Kommentar zum Evangelium Mt 66

Sechsundsechzigste Homilie. Kap. XX, V.29.-Kap. XXI, V.11.

66 Mt 20,29-21,11
1.

V.29: "Und da sie weggingen von Jericho, folgte ihm eine große Menge Volkes. 

   V.30: Und siehe zwei Blinde, welche an der Straße saßen, hörten, dass Jesus vorbeikomme, und sie schrieen: Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids." 

   Beachte zunächst, von wo Christus nach Jerusalem aufbricht und wo er sich vorher aufgehalten hatte. Ganz besonders aber scheint es mir der Untersuchung wert zu sein, warum er nicht auch schon früher von dort nach Galiläa reiste, sondern den Weg durch Samaria nahm. Doch wollen wir diese Frage denen überlassen, die sich besonders dafür interessieren. Wollte jemand sorgfältig prüfen, so könnte er bei Johannes eine schöne Andeutung samt der Angabe des Grundes finden (Jn 4,1). Wir halten uns an unseren Text und wollen auf die Blinden hören, die besser waren als viele Sehende. Waren sie auch führerlos, konnten sie den Herrn auch nicht sehen, wenn er vor ihnen stand, so bemühten sie sich doch, zu ihm zu kommen. Deshalb riefen sie mit lauter Stimme und schrieen um so lauter, je mehr man ihnen Schweigen gebot. Darin eben zeigt sich die Beharrlichkeit einer Seele; je mehr man sie hindern will, desto mächtiger strebt sie vorwärts. Christus ließ es zu, dass man sie anfuhr; um ihr Verlangen desto mehr ins Licht zu stellen und zu zeigen, dass sie die Heilung wohl verdienten. Darum fragte er auch nicht: "Glaubet ihr", wie er es gewöhnlich tat, denn in ihrem Schreien und Vordrängen offenbarte sich ja hinreichend ihr gläubiges Vertrauen. 

   Hieraus magst du ersehen, mein Lieber, dass wir selbst in allen Bitten Erhörung finden können, mögen wir noch so gering und verachtet sein, wenn wir nur mit innigem Verlangen vor Gott hintreten. Die Blinden hatten unter den Aposteln keine Fürsprecher, von vielen Seiten wurde ihnen sogar Schweigen geboten; dennoch überwinden sie alle Hindernisse und setzen es durch, zu Jesus zu gelangen. Auch berichtet der Evangelist nicht, dass sie einen besonders guten Lebenswandel geführt hätten, ihr inbrünstiges Verlangen mußte für sie statt alles anderen genügen. Hierin nun sollen wir sie nachahmen: Wenn Gott die Erhörung hinausschiebt, wenn manche uns vom Beten abwendig machen wollen, so dürfen wir trotzdem nicht nachlassen. Gerade durch die Ausdauer werden wir uns Gott am meisten geneigt machen. So vermochte auch bei unseren Blinden weder ihre Armut noch ihre Blindheit, auch nicht der Umstand, dass sie kein Gehör fanden, oder dass sie von der Menge gescholten wurden, oder sonst etwas ihre Beharrlichkeit zu lähmen. So sind eben feurige und eifrige Seelen. Was antwortet nun Christus? 

   V.32: "Jesus stand still, rief sie und sprach: Was wollt ihr, dass ich euch tue? 

   V.33: Sie sagten zu ihm: Herr, dass sich unsere Augen öffnen." 

   Weshalb fragt er sie? Damit niemand glaube, sie hätten vielleicht etwas anderes gewünscht, als er ihnen gewährte. Allweg ist es eine Gepflogenheit, zuerst die Tugend der Heilungsbedürftigen zu offenbaren und allen vor Augen zu führen, ehe er die Heilung vornimmt, und zwar aus dem Grunde, um auch die anderen zum Eifer anzuspornen, ferner um zu zeigen, dass er seine Gaben nicht an Unwürdige verschwendet. So hat er es bei dem chananäischen Weibe gemacht, bei dem Hauptmanne und bei der Blutflüssigen. Ja, wiewohl dieses bewunderungswürdige Weib sogar der Frage des Herrn zuvorgekommen war, nahm er dennoch davon keinen Abstand, sondern offenbarte ihre Tugend, nachdem er sie geheilt hatte. Also jedesmal lag ihm daran, die Tugenden derer, die sich an ihn wandten, zu offenbaren, ja, sie noch größer hinzustellen, als sie in Wirklichkeit waren. 

   So geht er auch hier vor. Nachdem die zwei Blinden ihr Begehren geäußert, rührte er sie voll Erbarmen an. Sein Mitleid ist der einzige Grund der Heilung, aus Erbarmen war er ja in die Welt gekommen. Obgleich er aber nur aus Barmherzigkeit und Gnade heilt, sieht er doch zuerst darauf, dass die Leute es auch wert sind. Diese beiden waren es wert, wie daraus hervorgeht, dass sie laut riefen und nach der Wohltat ihn nicht wieder verließen, wie so viele Undankbare tun. So handeln sie nicht, sondern so beharrlich sie vor der Wohltat waren, so dankbar zeigen sie sich nachher, indem sie sich ihm anschließen. 

