir entschuldigen und dir zu verstehen geben, dass er selbst lieber keine solchen Drohungen machen möchte, dass aber wir ihn zu derlei Äußerungen zwingen. Sieh nur, er sagt: Ich habe dir befohlen, nicht grundlos zu zürnen, da du sonst des Gerichtes schuldig bist. Du hast dich nicht daran gekehrt. Nun so sieh, welches die Folgen des Zornes sind; er hat dich alsbald zu Beschimpfungen verleitet, denn du hast deinen Bruder einen Rakka genannt. In gleicher Weise habe ich eine zweite Strafe festgesetzt, den hohen Rat. Wenn du aber auch diese mißachtest und noch ärgere Fehler begehst, so werde ich es nicht mehr bei diesen mäßigen Strafen bewenden lassen, sondern dich dem ewigen Feuer der Hölle überliefern, damit du nicht zuletzt gar noch zum Mörder wirst. Es gibt ja wahrlich nichts Unerträglicheres als Beschimpfungen, und nichts geht dem Menschen so sehr zu Herzen wie sie. Wenn aber das beschimpfende Wort an sich schon sehr verletzend ist, so wird auch das Feuer des Zornes verdoppelt. 

   Glaube also nicht, es sei etwas Belangloses, jemand einen Toren zu schelten. Wenn du deinem Bruder das absprichst, wodurch wir uns von den unvernünftigen Tieren unterscheiden, das, was uns eigentlich gerade zu Menschen macht, den Verstand und die Einsicht, so hast du ihn aller Menschenwürde entkleidet. Wir dürfen also nicht bloß auf die Worte sehen, sondern müssen auf die Sache selbst und ihre Wirkung achten und wohl bedenken, welche Wunde ein solches Wort schlägt und welches Unheil es im Gefolge hat. Deshalb hat ja auch der hl. Paulus nicht bloß die Ehebrecher und Unkeuschen, sondern auch die Schmähsüchtigen vom Himmelreich ausgeschlossen, und zwar ganz mit Recht. Der Lästerer verdirbt eben das Glück der Liebe, fügt dem Nächsten unendlich viel Böses zu, stiftet immerfort Feindschaften, zerreißt die Glieder des[217] Leibes Christi, zerstört tagtäglich den Gott so wohlgefälligen Frieden, und schafft durch seine Lästerreden dem Teufel weiten Spielraum und größeren Einfluß. Aus diesem Grunde hat Christus dieses Gesetz gegeben, um dadurch die Wurzeln der Macht des Teufels abzuschneiden. Ihm steht eben die Liebe sehr hoch. Unter allen Tugenden ist ja gerade sie die Mutter alles Guten, das Erkennungszeichen seiner wahren Jünger, die Tugend, die unser ganzes Sein umfaßt. Mit Recht hat darum Christus die Wurzeln und Ursachen der Feindschaft, die die Liebe zerstört, mit aller Entschiedenheit weggeräumt. Glaube also nicht, seine Worte enthielten eine Übertreibung; blicke vielmehr auf das Gute, das sie bewirken, bewundere die Güte und Sanftmut, die sich in diesen Gesetzen kundgibt. Nichts liegt ja Gott so sehr am Herzen, als dass wir untereinander geeinigt und verbunden seien. Darum dringt er sowohl persönlich wie auch durch seine Jünger, und zwar die des Neuen wie die des Alten Testamentes, gar nachdrücklich auf dieses Gebot, und ist ein überaus strenger Richter und Rächer für diejenigen, die in ihrem Handeln das Gebot der Liebe verachten. Nichts öffnet ja jeglicher Schlechtigkeit so sehr Tür und Tor, als die Preisgabe der Liebe. Darum sagt auch der Herr: "Wenn das Maß der Sünde voll sein wird, wird die Liebe der meisten Menschen erkalten" (Mt 24,12). Auf diese Weise wurde ja Kain zum Brudermörder, ebenso auch Esau und die Brüder des Joseph. So entstand tausendfaches Böse, wo sie vernichtet ward. Darum also rottet der Herr auch persönlich mit großer Strenge alles aus, was sie verletzten könnte.



9.

