Kommentar zum Evangelium Mt 60

Sechzigste Homilie. Kap. XVIII, V.15-20.

60 Mt 18,15-20
1.

V.15: "Wenn aber dein Bruder wider dich gesündigt hat, gehe und weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen." 

   Nachdem der Herr mit so scharfen Worten sich gegen die Ärgernisgeber gewandt und ihnen Furcht eingeflößt hatte, wollte er doch auch verhüten, dass die Ärgernisnehmer etwa sorglos würden, in der Meinung, all sein Tadel habe nur jenen gegolten; sie wären damit nur in einen anderen Fehler, nämlich den Hochmut, verfallen. und hätten voll Selbstüberhebung geglaubt, sie müßten alle Welt zurechtweisen. Siehe darum, wie der Herr auch sie in die rechten Schranken weist durch die Anordnung, die Zurechtweisung solle nur unter vier Augen geschehen. Damit will er verhüten, dass der Tadel durch das Beisein mehrerer verschärft werde, denn dadurch könnte der Fehlende leicht gereizt und für die Besserung unzugänglich werden. Deshalb sagte er: "Zwischen dir und ihm allein. Wenn er auf dich hört, hast du deinen Bruder gewonnen." Was sollen da die Worte: "wenn er dich hört", bedeuten? wenn er sich selbst verurteilt, wenn er zugibt, dass er gefehlt hat. "Du hast deinen Bruder gewonnen." Er sagte nicht: Du hast eine gebührende Sühne, sonder: "Du hast deinen Bruder gewonnen." Er lehrt damit, dass die Feindschaft den Verfeindeten einen gleichmäßigen Nachteil bringt. Deshalb sagt er nicht: Jener hat sich selbst gewonnen, sondern: "Du hast ihn gewonnen." Es ist also offenbar, dass beide zuvor Schaden hatten, der eine an seinem Bruder, der andere an seinem Heile. 

   Dieselbe Forderung stellte Jesus in der Bergpredigt; denn auf der einen Seite führt er den Beleidiger zum Beleidigten durch den Befehl: "Wenn du deine Gabe zum Altare bringst und dich dort erinnerst, dass der Bruder etwas wider dich habe, so gehe zuvor, dich mit deinem Bruder zu versöhnen" (Mt 5,23-24); anderseits fordert er auch den Gekränkten auf, seinen Nebenmenschen zu verzeihen: "Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", lehrte er beten (Mt 6,12) An unserer Stelle gibt der Herr noch einen dritten Weg an. Nicht der Beleidiger, sondern der Beleidigte soll zum anderen gehen. Derjenige, der Unrecht getan hat, könnte sich leicht durch Scham und Schüchternheit abhalten lassen, den ersten Schritt zu tun; deshalb heißt er dies den anderen tun, und zwar zu dem Zwecke, um das Geschehene wieder gut zu machen. Darum sagt er nicht: klage ihn an, schilt ihn, fordere Sühne oder Rechenschaft von ihm, sondern: "weise ihn zurecht". Er ist ja von Zorn und Scham wie ein Trunkener vom Schlafe befangen; du bist gesund und mußt daher zu dem Kranken hingehen, um durch Vermeidung der Öffentlichkeit ihm die Heilung zu erleichtern. Die Worte: "weise zurecht" bedeuten nichts anderes als: mache ihn auf seinen Fehler aufmerksam, sage ihm, was er dir für Leid bereitet hat. Auch das bildet, wenn es recht gemacht wird, einen Teil der Entschuldigung und trägt gar sehr zur Aussöhnung bei. Wie aber, wenn er hart bleibt und nicht hören will? 

   V.16: "Wenn er aber nicht auf dich hört, nimm noch einen oder zwei mit dir, damit auf die Aussage zweier oder dreier Zeugen jegliche Sache festgesetzt werde." 

   Je mehr der Beleidiger unzugänglich und hochfahrend ist, desto mehr muß man sich seine Heilung angelegen sein lassen und nicht Zorn und Unwillen freie Hand lassen. Auch der Arzt wird ja nicht unwillig oder läßt nach, wenn er sieht, dass das Übel tief sitzt; er verdoppelt vielmehr seine Bemühungen. Hier befiehlt uns nun der Herr, es ebenso zu machen. Wenn es sich zeigt, dass du allein zu schwach bist, so stärke deine Kräfte und ziehe noch einen anderen bei; denn zwei genügen, um den Fehlenden zurechtzuweisen. Siehst du jetzt, wie der göttliche Heiland nicht bloß um den Gekränkten besorgt ist, sondern auch um das Wohl des Beleidigers? Der eigentlich Geschädigte ist doch jener, der von der Leidenschaft befallen ist; der ist krank, schwach und siech. Deshalb will der Herr, dass der Beleidigte zu ihm gehe, bald allein, bald in Begleitung anderer; und wenn er trotzdem krank bleibt, auch mit der Kirche. 

   V .17: "Sage es der Kirche", 

   spricht er. Hätte der Herr nur das Wohl des Beleidigten im Auge gehabt, so hätte er nicht befohlen, siebzigmal siebenmal dem reumütigen Beleidiger zu verzeihen, hätte nicht an geordnet, dass so viele und dazu so oft die Heilung des Übels versuchen, sondern hätte ihn seinem Schicksale überlassen, wenn der erste Besserungsversuch erfolglos geblieben wäre. Nun aber befiehlt er, ein,zwei,dreimal seine Heilung zu versuchen, bald ohne Zeugen, bald im Verein mit zweien oder mehreren. Eine solche Forderung stellt er nicht, wenn es sich um Ungläubige handelt; da sagt er bloß: "Wenn dich einer auf deine rechte Wange geschlagen hat, biete ihm auch die andere dar" (Mt 5,39). Ganz anders in unserem Falle. Ähnlich predigt Paulus, wenn er schreibt: "Was habe ich nötig, über die, welche draußen sind, zu richten?" (1Co 5,12). Die Brüder hingegen heißt er zurechtweisen und zur Umkehr bringen, und wenn sie nicht hören wollen, befiehlt er, sie auszuschließen, damit sie in sich gehen. Denselben Grundsatz stellt der Herr auch hier auf, wo er über die Brüder handelt: Er setzt drei Lehrer und Richter ein, die ihn, den Fehlenden, belehren sollen, was er während seines Taumels getan hat. Es bedarf anderer Leute, um ihn darüber aufzuklären, wenn er auch selbst all das Ungehörige geredet und getan hat; denn er hat gleichsam im Rausche gehandelt. Leidenschaft und Sünde regen noch weit mehr auf und berauben mehr der Vernunft, als selbst die Trunkenheit. Hat es einen einsichtigeren Mann gegeben als David? Und doch empfand er seine Sünde gar nicht, weil die Leidenschaft das klare Denken gefesselt und seine Seele wie mit Rauch erfüllt hatte. Darum bedurfte es der Worte des Propheten, um ihn zu erleuchten und auf seine Tat aufmerksam zu machen. Das also ist der Grund, weshalb Christus bestimmte, dass man zu dem Fehlenden gehe und mit ihm reden solle über das, was er getan hat.