   Kapitel XXI. V.1: "Und als sie sich Jerusalem genähert hatten, und sie gen Bethphage kamen an den Ölberg, da schickte Jesus zwei Jünger ab 

   V.2: mit dem Auftrag: Gehet in die Ortschaft, welche vor euch liegt, und alsbald werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen mit ihr; löset sie ab und führet sie zu mir! 

   V.3: Und so jemand euch etwas sagt, sprechet: Der Herr bedarf ihrer, und sofort wird er sie hergeben. 

   V.4: Dies alles aber geschah, damit erfüllt würde, was gesagt worden ist durch den Propheten: 

   V.5: Sprechet zur Tochter Sion: Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig, reitend auf einer Eselin und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres." 

   Auch früher war Jesus oft nach Jerusalem gezogen, doch niemals mit solcher Feierlichkeit. Was mag ihn wohl dazu bewogen haben? Bislang hatte er die Erlösung nur vorbereitet; er war noch nicht sonderlich bekannt gewesen, die Zeit seines Leidens hatte noch nicht unmittelbar bevor gestanden, deshalb verkehrte er mit den Juden, ohne besonders hervorzutreten, ja hielt sich eher verborgen, aus Besorgnis, er könnte, anstatt ihre Bewunderung auf sich zu ziehen, sie eher gegen sich aufbringen. Nunmehr hatte er aber schon zahlreiche Beweise seiner Macht gegeben, sein Tod am Kreuze sollte bald erfolgen; da entfaltete er füglich größeren Glanz und tritt mit mehr Aufsehen auf, um das Volk für sich besonders einzunehmen. Freilich hätte das auch von allem Anfange der Fall sein können, aber es wäre nicht so nützlich und dienlich gewesen. Was bei unserer Begebenheit besondere Beachtung verdient, ist der Umstand, dass durch dieses vielfache Wunder auch viele Weissagungen erfüllt werden. Er sprach: "Ihr werdet eine Eselin finden." Er sagte vorher, dass niemand sie hindern würde, sondern auf ihre Worte hin zu allem schweigen werden. Es liegt wein schwerer Vorwurf für die Juden darin, dass Leute, die ihn gar nicht kannten, ihn nie gesehen hatten, dennoch ihm ihr Eigentum ohne Widerrede zur Verfügung stellen, trotzdem er es überdies nur durch seine Jünger in Anspruch nimmt, während jene anderen seine Wunder mit eigenen Augen gesehen hatten und dennoch nicht an ihn glaubten.



2.

Irrig wäre die Meinung, der Vorgang habe nicht viel zu bedeuten. Denn wie kamen diese Landleute, die wahrscheinlich arm waren, dazu, sich ohne Widerspruch ihr Eigentum entführen zu lassen? Was sage ich, ohne Widerspruch? Sie stellten nicht einmal eine Frage, oder wenn schon, so ließen sie sich doch sofort beschwichtigen und erklärten sich bereit. Zwei sehr auffallende Umstände: sie sagten gar nichts dazu, dass man ihre Lasttiere wegführt, und willigen noch ohne Widerrede ein, als sie hören, der Herr bedürfte ihrer; und dabei sahen sie ihn selbst nicht einmal, sondern bloß seine Jünger. Der Herr gibt dadurch seinen Jüngern die Lehre, es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die Juden, die ihn ergreifen wollten, auch gegen ihren Willen daran zu hindern und verstummen zu machen. Er wollte aber nicht. Ferner zeigt es damit den Jüngern, dass sie ihm alles gewähren müssen, was er verlangt, ja, dass sie selbst das Leben ohne Weigerung hingeben müssen, sobald er es fordert. Wenn nämlich schon Unbekannte ihm so zu Willen sind, wieviel mehr müssen dann sie alles preisgeben? Außerdem erfüllte der Herr noch zwei andere Weissagungen, die eine durch Handlungen, die andere in Worten. Die Prophetie, die er durch eine Handlung erfüllte, bestand darin, dass er auf einer Eselin ritt; die Weissagung, die er in Worten erfüllte, stammte vom Propheten Zacharias, der verkündet hatte, der König werde auf einer Eselin sitzen. Indem er nun die Eselin bestieg, erfüllte er die Prophetie und baute zugleich eine neue darauf auf, indem er durch diese Tat die Zukunft vorbildete. Wie aber und auf welche Weise? Er deutete damit an, dass er die unreinen Heiden berufen und auf ihnen ruhen werde, dass sie seiner Einladung folgen und sich ihm anschließen würden. So bildete die eine Weissagung die Grundlage der anderen. Mich will es jedoch bedünken, als habe er nicht allein aus den erwähnten Gründen den Esel bestiegen, sondern dass er uns damit auch eine Richtschnur für das Leben geben wollte. Denn er beschränkte sich gewiss nicht bloß darauf, Weissagungen zu erfüllen und die Gesetze der Wahrheit aufzustellen, sondern wollte durch ebendiese Lehren auch Lebensregeln bieten, immer wieder Anweisungen für verschiedene Verhältnisse des Lebens geben und es in jeder Hinsicht so ordnen. So tat er es schon damals, als er in die Welt eintreten wollte. Er suchte sich kein glänzendes Haus, keine reiche und angesehene Mutter aus, sondern eine ganz arme, deren Bräutigam ein Zimmermann war; er wird in einem Stalle geboren und in eine Krippe gebettet. 

