Kommentar zum Evangelium Mt 36

Sechsunddreißigste Homilie. Kap. XI, V.1-6

36 Mt 11,1-6
1.

V.1: "Und es geschah, als Jesus seine Unterweisungen an die zwölf Jünger beendet hatte, da ging er von dort weg, um auch in ihren Städten zu lehren und zu predigen." 

   Nachdem der Herr seinen Jüngern die Sendung erteilt hatte, zog er sich selbst für eine Weile zurück, um ihnen Zeit und Muße zu lassen, das ins Werk zu setzen, was er ihnen aufgetragen hatte. So lange nämlich er selbst zugegen war und Kranke heilte, hätte wohl niemand sich an die Jünger wenden mögen.

   V.2: "Als aber Johannes im Gefängnis von den Taten Christi hörte, da sandte er zwei seiner Jünger und ließ ihn fragen:

   V.3: Bist Du derjenige, der da kommen wird, oder sollen wir einen anderen erwarten?" 

   Lukas hingegen sagt, diese Jünger hätten auch selbst dem Johannes von den Wunderzeichen Christi berichtet, und dann erst habe dieser sie gesandt. Indes bietet dies gar keine Schwierigkeiten, sondern enthält nur eine Lehre; es zeigt dies nämlich bloß, von welcher Eifersucht die Johannesjünger beseelt waren, und zwar gegen den Herrn. Dagegen enthält das Folgende ein sehr schwieriges Problem. Worin liegt es? In den Worten: "Bist Du derjenige, der da kommen wird, oder sollen wir einen anderen erwarten?" Derjenige, der den Herrn schon vor seinen Wunderzeichen erkannt, der vom Hl .Geist über ihn belehrt worden war. der die Stimme des Vaters vernommen, der ihn bei allen Menschen angekündigt hatte, der sendet jetzt Jünger, um von ihm zu erfahren, ob er wirklich der Messias sei oder nicht? Und doch, o Johannes, wenn du nicht vorher schon sicher wußtest, dass er es ist, wie kannst du erwarten, dass man dich für glaubwürdig hält, wenn du anscheinend über Dinge redest, die du nicht kennst? Wer anderen gegenüber als Zeuge auftritt, der sollte zuerst selber das nötige Vertrauen besitzen. Hast denn nicht du gesagt: "Ich bin nicht würdig, den Riemen seiner Schuhe zu lösen"? (Lc 3,16). 

   Hast nicht du gesagt: "Ich kannte ihn nicht, aber derjenige, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, er hat zu mir gesagt: Über wen du den Geist herabsteigen und auf ihm verweilen siehst, der ist es, der im Heiligen Geiste tauft"? (Jn 1,33). Hast du nicht den Geist in Gestalt einer Taube gesehen? Hast nicht die Stimme gehört? Hast du ihn[372] zu hindern gesucht und gesagt: "Ich habe nötig, von dir getauft zu werden"? (Mt 3,14). Hast du nicht zu deinen Jüngern gesagt: "Er muß wachsen, ich aber kleiner werden"? (Jn 3,30) Hast du nicht das ganze Volk belehrt und gesagt, er werde sie im Hl. Geiste und im Feuer taufen, und er sei das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt? Hast du nicht dies alles verkündet, noch bevor er Zeichen und Wundertaten verrichtete? Wie kannst du also jetzt, wo schon alle ihn kennen, wo sein Ruf überallhin gedrungen, wo durch ihn Tote auferweckt, Teufel ausgetrieben und so viele Wunder öffentlich gewirkt wurden, wie kannst du jetzt Jünger aussenden, um von ihm zu erfahren, wer er sei? Was ist denn geschehen? Waren alle deine früheren Reden nur Trug und Schein und Märchen? Wer möchte wohl derlei bei klarem Verstande behaupten? Gewiß nicht Johannes, der im Mutterschoße aufhüpfte, der den Herrn schon ankündigte, bevor er selbst geboren war, der die Wüste bewohnte, der ein engelgleiches Leben zur Schau trug. Nein, wenn er auch ein ganz gewöhnlicher, ja ein schlechter und verworfener Mensch gewesen wäre, nach so vielen Zeugnissen, seinen eigenen und denen anderer, konnte er doch kaum mehr einen Zweifel haben. So ist es klar, dass Johannes nicht deshalb Jünger sandte, weil er selbst gezweifelt hätte, und nicht fragen ließ, weil er sich in Ungewißheit befand. 

   Auch das kann ja wohl niemand sagen, er habe es zwar gut gewußt, sei aber infolge der Gefangenschaft furchtsam und schwach geworden; denn er erwartet ja gar nicht, aus derselben befreit zu werden, und selbst, wenn er es erwartet hätte, würde er nicht seine religiöse Überzeugung verraten haben, er, der zu jedem Tode bereit war. Ja wäre er nicht hierzu bereit gewesen, so würde er auch keinen solchen Mut gezeigt haben im Angesicht des ganzen Volkes, das nur darauf sann, Prophetenblut zu vergießen; würde er nicht jenen grausamen Tyrannen mit solchem, Freimut getadelt haben mitten in der Stadt und auf öffentlichem Platze; würde ihn nicht wie einen kleinen Jungen zurechtgewiesen haben, während alle es hören konnten. Aber, selbst wenn er furchtsam geworden wäre, wie hätte er sich vor seinen eigenen Jüngern schämen müssen, vor denen er doch solches Zeugnis für den Herrn abgelegt hatte? Wie könnte er sie mit dieser Frage beauftragen, für die er doch andere hätte auswählen müssen? Außerdem wußte er ja doch ganz genau, dass seine Jünger eifersüchtig auf den Herrn waren und nach einer Handhabe gegen ihn suchten. Und wie hätte er nicht vor dem jüdischen Volke erröten sollen, dem er so große Dinge angekündigt hatte? Was hätte ihm auch das zur Befreiung aus der Gefangenschaft nützen sollen? Er war ja nicht wegen Christus eingekerkert worden, noch deshalb, weil er seine Macht verkündet hatte, sondern weil er die gesetzwidrige Ehe[373] getadelt hatte. Hätte er sich denn dadurch nicht den Ruf eines unvernünftigen Knaben, eines unverständigen Menschen zugezogen? Was bezweckte er also mit seiner Handlungsweise? Aus dem Gesagten geht ja doch klar hervor, dass es ganz unmöglich war, dass ein Johannes, ja dass überhaupt irgend jemand, nicht einmal der törichteste und unsinnigste, darüber Zweifel haben könnte. 

   Doch müssen wir jetzt auch die Lösung der Frage geben. Warum ließ also Johannes diese Frage stellen? Weil die Jünger des Johannes sich von Christus zurückzogen. Das ist wohl ganz klar. Auch waren sie immer voll Eifersucht gegen ihn. Das ergibt sich auch deutlich aus den Worten, die sie an ihren Meister richteten: "Derjenige", so sagten sie, "der mit dir jenseits des Jordan war, für den zu Zeugnis ablegtest, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm" (Jn 3,26). Und ebenso: "Es entstand ein Streit zwischen den Jüngern des Johannes und den Juden über die Reinigung: und wiederum kamen sie zu Jesus und sagten: Weshalb fasten wir und die Pharisäer so viel, während Deine Jünger nicht fasten?" (Mt 9,14).



2.

Sie wußten eben noch nicht, wer Christus sei; vielmehr hielten sie Jesus für einen einfachen Menschen, den Johannes dagegen für etwas Höheres als einen Menschen. Deshalb wurden sie unwillig, wie sie sahen, dass Jesus an Ansehen stieg, Johannes dagegen, wie er selbst sagt, hinfort verlor. Das war es, was sie hinderte, sich Jesus anzuschließen; Die Eifersucht versperrte ihnen den Weg. Solange nun noch Johannes bei ihnen war, ermahnte er sie oft und belehrte sie, aber nicht einmal so konnte er sie dazu bewegen. Da ihm aber nunmehr der Tod bevorstand, vermehrte er noch seine Bemühungen. Er fürchtete eben, er möchte sonst in Verdacht stehen, seine Jünger falsch unterwiesen zu haben, und sie möchten von Jesus getrennt bleiben. Er selbst bemühte sich ja schon von Anfang an, ihm alle seine Anhänger zuzuführen. Nachdem es ihm aber nicht gelang, so verdoppelte er noch im Angesicht des Todes seinen Eifer. Hätte er nun gesagt: Gehet zu ihm über, er ist höher als ich, so hätte er sie nicht dazu vermocht, da sie ihm mit besonderer Hingebung anhingen. Außerdem hätten sie geglaubt, er spreche nur aus Demut so und wären ihm noch mehr zugetan geworden. Hätte er aber geschwiegen, so wäre ebenfalls nichts weiter geschehen. Was tut er also? Er wartet, bis sie kommen und ihm sagen, dass Jesus Wunder wirke. Aber auch jetzt richtet er noch keine Aufforderung an sie; auch sendet er nicht alle, sondern nur zwei, von denen er wahrscheinlich wußte, dass sie leichter zu überzeugen wären als die anderen. So konnte die Frage geschehen, ohne Verdacht zu erwecken, und konnten sie aus Erfahrung lernen, welcher Unterschied sei zwischen Jesus und ihm. Er sagte also zu ihnen: "Gehet und saget: Bist Du der, der da kommen wird, oder sollen wir einen anderen erwarten?" Christus nun kannte die Absicht des Johannes und sagte deshalb nicht: Ich bin es; er hätte sonst wohl bei den Fragestellern damit Anstoß erregt, obgleich es an sich ganz richtig gewesen wäre, so zu sagen. Vielmehr läßt er sie aus den Tatsachen lernen. Es heißt nämlich, als jene zu ihm gekommen seien, habe er viele Kranke geheilt. Und doch, welchen Sinn hätte es gehabt, wenn er auf die Frage: Bist Du es?" nichts antwortete, sondern alsbald Kranke zu heilen begann, es sei denn, er habe den Zweck erreichen wollen, den ich angegeben? Die Jünger hielten eben den Beweis aus den Taten für glaubwürdiger und unverdächtiger als den aus den Worten. Der Herr erkannte also kraft seiner Gottheit, in welcher Absicht Johannes sie gesandt hatte; deshalb begann er alsbald Blinde zu heilen und Lahme und viele andere, nicht um Johannes zu belehren[374] ,sondern seine Jünger, die noch im Zweifel waren. Und nachdem er seine Heilungen vollbracht, sagte er:

   V.4: "Gehet und meldet dem Johannes, was ihr höret und sehet:

   V.5: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten werden auferweckt und den Armen wird die fromme Botschaft gebracht", und er fügte noch hinzu:

   V.6: "Und selig derjenige, der nicht Ärgernis nimmt an mir." 

   Damit zeigte er, dass er auch ihre geheimen Gedanken kannte. Hätte er gesagt: Ich bin es, so hätte er, wie gesagt, damit angestoßen, und sie würden, auch wenn sie es nicht bei sich gesagt, so doch bei sich gedacht haben, was die Juden zu ihm sagten: "Du legst von Dir selber Zeugnis ab" (Jn 8,13). Aus diesem Grunde also sagt er dies nicht, sondern läßt sie alles aus seinen Wundertaten erkennen; dadurch macht er seine Belehrung unverdächtig und um so überzeugender. Aus dem gleichen Grunde richtet er auch nachher seinen Tadel nur in verborgener Weise an sie. Sie hätten nämlich Ärgernis an ihm genommen, wenn er ihre Eifersucht offen aufgedeckt hätte; so überließ er dies ihrem eigenen verborgenen Gewissen, und macht niemanden zum Zeugen seiner Anklage, ausgenommen allein jene, die seine Worte verstanden. Dadurch gewann er sie aber nur noch mehr für sich. Er sagt also: "Selig derjenige, der kein Ärgernis nimmt an mir."Mit diesen Worten hatte er nämlich gerade sie im Auge. 

   Ich will aber da nicht bloß meine eigene Ansicht vorbringen, sondern auch die von anderen, um euch die Wahrheit durch den Vergleich der verschiedenen Meinungen deutlich zu machen; deshalb muß ich auch das andere berichten. Was sagen also einige von ihnen? Nicht das, was wir vorbrachten, sei der wahre Grund; vielmehr sei Johannes die Wahrheit allerdings unbekannt gewesen, aber nicht die ganze; er habe nur gewußt, dass Jesus der Christus sei; dass er dagegen auch für die Menschen sterben werde, das habe er nicht gewußt. Darum habe er gefragt: "Bist Du es, der da kommen wird?", das heißt, der in den Hades hinabsteigen wird. Doch scheint mir diese Erklärung keinen rechten Sinn zu haben; denn Johannes war auch über diesen Punkt nicht im unklaren. Ja gerade das verkündet er vor allen anderen Dingen, und hierfür legt er zu allererst Zeugnis ab. Denn: "Siehe", sagt er,"das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt" (Jn 1,29). Ein Lamm nannte er ihn, und wies damit zum voraus auf das Kreuz hin; und durch die Worte: "das die Sünde der Welt auf sich nimmt", hat er das gleiche geoffenbart. Denn durch nichts anderes, als eben durch das Kreuz, hat der Herr die Sünde der Welt auf sich genommen. Dasselbe bestätigt auch Paulus mit den Worten: "Und die Handschrift, die gegen uns zeugte, auch sie hat er hinweggenommen, indem er sie ans Kreuz anheftete" (Col 2,14). Ebenso enthalten die Worte: "Im Geiste wird er euch taufen" (Lc 3,16) eine Prophetie dessen, was nach seiner Auferstehung geschehen sollte. Ja, sagen sie da wieder, dass Christus auferstehen und den Hl. Geist senden werde, wußte Johannes allerdings: dass er aber auch gekreuzigt würde, wußte er nicht. Wie hätte er aber dann auferstehen sollen, wenn er nicht zuvor den Tod erlitten und nicht gekreuzigt worden wäre? Und wie wäre dann derjenige der größte unter den Propheten, der nicht einmal die Propheten verstanden hätte?



3.

Christus selbst hat es ja bezeugt, dass Johannes der größte unter den Propheten war. Dass aber die Propheten vom Leiden des Herrn wußten, steht außer Zweifel. So sagt ja Isaias: "Wie ein Schaf ward er zur Schlachtbank geführt, und stumm blieb er, wie ein Lamm unter der Hand des Scherers" (Is 53,7). Und an einer früheren Stelle sagte er: Es wird leben die Wurzel des Jesse, und auf den, der sich erheben wird, um zu herrschen über die Völker, auf den werden die Völker ihre Hoffnung setzen" (Is 11,10). Dann kommt er auf das Leiden zu sprechen und auf die Herrlichkeit, die es im Gefolge haben sollte: "Und seine Ruhe wird Ehre sein" (Is 11,10). Aber nicht nur, dass er gekreuzigt würde, hat Isaias vorhergesagt, sondern auch in wessen Gesellschaft: "Denn er wurde unter die Verbrecher gezählt" (Is 53,12), heißt es; und nicht bloß das, sondern auch dass er sich nicht verteidigen würde: "Denn dieser", sagt er, "öffnet seinen Mund nicht" (Is 53,7); ebenso, dass er ungerecht verurteilt würde: "Denn in seiner Erniedrigung ward sein Gericht hinweggenommen" (Is 53,8). Auch David sagt schon vor ihm dasselbe und beschreibt die Gerichtsszene mit den Worten: "Warum knirschten die Nationen und sannen die Völker auf Eitles? Es standen da die Könige der Erde, und die Fürsten versammelten sich wider den Herrn und wider seinen Christus" (Ps 2,12). An einer anderen Stelle spricht er sogar von der Todesart des Kreuzes, indem er sagt: "Sie durchbohrten meine Hände und meine Füße" (Ps 21,17). Auch das, was die Soldaten gegen den Herrn sich erlaubten, fügt er ganz genau hinzu: "Denn", sagt er, "sie verteilen unter sich meine Kleider, und über mein Gewand warfen sie das Los" (Ps 21,19). Und an einer anderen Stelle sagte er sogar voraus, dass sie ihm Essig brächten: "Denn sie gaben mir Galle zur Speise und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken" (Ps 68,22). 

   Außerdem haben die Propheten auch schon so viele Jahre vorher von dem Gericht und der Verurteilung geredet, von denen, die mit dem Herrn gekreuzigt würden, von der Verteilung der Kleider und dass über sie das Los geworfen würde, und von vielen anderen Dingen; es ist ja nicht nötig, dass ich jetzt alles aufzähle, um nicht die Rede zu sehr in die Länge zu ziehen. Und da hätte Johannes, der größte von all diesen Propheten, von all dem nichts gewußt? Wie ist so etwas denkbar? Warum hat er aber nicht gesagt; Bist du derjenige, der in den Hades hinabsteigen wird, sondern einfach: "der da kommen wird"? Indes, was noch viel lächerlicher wäre als dies, ist die Behauptung, Johannes habe dies gesagt, um dann selbst in die Unterwelt zu gehen und Christum zu verkünden. Diesen Leuten ist es wohl an der Zeit zu antworten: "Brüder, werdet keine Kinder in eurem Denken, sondern seid Kinder gegenüber dem Bösen" (1Co 14,20). Das jetzige Leben ist eben die Zeit des guten Wandels; nach dem Tode dagegen harren auf uns Gericht und Strafe. "Denn", heißt es, "wer wird dich in der Unterwelt bekennen?" (Ps 6,6). Inwiefern <<wurden also "die ehernen Tore zermalmt und die eisernen Türpfosten zerbrochen"? (Ps 106,16 Is 45,2). Das geschah durch seinen Leib. Damals ward ja zum erstenmal ein unsterblicher Leib gesehen, der die Tyrannei des Todes brach. Im übrigen beweist dies aber nur, dass die Macht des Todes vernichtet wurde, nicht aber, dass die Sünden derer, die vor Christi Ankunft starben, hinweggenommen wurden. Wäre dem nicht so und hätte der Herr auch die Menschen, die schon früher gestorben waren, samt und sonders aus der Unterwelt befreit, wie konnte es dann heißen: "Es wird erträglicher sein für das Land von Sodoma und Gomorrha"? (Lc 10,12). Damit ist doch gesagt, dass auch sie bestraft werden, etwas milder zwar, aber doch, dass sie bestraft werden. Allerdings sind sie auch hienieden schon sehr schwer bestraft worden, aber gleichwohl wird auch das sie nicht retten. Wenn es aber schon ihnen nichts hilft, dann noch weniger jenen, die gar nichts zu leiden hatten. 