Aber auch bei dem bisher Gesagten bleibt der Herr nicht stehen; vielmehr bringt er noch mehr und ganz andere Dinge vor, um zu zeigen, wie hoch er die Tugend der Liebe stellt. Nachdem er mit dem hohen Rate gedroht, mit dem Gerichte und der Hölle, fügt er noch andere ähnliche Dinge hinzu, indem er also spricht:

   V.23: "Wenn du deine Gabe auf dem Altare darbringst, und dich dabei erinnerst, dass dein Bruder etwas wider dich hat,

   V.24: so laß deine Gabe vor dem Altare liegen, geh hin, werde zuerst mit deinem Bruder versöhnt und dann komm und bring dein Opfer dar." 

   O welche Güte! Welch überströmende Liebe! Der Herr setzt die ihm gebührende Ehre unserer Liebe zum Nächsten hintan! Damit beweist er, dass auch seine früheren Drohungen nicht dem Haß und der Rachsucht entsprungen sind, sondern nur seiner übergroßen Liebe zu uns. Oder was gäbe es doch Wohlwollenderes als diese seine Worte? Die mir erwiesene Anbetung, so sagt er gleichsam, mag unterbrochen werden, wenn nur deine Liebe gewahrt bleibt! Auch das ist ja ein Opfer, dass du dich mit deinem Bruder versöhnst. Darum hat er auch nicht gesagt: nachdem du dein Opfer dargebracht hast, oder: bevor du es darbringst, vielmehr schickt er dich fort zur Versöhnung mit deinem Bruder, während schon die Gabe auf dem Altare liegt und das Opfer seinen Anfang genommen hat. Weder nach vollzogenem Opfer, noch vor dessen Beginn, sondern mitten darin befiehlt er dir dorthin zu eilen! Warum befiehlt er so zu tun; aus welchem Grunde? 

   Folgende zwei Dinge, glaube ich, wollte der Herr damit andeuten und vorbereiten. Einmal wollte er, wie gesagt, zeigen, dass er das Gebot der Liebe für sehr wichtig erachtet, ja dass er sie für das höchste aller Opfer hält und ohne sie auch das andere nicht annimmt. Zweitens wollte er damit die unabweisbare Pflicht der Versöhnung einschärfen. Wem nämlich befohlen wird, nicht früher sein Opfer darzubringen, als bis er sich versöhnt hat, der wird sich von selbst genötigt fühlen, zu dem Beleidigten hinzueilen und seiner Feindschaft ein Ende zu machen, wenn auch nicht aus Liebe zum Nächsten, so doch, um sein Opfer nicht unvollendet stehen zu lassen. Darum hat der Herr auch alles mit solchem Nachdruck gesagt, und sucht einen solchen noch mit Drohungen und Furcht anzutreiben. Nach den Worten:"Laß deine Gabe stehen", bricht er nicht ab, sondern fügt hinzu: "vor dem Altar[218] , und gehe fort." Auch sagt er nicht einfachhin: "gehe fort", sondern setzt hinzu: "zuerst, und dann komm und bring dein Opfer dar". Durch all das zeigt er klar und deutlich, dass diejenigen nicht vor diesen Opfertisch treten dürfen, die gegenseitig Feindschaft im Herzen tragen. Habt also acht, ihr Eingeweihten, die ihr mit Feindschaften im Herzen euch nahet! Und auch die nicht Eingeweihten sollen es sich merken, denn auch auf sie beziehen sich zum Teil diese Worte. Auch sie bringen ja Geschenke und Opfergaben dar, nämlich Gebet und Almosen. Das ist ja auch ein Opfer, wie du vom Propheten hören kannst, der da spricht: "Das Opfer des Lobgebetes wird mich ehren" (Ps 49,23), und ein anderes Mal:"Bringe Gott das Opfer des Lobes dar" (Ps 49,14), und: "Die Erhebung meiner Hände[219] ist mein Abendopfer" (Ps 140,2). Wenn du also auch bloß dein Gebet in feindseliger Seelenstimmung verrichtest, so ist es besser, vom Gebete abzulassen, dich mit deinem Bruder zu versöhnen und dann das Opfer des Gebetes darzubringen. 