   Als es sich später um die Wahl der Jünger handelte, erkor er sich nicht Redner und Gelehrte, nicht Reiche und Vornehme, sondern arme und unbekannte Leute aus armen Familien. Und wenn es sich darum handelte, seinen Tisch zu decken, so setzt man ihm einmal Gerstenbrote vor, ein andermal schickt er erst zur Mittagszeit die Jünger auf den Markt einkaufen. Als Lagerstätte dient ihm Heu. Seine Kleidung ist einfach und in nichts von der des Volkes verschieden; Haus besitzt er gar keines. Wenn er sich von einem Orte an einen anderen begeben muss, so wandert er zu Fuß und geht sich dabei tüchtig müde. Zum Sitzen dient ihm weder Sessel noch Polster, er läßt sich bald auf den Boden, bald auf einem Berge, bald an einem Brunnen nieder; ja er setzt sich nicht bloß zum Brunnen hin, sondern tut es allein und er knüpft dann sogar ein Gespräch mit einer Samariterin an. Selbst für die Stunden der Trübsal will er eine Verhaltungsmaßregel geben. Er weint nur still, wenn er in Trauer ist. So gibt er also, wie gesagt, Weisungen für alle Lebenslagen und zieht eine Grenze, die man im eigenen Verhalten nicht überschreiten darf. Dazu gehört nun auch unser Fall. Er gibt eine Maßregel für jene, die wegen ihrer Schwäche ein Reittier brauchen, und zeigt, man solle sich außer im Falle der Notwendigkeit nicht eines Pferdes oder Maultiergespannes, sondern eines Esels bedienen[592] . 

   Betrachten wir jetzt die Weissagung selbst, die mündliche und die sachliche. Sie lautet: "Siehe, dein König kommt sanftmütig, reitend auf einer Eselin mit ihrem Füllen." Er kommt also nicht auf einem Wagen, wie andere Könige, nicht um Steuern einzuheben, nicht mit Groß und Leibwache, sondern er bekundet auch hierin eine große Bescheidenheit. Frage also nur einen Juden: Wann hat je ein König auf einem Esel in Jerusalem seinen Einzug gehalten? Er kann dir keinen Fall angeben außer diesen allein. Dieser Einzug sollte, wie schon erwähnt, auf die Zukunft hindeuten. Das Füllen sinnbildet die Kirche und das neue Volk, das zwar einst unrein war, aber rein wurde, als Jesus von ihm Besitz nahm. Beachtenswert ist, wie alle Züge dieses Bildes dabei zu treffen sind. Die Jünger binden die Lasttiere los; so wurden durch die Apostel die Juden und auch wir berufen, durch die Apostel wurden wir ihm zugeführt. Weil nun unsere Begnadigung die Eifersucht der Juden entfachte, darum wird offenbar die Eselin von ihrem Füllen begleitet. Denn sobald Christus die Heiden an sich gezogen haben wird, werden auch sie voll Eifersucht kommen. Diese Ansicht drückt sich auch klar in den Worten des hl. Paulus aus; "Die Verblendung trat teilweise an Israel ein, bis die Vollzahl der Heiden einginge. Und so wird ganz Israel gerettet werden" (Rm 11,25-26). In dem Vorgange liegt sonach, wie aus dem Gesagten hervorgeht, eine Weissagung; sonst hätte ja dem Propheten nichts daran liegen können, mit solcher Genauigkeit sogar das Alter des Esels anzugeben. Doch nicht bloß dieses ergibt sich aus dem Berichte, sondern auch die Tatsache, dass die Heiden von den Aposteln ohne Schwierigkeit werden geführt werden. Wie sich nämlich hier niemand dem Wegführen des Esels widersetzte, so war auch bei den Heiden keiner ihrer Gewalthaber imstande, die Apostel zu hindern. Der Herr setzt sich indes nicht auf den bloßen Rücken des Füllens, sondern auf die Kleider der Apostel. Nachdem sie einmal das Füllen genommen hatten, gaben sie füglich alles hin, wie auch Paulus beteuert; "Ich werde gar gerne aufopfern und mich aufopfern lassen um eurer Seele willen" (2Co 12,15). Beachte dabei, wie fügsam das Füllen ist. Obwohl noch nicht zugeritten und noch an keinen Zügel gewöhnt, schreitet es doch ruhigen Schrittes dahin, ohne sich zu bäumen. Auch in diesem Umstande liegt eine Prophezeiung: es wird angedeutet, wie willig sich die Heiden zeigen und mit welcher Bereitwilligkeit sie sich in die neue Ordnung fügen würden. Alle diese Wirkungen hatte das Wort: "Löset sie und bringet sie zu mir"; das Ungeordnete wurde in Ordnung gebracht, das Unreine wurde rein.



3.

Siehe nun, wie verächtlich das Verhalten der Juden war. Der Herr hatte früher zahlreiche Wunder gewirkt, ohne dass es einen sonderlichen Eindruck auf sie gemacht hätte; jetzt aber, da sie sehen, dass das Volk zusammenläuft, da wundern sie sich. 

   V.10: Denn: "Es wurde die ganze Stadt erregt und sagte: Wer ist das? 

   V.11: Die Volksscharen aber sagten; Das ist Jesus, der Prophet, von Nazareth in Galiläa." 