   Nun denn, fragst du, ist da den Menschen, die vor seiner Ankunft lebten, nicht ein Unrecht geschehen? Keineswegs; es war ja die Möglichkeit vorhanden, dass damals auch solche gerettet wurden, die Christum nicht bekannt hatten. Denn nicht das wurde von ihnen verlangt, sondern nur, dass sie keinen Götzendienst trieben und den wahren Gott erkennten. "Denn", heißt es, "der Herr, dein Gott, ist ein Herr" (Dt 6,4). Darum fanden ja auch die Makkabäer Bewunderung, weil sie ihre Leiden um der Beobachtung des Gesetzes willen erduldeten; ebenso die drei Jünglinge und viele andere Juden, die ein tadelloses Leben führten, entsprechend diesem Grade ihrer Erkenntnis; von ihnen allein ward nichts weiteres verlangt. Damals genügte es eben zum Heile, wie ich schon gesagt habe, dass man den einen Gott erkannte. Jetzt ist es nicht mehr so; jetzt muß man auch Christum kennen und bekennen. Deshalb sagte auch der Herr:"Wäre ich nicht gekommen, und hätte ich nicht zu ihnen geredet, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde" (Jn 15,22). Das gleiche gilt auch von unserem Lebenswandel. Damals war verloren, wer einen Mord beging; jetzt ist dies schon der Fall, wenn jemand zürnt. Damals war es strafbar, die Ehe zu brechen und mit der Frau eines anderen Umgang zu pflegen, jetzt sind dies schon unkeusche Blicke. Wie nämlich die Erkenntnis wuchs so wurden auch an das Leben höhere Anforderungen gestellt. Es bedurfte also des Vorläufers durchaus nicht in der Unterwelt. Denn sonst, wenn die Ungläubigen nach dem Tode noch durch den Glauben gerettet werden könnten, so ginge nie jemand verloren. Da würden sich alle bekehren und Christum anbeten. Dass dies wahr ist, kannst du vom hl. Paulus hören, der da sagt: "Jede Zunge wird bekennen und jedes Knie wird sich beugen im Himmel und auf Erden und unter der Erde" (Ph 2,11), und:"Als letzter Feind wird der Tod vernichtet werden" (1Co 15,26). Es wird ihnen also im Gegenteil eine solche Unterwerfung nichts nützen; denn sie ist nicht der Ausfluß des guten Willens, sondern entspringt nur gleichsam dem Zwange der Umstände.



4.

Kommen wir also nicht mit solch albernen Dingen und Judenfabeln daher. Höre nur, was Paulus hierüber sagt: "Alle, die ohne das Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne das Gesetz zugrunde gehen";er meint damit jene, die in der Zeit vor dem Gesetz gelebt haben. "Und alle, die in dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz gerichtet werden" (Rm 2,12); das sagte er von all denen, die nach Moses lebten. Ferner: "Geoffenbart wird der Zorn Gottes vom Himmel über jegliche Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen" (Rm 1,18), und: "Unwille, Zorn, Trübsal und Wehe über die Seele eines jeden Menschen, der Böses tut, zuerst des Juden, daln des Heiden" (Rm 2,8-9). Und doch haben die Heiden unendlich viel Ungemach erduldet hienieden. Das beweisen auch die Geschichtsbücher der Heiden, sowie auf unserer Seite die Hl. Schrift. Denn wer könnte wohl die tragischen Schicksale der Babylonier erzählen, oder diejenigen der Ägypter? Gleichwohl werden diejenigen, die Christus vor seiner Erscheinung im Fleische nicht kannten, dagegen sich vom Götzendienst enthielten, und nur Gott allein anbeteten und ein tadelloses Leben führten, ebenfalls aller Güter teilhaft werden. Denn höre nur, was Paulus sagt: "Ruhm und Ehre und Friede jedem, der das Gute tut, zuerst dem Juden, dann dem Heiden" (Rm 2,10). Siehst du, wie auch diesen großer Lohn für ihre guten Werke vorbehalten ist, dagegen Strafe und Buße jenen, die das Gegenteil tun? 

   Wo bleiben da jene, die nicht an die Hölle glauben? Wenn doch schon diejenigen, die vor dem Erscheinen Christi lebten, und weder von Hölle noch von Auferstehung auch nur den Namen hörten, nicht bloß hienieden gestraft wurden, sondern auch in der anderen Welt noch Strafe finden werden, um wieviel mehr wird es dann uns so gehen, die mit so erhabenen religiösen Lehren genährt wurden? Wie ist es aber denkbar, fragst du, dass diejenigen, die nie etwas von der Hölle gehört haben, in die Hölle stürzen? Die können ja sagen: Wenn du uns mit der Hölle gedroht hättest, so hätten wir uns eher gefürchtet und hätten mehr Maß gehalten. Jawohl; nicht wahr, so wie wir jeden Tag von der Hölle reden hören, ohne uns in unserem praktischen Leben auch nur im geringsten darum zu kümmern! Außerdem ist aber auch das noch zu erwähnen, dass derjenige, der sich durch die Strafe nicht einschüchtern läßt, da er bereits hienieden zu leiden hat, noch viel weniger durch jene wird im Zaum gehalten werden. Die weniger Einsichtigen und religiös Gestimmten pflegen ja durch die Dinge, die vor ihnen liegen und alsbald in Erfüllung gehen, noch eher zur Vernunft gebracht zu werden, als durch diejenigen, die erst lange Zeit nachher eintreffen sollen. Allein, sagst du, uns ward ein stärkeres Motiv der Furcht gegeben und insofern ist jenen Unrecht geschehen. Ganz und gar nicht. Fürs erste wurde ja an jene nicht die gleiche Anforderung gestellt wie an uns, von denen viel mehr verlangt wird. Wer aber die schwerere Aufgabe zu erfüllen hat, bedurfte auch einer größeren Hilfe. Es ist aber keine geringe Hilfe, dass das Motiv der Furcht verstärkt wurde. Wenn wir aber vor den anderen etwas voraus haben, weil wir die zukünftigen Dinge kennen, so haben die anderen vor uns voraus, dass über sie sogleich schwere Strafen verhängt wurden 

   Indes machen die meisten dagegen einen anderen Einwand. Wo bleibt da die Gerechtigkeit Gottes, sagen sie, wenn einer, der hienieden gesündigt, hier u n d in der anderen Welt gestraft wird? Darf ich euch vielleicht daran erinnern, wie ihr selbst zu reden pflegt, damit ihr uns keine weiteren Einwände mehr macht, sondern aus euch selbst die Lösung gebt? Ich habe schon oft von Menschen gehört, sie hätten, wenn sie gerade erfuhren, ein Mörder sei im Gefängnis hingerichtet worden, voll Unwillen geäußert: Dieser elende, verworfene Mensch hat dreißig Mordtaten begangen, ja vielleicht noch viel mehr, und er selbst hat den Tod nur einmal leiden müssen; wo bleibt da die Gerechtigkeit? Ihr gesteht also von selbst ein, dass ein einmaliger Tod hierfür kein genügende Strafe ist. Warum habt ihr aber dann hier die entgegengesetzte Ansicht? Weil ihr hier nicht über andere, sondern über euch selbst urteilt. So sehr trübt die Eigenliebe den Blick für die Gerechtigkeit. Wenn wir über andere zu richten haben, dann beurteilen wir alle mit großer Strenge; haben wir über uns selbst zu richten, so sind wir geblendet. Würden wir dagegen mit uns selbst ebenso strenge ins Gericht gehen wie mit den anderen, so würden wir ein unparteiisches Urteil fällen. Auch wir haben ja Sünden auf dem Gewissen, für die wir nicht nur zweioder dreimal, sondern tausendmal den Tod verdient hätten. Um von allem anderen zu schweigen, erinnern wir uns nur daran, wie viele Christen unwürdig an den hl. Geheimnissen teilnehmen! Dafür sind sie aber "schuldig des Leibes und des Blutes Christi" (1Co 11,27). Redest du also von einem Mord, so denke an dich selbst. Jener hat ja nur einen Menschen umgebracht, du aber bist schuldig am Tode des Herrn; der eine[375] , ohne dass er an den hl. Geheimnissen teilgenommen hätte; wir[376] ,obwohl wir uns dem hl. Tische nahen dürfen. Und was soll ich von denen sagen, die ihre eigenen Brüder gleichsam beißen und verzehren (Ga 5,15) und fortwährend Gift wider sie speien, und was von denen, die den Armen noch den Bissen Brot vom Munde nehmen? Wenn schon derjenige ein Mörder ist, der kein Almosen gibt, dann um so mehr, wer den anderen das Ihrige nimmt. Und sind nicht die Habsüchtigen schlimmer als viele Diebe, und die Räuber schlimmer als viele Mörder und Grabschänder? Und wie viele rauben nicht bloß, sondern verlangen auch noch gierig nach Blut? 