   Aus diesem Grunde ist ja das ganze Heilswerk geschehen; darum ist auch Gott Mensch geworden und hat sein ganzes Erlösungswerk vollbracht, um uns die Versöhnung zu bringen. Hier also schickt der Herr den Beleidiger zum Beleidigten; im Gebete[220] hingegen führt er den Beleidigten zum Beleidiger zur Aussöhnung. Dort sagt er nämlich: "Verzeihet den Menschen ihre Schulden" (Mt 6,14), hier aber: "Wenn einer etwas gegen dich hat, so gehe hin zu ihm." Aber auch hier scheint mir der Herr eher den Beleidigten zum Beleidiger zu senden. Er sagte ja auch nicht: Verssöhne dich mit deinem Bruder, sondern: "Werde versöhnt"; das scheint mehr für den gesagt, der Unrecht begangen hat, während das Ganze sich an den richtet, dem das Unrecht widerfahren ist. Wenn du nämlich mit jenem versöhnt wirst, will der Herr sagen, so werde auch ich, wegen der Liebe, die du jenem erwiesen, mich gnädig gegen dich zeigen, und du wirst mit aller Zuversicht dein Opfer darbringen können. Wenn du aber immer noch Groll im Herzen trägst, so bedenke, dass ich willig auf mein Recht verzichte, nur damit ihr Freunde werdet; das möge zur Beruhigung deines Zornes dienen. Auch sagte Christus nicht: Wenn dir ein großes Unrecht zugefügt worden, dann laß dich versöhnen, sondern: "Wenn jemand auch nur etwas Geringes wider dich hat" Er fügte auch nicht hinzu: sei es mit Recht, sei es mit Unrecht, sondern sagt einfach: "Wenn jemand etwas wider dich hat." Denn wenn dies auch mit Recht der Fall wäre, so darfst du dennoch deine Feindschaft nicht fortsetzen. Auch Christus konnte ja uns mit vollem Recht zürnen, und trotzdem hat er sich selbst für uns dem Tode überliefert, ohne auf unsere Fehltritte zu achten.



10.

Auch der hl. Paulus drängt deshalb unter einem anderen Bilde auf unsere Versöhnung. Er sagt: "Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Zorne" (Ep 4,26). Wie Christus hier durch das Opfer, so drängt uns dort Paulus durch die Dauer des Tages zum gleichen Ziele. Er fürchtete eben, wenn die Nacht den Beleidigten allein findet, werde sie die Wunde noch größer machen. Bei Tag wird man ja durch vieles zerstreut und abgelenkt; nachts dagegen, wenn man mit seinen Gedanken allein ist, steigen die Wogen und wird der Sturmwind stärker. Das suchte also der hl. Paulus zu verhindern. Deshalb will er, dass man bei Einbruch der Nacht sich versöhnt habe, damit die Ruhe und Stille dem Teufel keine Gelegenheit biete, das Feuer des Zornes noch mehr anzuschüren und es noch höher lodern zu lassen. Ebenso erlaubt auch Christus keinem, die Versöhnung aufzuschieben und wäre es auch nur auf kurze Zeit, damit ein solcher nicht etwa nach vollbrachtem Opfer zu gleichgültig werde und die Sache von einem Tag zum anderen verschiebe. Er wußte eben, dass man bei dieser Krankheit sehr rasch handeln müsse. Und wie ein weiser Arzt nicht bloß Vorbeugungsmittel gegen die Krankheit anwendet, sondern auch eigentliche Heilmittel, so macht es auch er. 

   Das Verbot, jemand einen Toren zu nennen ist ein Vorbeugungsmittel gegen Feindschaft; der Befehl, sich wieder zu versöhnen, heilt die Krankheiten, die infolge der Feindschaft entstanden sind. Beachte auch, mit welchem Nachdruck er beides betont. Früher hat er mit der Hölle gedroht; hier will er die Gabe nicht vor der Versöhnung annehmen. Ja er zeigt dabei so starken Unwillen, dass er auf diese Weise Wurzel und[221] Frucht zugleich ausreißt. Vorher sagt er: Zürne nicht, nachher: beleidige nicht. Jedes von beiden gewinnt eben durch das andere an Stärke; die Beleidigung durch die Feindschaft, und die Feindschaft durch die Beleidigung. Darum gibt er das eine Mal ein Heilmittel für die Wurzel, das andere Mal eines für die Frucht. Er will dadurch von Anfang an verhindern, dass das Böse Wurzel fasse; wenn es aber doch schon aufgegangen und seine schlechte Frucht getragen, es vollständig und gründlich ausbrennen. Aus diesem Grunde also sprach er vom Gericht, vom hohen Rate, von der Hölle, von dem Opfer, das man ihm darbringen will, und fügte dann auch noch anderes hinzu mir den Worten:

   V.25: "Sei versöhnlich gegen deinen Widersacher und zwar schnell, solange du noch mit ihm unterwegs bist." 