2.

Weshalb überträgt er aber die Zurechtweisung dem Gekränkten und nicht einem anderen? Weil anzunehmen ist, dass der Beleidigte, der Gekränkte, der Beschimpfte am ehesten Gehör finden wird. Es ist doch ein großer Unterschied, ob man wegen einer Beleidigung sich von einem Fremden oder von dem Beleidigten eine Zurechtweisung gefallen lassen soll, besonders wenn der Verweis unter vier Augen geschieht. Denn am meisten Aussicht, den Fehlenden zur Einsicht zu bringen, bietet es doch, wenn derjenige, der ein Recht hat, ihn zur Rechenschaft zu fordern, es offenbar tut aus Besorgtheit um sein Heil. Siehst du also, wie die Zurechtweisung nicht um der Sühne, sondern um der Besserung willen geschehen soll? Eben deshalb befahl Christus, nicht sofort zwei andere beizuziehen, sondern erst dann, wenn sich der Fehlende unzugänglich erweise und auch in diesem Falle schickt er nicht eine große Anzahl von Leuten zu ihm, sondern setzt fest, höchstens zwei oder gar nur einen einzigen beizuziehen. Und erst dann, wenn er auch diese nicht hört, soll die Sache vor die Kirche gebracht werden. So sehr liegt ihm daran, dass die Fehler des Nebenmenschen nicht an die Öffentlichkeit gezogen werden. Er hätte ja von allem Anfang an bestimmen können, die Sache vor die Kirche zu bringen; aber das wollte er eben vermeiden. Deshalb gab er die Weisung, es erst nach ein oder zwei Ermahnungen zu tun. 

   Was bedeutet aber: "Auf Aussage zweier oder dreier Zeugen werde jegliche Sache festgesetzt"? Er will damit sagen: Das gibt dir genügende Gewähr, dass du alles getan hast, was an dir liegt, dass du nichts unterlassen, was du hattest tun sollen. "Hört er auch diese nicht, so sage es der Kirche",d.h. den Vorstehern. 

   V.17: "Wenn er aber auch die Kirche nicht hört, sei er dir wie der Heide und der Zöllner"; denn ein solcher ist tatsächlich unheilbar krank. Hier möchte ich aufmerksam machen, dass der Herr überall die Zöllner als Beispiel größter Schlechtigkeit anführt. Schon früher hatte er einmal gesagt: "Tun nicht auch die Zöllner dasselbe?" (Mt 5,46),und später spricht er: "Die Zöllner und Buhlerinnen werden vor euch in das Reich Gottes gelangen" (Mt 21,31), d.h. diejenigen, welche am härtesten gerichtet und verurteilt werden. Möchten das doch jene hören, welche auf ungerechten Gewinn ausgehen und Zinsen auf Zinsen häufen" 

   Warum stellt aber der Herr den unversöhnlichen Beleidiger auf die gleiche Stufe wie die Zöllner? Um ihm Schrecken einzuflößen und um den Beleidigten zu trösten. Ist also in diesen Worten die ganze Strafe enthalten? O nein. Höre nur weiter: 

   V.18: "Was immer ihr gebunden haben werdet auf Erden, wird auch gebunden sein im Himmel." 

   Christus spricht nicht zu den Vorstehern der Kirche: binde einen solchen Menschen, sondern: wenn du gebunden haben wirst, indem, du alles dem Gekränkten selber anheimstellst; und diese Bande sind unlöslich. Er wird also der ärgsten Strafe verfallen; und schuld ist aber nur er selbst, weil er nicht nachgibt, nicht der Ankläger. Siehst du, wie Christus ihn doppelt bindet: durch die Strafe hier und die Pein dort? Diese Drohungen sprach er jedoch nur deshalb aus, damit ein solcher Fall[575] nicht vorkomme; er wollte ihn nur zur Besinnung b ringen durch die Möglichkeit des Ausschlusses aus der Kirche und durch die Gefahr, dass er auch im Himmel gebunden sein würde. Hält er sich alles das vor Augen, wo wird er, wenn er auch nicht an und für sich geneigt ist, den Groll aufzugeben, doch durch die Zahl der einander folgenden Urteilssprüche dazu gebracht werden. Deshalb eben hat Christus ihn nicht sofort ausgeschlossen, sondern ein erstes und zweites und drittes Gericht eingesetzt; er soll sich, wenn er dem ersten nicht folgt. dem zweiten unterwerfen; und fügt er sich dem zweiten nicht, so soll er das dritte fürchten und kehrt er sich auch an dieses nicht, dann wenigstens durch die Aussicht auf die ewige Strafe, den Richterspruch und die Rache Gottes eingeschüchtert werden. 

   V.19: "Wiederum sage ich euch: Wenn zwei aus euch eines Sinnes sein werden auf Erden bezüglich irgendeiner Sache, um welche sie bitten wollen, sie wird ihnen zuteil werden von meinem Vater, welcher im Himmel ist. 

   V.20: Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." 

   Siehst du, wie der Herr sich die Feindseligkeiten von einer anderen Seite hintan zuhalten, die niedrige Denkart zu beseitigen und die Mensetzt hat, stellt er jetzt die großen Güter der Eintracht vor Augen und sagt, dass die Einträchtigen den Vater bewegen, ihnen zu geben, was immer sie erbitten, und dass sie Christum in ihrer Mitte haben. 