   Nein, sagst du, Gott bewahre! Jetzt sagst du Gott bewahre! Ja, wenn du einen Feind hast, dann sage: Gott bewahre; dann erinnere dich an das, was ich gesagt habe und führe ein recht gewissenhaftes Leben, damit nicht auch uns einst das Schicksal Sodomas erwarte, nicht auch wir das Los Gomorrhas teilen und die Strafen von Tyrus und Sidon gewärtigen müssen; oder vielmehr, damit wir Christus nicht beleidigen, was von allen Dingen das Schlimmste und Schrecklichste wäre. Ja, wenn auch manchen die Hölle als etwas Furchtbares erscheint, ich werde doch nicht aufhören, immer wieder zu rufen, dass Christum beleidigen schlimmer und schrecklicher ist als jede Hölle. Und euch bitte ich, von dieser Gesinnung durchdrungen zu sein; denn auf diese Weise werden wir sowohl der Hölle entgehen, als auch an der Herrlichkeit Christi teilnehmen, die wir alle erlangen mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, der die Ehre und die Macht besitzt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen!





Siebenunddreißigste Homilie. Kap. XI, V.7-24.

37 Mt 11,7-24

1.

V.7: "Als aber jene fortgingen, begann Jesus zu der Menge von Johannes zu reden und sprach: Was wolltet ihr sehen, dass ihr in die Wüste gekommen seid? Ein Rohr, das vom Winde hin und her bewegt wird?

   V.8: Oder was seid ihr gekommen zu sehen? Einen Menschen, der in weichliche Kleider gehüllt ist? Sehet, diejenigen, die weichliche Kleider tragen, sind in den Palästen der Könige.

   V.9: Oder was seid ihr gekommen zu sehen? Einen Propheten? Ja, ich sage euch, noch mehr als einen Propheten." 

   Die Sache mit den JohannesJüngern war glücklich erledigt worden und sie gingen fort, bestärkt durch alsbald[377] geschehenen Wunder. Es erübrigte noch, dass auch das Volk belehrt würde. Die Jünger hatten ja nicht geahnt, dass es sich so mit ihrem Lehrmeister verhalte. Dafür hatte die große Menge aus der Frage des Johannes allerlei ungereimte Vermutungen abgeleitet, weil sie nicht wußte, in welcher Absicht er seine Jünger gesandt hatte. So war zu erwarten, dass sie untereinander reden und sagen würden: Derjenige, der so große Dinge verkündet hatte, hat seine Meinung jetzt geändert und ist im Zweifel, ob dieser oder ein anderer es sei, der da kommen wird. Spricht er jetzt vielleicht so, um Zwietracht gegen Jesus anzustiften? Oder ist er infolge seiner Gefangenschaft schwächer und furchtsamer geworden? Oder waren ihm gar seine früheren Reden nicht ernst gewesen? Da sie also wahrscheinlich viele derartige Dinge vermuten würden, so siehe, wie der Herr ihrer Schwachheit zu Hilfe kommt und ihnen all ihren Argwohn benimmt. "Denn als die JohannesJünger weggingen, begann er zu der Menge zu sprechen." Weshalb erst:"als sie weggingen"? Damit es nicht den Anschein habe, als wolle er dem Johannes schmeicheln. Um aber das Volk auf die rechte Bahn zu bringen, vermeidet er es, von ihrem Argwohn zu reden; vielmehr gibt er ihnen die Lösung auf all die Zweifel, die ihren Geist verwirrten, und zeigt ihnen, dass er die verborgenen Gedanken aller Menschen kenne. So sagt er denn auch nicht, wie zu den Juden: "Was denkt ihr Böses (Mt 9,4). Denn wenn sie sich auch Gedanken machten, so taten sie dies doch nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie das nicht verstanden, was sie gehört hatten. Deshalb redet der Herr auch nicht hart mit ihnen, sondern lenkt nur ihre Gedanken auf den rechten Weg, verteidigt den Johannes und zeigt, dass er nicht von seiner früheren Meinung abgekommen sei und sich nicht geändert habe. Denn, sagt er, er ist ja kein leichtfertiger, unbeständiger Mensch, sondern fest und standhaft, und nicht von der Art, dass er Verrat übte an seiner Sendung. 

   Um ihnen dies aber begreiflich zu machen, beginnt er nicht sogleich mit seiner Aussage, sondern zuerst mit ihrem eigenen Zeugnis. Er will zeigen, dass sie nicht nur durch ihre Worte, sondern auch durch ihre Taten für des Johannes Unbeugsamkeit Zeugnis abgelegt hätten. Darum sagt er: "Was wollt ihr sehen, dass ihr in die Wüste gekommen seid?" Es ist gerade als ob er sagte: Warum habt ihr die Stadt und eure Häuser verlassen und seid alle in der Wüste zusammengekommen? Um einen armseligen, einfachen Menschen zu sehen? Das wäre doch wohl nicht ganz vernünftig. Nicht darauf weist dieser Eifer hin, und dies allgemeine Zusammenströmen in der Wüste. Es wären ja damals wohl nicht so viele Menschen und so viele Städte mit solchem Eifer in die Wüste und zum Jordan gezogen, wenn sie nicht erwartet hätten, einen großen, bewunderungswürdigen Mann zu sehen, der härter war als Stein. Also nicht um ein Rohr zu sehen, das vom Winde bewegt wird, seid ihr gekommen. Denn nur die leichtfertigen und leichtbeweglichen Menschen, die jetzt das und dann wieder etwas anderes reden, ohne bei irgend etwas zu beharren, die gleichen am ehesten solch einem Rohr. Da beachte auch, wie der Herr alle anderen Fehler übergeht und nur diesen nennt, der ihnen damals am gefährlichsten war, und wie er ihnen die Annahme der Leichtfertigkeit[378] aus dem Sinn schlägt. "Oder was seid ihr herausgekommen zu sehen? Einen Menschen, der in weichlichen Kleider gehüllt ist? Sehet, diejenigen, die weichliche Kleider tragen, wohnen in den Palästen der Könige." Mit diesen Worten will er sagen: Von Natur ist Johannes nicht unbeständig und schwankend; das habt ihr selbst bezeugt durch euren Zulauf. Ja, auch das kann wohl niemand behaupten, er sei zwar fest gewesen, sei aber nachher genußsüchtig, weichlich geworden. Denn von den Menschen sind die einen von Natur so, die andern werden es erst; so ist zum Beispiel der eine von Natur zum Zorn geneigt, ein anderer zieht sich diesen Fehler erst infolge einer langen Krankheit zu. Eben so sind die einen von Charakter unbeständig und leichtsinnig, andere werden erst so infolge eines genußsüchtigen, weichlichen Lebens. Johannes dagegen, so will der Herr sagen, war auch von Natur nicht so. Ihr seid ja doch auch nicht gekommen, ein Rohr zu sehen; und ebenso hat er sich nicht einem genußsüchtigen Leben ergeben und so den früheren Vorzug verloren. Denn dass er sich keinem genußsüchtigen Leben hingab, beweisen sein Gewand, die Wüste und das Gefängnis. Hätte er weichliche Kleider tragen wollen, so hätte er seine Wohnung nicht in der Wüste gesucht und nicht im Gefängnis, sondern in den Palästen. Hätte er sich zum Schweigen verstehen wollen, so hätte er tausendfache Ehrenerweise gefunden. Denn wenn Herodes sich vor seinem Tadel schon so sehr fürchtete, während er in Fesseln lag, so kann man sich denken, wie sehr er ihm geschmeichelt hätte, wenn er hätte schweigen wollen. Nachdem also Johannes durch die Tat seine Standhaftigkeit und Festigkeit bewiesen, wie dürfte man da noch solches von ihm argwöhnen?



2.

Der Herr kennzeichnet also des Johannes Lebensweise durch den Hinweis auf die Wüste, auf seine Gewandung und auf das Zusammenströmen der Leute. Zuletzt bezeichnet er ihn auch noch als Prophet. Er sagt: "Wozu seid ihr herausgekommen? Um einen Propheten zu sehen? Ja, ich sage euch, ihr seht einen, der noch mehr ist als ein Prophet."

   V.10: "Denn", fährt er fort, "der ist es, von dem geschrieben steht: Siehe, ich sende meinen Engel vor deinem Angesicht, der Deinen Weg vor Dir bereiten wird" (Ml 3,1). 