   Der Herr will nicht, dass du einwendest: Wie aber, wenn mir Unrecht geschieht; wie, wenn ich beraubt und vor Gericht geschleppt werde? Darum begegnete er auch diesem Einwand und dieser Ausrede schon zum voraus. Er befahl nämlich, auch in solchem Falle keine Feindschaft zu hegen. Da es sich sodann um ein wichtiges Gebot handelte, so sucht er seine Ermahnung noch durch den Hinweis auf zeitliche Vorteile zu stützen, für die ja härtere Gemüter meist eher zugänglich sind, als für künftigen Lohn. Was sagst du doch, ist der Sinn seiner Worte, der andere sei mächtiger und tue dir Unrecht? Nun, dann wird er dir noch viel mehr Schaden zufügen, wenn du dich nicht mit ihm versöhnst, und er wird dich zwingen, vor Gericht zu erscheinen. Im einen Falle, wenn du auf dein Geld verzichtest, wirst du wenigstens deine persönliche Freiheit bewahren; hat dich aber einmal der Richter verurteilt, so wirst du gefesselt und äußerst schwer bestraft werden. Vermeidest du hingegen einen solchen Prozeß, so wirst du einen zweifachen Nutzen davon haben: du wirst nichts Entehrendes ertragen müssen, und die ganze Sache wird dein Verdienst sein und nicht eine Folge der Gewalttätigkeit des anderen. Willst du hingegen den Worten des Herrn nicht gehorchen, so wirst du damit deinem Gegner lange nicht so viel schaden, als dir selbst. 

   Beachte hier außerdem, wie eindringlich er dem Beleidigten zuredet. Zu den Worten: "Sei versöhnlich gegen deinen Gegner", fügte er hinzu: "schnell"; und auch das genügte ihm noch nicht, sondern er sucht auch die Schnelligkeit noch zu erhöhen, indem er sagt: "Solange du noch mit ihm unterwegs bist." Er will ihn dadurch mit allem Nachdruck drängen und treiben. Nichts verdirbt uns ja das Leben so sehr, als zögern und aufschieben, wo wir Gutes tun sollten. Das ist auch oft die Ursache unseres vollständigen Ruins geworden. So sagt also auch der hl. Paulus: "Bevor die Sonne untergeht, mach der Feindschaft ein Ende" (Ep 4,26); und oben mahnte der Herr selbst: "Bevor du dein Opfer vollendest, werde versöhnt." Ebenso sagt er hier: 'Schnell, solange du noch mit ihm unterwegs bist", noch bevor du zur Türe des Gerichtssaales kommst, bevor du zum Richterstuhle hintrittst und fortan der Macht des Richters unterworfen bist. Bevor du hineingehst, liegt alles noch in deiner Hand; hast du aber einmal die Türschwellen überschritten, dann kannst du deine eigene Sache nicht mehr nach deinem Willen entscheiden, auch wenn du dich noch so sehr beeilst, da du bereits der Macht eines anderen unterstehst. Was bedeutet aber das: versöhnlich sein? Entweder heißt das, du sollst dir das Unrecht lieber gefallen lassen, oder du sollst so urteilen, als ob du an der Stelle des anderen wärest, damit du nicht aus Eigenliebe die Gerechtigkeit verletzest; du sollst die Angelegenheit des anderen wie deine eigene behandeln und so dein Urteil fällen. Wenn das aber etwas Großes und Schweres ist, so wundere dich darüber nicht. Aus diesem Grunde hat ja Christus all jene Seligpreisungen vorgebracht, um eben die Seele des Zuhörers vorzubereiten und empfänglich zu machen, damit er nachher mit um so größerer Bereitwilligkeit dieses ganze Gesetz annehme.