   Ja, gibt es denn nirgends zwei einträchtige Menschen? Es gibt ihrer schon an vielen Orten, vielleicht sogar überall. Aber wie kommt es dann, dass sie nicht alles erhalten? Dafür gibt es viele Gründe. Oft bittet man nämlich um unzuträgliche Dinge. Es darf dich aber nicht wundern, dass so etwas vorkommt. Wir finden es sogar bei Paulus, als Gott zu ihm sprach: "Es genügt dir meine Gnade, denn die Kraft wird in Schwachheit vollendet" (2Co 12,9). Oft sind die Beter der verheißenen Gaben nicht wert; sie erfüllen die Bedingungen der Erhörung nicht. Der Herr will Beter haben, wie die Apostel waren, das deutet er an durch die Worte: "aus euch" d.h. die so tugendhaft sind, die ein so engelgleiches Leben führen. Oft betet man voll Verlangen nach Rache und Bestrafung der Beleidiger; das ist aber unstatthaft, weil er gesagt hat: "Betet für die, welche euch hassen" (Mt 5,44). Oft betet man ohne Reue um Verzeihung der Sünden; einem solchen kann aber keine Vergebung zuteil werden, ob er nun selbst für sich betet oder ob andere für ihn Gott mit noch so großem Vertrauen bestürmen; mußte doch auch Jeremias, als er für die Juden betete, hören:"Bete du nicht für dieses Volk, denn ich will dich nicht erhören" (Jr 11,14). Sind aber alle Bedingungen vorhanden, betet man um nützliche Dinge, läßt man es bei sich selbst nicht fehlen, führt man ein apostolisches Leben, lebt man in Eintracht und Liebe mit dem Nächsten, dann erhält man gewiß+, worum man bittet, denn der Herr ist voll Güte.



3.

Nach den Worten: "von meinem Vater", fährt der Herr fort: "Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, dort bin ich in ihrer Mitte"; damit lehrt er uns, dass die Erhörung nicht allein vom Vater, sondern auch von ihm selbst abhänge. Aber wie? gibt es nicht zwei oder drei Menschen, die in seinem Namen versammelt sind? Es gibt wohl solche, aber selten. Er redet nämlich nicht von einem bloßen Zusammenkommen, er verlangt nicht, dass man einfach beisammen sei, sondern erwartet vor allem, wie ich früher schon auseinandersetzte, dass man lediglich Tugend besitze; ja gerade diese verlangt er mit großem Nachdruck. Der Sinn seiner Worte ist der: Wenn jemand seine Nächstenliebe auf die Liebe zu mir gründet, so werde ich, wenn er auch sonst tugendhaft ist, mit ihm sein. Nun finden wir aber bei den meisten ganz andere Beweggründe zur Liebe: der eine liebt, weil er geliebt wird, der andere, weil er geehrt worden ist, ein dritter, weil ihm der Nebenmensch in einer weltlichen Angelegenheit nützlich ist, ein vierter aus einer anderen ähnlichen Ursache; kaum findet sich jedoch einer, der seinen Nächsten uneigennützig und, wie es sein sollte, um Christi willen liebt. Das Band, das die meisten untereinander verknüpft, sind eben irdische Rücksichten. 

   Aus solchen Beweggründen ging aber bei Paulus die Liebe nicht hervor; er liebte um Christi willen. Mochte ihm darum auch seine Liebe nicht in dem Maße, wie er liebte, erwidert werden, sie erkaltete trotzdem nicht, weil sie eben aus einer kräftigen Wurzel hervorging. Heutzutage ist es ganz anders geworden. Wenn wir genau zusehen, finden wir bei der Mehrzahl eher alle anderen Beweggründe der Liebe, als diese. Wäre es mir möglich, in einer so großen Menge von Menschen die Probe anzustellen, ich würde leicht den Beweis erbringen, dass die meisten nur durch weltliche Beziehungen miteinander verbunden sind. Das kann man deutlich erkennen, wenn man die Ursache der Feindschaften ins Auge faßt. Weil ihre Freundschaft nur auf vergänglichen Verhältnissen fußt, darum ist sie weder innig noch beharrlich; ihre Liebe erstickt, sobald eine Beleidigung, Vermögensbeeinträchtigung, Neid, Eitelkeit oder dergleichen dazwischen tritt. Wäre sie in geistlichem Gebiete gewurzelt, so würde sie dauerhaft sein: denn das geistliche Band kann durch keinerlei weltliche Verhältnisse gesprengt werden. Die Liebe um Christi willen ist fest, unzerreißbar, unzerstörbar, nichts ist imstande, sie zu ersticken, weder Verleumdungen, noch Gefahren, noch der Tod, noch sonst etwas Derartiges. Wer aus solchem Grunde liebt, der erträgt alles mögliche Ungemach, ohne die Liebe aufzugeben, da er immer die Grundlage seiner Liebe im Auge hat. Wer nur liebt, weil er Gegenliebe findet, gibt die Liebe auf, sobald ihm etwas Unangenehmes widerfährt; wer aber durch ein übernatürliches Band verbunden ist, wird niemals untreu. Darum schreibt Paulus: "Die Liebe versagt nie" (1Co 13,8). 

   Was kannst du dagegen vorbringen? Dass der, den du geehrt hast, dich beschimpft? dass deiner, dem du Wohltaten erwiesen, dir nach dem Leben strebt? Mag sein, aber diese Umstände spornen dich zu noch größerer Liebe an, wenn du um Christi willen liebst. Denn was sonst die Liebe auslöscht, ist nur ein Antrieb zu größerer Liebe. Inwiefern? Erstlich, weil ein solcher Mensch Gelegenheit zu Verdiensten bietet; dann, weil einer, der so gesinnt ist, mehr Hilfe und sorgsamer Pflege bedarf. Wer aus solchem Grunde liebt, fragt dann auch nicht nach Geschlecht, Heimat, Vermögen, nicht nach Erwiderung der Liebe oder nach sonst dergleichen. Ja, auch wenn man ihn haßt, beschimpft, ihm nach dem Leben strebt, seine Liebe erkaltet nicht, weil sie in einer festen Unterlage wurzelt, in Christus. Ihn allein hat er im Auge und daher steht er fest, unerschütterlich, unwandelbar. So war auch Christi Liebe zu seinen Feinden beschaffen, zu den Undankbaren, Lästerern, Gottlosen, die ihn haßten, ihn nicht einmal mehr sehen konnten, die ihm Holz und Steine vorzogen. Seine Liebe zu ihnen war so erhaben, dass man ihresgleichen nicht findet. Er konnte sagen: "Größere Liebe als diese hat niemand, dass einer sein Leben hingebe für seine Freunde" (Jn 15,13). Siehe nur, wie besorgt er um die bleibt, die ihn kreuzigten, trotzdem sie ihn in ihrer Wut so entsetzlich mißhandeln. Er wendet sich sogar an den Vater mit der Bitte für sie: "Vater, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lc 23,34). Später sandte er auch noch seine Jünger zu ihnen. Eine solche Liebe sollen auch wir zu besitzen trachten, nach einer solchen Liebe sollen auch wir streben, damit wir Jünger Christi werden und den Lohn hier und dort erlangen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesu Christi, dem Ehre und Macht sei in alle Ewigkeit. Amen!





Einundsechzigste Homilie. Kap. XVIII, V.21-35.