   Zuerst brachte er das Zeugnis der Juden; jetzt erwähnt er das der Propheten. Oder besser gesagt, zuerst hat er die Sache durch die Juden entschieden; denn darin liegt ja die größte Beweiskraft, wenn ein Zeugnis von den Feinden stammt; in zweiter Linie weist er auf das Leben des Mannes hin; an dritter Stelle bringt er sein eigenes Urteil; an vierter endlich das der Propheten. Damit bringt er die Juden auf der ganzen Linie zum Schweigen. Damit sie aber dann nicht sagten: Wie, wenn er damals zwar so gewesen wäre, jetzt sich aber geändert hätte? so fügte er auch das hinzu, was sich auf die spätere Zeit bezog, seine Kleidung, das Gefängnis und außerdem noch die Eigenschaft als Prophet. Weil er aber gesagt hatte, Johannes sei größer als ein Prophet, so zeigt er auch, worin er größer ist. Worin ist er also größer? Darin, dass er demjenigen so nahe stand, der da kommen sollte. "Denn", heißt es, "ich werde meinen Engel vor Deinem Angesichte hersenden", das heißt: nahe bei Dir. Denn wie bei den Königen diejenigen höher stehen als die anderen, die in der Nähe des königlichen Wagens gehen, so sehen wir auch Johannes nahe bei der Ankunft des Herrn auftreten. Beachte, wie er auch daraus einen Vorzug für ihn ableitet; und nicht genug damit, er drückt auch sein eigenes Urteil aus mit den Worten:

   V.11: "Wahrlich, ich sage euch, unter den von den Weibern Geborenen ist keiner erstanden, der größer wäre als Johannes der Täufer." 

   Mit diesen Worten will er sagen; Nie hat ein Weib einen Größeren geboren als ihn. Dieser Ausspruch ist zwar allein schon genügend; willst du dich aber auch durch die Tatsachen überzeugen, so sieh nur, wovon Johannes sich nährte, wie er lebte und welch hohe Gesinnung er besaß. Er lebte so, als wäre er schon im Himmel, erhaben über die Bedürfnisse der Natur. Einen neuen Weg wandelte er, verbrachte die ganze Zeit mit Lobgesängen und Gebeten und verkehrte nie mit einem Menschen, sondern immer nur mit Gott allein. Er sah nie einen seiner Mitmenschen, noch wurde er von einem aus ihnen gesehen; er wurde nicht mit Milch ernährt, er hatte kein Bett, kein Haus und keinen Verkehr; er besaß nichts von all dem, was den Menschen angenehm ist. Dennoch war er zugleich sanftmütig und starkmütig. Höre nur, wie sanftmütig er mit seinen eigenen Jüngern redete, wie männlich mit dem Judenvolke, wie freimütig mit dem König! Darum sagte auch der Herr:"Unter den vom Weibe Geborenen ist kein Größerer erstanden als Johannes der Täufer." 

   Damit aber nicht das Übermaß des Lobes irgendwelche unerwünschten Folgen habe, wenn etwa die Juden den Johannes Christo vorzögen, so beachte, wie der Herr auch hier den rechten Weg einschlägt. Denn wie das, was die JohannesJünger aufrichtete, der Menge zum Schaden gereichte, indem sie den Täufer für leichtbeweglich hielten, so konnte auch das, was der Menge zum Vorteil dienen sollte, viel größeren Schaden anrichten, wenn sie infolge seiner Rede von Johannes eine höhere Meinung bekamen als von Christus. Deshalb kommt er auch dem in unauffälliger Weise zuvor mit den Worten: "Jedoch ist der Geringste im Himmelreiche immer noch größer als er." "Der Geringste", nämlich dem Alter nach, und nach der Meinung der großen Menge. Sie nannten ja den Herrn einen Fresser und Weintrinker (Mt 11,19) und sagten: "Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns?" (Mt 13,55), und überall zeigten sie ihm ihre Geringschätzung. Nun denn, fragst du, ist er der größere im Vergleich zu Johannes? Durchaus nicht. Auch Johannes will ja mit den Worten: "Er ist stärker als ich keinen Vergleich anstellen; ebensowenig Paulus, wenn er Moses erwähnt und sagt: "Dieser wurde größerer Herrlichkeit gewürdigt als Moses" (He 3,3). Und der Herr selbst spricht die Worte: "Siehe, dieser ist mehr als Salomon" auch nicht vergleichsweise. Wenn wir aber auch zugeben, es sei dies vergleichsweise vom Herrn gesagt worden, so hätte er es eben in der Absicht getan, um der Schwachheit seiner Zuhörer entgegenzukommen. Die Leute waren eben Johannes dem Täufer ungemein ergeben, und gerade damals ließen ihn seine Fesseln in noch glänzenderem Licht erstrahlen, ebenso wie sein Freimut gegenüber dem Könige, und es war ganz gut, wenn dies von den meisten in diesem Sinne aufgefaßt wurde. 

   Auch das Alte Testament verstand es ja, die Seele der Verirrtem wieder auf diese Weise auf den rechten Weg zu führen, indem es Dinge vergleichsweise nebeneinander stellt, die sich eigentlich nicht miteinander vergleichen lassen; so zum Beispiel, wenn es heißt: "Keiner ist dir gleich unter den Göttern, o Herr" (Ps 85,8). Und an einer anderen Stelle: "Es ist kein Gott wie unser Gott" (Ps 76,14). Einige behaupten da, Christus habe dies von den Aposteln gesagt. Andere glauben, es sei von den Engeln gemeint. Es gibt eben Leute, die in alle möglichen Irrtümer zu fallen pflegen, wenn sie einmal von der Wahrheit abgewichen sind. Oder welchen Sinn hätte es denn, so etwas von Engeln oder von den Aposteln zu sagen? Im anderen Falle, wenn die Apostel gemeint gewesen wären, was hätte ihn gehindert, sie mit Namen zu nennen? Wo er von sich selbst redete, war es ganz am Platze, dass er wegen des Argwohnes, der noch herrschte, seine Person verbarg, um nicht den Anschein zu erwecken, als wolle er sich selbst rühmen. So machte er es auch in der Tat bei vielen Gelegenheiten. Was bedeuten aber die Worte: "Im Himmelreich"? Die bedeuten: In den geistigen Dingen und in allem, was den Himmel betrifft. Endlich wollte er mit dem Satze: "Es ist keiner erstanden unter den vom Weibe Geborenen, der größer wäre als Johannes" sich selbst in Gegensatz zu Johannes bringen und so sich selbst als die Ausnahme hinstellen.



3.

Wenn auch der Herr selbst vom Weibe geboren war, so war er es doch nicht in der gleichen Weise wie Johannes. Er war eben kein bloßer Mensch, und ward nicht geboren wie andere Menschen, sondern hatte eine außergewöhnliche, wunderbare Geburt.

   V.12: "Seit den Tagen des Johannes des Täufers aber", fährt er fort, "leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich." 

   Welchen Zusammenhang mag wohl dies mit dem Vorhergehenden haben? Beides steht in vorzüglichem Einklang. Der Herr drängt und treibt nämlich die Juden auch mit diesen Worten zum Glauben an ihn, und zugleich stimmt er mit dem überein, was früher Johannes gesagt hat. Denn wenn bis zu Johannes alles sich erfüllt hat, so will er sagen, dann bin ich derjenige, der da kommt.

   V.13: "Denn", sagt er, "alle Propheten und das Gesetz haben bis auf Johannes geweissagt." 

   Die Propheten hätten ja nicht aufgehört, wenn ich nicht gekommen wäre. Erwartet also nichts weiter, wartet auf nichts anderes. Denn dass ich es bin, geht daraus hervor, dass die Propheten aufhören, und dass täglich Leute den Glauben an mich[379] rauben. Es ist eben so klar und offenbar, dass sogar viele ihn sich förmlich rauben. Aber wer hat ihn sich geraubt, sag mir? Alle jene, die mit Eifer zum Herrn sich hinwendeten. Sodann gibt er ihnen ein zweites Wahrzeichen an die Hand und sagt:

   V.14: "Wenn ihr es annehmen wollt, so ist er selbst der Elias, der da kommen wird." 

   "Denn", heißt es, "ich werde euch Elias den Thesbiter senden, der das Herz des Vaters den Kindern zuwenden wird" (Ml 4,5). 

   Wenn ihr also genau zusehen wollt, sagt er, so ist dieser da Elias. Denn: "Ich werde meinen Engel vor Deinem Angesichte hersenden" (Ml 3,1). Ganz treffend sagt der Herr: "Wenn ihr es annehmen wollt", um zu zeigen, dass niemand dazu gezwungen wird; ich zwinge niemanden, will er sagen. So sprach er aber, weil er eine bereitwillige Gesinnung verlangt, und um zu zeigen, dass Johannes mit Elias und Elias mit Johannes eins ist. Beide hatten ja eine und dieselbe Sendung erhalten, beide waren Vorläufer geworden. Darum sagt auch der Herr nicht einfach: Dieser da ist Elias, sondern: "Wenn ihr es annehmen wollt, dieser ist es"; mit anderen Worten: Wenn ihr mit bereitwilliger Gesinnung auf die Ereignisse acht habt. Doch bleibt er auch hierbei nicht stehen; um zu zeigen, dass man auch Einsicht nötig hat, fügt er zu den Worten:"Dieser ist Elias, der da kommen wird", hinzu:

   V.15: "Wer Ohren hat zu hören, der höre." 