   Und selbst da, wo sie scheinbar etwas Großes aussprechen, war ihre Ansicht doch irdisch, niedrig, ungereimt. Denn die Absicht Christi war nicht, durch die Begebenheit Aufsehen zu machen, sondern er wollte, wie gesagt, eine Weissagung erfüllen und ein Tugendbeispiel geben, wollte die Jünger, die über seinen bevorstehenden Tod betrübt waren, ermutigen und zeigen, dass er sich dem ganzen Leiden freiwillig unterzog. Von dir aber hoffe ich, dass du anerkennst, wie genau die Propheten David und Zacharias alles vorausgesagt hatten. Auch wir wollen das tun, was das Volk damals tat, wollen Lieder singen und vor denen, die ihn tragen, unsere Kleider ausbreiten. Jene legten ihre Gewänder auf die Eselin, die er bestieg, und breiteten sie vor ihren Füßen aus; wie müßte es da uns ergehen, wenn wir nicht einmal so viel Freigebigkeit aufbrächten, um ihn zu bekleiden, wenn wir ihn nackt sehen? Wir brauchen uns dabei gar nicht einmal selbst zu entäußern, sondern nur von unserem Überflusse zu geben. Jene gehen vor ihm und hinter ihm her, und wir sollen ihn vorübergehen lassen und mit Verachtung zurückweisen, wenn er zu uns kommt? Wie groß müßte die Strafe, die Züchtigung für eine solche Handlungsweise sein! Der Herr wendet sich mit einer Bitte an dich, und du magst sein Flehen nicht hören, fährst ihn an, schiltst ihn aus, und das alles, nachdem du solche Dinge gehört hast? Wenn du schon so knauserig, geizig und langsam bist, sobald du nur ein Brot oder ein kleines Geldstück geben sollst, wie würdest du erst werden, wenn du alles weggeben müßtest? Siehst du nicht, wie freigebig die Zuschauer im Theater sind, wieviel sie für Buhlerinnen hinauswerfen? Und du gibst nicht einmal halb so viel, oft nicht einmal das Geringste! Der Teufel fordert, dass du allen möglichen Leuten gebest, und du gibst, obschon er dir nur die Hölle dafür bieten kann; Christus verlangt bloß, dass wir den Bedürftigen geben und verheißt uns dafür das Himmelreich. Allein anstatt zu geben, hast du auch noch Schmähworte, du schenkst dem Teufel Gehör, obwohl du gestraft wirst, anstatt Christo zu folgen und selig zu werden. Kann es eine noch größere Torheit geben? Jener bietet die Hölle und man läuft ihm nach, Christus bietet den Himmel und man achtet seiner nicht; den einen weist man ab, wenn er kommt, um den anderen aus der Ferne herbeizurufen. Das ist ebenso unsinnig als einen König, der Purpur und Krone trägt, abzuweisen und einem Räuber, der mit gezücktem Dolche den Tod androht, zu gehorchen. 

   Das also, Geliebte, wollen wir bedenken und endlich einmal, wenn auch spät, die Augen öffnen und uns aufraffen. Ich schäme mich schon, immer wieder über das Almosengeben sprechen zu müssen; wenn ich trotzdem häufig auf dieses Thema zurückkomme, so geschieht es nur deshalb, weil meine Ermahnungen so wenig Erfolg haben. Es geschieht jetzt allerdings etwas mehr, allein bei weitem nicht so viel, als ich wünschte. Ich sehe euch zwar ausstreuen, aber nicht mit vollen Händen; darum fürchte ich, dass ihr einst auch spärlich ernten werdet. Zum Beweise, dass man nur spärlich säet, wollen wir, wenn es euch recht ist, untersuchen, wer in unserer Stadt zahlreicher ist, die Armen oder die Reichen, und wie viele weder reich noch arm sind, sondern zum Mittelstand gehören. Ungefähr ein Zehntel sind reich und ein Zehntel so arm, dass sie gar nichts besitzen; die übrigen gehören zum Mittelstande. Verteilen wir nun die Bedürftigen auf die ganze Einwohnerschaft der Stadt, so werdet ihr sehen, wie groß unsere Schande ist. Ganz Reiche sind wenig; viele dagegen gehören zur Mittelklasse, ganz Arme sind wieder weit weniger als diese. Obwohl es nun so viele gibt, die die Armen speisen könnten, müssen doch viele derselben hungrig zu Bett gehen, nicht als ob die besitzenden Klassen nicht leicht abhelfen könnten, sondern weil sie so hart und lieblos sind. Wenn man diejenigen, welche Nahrung und Kleidung brauchen, auf die Reichen und mittelmäßig Begüterten aufteilte, dürfte auf fünfzig oder gar hundert Bewohner kaum ein einziger Armer entfallen. Trotzdem nun aber die Zahl derer, die helfen könnten, so groß ist, hört man die Armen doch tagtäglich klagen. 