61 Mt 18,21-35
1.

V.21: "Dann trat Petrus zu ihm heran und sprach: Herr, wie oft darf mein Bruder wider mich sündigen, und muß ich ihm verzeihen? bis sieben mal? 

   V.22: Jesus sagte ihm: Nein, nicht bis siebenmal sage ich dir, sondern bis siebenzig siebenmal." 

   Petrus meinte etwas Großes zu sagen, deshalb setzte er auch mit einer gewissen Genugtuung hinzu:"etwa siebenmal?" Er will sagen; Wie oft soll ich wohl tun, was du befiehlst? Wenn einer immer wieder fehlt, aber auch infolge einer Zurechtweisung immer wieder Reue empfindet, wie oft gebietest Du das zu ertragen? Denn wenn er keine Reue zeigt oder sich selbst nicht schuldig findet, da hast Du selbst die Grenze gezogen durch Deine Worte: "Er sei dir wie ein Heide und Zöllner." In unserem Falle ist es nicht so, vielmehr lautet Dein Geheiß, den Beleidiger nicht abzustoßen. Wie oft also soll ich mit ihm Geduld haben, wenn er auf Zureden hin in sich geht? Ist es genug mit siebenmal? Was sagt nun Christus, der liebevolle und gütige Gott? "Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal." Hiermit will er aber nicht eine genaue Zahl bestimmen, sondern vielmehr ausdrücken, dass man unbeschränkt oft, jedesmal, allezeit vergeben soll. Wie nämlich der Ausdruck "tausendmal" soviel besagt wie "häufig", so ist es auch hier mit siebenzigmal siebenmal". Auch die Hl. Schrift drückt eine große Zahl ähnlich aus in dem Satze: "Die Unfruchtbare gebart sieben" (1R 2,5). Der Herr wollte also die Verzeihung nicht auf eine bestimmte Zahl beschränken, sondern bloß bedeuten, dass man immer, jedesmal verzeihen soll. Dasselbe spricht sich auch in dem folgenden Gleichnis aus. Damit man nämlich nicht etwa glaube, er lege durch das Gebot, siebenzigmal siebenmal zu verzeihen, eine große und schwere Bürde auf, so fügte er dieses Gleichnis hinzu; er wollte dadurch zur Erfüllung seines Gesetzes aufmuntern, diejenigen, die sich darauf etwas einbildeten, demütigen und zugleich zeigen, dass die Sache nicht so drückend, sondern ganz leicht sei. Er weist auf seine eigene Liebe hin, damit du durch die Vergleichung zur Einsicht kommest, dass deine Liebe, wenn du auch siebenzigmal siebenmal vergibst, ja wenn du einfach in jedem Falle deinem Nebenmenschen alle Fehler verzeihest, dennoch hinter der unendlichen Liebe Gottes, deren du bei dem Gerichte und der Rechenschaft so sehr bedarfst, soweit zurückbleibst wie ein Tropfen hinter dem grenzenlosen Meere und noch viel weiter. Darum also fuhr der Herr fort: 

   V.23: "Deshalb ist das Himmelreich gleich einem Manne, einem Könige, welcher Abrechnung halten wollte mit seinen Knechten., 

   V.24: Und nachdem er angefangen hatte abzurechnen, wurde ihm einer gebracht, welcher ihm zehntausend Talente schuldete. 

   V.25: Da er jedoch nichts hatte, womit er hätte zurückerstatten können, befahl sein Herr, ihn zu verkaufen und dessen Weib und Kinder und alles, was er hatte." 

   Als ihm dann Barmherzigkeit zuteil geworden war, ging er hinaus und würgte einen Mitknecht, der ihm hundert Denare schuldete. Darüber empört, ließ ihn sein Herr in den Kerker werfen, bis er alles abgebüßt hätte. Siehst du nun, wie groß der Abstand ist zwischen den Sünden gegen Menschen und jenen gegen Gott? Ebenso groß wie zwischen zehntausend Talenten und hundert Denaren; ja noch viel größer. Dieser Abstand hat seinen Grund in dem Unterschiede der Personen und in der Häufigkeit der Sünden. Wenn uns ein Mensch sieht, so scheuen wir uns und stehen von der Sünde ab; durch Gott hingegen, der uns doch Tag für Tag sieht, lassen wir uns nicht abhalten, sondern tun und reden alles ohne Scheu. Aber nicht allein durch diesen Umstand wird die Sünde erschwert, sondern auch dadurch, dass wir so viele Wohltaten und Auszeichnungen erhalten haben. Wenn ihr es lernen wollt, wie die Sünde gegen Gott ebensoviel ist wie zehntausend Talente und noch mehr, so will ich es in Kürze zu zeigen versuchen. Ich fürchte allerdings, jene, die zum Laster neigen und an häufige Sünden gewöhnt sind, noch gottloser zu machen, oder die Zartfühlenden in Verzweiflung zu stürzen, so dass sie mit den Jüngern sprechen: "Wer kann selig werden?" (Mt 19,25 u. Mc 10,26). Nichtsdestoweniger will ich doch reden, um die Willigen sicherer und sorgsamer zu machen. Denn diejenigen, welche unverbesserlich und gefühllos sind, geben ihren Leichtsinn und ihre Bosheit nicht auf, auch wenn ich schweige; nehmen sie aber von meinen Worten neuen Anlaß zur Nichtswürdigkeit, so liegt die Schuld nicht an meinen Worten, sondern in ihrer Herzenshärte, da ja unsere Predigt wohl imstande sein könnte, die Willigen zu ergreifen und zu erschüttern. Die Zugänglichen werden die Macht der Reue einsehen und beim Anblick ihrer zahllosen Sünden sich der Buße hingeben. Deshalb sehe ich mich genötigt zu reden. Ich werde also sprechen und aufzählen, wie viele Sünden gegen Gott und wie viele gegen die Menschen begangen werden; hierbei werde ich jedoch nicht von einzelnen bestimmten Sünden handeln, sondern von den Sünden im allgemeinen; die eigenen besonderen Sünden mag dann jeder aus seinem Gewissen beifügen. Zuerst will ich auf die Wohltaten Gottes hinweisen. Welche sind die? Er hat uns aus Nichts erschaffen, und hat alles, was wir sehen, unseretwegen gebildet: Himmel, Meer und Erde samt allem, was darauf ist, Tiere, Pflanzen, Saaten. Ich muß mich ganz kurz fassen bei der grenzenlosen Zahl seiner Werke. Er hat uns Menschen, und zwar uns allein auf der Welt, eine unsterbliche Seele eingehaucht, hat ein Paradies gepflanzt,[576] eine Gehilfin gegeben, ihn über alle Geschöpfe gesetzt und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Und als der Mensch gegen seinen Wohltäter undankbar geworden war, hat er ihm doch noch größerer Gaben gewürdigt.