   Solche rätselhafte Andeutungen macht er aber deshalb, um die Juden zum Fragen zu veranlassen. Wenn aber nicht einmal so ihr Interesse geweckt wurde, so wäre es noch viel weniger geschehen, wenn er klar und deutlich geredet hätte. Es könnte ja doch wohl niemand sagen, jene hätten es nur nicht gewagt zu fragen, und der Herr sei nicht leicht zugänglich gewesen. Denn wenn sie ihn schon über ganz unwichtige Dinge fragten und auf die Probe stellten und nicht abließen, obwohl sie tausendmal hätten verstummen müssen, wie hätten sie dann bei notwendigen Dingen nicht fragen sollen, wenn es ihnen überhaupt darum zu tun war, etwas zu erfahren? Wenn sie über die Gesetze fragten und wissen wollten, welches Gesetz das erste sei, und vieles ähnliche, worüber er ganz und gar nicht hätte zu reden brauchen, wie hätten sie sich da über den Sinn seiner eigenen Worte nicht genau erkundigen sollen, über die er doch eher reden und Antwort stehen mußte? Dies um so mehr, als ja er selbst es war, der dazu anregte und sie dazu einlud. Durch die Worte: "Die Gewalttätigen reißen es an sich" sucht er ihren Eifer anzufachen; ebenso durch das folgende: "Wer Ohren hat zu hören, der höre." Dann fährt er fort:

   V.16: "Wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht den Knaben, die auf dem Marktplatz sitzen und sagen:

   V.17: Wir haben für euch die Flöte geblasen, und ihr habt nicht getanzt; wir haben euch Trauerlieder vorgespielt, und ihr habt nicht getrauert." 

   Auch diese Worte stehen anscheinend nicht im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden und doch passen sie sehr gut dazu; denn sie dienen dem gleichen Hauptzwecke und zeigen, dass Johannes ganz mit ihm übereinstimmt, wenn sie auch in ihren Handlungen entgegengesetzte Wege gehen. Das gleiche ist nun auch mit der Frage der Fall; er will zeigen, dass nichts unterlassen wurde, was zu ihrem Heile nützlich sein könnte. So sagt auch der Prophet von dem Weinberge: "Was hätte ich für diesen Beinberg noch tun sollen, und habe es nicht getan?" (Is 5,4). Und der Herr sagt: "Wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen? Es gleicht den Knaben, die auf offenem Markte sitzen und sagen: "Wir haben euch auf der Flöte gespielt und ihr habt nicht getanzt, wir haben euch Trauerlieder gespielt, und ihr habt nicht getrauert."

   V.18: "So kam Johannes, aß und trank nicht, und sie sagen: Er hat einen Dämon.

   V.19: Es kam der Menschensohn, aß und trank, und sie sagen: Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und Weintrinker, ein Freund der Zöllner und Sünder." 

   Mit diesen Worten will der Herr sagen: Wir kamen ein jeder auf einem anderen Wege, ich und Johannes, und haben es gerade so gemacht, wie wenn etwa Jäger ein scheues Wild auf zwei möglichen Wegen ins Netz bringen wollen; da besetzt jeder einen anderen Weg und so gehen sie aus entgegengesetzter Richtung vor, so dass sie notwendigerweise aufeinander treffen müssen. Sieh also nur, wie das ganze Menschengeschlecht von Bewunderung ergriffen wurde beim Anblick dieses Lebens voll Abtötung, Strenge und Frömmigkeit. Deshalb hat Gott es so gefügt, dass Johannes von frühester Jugend an also lebte, damit er auch ob dieser Lebensweise Glauben fände für seine Predigt. Und warum, fragst du, hat nicht der Herr selbst diesen Lebensweg gewählt? Auch er ist sehr wohl diesen Weg gegangen, da er die vierzig Tage hindurch fastete und lehrend umherging, ohne etwas zu haben, worauf er sein Haupt niederlegen konnte. Übrigens ist der Herr auch auf andere Weise zum selben Ziel gelangt, und hat denselben Zweck erreicht. Denn für ihn war es dasselbe, wie wenn er den gleichen Weg gegangen wäre, ja noch viel mehr, dass nämlich derjenige für ihn Zeugnis ablegte, der diesen Weg gegangen. Außerdem hatte Johannes nichts weiter aufzuweisen als seine strenge Lebensweise. "Denn", heißt es, "er tat kein einziges Zeichen." Für den Herrn dagegen legen Zeichen und Wunder Zeugnis ab. Deshalb wollte er, dass Johannes sich durch sein Fasten auszeichne; er selbst ging den anderen Weg, setzte sich an die Tische der Zöllner und aß und trank.



4.

Wir fragen daher die Juden: Ist das Fasten etwas Schönes und Bewundernswertes? Nun, dann hättet ihr dem Johannes Glauben schenken sollen, ihm beistimmen und seine Predigt annehmen. Denn auf diese Weise würden euch seine Worte zu Jesus geführt haben. Aber, sagst du, das Fasten ist unerträglich und unangenehm. Dann mußtest du Jesu anhängen und ihm glauben, der das Gegenteil von Johannes tat. Auf beiden Wegen hättet ihr ja in die Netze des Himmelreiches fallen sollen. Doch haben sie wie ein scheues Wild gehandelt und haben beide beschimpft. Die Schuld liegt also nicht an denen, die keinen Glauben fanden, sondern die ganze Verantwortung trifft jene, die nicht glauben wollten. Es wird doch wohl niemand entgegengesetzte Dinge zu gleicher Zeit tadeln und loben. Wem zum Beispiel ein heiterer, fröhlicher Mensch gefällt, der wird an einem düsteren, unzugänglichen keinen Gefallen finden; wer dagegen den düsteren lobt, wird den fröhlichen nicht preisen. Es geht eben nicht an, beide zugleich zu loben oder zu tadeln. Aus diesem Grunde sagt auch der Herr: "Wir haben euch die Flöte geblasen und ihr habt nicht getanzt"; das heißt: Ich habe vor euch ein angenehmes Leben geführt, und ihr ließet euch nicht überreden. Und: "Wir haben euch Trauerlieder vorgespielt und ihr ward nicht traurig"; das heißt: Johannes führte ein strenges, hartes Leben, und ihr habt nicht darauf geachtet. Auch sagt er nicht: Er hat jenes und ich dieses Leben geführt; es waren eben beide gleichgesinnt, wenn auch in der Lebensweise verschieden; deshalb sagt er, sie hätten beide das gleiche getan. Auch dass sie verschiedene Wege gingen, war ja nur der Ausfluß größter Eintracht, die auf ein und denselben Zweck abzielt. Welche Entschuldigung wollt ihr also noch haben? Darum fügt der Herr auch noch hinzu: "Und die Weisheit ward gerechtfertigt von ihren Kindern"; das heißt: Wenn ihr auch nicht glauben wollt, ihr könnt wenigstens mir keinen Vorwurf mehr machen. Dasselbe sagt der Prophet vom Vater: "Damit du gerechtfertigt werdest in Deinen Reden" (Ps 50,6). Denn wenn auch Gott mit seiner Fürsorge für uns nichts ausrichtet, so tut er doch alles, was an ihm liegt, so dass denen, die schlecht sein wollen, auch nicht einmal der Schatten eines Zweifels oder der Unwissenheit verbleibt. Wenn aber die angeführten Beispiele armselig und unscheinbar sind, so wundere dich darüber nicht. Der Herr redet eben, wie es für seine schwachen Zuhörer paßte. So bringt ja auch Ezechiel viele Beispiele, die zwar für die Juden ganz gut paßten, die aber der Größe und Würde Gottes nicht angemessen waren. Aber gerade das entspricht ganz der Fürsorge, die Gott für uns trägt. 

   Beachte aber, wie die Juden auch auf andere Weise sich in Widersprüche verwickeln. Nachdem sie von Johannes gesagt hatten, er habe einen Dämon, blieben sie dabei nicht stehen, sondern sagten auch vom Herrn dasselbe, obwohl er einen entgegengesetzten Lebensweg eingeschlagen hatte. Auf diese Weise widersprachen sie sich immer selbst. Lukas bringt außerdem noch einen anderen, weit größeren Grund des Tadels gegen sie vor, indem er sagt: "Die Zöllner haben Gott gerechtfertigt, da sie die Taufe des Johannes annahmen" (Lc 7,29). Zuletzt tadelt dann der Herr auch noch die Städte, nachdem die Weisheit gerechtfertigt ward, und er gezeigt hatte, dass alles sich erfüllt hat. Da er sie nämlich nicht zum Glauben hatte bringen können, so bekundet er nur noch Mitleid mit ihnen, was schlimmer ist, als wenn er ihnen gedroht hätte. Er hatte sie ja mit Worten belehrt, sowie mit Zeichen und Wundern. Weil sie aber in ihrem Unglauben verharrten, so tadelt er sie nunmehr.

   V.20: "Denn damals", heißt es, "begann Jesus die Städte zu tadeln, in denen seine größten Machterweise vorgekommen waren, dass sie sich nicht bekehrten und sagte: 

   V:21: Wehe dir Chorazain, wehe dir Bethsaida." 