11.

Da gibt es nun einige, die behaupten, der Herr habe mit dem Widersacher den Teufel gemeint, und er wolle damit sagen, man solle nichts mit ihm gemein haben; dadurch zeige man gerade die rechte Gesinnung gegen ihn, denn nach unserem Hinscheiden aus diesem Leben sei ja eine Versöhnung nicht mehr möglich, da uns alsdann die unerbittliche Strafe erwartet. Ich bin dagegen der Ansicht, er rede hier von menschlichen Richtern, von dem Wege zum Gerichtsgebäude und von dem irdischen Gefängnis. Nachdem er uns nämlich mit dem höheren und zukünftigen Dingen versuchte, schreckt er uns auch noch mit denen des irdischen Lebens. So macht es ja auch der hl. Paulus. Er wirkt auf seine Zuhörer bald mit den zukünftigen, bald mit den irdischen Dingen. So z.B.,um vom Bösen abzuhalten, stellt er dem Übeltäter den bewaffneten Herrscher vor Augen und sagt: "Wenn du etwas Böses tust, so fürchte dich; nicht umsonst trägt er das Schwert; denn er ist der Stellvertreter Gottes" (Rm 13,4). Und da er befiehlt, dem zeitlichen Herrscher untertan zu sein, stützt er sich nicht bloß auf die Furcht vor Gott, sondern erinnert auch an die drohende Strafe und an die Maßnahmen jenes: "Es ist notwendig, untertan zu sein, nicht bloß wegen des Zornes, sondern auch um des Gewissens willen" (Rm 13,5). Solche Dinge, die man sehen und gleichsam mit den Händen greifen kann, pflegen eben, wie schon gesagt, die etwas Unempfindlichen eher auf den rechten Weg zu bringen. Darum erinnerte uns auch Christus nicht bloß an die Hölle, sondern auch an das irdische Gericht, an Hinrichtung und Gefängnis und an das ganze Elend, das dort herrscht. Durch all das will er dem Morde vorbeugen. Wer nämlich niemals einen anderen beleidigt, niemals Prozesse führt und keine Feindschaft hegt, wie sollte der je zu einem Mord kommen? Es ergibt sich also auch daraus klar, dass, was unserem Nächsten nützt, auch uns selber Vorteil bringt. Wer nämlich mit seinem Widersacher sich versöhnt, wird viel mehr sich selber nützen, da er auf diese Weise von Gericht und Gefängnis und all seinem Elend verschont bleibt. 

   So wollen wir also die Worte des Herrn befolgen, uns niemand widersetzen und mit niemand streiten, zumal da diese Gebote, auch abgesehen von dem Lohne, in sich selbst schon ihre Annehmlichkeit und ihren Nutzen haben. Sollten sie aber den meisten beschwerlich und mühevoll erscheinen, so bedenke, dass du dies um Christi willen tust, dann wirst du das Bittere süß finden.Wenn wir also in allem so denken, so wird uns nichts so schwer fallen, vielmehr werden wir in allen Dingen große Freude empfinden. Dann erscheint die Mühe nicht mehr als Mühe; im Gegenteil, je größer die Anstrengung ist, um so süßer und angenehmer wird sie sein. Wenn also die berückende böse Gewohnheit dich drängt, und die Sucht nach Geld, dann bekämpfe sie mit diesem Gedanken, dass wir großen Lohn empfangen werden, wenn wir die irdische Lust verachten; dann sprich zu deiner Seele: Bist du so ganz traurig, weil ich dir seine Freude versage? Freue dich vielmehr, da ich dir ja den Himmel erwerbe. Nicht um eines Menschen willen tust du es, nein, Gottes wegen. Gedulde dich also eine Weile, und du wirst sehen, wie groß der Lohn ist; sei stark in diesem Leben und du wirst unaussprechlichen Trost und Frieden erlangen! Wenn wir auf diese Weise mit unserer Seele reden, und nicht nur an das Beschwerliche der Tugendübung denken, sondern auch an den Himmelslohn, den wir durch sie verdienen, dann werden wir sie alsbald von jeglichem Bösen abbringen. Wenn der Teufel uns vorstellt, als wäre das Angenehme nur von kurzer Dauer, und das, was Pein verursacht, ohne Ende, und uns auf diese Weise bezwingt und über uns Herr wird, so kehren wir die Sache um und sagen: das Unangenehme geht schnell vorüber, während das, was angenehm und nützlich ist, auf ewig dauert. Welche Entschuldigung bleibt uns also da noch, wenn wir auf solche Ermutigung hin nicht der Tugend nachstreben? Es genügt uns ja, statt alles anderen die rechte Absicht bei unseren Leiden zu haben, und fest davon überzeugt zu sein, dass wir um Gottes willen all dies dulden. Wenn jemand den König zum Schuldner hat, so glaubt er für sein ganzes Leben genügende Bürgschaft zu besitzen! Da bedenke doch, wie hoch erst derjenige steht, der den liebevollen, ewigen Gott sich zum Schuldner gemacht hat für kleine und große Taten! 