2.

Man darf eben nicht bloß darauf sehen, dass uns Gott aus dem Paradiese verstoßen hat, sondern muß auch beachten, dass darnach gar mancher Segen erwachsen ist. So hat er uns nach der Vertreibung aus dem Paradiese so zahllose Wohltaten erwiesen und gar vieles zu unserem Heile gewirkt, ja selbst seinen eigenen Sohn für diejenigen dahingegeben, die ihn trotz seiner Wohltaten haßten, hat uns den Himmel erschlossen, das Paradies wieder geöffnet und uns zu seinen Kindern gemacht, trotzdem wir seine Feinde, ihm undankbar waren. Darum muß man billig ausrufen: "O Tiefe des Reichtums der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" (Rm 11,33). Er hat uns ferner die Taufe zur Vergebung der Sünden und zur Nachlassung der Strafen gegeben, den Tugendhaften Anteil am Himmelreiche und ungezählten anderen Gütern verheißen, hat uns die Hände aufgelegt und den Hl. Geist in unser Herz eingegossen. Wie sollten wir also nach so zahlreichen großen Wohltaten uns verhalten? Wenn wir Tag für Tag unser Leben dahingäben für ihn, der uns so sehr liebt, wäre das ein gebührender Entgelt, oder vielmehr, zahlten wir dadurch auch nur einen ganz geringen Teil unserer Schuld ab? Mit nichten. Auch das würde doch nur wieder uns zum Vorteil gereichen. Doch sollten wir wenigstens so gesinnt sein; und wie sind wir in Wirklichkeit? Täglich freveln wir gegen seine Gebote. O, werdet nicht unwillig, wenn ich gegen die Sünder heftig werde; ich klage ja nicht bloß euch, sondern auch mich selbst an. Bei wem soll ich wohl den Anfang machen? Bei den Knechten oder den Freien? bei den Soldaten oder den Bürgern? bei den Obrigkeiten oder den Untergebenen? bei den Frauen oder bei den Männern, bei den Greisen oder den Jünglingen? bei welcher Altersstufe? bei welchem Geschlechte? bei welchem Range? bei welchem Berufe? Vielleicht darf ich mit den Soldaten beginnen? 

   Nun gut! Begehen sie nicht tagtäglich Sünden, wenn sie schimpfen, schmähen, zornig werden, fremdes Eigentum gleich Wölfen schädigen, ohne sich von ihren Lastern je zu reinigen, man müßte denn behaupten, das Meer sei ohne Wellenschlag? Gibt es eine Leidenschaft, von der sie nicht befallen werden? ein sittliches Gebrechen, mit dem sie nicht behaftet sind? Gleichgestellten gegenüber sind sie voll Eifersucht, Neid, Prahlerei; gegen Untergebene voll Habgier, voll Feindseligkeit und Meineidigkeit gegen Leute, welche in ihren Rechtshändeln zu ihnen wie zu einem schützenden Hafen ihre Zuflucht nehmen. Wieviel Raub, wieviel Habgier, wieviel Verleumdung und Betrug, wieviel knechtische Speichelleckereien findet sich bei ihnen! Wohlan, wenden wir auf jeden das Wort Christi an: "Wer zu seinem Bruder gesagt hat: Tor! wird verfallen sein dem höllischen Feuer" (Mt 5,22). Jeder, der ein Weib ansieht, um ihrer zu begehren, hat bereits die Ehe gebrochen in seinem Herzen" (Mt 5,28). "Wer sich nicht erniedrigt wie dieses Kind, wird nicht eingehen in das Himmelreich" (Mt 18,34). Jene aber sind noch geflissentlich voll Aufgeblasenheit gegen ihre Untergebenen und Unterstellten, so dass diese vor ihnen zittern und beben, mehr als vor wilden Tieren; nichts tun sie um Christi willen, alles nur für den Bauch, um Geld und aus Eitelkeit. Ist es überhaupt möglich, ihre Freveltaten in Worten zu schildern? Wie wollte man auch ihre Spöttereien, ihr Gelächter, ihr ausgelassenes Geschwätz, ihre Zoten beschreiben? Von ihrer Habsucht läßt sich gar nicht reden. Sie sind wie die Mönche im Gebirge, die nicht wissen, was Habsucht ist; nur im entgegengesetzten Sinne. Die Mönche kennen diese Leidenschaft nicht, weil sie weit entfernt von ihr sind; die Soldaten hingegen, weil sie gar nicht merken, wie groß das Übel ist, so sehr sind sie davon bestrickt. Dieses Laster hat in ihnen den Sinn für die Tugend so sehr abgestumpft und hat sie so in seiner Gewalt, dass sie es gleich Wahnsinnigen gar nicht mehr für einen Schandfleck halten. 

   Aber soll ich nicht lieber davon aufhören und mich lieber anderen anständigen Leuten zuwenden? Wohlan, fassen wir die Arbeiter und Handwerker ins Auge. Da könnte es nämlich am ehesten den Anschein haben, dass diese Klasse von Menschen von ehrlicher Arbeit und eigenem Schweiße lebt. Allein auch sie können in ihrer Stellung viel Böses tun, wenn sie nicht auf sich acht geben. Denn neben ihrer gerechten und mühevollen Arbeit verlegen sie sich bisweilen auf Ungerechtigkeiten bei Kauf und Verkauf, geben sich der Habsucht hin, und fügen dazu noch Schwüre, Meineide und Lügen, gehen ganz auf in den weltlichen Geschäften und kleben immerfort an der Erde. Wenn es gilt ein Geschäft zu machen, scheuen sie vor nichts zurück und setzen alle Hebel in Bewegung; wenn sie jedoch einem Bedürftigen etwas geben sollen. da sind sie lau, weil sie immer nur nach Vermehrung von Hab und Gut streben. Wer könnte alle Schmähreden bei dergleichen Geschäften aufzählen, die Beschimpfungen, den Wucher, die Zinsen, die hinterlistigen Abmachungen, die unverschämten Geschäftskniffe?



3.