   Damit du nämlich sehest, dass deren Bewohner nicht etwa von Natur so seien, erwähnt der Herr auch den Namen der Stadt, aus der fünf Apostel hervorgegangen waren. Denn Philippus und die beiden Brüderpaare der obersten Apostel stammten daher.[380] . Denn wenn in Tyrus und Sidon die Zeichen der Macht geschehen wären, die unter euch geschahen, so hätten sie in Sack und Asche Buße getan.

   V.22: Indes sage ich euch, das Los von Tyrus und Sidon wird erträglicher sein am Tage des Gerichtes, als das eurige.

   V.23: Und du Kapharnaum, das du bis zum Himmel erhoben warst, du wirst bis zur Unterwelt erniedrigt werden; denn wenn in Sodoma die Wunder geschehen wären, die in dir geschahen, so würden sie noch heutigen Tages bestehen.

   V.24: Aber ich sage euch, das Los Sodomas wird erträglicher sein am Tage des Gerichtes als das deine." 

   Nicht ohne Absicht legte ihnen der Herr das Beispiel Sodomas vor; er wollte damit seiner Anklage mehr Nachdruck verleihen, Denn es ist ja doch der stärkste Ausdruck für Schlechtigkeit, wenn man als schlechter hingestellt wird denn alle Schlechten, nicht bloß unter denen, die damals lebten, sondern auch unter denen, die jemals sein werden. Einen ähnlichen Vergleich stellt er auch anderswo an, da er die Juden den Niniviten an die Seite stellt und der Königin des Ostens und sie so verurteilt (Mt 12,41-42). Dort verglich er sie mit Leuten, die Gutes taten, hier dagegen mit Sündern, was viel schlimmer ist. Solche Vergleiche waren auch dem Ezechiel geläufig; deshalb sagt er zu Jerusalem. "Du hast deine Schwestern gerechtfertigt in all deinen Sünden" (Ez 16,51). Sp pflegt Jesus überall gern das Alte Testament zu zitieren Doch bleibt er auch hierbei nicht stehen, sondern verursacht ihnen noch mehr Furcht, indem er sagt, sie würden Schlimmeres zu gewärtigen haben als die Sodomiten und die Tyrer; er will eben auf jede Weise Eindruck auf sie machen, sowohl durch das Wehe, das er ihnen zuruft, als auch durch die Furcht, die er ihnen einzuflößen trachtet.



5.

Auch wir wollen also diesen Worten Gehör schenken. Denn nicht bloß für die Ungläubigen, sondern auch für uns hat der Herr eine viel schwerere Strafe bestimmt als den Sodomiten, falls wir die Fremden nicht aufnehmen wollen, die zu uns kommen; denn er befahl diesen, sogar den Staub von ihren Füßen abzuschütteln; und dies ganz mit Recht. Denn wenn auch jene Leute Sünden begangen haben, so geschah dies, bevor das Gesetz gegeben und die Gnade gekommen war. Welche Nachsicht hätten aber wir verdient, die wir solcher Gnaden teilhaftig geworden und doch solche Hartherzigkeit gegen die Fremden an den Tag legen, den Bedürftigen die Türe verschließen und unser Ohr noch früher als die Tür ja dies alles nicht bloß den Armen, sondern sogar den Aposteln selbst gegenüber? Denn nur deshalb behandeln wir die Armen so, weil wir es auch den Aposteln so machen. Wenn nämlich Paulus vorgelesen wird und du nicht achtgibst, wenn das Evangelium Johannis verkündigt wird und du nicht zuhörst, wie wirst du da den Armen aufnehmen, wenn du dem Apostel keinen Eingang gewährst? Damit also für die einen unser Haus und für die anderen unser Ohr immerdar offenstehe, so wollen wir die Ohren unserer Seele von allem Schmutz reinigen. Denn wie Schmutz und Unrat die leiblichen Ohren verstopfen, so verstopfen unlautere Gesänge, weltliche Reden und Sorgen über Zinsen und Darlehen das Ohr noch viel ärger als aller Schmutz; ja sie verstopfen es nicht bloß, sie machen es selber unrein. Denn jene, die von solchen Dingen reden, stopfen Schmutz in eure Ohren. Ja, was der Barbar damals androhte, als er sagte: "Ihr werdet euren eigenen Unrat essen" (Is 33,12) und so weiter, dasselbe fügen auch diese euch zu, nicht mit Worten, sondern durch Taten; ja noch viel Schlimmeres als das. Denn noch schamloser als dies sind jene Gesänge. Und das schlimmste daran ist, dass ihr es nicht nur nicht als Belästigung empfindet, wenn ihr solches zu hören bekommt, sondern auch noch dazu lacht, während ihr doch Abscheu empfinden und fliehen solltet. Wenn du dies aber nicht abscheulich findest, so gehe nur auf die Bühne und ahme nach, was du da lobst; oder vielmehr gehe nur einmal mit dem, der dich also zum Lachen bringt. Du würdest wohl kaum den Mut dazu finden. Warum tust du ihm also so viel Ehre an? Sogar die Gesetze, die von den Heiden aufgestellt wurden, wollen, dass solche Menschen für ehrlos gelten. Du hingegen nimmst sie mit der ganzen Stadt auf, als wären sie Gesandte und Heerführer, du rufst alle Leute zusammen, damit die ihre Ohren voll Schmutz bekommen! Wenn dein Diener etwas Unanständiges sagt und du hörst es, so erhält er zahllose Geißelhiebe; und wenn dein Sohn, deine Frau, ja wer immer so etwas tut, so nennst du es eine Schande. Wenn aber feiles Gesindel daherkommt und dich ruft, damit du ihre schamlosen Reden hörst, dann wirst du darüber nicht nur unwillig, nein, du freust dich sogar und spendest ihnen Beifall. Gibt es wohl eine größere Inkonsequenz als diese? 

   Aber, du selbst redest keine solchen unschamhaften Dinge? Und was hast du damit gewonnen? Im Gegenteil, du offenbarst auch hierin deine Schuld, und wodurch? Wenn du nicht selber solche Dinge redest, so würdest du auch nicht lachen, wenn du sie hörst, und würdest nicht mit solchem Eifer der Stimme nachlaufen, die dich so entehrt. Sag mir doch nur: Freust du dich, wenn du Gotteslästerungen hörst? Oder erschauderst du nicht vielmehr und hältst dir die Ohren zu? Ich glaube wohl. Und warum denn? Weil du selber nicht lästerst. So mache es denn auch mit den unsittlichen Reden. Willst du uns einen klaren Beweis dafür geben, dass du keinen Gefallen daran hast, wenn schlechte Reden geführt werden, so versage dir auch das Zuhören. Wie könntest du jemals rechtschaffen werden, wenn du mit solchen Klängen unterhalten wirst? Wie könntest du dich jemals entschließen, den mühevollen Kampf um die Reinheit auf dich zu nehmen, wenn du beinahe vergehst vor Lachen über diese Gesänge und diese schändlichen Reden? Man muß schon froh sein, wenn eine solche Seele anständig und keusch bleibt, die von all diesen Dingen sich rein hält, geschweige denn eine, die mit derlei Unterhaltung sich nährt! Oder wißt ihr nicht, dass wir zum Bösen viel leichter geneigt sind? Wenn wir nun sogar eine Kunst und ein Handwerk daraus machen, wie können wir dann jenem Feuer[381] entfliehen? Hast du nicht gehört, was der hl. Paulus sagt: "Freuet euch im Herrn!" (Ph 4,4), und nicht im Teufel.



6.

Wann willst du also imstande sein, auf den hl. Paulus zu hören? Wann willst du deiner Fehltritte bewußt werden, wenn du immer und unaufhörlich von jenen Schauspielen trunken bist? Dass du hierher gekommen bist, ist gar nichts Bewundernswertes und Großes; oder vielmehr, es ist zum Verwundern. Denn hierher kommst du eben gewohnheits- und anstandshalber; dorthin gehst du dagegen voll Eifer, in Eile und mit dem größten Interesse. Das erkennt man an dem, was du beim Weggehen von dort nach Hause trägst. Den ganzen Schmutz, der dort über euch ausgeschüttet wurde durch Worte, durch Gesang, durch Gelächter, trägt da ein jeder von euch nach Hause; ja nicht bloß in sein Haus, sondern jeder auch in seine eigene Seele. Von dem, was keinen Abscheu verdient, wendest du dich ab; was dagegen Abscheu verdienst, das hassest du nicht, nein, du liebst es sogar. Da pflegen viele sich zu waschen, wenn sie von Gräbern zurückkommen; wenn sie dagegen von den Theatern heimkehren, seufzen die nicht und vergießen keine Ströme von Tränen. Und doch ist ein Toter nichts Unreines, wohl aber verursacht die Sünde einen solchen Makel, dass du diesen auch mit tausend Wasserbächen nicht abwaschen kannst, sondern nur mit Tränen und reuigem Bekenntnis. Doch ist keiner, der diesen Makel empfindet, weil wir eben das nicht fürchten, was wir fürchten sollten; deshalb erschrecken wir auch vor dem, wovor wir nicht zu erschrecken brauchten. 