   Damit du aber auch einsehest, wie lieblos man ist, erwäge, wie viele Witwen und Jungfrauen jeden Tag von der Kirche unterstützt werden, obgleich sie nur das Einkommen eines sehr mäßig Begüterten, keineswegs eines Reichen hat. Die Liste derer, die unterstützt werden, hat schon die Zahl Dreitausend überschritten. Dazu kommen noch Gefangene, Kranke in den Spitälern, Gesunde, Fremde, Krüppel, diejenigen, welche an den Stufen der Altäre auf Nahrung und Kleidung warten, sowie die gelegentlichen Bettler, und doch nimmt das Vermögen der Kirche dadurch nicht ab. Wenn also auch nur je zehn Mann zusammen in derselben Weise helfen wollten, so gäbe es keinen Armen mehr.



4.

Und was sollten dann wohl, so entgegnet man, unsere Kinder erhalten? Das Kapital würde ihnen bleiben und das Erträgnis würde sich vergrößern, wenn ihre Schätze ihnen im Himmel hinterlegt würden. Aber das möget ihr nicht? Nun, so leget wenigstens die Hälfte, ein Drittel, ein Viertel, ein Zehntel dort an. Durch Gottes Gnade wäre unsere Stadt auf diese Weise imstande, die Armen von zehn anderen Städten zu erhalten. Wenn es euch gefällt, wollen wir die Sache ausrechnen. Doch es bedarf gar keiner Rechnung, es ist ja von selbst klar, wie leicht es wäre. Werfet nur einen Blick auf die Leistungen für den Staat. Wieviel Ausgaben muß da oft eine einzige Familie ohne weiteres auf sich nehmen und empfindet nicht einmal den Aufwand. Würde jeder Reiche ebenso auch für die Armen eine Abgabe entrichten, so würde er in Bälde das Himmelreich an sich reißen. Wie könnte man also Verzeihung gewärtigen, wie auch nur einen Schatten von Entschuldigung vorbringen, wenn man nicht einmal von den Gütern, die man doch beim Scheiden aus diesem Leben unbedingt verlieren muß, den Bedürftigen ebenso freigebig mitteilte, wie manche auf Schauspiele Geld ausgeben, und zwar trotzdem eine so großartige Vergeltung uns dafür in Aussicht steht? Ja, auch wenn wir ewig hier bleiben könnten, dürften wir doch nicht mit so herrlichen Ausgaben kargen. Nun aber werden wir nach einer kurzen Spanne Zeit von hier abberufen und von allen Gütern losgerissen werden. Was wird uns dann zur Entschuldigung gereichen, wenn wir den Hungernden und Notleidenden nicht einmal von unseren Einkünften etwas zukommen lassen? Ich will dich ja gar nicht zwingen, dein Kapital zu schmälern; nicht als ob das nicht mein Wunsch wäre, sondern weil ich sehe, wie sehr dir davor schaudert. Ein solches Ansinnen stelle ich also nicht, wohl aber, dass du von den Zinsen desselben spendest und dich nicht damit bereicherst. Es soll dir genügen, dass deine Einkünfte wie aus einem Borne strömen; gib denn auch den Armen davon, als guter Verwalter der Gaben, die dir Gott beschwert hat. 

   Du wendest ein: Ich muß aber doch Steuern zahlen. Also weil niemand für die Armen Abgaben einhebt, deshalb willst du ihnen nichts geben. Wer ab er mit Zwang und mit Gewalt nimmt, ohne viel darnach zu fragen, ob die Erde etwas abwirft oder nicht, dem wagst du nicht zu widerstehen. Wer dagegen bescheiden ist und nur dann bittet, wenn die Erde Ertrag gebracht hat, dem gibst du nicht einmal eine Antwort? Wer wird dich dann wohl den unerträglichen Strafen in der Ewigkeit entreißen? Kein Mensch. Wenn du hier so pünktlich in der Entrichtung der Abgaben bist, weil die Säumigen scharf zur Rechenschaft gezogen werden, so vergiß doch auch nicht, dass dir im Jenseits viel Schlimmeres bevorsteht als Fesseln und Gefängnis, nämlich das ewige Feuer. Alle diese Erwägungen sollen uns anspornen, an erster Stelle diese Abgaben für die Armen zu entrichten. Es ist dies ja ganz leicht, der Lohn ist so groß, das Geschäft so einträglich, schärfer allerdings auch die Strafe, wenn wir uns weigern. Denn die Strafe, die uns dort trifft, hat kein Ende. Und wenn du etwa darauf hinweisest, dass doch die Soldaten für dich gegen die Feinde kämpfen müssen, so bedenke, dass es sich auch hier um ein Heer handelt, das Heer der Armen, und um einen Kampf, den die Armen für dich führen. Denn wenn sie eine Gabe empfangen, so ziehen sie durch ihre Gebete die Huld Gottes herab und wahren so die Angriffe zwar nicht der Barbaren, dafür aber der Teufel von dir ab und brechen die Macht des bösen Feindes, so dass er nicht übermächtig werden, nicht unablässig dich anfallen kann.



5.