   Komme mir also nicht mit Mühen und Anstrengung! Gott hat ja die Tugendübung nicht bloß durch die Hoffnung auf die zukünftige Welt, sondern auch noch auf andere Weise erleichtert, indem er uns auch selbst überall hilft und unterstützt. Wenn du also nur ein wenig guten Willen mitbringen möchtest, so würde alles andere sich von selbst ergeben. Gerade darum will ja Gott, dass auch du dich ein wenig abmühest, damit es dann auch wirklich dein Sieg sei. Auch ein irdischer König läßt ja seinen eigenen Sohn in der Schlachtreihe stehen und will, dass er da gesehen wird, um dann ihm den Sieg zuschreiben zu können, obwohl er alles selbst tut. Gerade so macht es auch Gott im Kampfe gegen den Teufel. Nur dies eine verlangt er von dir, dass du dem Teufel offen und ehrlich Feind seiest; wenn du Gott hierin willfährst, so nimmt er im übrigen den ganzen Kampf auf sich. Da mag der Zorn in dir entbrennen oder die Habsucht, oder sonst eine tyrannische Leidenschaft; er eilt dir alsbald zu Hilfe, wofern er dich nur gegen den Feind gerüstet und bereit findet; er macht dir alles leicht und rettet dich aus dem Feuer der Versuchung, so wie er damals die Jünglinge aus dem Feuerofen von Babylon errettet hat. Auch die hatten ja weiter nichts als den guten Willen mitgebracht. So wollen denn auch wir hienieden jeden Feuerbrand ungeordneter Lust auslöschen, um dafür im Jenseits der Hölle zu entgehen. Das wollen wir Tag für Tag anstreben, erwägen und praktisch üben, und wollen durch gute Vorsätze und eifriges Gebet die Gnade Gottes auf uns herabziehen. Auf diese Weise wird dann auch das, was uns jetzt unerträglich vorkommt, gar leicht, mühelos und angenehm. Solange wir noch den Leidenschaften unterworfen sind, kommt uns die Übung der Tugend schwer, lästig und mühselig vor, das Böse gingen anziehend und süß; sobald wir uns aber der Gewalt der Leidenschaften auch nur ein wenig entziehen, so erscheint uns jenes häßlich und unschön, dies leicht, angenehm und anziehend. Das kann man leicht an denen ersehen, die ein gutes Leben geführt haben. Höre nur, wie der hl. Paulus auch nach seiner Bekehrung sich noch seiner Leidenschaften schämt: "Was nützten euch seinerzeit die Dinge, deren ihr euch jetzt schämt?" (Rm 6,21). Von der Tugendübung dagegen sagt er, sie sei nach der anfänglichen Anstrengung sogar leicht; ja, nennt Mühsal und Trübsal vorübergehend und geringfügig, freut sich mitten im Leiden, frohlockt über die Heimsuchungen, und schätzt sich glücklich ob der Wunden, die er um Christi willen empfangen. Damit also auch wir uns ebenso verhalten, wollen wir uns jeden Tag das, was ich gesagt habe, zur Richtschnur nehmen, wollen vergessen, was hinter uns liegt, und nur nach dem streben, was vor uns ist. So wollen wir stets den Kampfpreis unserer himmlischen Berufung im Auge behalten, dessen wir alle teilhaft werden mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Herrschaft gebührt in alle Ewigkeit. Amen.






Kommentar zum Evangelium Mt 16