   Was soll auch dieses Getöse, was soll dieser Lärm, das höllische Geschrei und die teuflichen Spuckgestalten? Da hat ein Jüngling langes Haar nach rückwärts hängen, macht sich selbst zum Weibe und bemüht sich durch Blick, Haltung, Kleider, kurz durch alles, den Eindruck eines zarten Mädchens hervorzurufen. Ein anderer, der schon im Greisenalter steht, läßt sich im Gegensatz zu diesem Jüngling die Haar scheren, gürtet sich die Lenden, legt früher noch als die Haare die Scham ab, und steht bereit, Backenstreiche zu empfangen und alles mögliche zu sagen und zu tun. Da stehen Weiber mit entblößtem Haupte, allen Schamgefühles bar; sie reden zum Volke und legen ihren ganzen Eifer in solche Schamlosigkeit, und teilen den Seelen ihrer Zuhörer ihre ganze eigene Frechheit und Zügellosigkeit mit. Ihr einziges Bestreben ist darauf gerichtet, alle Schamhaftigkeit mit der Wurzel auszurotten, die Natur zu schänden, die Lust des bösen Dämons zu befriedigen. Da sind schamlose Worte, noch schamlosere Kleidungen und ebensolche Frisuren; der Gang, das Gewand, die Stimme, Gliederverrenkungen, Augenverdrehungen, Pfeifen , Flöten, Dramen, Vorträge überhaupt alles ist da voll Wollust. Wie willst du also noch keusch bleiben, sag mir, wenn der Teufel dir diesen ungemischten Trank der Unzucht kredenzt, dir so viele Becher der Schamlosigkeit bereitet? Da gibt es ja Ehebrüche und Buhlerinnen, Hurenweiber und männliche Hetären, entmannte Jünglinge, alles, was gegen Gesetz und Natur ist, alles, was nur Schande und Schmach heißt. Also nicht lachen sollten die Zuschauer über derartige Dinge, sondern weinen und bitterlich seufzen. 

   Nun denn, fragst du, sollen wir das Theater schließen und soll ob deiner Predigt ein allgemeiner Umsturz folgen? O, es ist vielmehr jetzt alles auf den Kopf gestellt. Denn sag mir, woher kommen denn die Verführer der Ehen? Nicht etwa von diesem Theater? Woher diejenigen, die das Brautgemach entweihen? Nicht etwa von jener Bühne? Kommen nicht daher die Männer, die für ihre Frauen unerträglich geworden sind; kommen nicht daher die Frauen, die von ihren Männern verachtet werden? Kommen nicht von dort die meisten Ehebrecher? Wer also alles in Verwirrung bringt, ist derjenige, der ins Theater geht; er ist's, der diesen schrecklichen Tyrannen[382] herbeiführt. Aber nein, sagst du, das ist vielmehr durch die Gesetze so angeordnet und sanktioniert worden. Also Weiber rauben, Knaben schänden, Familien ruinieren ist Sache derer, die im Senat sitzen!? Und wer, fragst du, ist je ob solchen Schauspiels zum Ehebrecher geworden? Ja, wer ist es nicht geworden? Wenn es jetzt erlaubt wäre, Namen anzuführen, so würde ich dir zeigen, wie viele Männer dieses Schauspielhaus von ihren Frauen getrennt, wie viele durch jene Dirnen in Fesseln geschlagen wurden, und wie sie die einen vom Ehebett selbst losrissen, die anderen gleich von Anfang an am Ehebund hinderten. Wie nun, sag mir, sollen wir jetzt alle Gesetze umstürzen? Ja, es heißt vielmehr die Gesetzlosigkeit umstürzen, wenn man diese Theater auflöst. Aus ihnen stammen alle jene, die die Städte verderben; das sind die Brutnester der Empörungen und Unruhen. Ja, diejenigen, die unter solchen Spielen aufwachsen, die ihre Stimme der Sinnenlust opfern, deren Beschäftigung es ist, Beifall zu schreien und jede Schändlichkeit zu tun, die sind es auch zumeist, die die Bevölkerung aufreizen und die in den Städten Unruhen verursachen. Ja, wenn einmal die Jugend sich dem Nichtstun ergeben hat, und unter solcher Schlechtigkeit aufwächst, dann wird sie schlimmer als alle wilden Tiere.



7.

Sag mir doch, weshalb gibt es denn Gaukler? Nicht etwa deshalb, weil diese Leute die Leidenschaft des müßigen Volkes in Spannung versetzen wollen, und weil sie den Schauspielern aus den vielen Unruhen Vorteil verschaffen möchten, und die Huren den keuschen Frauen entgegensetzen? Darum betreiben sie ihre Betrügereien soweit, dass sie sich nicht einmal scheuen, die Gebeine der Toten zu stören. Ja, treibt sie nicht auch der Umstand dazu, dass sie für jenes unheilvolle Teufelstheater unendliche Auslagen zu machen gezwungen sind? Und woher kommt die Wollust mit all ihren unzähligen Übeln? Siehst du, dass du die Grundlage des Lebens umstürzest, wenn du für solche Dinge eintrittst, während ich auf deren Beseitigung dringe? Ja, wenn es nur möglich wäre, es zu zerstören! Oder besser gesagt, wenn ihr nur wollt, so ist es, wenigstens soweit ihr in Betracht kommt, bereits beseitigt und zerstört. Doch will ich nichts Derartiges von euch verlangen. Macht nur, dass das Theater, das dasteht, ohne Besucher bleibe; das ist ein größeres Lob für euch, als wenn ihr es zerstörtet. Wenn ihr doch schon auf niemand anderen hören wollt, so ahmt wenigstens die Barbaren nach: ihnen sind alle derartigen Schauspiele vollständig fremd. Womit sollen wir uns also noch entschuldigen, wenn wir, die Himmelsbürger, die Reigengenossen der Cherubim, die Teilhaber der Engel, in diesem Punkte schlechter sind als die Barbaren, und dies, obwohl wir unendlich viele andere, bessere Freuden als diese finden könnten? Wenn du dich wirklich ergötzen willst, so gehe hinaus in die Haine, zum rauschenden Strome, zu den Seen. Betrachte die Gärten, höre auf das Zirpen der Grillen, besuche die Gräber der Märtyrer, wo du Gesundheit für den Leib und Nutzen für die Seele findest, wo nichts dir schadet, wo auf Lust keine Gewissensbisse folgen, wie hier[383] . Du hast eine Frau, du hast Kinder? Welch größere Lust gäbe es als diese! Du hast ein Haus, hast Freunde? Das ist das wahre Vergnügen, das dir außer der Keuschheit auch sonst noch großen Nutzen bietet. Oder sag mir, was gibt es Süßeres, als Kinder zu besitzen? Und was Angenehmeres, als eine Frau für den, der ehrenhaft leben will? Man sagt, die Barbaren hätten einmal einen überaus weisen Ausspruch getan. Als sie von diesen ausgelassenen Theatern hörten und diesem unpassenden Vergnügen, da hätten sie gesagt: Die Römer haben solche Vergnügungen erfunden, die nur für Leute passen, die keine Kinder und Frauen zu Hause haben. Sie zeigen damit, dass es nichts Süßeres und Angenehmeres gibt als Kinder und eine Frau, wenn du nur ehrbar leben willst. 

   Wie aber, wendest du ein, wenn ich dir beweise, dass es Leute gibt, die an solchen Belustigungen gar keinen Schaden gelitten haben? O, auch das ist schon ein Schaden, dass man vollständig nutzlos seine Zeit vergeudet, und dazu noch anderen Ärgernis gibt. Denn wenn auch du selbst keinen Schaden leidest, du machst doch, dass ein anderer um so lieber dahin geht. Und wie solltest du selber keinen Schaden leiden, wenn du solche Aufführungen noch selbst unterstützest? Jawohl, der Gaukler, der unkeusche Jüngling, die Hure, alle jene Chöre des Teufels werden die Schuld für das Geschehene auf dein Haupt wälzen. Denn gäbe es keine Zuschauer, so gäbe es auch keine Schauspieler; weil es aber nun Zuschauer gibt, so werden auch sie die Höllenstrafen für diese Spiele teilen müssen. Wenn du also auch an deiner eigenen Keuschheit keinen Schaden leiden solltest, was übrigens ganz unmöglich ist, so wirst du wenigstens für das Verderben der anderen die schwersten Strafen zu leiden haben, sowohl weil du selber zusiehst, als auch weil du noch andere mit hinein führst. Und für deine Reinheit hättest du wohl mehr gewonnen, wenn du nicht dorthin gegangen wärest. Denn wenn du auch jetzt keusch bist, du wärest noch keuscher geworden, wenn du solche Schauspiele gemieden hättest. Streiten wir also nicht unnütz, und sinnen wir nicht auf nutzlose Ausreden. Nur eines kann uns entschuldigen: wenn wir den Glutofen Babylons fliehen, wenn wir uns fernhalten von der ägyptischen Hure und müßten wir selbst nackt ihren Händen entfliehen. Dann werden wir wirklich große Lust und Freude empfinden, wenn unser Gewissen uns keine Vorwürfe zu machen braucht; dann werden wir sowohl das irdische Leben keusch verbringen wie auch der zukünftigen Güter teilhaftig werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre und Macht gebührt, jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 36