Aber wir wollen auch von ihnen absehen und auf andere zu sprechen kommen, die gerechter zu sein scheinen. Wer mag das wohl sein? Die Besitzer von Grund und Boden, welche von der Erde ihren Reichtum ziehen? Könnte es aber noch ungerechtere Menschen geben als sie? Wenn man nämlich untersucht, wie sie mit den armen und elenden Landleuten verfahren, kommt man zu der Überzeugung, dass sie unmenschlicher sind als Barbaren. Den Leuten, die ihr Leben lang hungern und sich quälen müssen, legen sie fortwährend unerschwingliche Abgaben auf, bürden auf ihre Schultern mühsame Dienstleistungen und gebrauchen sie wie Esel und Maulesel, ja wie Steine, gestatten ihnen auch nicht die mindeste Erholung, und gleichviel, ob die Erde Erträgnis abwirft oder nicht, man saugt sie aus und kennt keine Nachsicht ihnen gegenüber. Gibt es etwas Erbarmenswerteres als diese Leute, wenn sie sich den ganzen Winter über abgeplagt haben, von Kälte, Regenwetter und Nachtwachen aufgerieben sind und nun mit leeren Händen dastehen, ja obendrein noch in Schulden stecken, wenn sie dann, mehr als vor Hunger und Mißerfolg, vor den Quälereien der Verwalter zittern und beben, vor den Vorladungen, dem Einsperren, der Rechenschaft, dem Eintreiben des Pachtes, vor den unerbittlichen Forderungen? Wer ist imstande, alle die Geschäfte herzuzählen, die man mit ihnen macht, all den Vorteil, den man aus ihnen zieht? Von ihren Arbeiten, von ihrem Schweiße füllt man Speicher und Keller, ohne sie auch nur ein Weniges mit heim nehmen zu lassen, man heimst vielmehr die ganze Ernte in die eigenen Truhen und wirft jenen ein Spottgeld als Lohn dafür hin. Ja man ersinnt sogar neue Arten von Zinsen, wie sie nicht einmal die heidnischen Gesetze kennen, und schreibt Schuldbriefe, die von Fluchwürdigkeit strotzen. Nicht bloß den hundertsten Teil, sondern die Hälfte fordern sie[577] , und zwar von Leuten, die Weib und Kind zu ernähren haben, die doch auch Menschen sind und die ihnen mit ihrer Hände Arbeit Speicher und Keller füllen. Aber an all das denken sie nicht. Es ist daher wohl am Platze, dass der Prophet auftritt und spricht: "Staune, Himmel, schaudere, Erde!" (Jr 2,12). Bis zu welchem Grade der Vertiertheit ist doch das Menschengeschlecht herabgesunken! 

   Wenn ich so rede, will ich jedoch nicht das Handwerk, die Landwirtschaft, den Soldatenstand oder Grund und Boden beschuldigen, sondern nur uns selbst. War doch auch Kornelius ein Offizier (Ac 10,1), und Paulus ein Zeltmacher (Ac 18,3), der neben der Predigt sein Handwerk betrieb; David war ein König, und Job war reich an Ländereien und bezog große Einkünfte aus ihnen; aber keine dieser Stellungen behinderte auch nur einen von ihnen, tugendhaft zu sein. So sollen auch wir all das beherzigen. Lasset uns an die zehntausend Talente im Gleichnis denken, um dadurch angespornt zu werden, dem Nebenmenschen seine geringe und unbedeutende Schuld zu erlassen. Auch wir werden zur Rechenschaft gezogen werden über die Gebote, die uns gegeben worden sind, und nicht imstande sein, alles zu begleichen, so sehr wir uns auch Mühe geben. Deshalb hat uns Gott einen leichten und bequemen Weg gezeigt, wie wir alle Schulden abtragen können: wir brauchen es nur nicht nachzutragen, wenn uns etwas Böses zugefügt worden ist. Um in diese Wahrheit recht einzudringen, wollen wir in dem Gleichnisse fortfahren und es ganz durchnehmen. 

   V.24: "Es wurde ihm einer gebracht, der ihm zehntausend Talente schuldete. 

   V.25: Der jedoch nicht hatte, womit er zurückbezahlen könnte, befahl sein Herr, ihn zu verkaufen samt seinem Weib und seinen Kindern." 

   Erkläre mir, warum der Herr dies tat? Nicht aus Grausamkeit oder Unmenschlichkeit; die Strafe hätte ja auch ihn selbst getroffen, weil ja das Weib ebenfalls seine Sklavin war, sondern aus unbeschreiblicher Fürsorglichkeit. Er will den Knecht durch diese Drohung nur in Angst versetzen, um ihn zum Bitten zu bewegen, nicht um ihn zu verkaufen. Wäre letzteres seine Absicht gewesen, so hätte er ihm nicht in Gnaden seine Bitte gewährt. Warum handelte er aber nicht vor der Rechenschaftsablage so und ließ ihm die Schuld nicht schon vorher nach? Um ihm zum Bewußtsein zu bringen, wie groß die Schuld war, die er ihm nachsah, und um ihn gegen seinen Mitknecht zur Milde zu bewegen. Wenn er seinen Mitknecht schon würgte, trotzdem er erfahren hatte, wie gewaltig seine Schuld und wie groß die Nachsicht gegen ihn war, wie weit würde er erst in seiner Hartherzigkeit gegangen sein, wenn er nicht vorher durch so wirksame Mittel unterwiesen worden wäre? Was erwiderte nun der Knecht? Er sagt: 

   V.26: "Habe Nachsicht mit mir und ich werde dir alles zurückbezahlen. 

   V.27: Der Herr jenes Knechtes aber erbarmte sich, entließ ihn und schenkte ihm die Schuld." 

   Siehst du, wie grenzenlos seine Güte ist? Der Knecht hatte bloß um Aufschub und Verzug gebeten und sein Herr gewährte ihm mehr, als er begehrt hatte, er erläßt und schenkt ihm die ganze Schuld. Das war schon von allem Anfang seine Absicht gewesen; aber damit der andere nicht ohne Verdienst dabei bleibe, wollte er nicht, dass er bloß die Wohltat empfange, sondern dass er auch darum bitte. Freilich, wenn auch der Knecht niederfiel und bat, so kam doch schließlich alles von der Güte des Herrn. Das ersehen wir aus dem Beweggrund, der für seine Nachsicht angeführt wird: "Er erbarmte sich seiner und schenkte ihm die Schuld." Gleichwohl ließ er auch den Knecht scheinbar etwas dazu beitragen, um ihm eine allzugroße Beschämung zu ersparen; auch sollte er durch die Erfahrung seines eigenen Elendes Nachsicht gegen seine Mitknechte lernen.



4.

Bis dahin war dieser Knecht gut und tugendhaft gewesen; er war geständig, versprach seine Schuld zu bezahlen, fiel nieder, flehte, verurteilte seine Fehler und sah ein, wie groß seine Schuld war. Was er aber darauf tat, schloß sich nicht würdig an das Vorausgehende an. Er ging hinaus und sofort, nicht etwa erst nach längerer Zeit, nein sofort, während die Erinnerung an die empfangene Wohltat noch frisch im Gedächtnisse haftete, mißbrauchte er die Nachsicht und die Freiheit, die ihm von seinem Herrn geschenkt worden war. 