Da du nun siehst, dass diese Krieger alle Tage für dich mit dem Teufel kämpfen durch ihre Bitten und Gebete, so hebe von dir selbst diese Steuer für ihren Unterhalt ein. Unser König ist ja die Milde selber und hat darum keine Eintreiber aufgestellt, er will freiwillige Leistungen; selbst die kleinsten Gaben, die du anbietest, nimmt er an, und drängt auch nicht, wenn einer lange nichts gibt, weil er selbst wenig oder nichts besitzt. Hüten wir uns aber, seine Langmut zum besten zu halten; ziehen wir uns nicht seinen Zorn, sondern seinen Segen zu, nicht den Tod, sondern das Leben, nicht Strafe und Peinen, sondern Ehre und Lohn. Du brauchst auch hierbei keine Gebühr für das Abführen dieser Steuer zu entrichten, keine Sorgen zu haben, es könnte durch die Vermittler abhanden kommen; du darfst nur die Abgabe erlegen, der Herr selbst trägt sie dann in den Himmel, er selbst übernimmt das ganze Geschäft, damit es dir vielen Gewinn abwirft. Ebensowenig brauchst du dich um die Zustellung zu bekümmern; wenn du nur die Abgaben leistest, sie steigen dann sofort empor, nicht als Sold für andere Soldaten, sondern als dein bleibendes Eigentum, das dir große Zinsen trägt. Im Staate erhältst du nichts von dem zurück, was du gegeben hast; im Himmel dagegen empfängst du es mit großer Ehre wieder und gewinnst obendrein noch große geistliche Güter; dort gibt man, weil es eingehoben wird, hier leiht man auf reichliche Zinsen. Auch hat dir Gott einen Schuldschein ausgestellt, wenn er sagt: "Wer sich erbarmt des Armen, der leiht Gott auf Zinsen" (Pr 19,17). Obwohl er Gott ist, hat er doch Unterpfand und Bürgschaft gegeben. Was für ein Unterpfand? Die Güter dieses Lebens, die sinnlichen und die geistigen, und zwar als Vorgeschmack der künftigen. Da du nun schon so viel empfangen und noch so viel zu gewärtigen hast, wie magst du da noch zaudern und Bedenken tragen? Was du empfangen hast, ist folgendes: Gott selbst hat deinen Leib gebildet, hat dir die Seele eingehaucht; dich allein auf Erden hat er durch die Gabe der Sprache ausgezeichnet; alle sichtbaren Dinge hat er dir zum Gebrauch übergeben; er hat dich mit der Fähigkeit begnadigt, ihn zu erkennen; seinen Sohn hat er für dich hingegeben, die Taufe mit all ihren reichen Gnaden dir geschenkt; eine hl. Mahlzeit hat er dir bereitet, das Himmelreich und einen unbeschreiblichen Lohn verheißen. 

   Nachdem du also um es noch einmal zu wiederholen so große Güter erhalten und noch so große in Aussicht hast, wolltest du knauserig sein mit dem vergänglichen Besitz? Wie könntest du in diesem Falle Nachsicht finden? Aber du hast nur deine Kinder im Auge, deshalb willst du nichts hergeben? So lehre doch auch sie, auf solchen Gewinn ausgehen. Wenn du Geld ausgeliehen hättest und der Schuldner ehrlich wäre, würdest du nicht anstatt des Geldes tausendmal lieber den Schuldschein deinem Sohne hinterlassen, so dass er reichlichen Nutzen vom Vermögen hätte, ohne herumgehen und nach anderen suchen zu müssen, die Geld borgen wollen? So gib denn deinen Kindern diese Schuldverschreibung und hinterlasse ihnen Gott als Schuldner. Du verkaufst ja auch deine Felder nicht, um den Kindern das Geld zu geben, sondern behältst sie, damit ihnen eine Einkommenquelle bleibe, aus der sie ihren Besitz mehren können. Der Schuldbrief Gottes aber ist wertvoller als Felder und sonstiges Einkommen und trägt so reichliche Zinsen, und da fürchtest du, ihn zu hinterlassen? Wie unvernünftig und töricht ist eine solche Handlungsweise! Zudem weißt du doch, dass du bei deinem Scheiden aus dieser Welt diesen Schuldbrief zwar deinen Kindern hinterlässest, ihn für deine Person aber doch mitnehmen kannst. Darin liegt eben die Eigenart der geistigen Güter, dass sie so ausgezeichnete Wirkungen haben. Seien wir also doch nicht so kleinlich, nicht so unmenschlich und grausam gegen uns selbst, sondern ergreifen und betreiben wir vielmehr dieses vorzügliche Geschäft, dann werden wir glücklich hinübergehen und es zugleich auch unseren Söhnen hinterlassen können; dann werden wir auch der ewigen Güter teilhaftig werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem mit dem Vater und dem Hl. Geiste Ruhm, Macht und Ehre sei jetzt und allezeit und in alle Ewigkeit. Amen!





Siebenundsechzigste Homilie. Kap. XXI, V.12-32.

67 Mt 21,12-32
1.

V.12: "Und als Jesus den Tempel betreten hatte, trieb er alle hinaus, die da im Tempel verkauften und kauften, und die Tische der Wechsler und die Gestelle der Taubenverkäufer warf er um; 

   V.13: und er sagte zu ihnen: Es steht geschrieben: Mein Haus wird ein Haus des Gebetes genannt (Is 56,7 Jr 7,11): ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht." 

   Derselbe Bericht findet sich auch bei Johannes, aber am Anfang des Evangeliums (Jn 2,13-22), während Matthäus ihn gegen das Ende desselben bringt. Daraus darf man den Schluß ziehen, dass sich dieser Vorfall zweimal und zu verschiedenen Zeiten ereignet hat. Das folgt nicht bloß aus der verschiedenen Zeitangabe, sondern auch aus der Antwort der Juden. Das erste Mal war der Herr zum Osterfeste hingekommen, dieses Mal viel früher. Damals hatten die Juden gesagt: "Welches Zeichen weisest Du uns? (Jn 2,18). Jetzt sind sie still, obschon sie zurechtgewiesen worden waren, weil er eben bereits bei allen in hohem Ansehen stand. Für die Juden liegt ein schwerer Vorwurf darin, dass sie, wiewohl er ein und noch ein zweites Mal so vorging, dennoch in ihrer niedrigen Kleinlichkeit auch ferner behaupteten, er trete gegen Gott auf, da sie doch gerade aus seinem Vorgehen ersehen mußten, wie sehr er den Vater ehrte und welche Macht ihm eigen war. Er wirkte ja auch Wunder, und sie konnten damit sehen, dass seine Worte und seine Werke im Einklang standen. Trotzdem ließen sie sich nicht überzeugen, ja sie wurden sogar aufgebracht, obwohl sie gehört hatten, was der Prophet geweissagt hatte und was die Kinder ganz über ihre Jahre hinaus vom Herrn verkündeten. Darum beruft sich Jesus ihnen gegenüber zu seiner Rechtfertigung auf Isaias mit den Worten: "Mein Haus wird ein Gebetshaus genannt werden ." Es ist das ein Hinweis auf seine Macht. Desgleichen legt er seine Macht in der Heilung verschiedener Krankheiten dar: 

   V.14: "Es traten zu ihm im Tempel Blinde und Lahme und er heilte sie"; 

   hierin legt er seine Macht und Gewalt an den Tag. Aber selbst diese Wunder machten keinen Eindruck auf die Pharisäer. Im Gegenteil, als sie obendrein auch noch hörten, wie ihn die Kinder priesen, erfüllte sie Ingrimm und sie sprachen zu ihm: 

   V.16: "Hörst Du, was diese sagen?" 

   Eigentlich hätte Christus zu ihnen sagen sollen: Hört ihr, was diese sagen? Denn sie gaben durch ihre Zurufe Zeugnis von seiner Gottheit. Was antwortet er nun? Da sie offenkundigen Tatsachen widersprechen, geht er mit schärferer Zurechtweisung gegen sie vor. 

   V.16: "Habt ihr niemals gelesen", sagt er: "Aus dem Munde von Kindern und Säuglingen hast du dein Lob bereitet?" 

   Ganz richtig heißt es "aus dem Munde"; denn nicht, weil sie verstehen, was sie reden, preisen sie ihn, sondern weil seine Kraft ihre noch unreifen Zungen in Bewegung setzte. 

   Diese Geschichte ist zugleich ein Vorbild der Heiden, welche stammelnd mit gläubigem Herzen alle die Großtaten Gottes priesen. Für die Apostel aber liegt darin ein großer Trost. Sie sollten nicht bange sein, ob sie als ungebildete Leute das Evangelium zu predigen imstande sein würden. Deshalb verleiht er diesen Kindern die Fähigkeit, ihn so zu preisen, um den Aposteln im vorhinein alle Angst zu benehmen und ihnen die Hoffnung einzuflößen, er werde auch ihnen die Gabe der Rede verleihen. Zugleich offenbart dieses wunderbare Ereignis, dass er der Schöpfer der Natur ist. Obwohl noch Kinder und im unreifen Alter, redeten sie doch ganz vernünftig und ebenso wie die himmlischen Geister. Die Männer hingegen reden sinnlose und unvernünftige Worte. So geht es eben der Bosheit. Da also vieles die Pharisäer reizte, das Verhalten der Menge, die Austreibung der Verkäufer, die Wundertaten, der Lobgesang der Kinder, so verläßt der Herr sie wieder, damit sich die Wogen ihrer Erregung beschwichtigen. Er will mit seiner Predigt nicht beginnen und sie, da sie vor Neid glühen, nicht noch mehr gegen seine Worte aufbringen. 

   V.18: "Frühmorgens aber, während er auf dem Rückwege zur Stadt war, hungerte ihn?" 

   Wie kommt es, dass ihn in der Frühe hungerte? Seine Menschheit zeigt eben ihre Bedürfnisse, sobald er es zuläßt. 

   V.19: "Und da er einen Feigenbaum am Wege sah, ging er auf ihn zu und fand an demselben nichts als nur Blätter." 