   V.28: "Er fand einen seiner Mitknechte, welcher ihm hundert Denare schuldete, und er ergriff und würgte ihn und sagte: Gib mir zurück, was du schuldig bist." 

   Siehst du, wie gütig der Herr; siehst du, wie hart der Knecht? Höret es, ihr, die ihr um des Geldes willen ebenso handelt. Wenn man nicht so vorgehen darf, wo es sich um Sünden handelt, wieviel weniger, wenn nur Geld in Frage steht? Was sagt also der Mitknecht? 

   V.29: "Habe Nachsicht mit mir, und ich werde dir alles zurückbezahlen." 

   Der Knecht aber beachtete nicht, dass das dieselben Worte waren, die ihn gerettet hatten[578] ; er erkannte den Hafen nicht wieder, durch den er dem Schiffbruch entronnen war. Selbst die Art, wie der Mitknecht bat, gemahnte ihn nicht an die Milde seines Herrn; alles das, war im infolge seiner Habsucht, Grausamkeit und Unversöhnlichkeit entfallen, und so handelte er schlimmer als ein wildes Tier: er würgte seinen Mitknecht. Was tust du da, Mensch? Merkst du nicht, dass du dein eigener Ankläger wirst, dass du das Schwert gegen dich selbst richtest, dass du den Rechtsspruch und deine Freisprechung widerrufst? Allein nichts von all dem kam ihm in den Sinn, er dachte nicht an das, was ihm widerfahren, und ließ sich nicht erbitten, dabei wurde er nicht einmal um Nachsicht einer gleichen Summe gebeten. Er selbst hatte wegen einer Schuld von zehntausend Talenten, der Mitknecht nur wegen hundert Denaren gefleht; er vor dem Herrn, dieser nur vor einem Mitknechte; ihm war alles erlassen worden, dieser bat bloß um einen Aufschub. Aber auch diesen mag er nicht zugestehen, sondern: 

   V.30: "Er warf ihn in das Gefängnis. 

   V.31: Als aber seine Mitknechte dies sahen, erzählten sie es ihrem Herrn." 

   Nicht einmal den Menschen gefiel eine solche Handlungsweise, geschweige denn Gott. Die selber nichts schuldig waren, fühlten Mitleid. Was tut nun der Herr? Er sprach: 

   V.32: "Du böser Knecht! Deine ganze große Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast, 

   V.33: mußtest nun nicht auch du deines Mitknechtes dich erbarmen, so wie ich mich deiner erbarmt habe?" 

   Beachte wiederum die Milde des Herrn. Er geht mit ihm ins Gericht und entschuldigt sich dabei, da er zurücknehmen soll, was er ihm geschenkt hatte; und doch hat nicht so sehr er, als vielmehr der Empfänger die Gabe rückgängig gemacht. Daher die Worte: "Jene ganze Schuld habe ich dir nachgelassen, hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen sollen?" Mag es dir auch schwer ankommen, du hättest doch auf den Vorteil sehen sollen, den du schon gewonnen und der noch in Aussicht stand. Wenn dir das Gebot auch eine Bürde auflegt, du solltest den Lohn ins Auge fassen, nicht den Umstand, dass jener dich beleidigt hat, sondern dass du Gott erzürnt hast und dass er sich durch eine einfache Bitte besänftigen ließ. Wenn es dir trotzdem schwer fällt, dich mit dem Beleidiger auszusöhnen, so bedenke, dass es etwas viel Schlimmeres für dich ist, in die Hölle zu stürzen. Wenn du beides nebeneinander hältst, muß es dir einleuchten, dass das erstere viel leichter ist als letzteres. 

   Wegen der Schuld von zehntausend Talenten hieß der Herr den Knecht nicht böse, behandelte ihn auch nicht hart, sondern erbarmte sich seiner; als er aber gegen seinen Mitknecht herzlos war, da sprach er: "Du böser Knecht!" Hören wir darauf, denn auch uns gelten diese Worte, wenn wir habgierig sind. Hören wir es auch, wenn wir unbarmherzig und gefühllos sind, denn die Hartherzigkeit richtet sich nicht gegen die anderen, sondern gegen uns selber. Wenn du das Böse nachtragen willst, so bedenke, dass du es zu deinem, nicht zu fremdem Schaden nachträgst, dass du an deiner eigenen Sünde, nicht an der deines Nebenmenschen festhältst. Alles, was du nämlich ihm antust, tust du als Mensch und im gegenwärtigen Leben; Gott dagegen handelt nicht so; er straft schärfer und seine Strafe trifft im Jenseits. 

   V.34: "Und erzürnt überantwortete ihn sein Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld zurückbezahlt hätte", 

   d.h. auf immer, da er seine Schuld niemals abzutragen imstande sein wird. Da dich die Wohltat nicht besser gemacht, so b leibt nur übrig, dich durch Züchtigung zu bessern. Obschon Gott seiner Gnaden und Gaben nicht bereut, so brachte es doch die Bosheit so weit, dass auch diese Regel umgestoßen wurde. Kann man also etwas Schlimmeres tun als Groll hegen, wenn hierdurch selbst eine so bedeutende Gabe Gottes widerrufen wird? Auch der Herr war voll Grimm, als er den Knecht den Peinigern überantwortete. Zuvor, wie er ihn verkaufen lassen wollte, hatte er nicht im Zorne gesprochen; darum tat er es ja auch nicht, vielmehr offenbarte er darin den höchsten Grad der Liebe. Jetzt hingegen fällt er das Urteil in heftigem Unwillen zur Strafe und Züchtigung. Was will also das Gleichnis besagen? 

   V.35: "So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn nicht ein jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht." 

   Er sagt nicht: euer Vater, sondern: "mein Vater"; denn ein Mensch, der so schlecht und lieblos ist, hat gar kein Recht, Gott seinen Vater zu nennen.



5.

Eine zweifache Forderung stellt somit der Herr an uns: Dass wir unsere Sünden verurteilen und dass wir anderen verzeihen, und zwar das erste wegen des zweiten, damit uns leichter werde[579] . Wir sollen aber nicht bloß mit dem Munde, sondern von Herzen vergeben; sonst richten wir das Schwert gegen uns selbst, wenn wir unversöhnlich sind. Ist denn das Übel, das dir dein Beleidiger angetan hat, so groß wie das, welches du dir selbst zufügst, wenn du durch Rachsucht dir das Verwerfungsurteil Gottes zuziehst? Wenn du vernünftig und besonnen bist, wird das Verderben auf sein Haupt zurückfallen und er eigentlich der Leidtragende sein. Fährst du hingegen fort, unwillig und aufgebracht zu sein, dann wirst du den Schaden davon haben, und zwar nicht von seiner Seite, sondern von dir selbst. Sage also nicht, er habe dich geschmäht und verleumdet und dir tausenderlei Böses angetan; denn je mehr du vorbringst, desto mehr Wohltaten zählst zu auf, die er dir erwiesen hat. Er gab dir nämlich Gelegenheit, deine Sünden zu sühnen. Je größer deshalb das Unrecht ist, das er dir tut, desto mehr hilft er dir, dass du Verzeihung deiner Sünden erlangst. Wenn wir also nur den guten Willen haben, so ist niemand imstande, uns wirklich Schaden zuzufügen; unser Feind wird uns vielmehr zum größten Nutzen gereichen. 

   Allein das sind ja nur Menschen. Könnte es aber einen ärgeren Bösewicht geben, als den Teufel? Gleichwohl bietet auch er uns Anlaß zu vielen Tugendübungen. Ein Beispiel dafür ist Job. Wird aber sogar der Teufel uns Anlaß, dass wir Lohn ernten, wie wolltest du dann einen feindseligen Menschen fürchten? Sieh also, wieviel Vorteil du gewinnen kannst, wenn du die Bosheiten deiner Feinde mit Sanftmut hinnimmst. Der erste und größte Vorteil, den du davon hast, besteht darin, saß dir deine Sünden nachgelassen werden; der zweite, dass du starkmütig und geduldig, der dritte, dass du sanftmütig und liebevoll wirst[580] ; viertens, dass du immer mehr die Zornmütigkeit ablegst. Damit läßt sich wohl nichts vergleichen; denn wer sich des Zornes entledigt hat, ist auch frei von der Traurigkeit, die daraus entspringt, und vergeudet sein Leben nicht mit unnützen Mühen und Kümmernissen. Wer keinen Haß kennt, kennt auch keine Betrübnis, sondern genießt sein Leben in Ruhe und ist reich an vielen Gütern. Wer dennoch andere haßt, straft sich selbst, wie man umgekehrt durch Liebe sich selbst wohltut. Hierzu kommt noch, dass du allen Menschen selbst deinen Feinden, und wären sie auch ganze Teufel, ein Gegenstand der Ehrfurcht wirst; ja bei einer solchen Gesinnung wirst du überhaupt keinen Feind mehr haben. Was jedoch das Allergrößte und Wichtigste ist, du gewinnst die Liebe Gottes. Wenn du ein Sünder bist, wird dir Vergebung zuteil; bist du ein Gerechter, wo wirst du in ein noch innigeres Verhältnis zu ihm treten. 

   Wir wollen es uns also angelegen sein lassen, niemand zu hassen, damit auch Gott uns liebe; er wird sich dann unser erbarmen und uns gnädig sein, auch wenn wir ihm zehntausend Talente schuldig wären. Allein dir ist von jemand Unrecht geschehen? Nun gut, dann habe Mitleid mit ihm, aber hasse ihn nicht; bedauere, beklage ihn, aber werde ihm nicht abgeneigt. Er hat ja Gott beleidigt, nicht du; ja du wirst sogar sein Wohlgefallen finden, wenn du geduldig bleibst. Beherzige, dass Christus vor der Kreuzigung für seine Person voll Freude war, während er über diejenigen weinte, die ihn kreuzigten. So wollen auch wir handeln. Je mehr wir Unrecht zu leiden haben, desto mehr sollen wir unsere Beleidiger beweinen; denn für uns erwächst daraus großer Nutzen, für sie das Gegenteil. Aber er hat dich vor allen Leuten geschmäht und geschlagen? Nun gut, dann hat er sich selbst vor allen Leuten Schande und Unehre bereitet, hat Tausenden eine Handhabe zur Anklage gegen sich gegeben, dir hingegen um so mehr Kränze gewunden und viele Leute zu Herolden deiner Langmut geworben. Allein er hat dich bei anderen verleumdet? Ja, was hat das zu bedeuten? Gott, nicht jene, die es gehört haben, wird einst Rechenschaft dafür fordern. Für sich hat er nur neuen Anlaß zur Strafe gegeben, da er nicht bloß für seine eigenen Sünden sich verantworten muß, sondern auch wegen der Rede, die er über dich geführt hat. Dich hat er bloß bei den Menschen in schlechten Ruf gebracht, sich selbst aber hat er bei Gott schlecht angeschrieben. Und wenn dir das noch nicht genug ist, so bedenke, dass auch Gott der Herr verleumdet wurde, sowohl vom Satan als von den Menschen, und zwar gerade von jenen, denen er am meisten Liebe erzeigt hatte. Ebenso ging es seinem Eingeborenen, der darum sprechen konnte: "Wenn sie den Hausherrn Beelzebub genannt, um wieviel mehr dessen Hausgenossen" (Mt 10,25). Und es blieb nicht allein bei der Verleumdung des bösen Feindes, man glaubte es auch; und nicht die ersten besten Verleumdungen streute er aus, sondern die schmählichsten und schimpflichsten: er sei besessen, er sei ein Betrüger, er sei ein Widersacher Gottes. Aber du hast ihm Wohltaten erwiesen, und er vergalt dir mit Bösem? Nun, in diesem Falle beweine und beklage einen solchen um so mehr, für dich aber frohlocke; denn du bist Gott ähnlich geworden, der die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse (Mt 5,45). Es mag vielleicht scheinen, als übersteige es deine Kräfte, Gott nachzuahmen, wiewohl auch das einem Eifrigen nicht schwer fällt; allein wenn es dir doch allzu erhaben vorkommt, will ich dich auf deine Mitknechte hinweisen: auf Joseph, der von seinen Brüdern unsägliches Leiden mußte und ihnen dennoch Wohltaten erwies; auf Moses, der trotz tausenderlei Anfeindungen für die Juden Fürsprache einlegte; auf den hl. Paulus, der nicht einmal alles aufzählen konnte, was er von den Menschen erduldete und dennoch für sie Anathema (Rm 9,3) zu sein wünschte; auf Stephanus, der für seine Steiniger betete, es möge ihnen diese Sünde vergeben werden. Alle diese Lehren mußt du beherzigen, um den Zorn völlig abzulegen. Dann wird auch Gott uns alle Sünden verzeihen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, dem im Verein mit dem Vater und dem Hl. Geiste Ruhm, Macht und Ehre sei jetzt und immer und in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 60