   Ein anderer Evangelist erwähnt: "Es war nämlich noch nicht die Feigenzeit" (Mc 11,13). Wenn aber die Feigenzeit noch nicht da war, wie kann dann der andere Evangelist erzählen: "Er ging darauf zu, ob er vielleicht etwas an ihm fände"? (Mc 11,13). Daraus ersieht man, dass nur die Jünger, die damals noch recht unvollkommen waren, meinten, er suche Früchte. Die Evangelisten berichten ja vielfach nur die Anschauungen der Jünger. Wie sie also das meinten, so wähnten sie auch, er habe den Baum verflucht, weil er keine Früchte trug. Weshalb aber verfluchte er ihn denn? Um der Jünger willen, um ihnen Mut einzuflößen. Da er immer nur Wohltaten gespendet hatte, ohne zu strafen, so mußte er ihnen auch einmal einen Beweis seiner strafenden Gewalt geben. Jünger und Juden sollten erfahren, dass er wohl imstande wäre, diejenigen, die ihn kreuzigten zu vernichten, dass er es aber nicht tat, weil er sich freiwillig hinopferte. Er wollte aber nicht an Menschen, sondern an einer Pflanze seine Strafgewalt betätigen. Wenn an Orten oder Pflanzen oder anderen vernunftlosen Wesen etwas Derartiges geschieht, so klügle nicht; frage nicht: War es recht, dass er den Feigenbaum verdorren machte, da ja die Feigenzeit noch nicht da war? Das wäre kindisch, so zu reden. Fasse vielmehr das Wunder ins Auge, bewundere und preise den Wundertäter. Ähnlich hat man es in Bezug auf die Schweine, die ins Meer stürzten, gemacht und die Frage nach der Berechtigung dieses Vorgehens aufgeworfen. Allein auch in diesem Falle darf man nicht darnach fragen, denn die Schweine sind vernunftlos, wie jener Baum leblos war. Warum wird aber die Sache so dargestellt, als wäre der Mangel an Früchten der Anlaß des Fluches gewesen? Weil, wie gesagt, die Jünger so dachten. Wenn die Feigenzeit noch nicht da war, so ist die Behauptung einiger, es werde damit auf das Gesetz angespielt, grundlos. Die Frucht des Gesetzes war der Glaube und für diese Frucht war es damals allerdings schon Zeit, und sie wurde auch tatsächlich gezeitigt. "Die Fluren", sprach er, sind bereits weiß zur Ernte",und: "Ich habe euch abgeschickt, um zu ernten, was ihr nicht gearbeitet habt" (Jn 4,35 u. Jn 4,38).



2.

Von all dem findet sich in unserer Stelle keine Andeutung. Der Herr offenbart vielmehr, wie gesagt, seine Strafgewalt. Das geht aus den Worten hervor: "Es war noch nicht die Feigenzeit." Somit ersieht man, dass er nicht aus Hunger, sondern vorzüglich der Jünger wegen zum Baume hintrat; sie waren denn auch sehr erstaunt, obwohl er schon viel größere Wunder gewirkt hatte. Diese Art von Wunder war ihnen eben, wie gesagt, noch fremd, weil er in diesem Falle zum ersten Male seine strafende Macht betätigte. So wählte er für dieses Wunder auch gerade das allersaftigste Gewächs, um durch diesen Umstand das Wunder noch auffallender zu machen. Damit du also einsiehst, dass er das Wunder der Jünger wegen wirkte, um sie mit Zuversicht zu erfüllen, so höre auch die nachfolgenden Worte. Wie lauten sie? Ihr werdet noch größere Wunder wirken, wenn ihr nur glaubet und auf das Gebet bauet. Siehst du nun, dass der ganze Vorgang ihretwegen geschehen ist, damit sie vor späteren Anfeindungen ohne Furcht und Angst sein sollten? Ja, um sie im Gebet und Glauben zu festigen, wiederholt er noch einmal: Nicht nur das werdet ihr tun, sondern ihr werdet auch Berge versetzen und anderes mehr, wenn ihr euer Vertrauen auf den Glauben und das Gebet setzet. 

   Die Juden, die in ihrer Anmaßung und Aufgeblasenheit seine Lehre zu untergraben suchten, traten nun heran und fragten: 

   V.23: "In welcher Machtvollkommenheit tust Du dies?" 

   Weil sie an seinen Wundern nichts aussetzen konnten, so kommen sie wieder auf seine Züchtigung der Händler im Tempel zurück. Dieselbe Frage sehen wir sie auch bei Johannes aufwerfen, wenn auch nicht mit den gleichen Worten, so doch im gleichen Sinne. Dort sagen sie: "Welches Zeichen weisest Du uns, dieweil Du dieses tust?" und er erwiderte ihnen: "Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten" (Jn 2,18-19). In unserem Falle setzt der Herr sie in Verlegenheit. Daraus folgt, dass jene Begebenheit am Anfange seiner Wundertätigkeit, diese am Ende derselben stattfand. Der Sinn ihrer Frage ist der: Nimmst Du den Lehrstuhl ein? Bist Du zum Priester bestellt worden, dass Du Dir eine solche Gewalt herausnimmst? Und doch hatte er nichts getan, was Anmaßung verraten hätte, sondern hatte nur für die Ordnung im Tempel gesorgt. Aber obschon sie ihm nichts vorzuwerfen haben, beklagen sie sich doch darüber. Als er sie hinausjagte, da hatten sie nichts einzuwenden gewagt wegen seiner Wunder; jetzt, da sie ihn sehen, stellen sie ihn nachträglich zur Rede. Was antwortet er nun? Um zu zeigen, dass sie bei einigem guten Willen einsehen könnten, dass er die Macht dazu habe, gibt er ihnen keine unmittelbare Antwort, sondern richtet eine Gegenfrage an sie: 

   V.25: "Die Taufe des Johannes, woher war sie? Vom Himmel oder von Menschen? 

   Wie hängt das miteinander zusammen? Ganz gut. Denn wenn sie antworteten: Aus dem Himmel, so hätte er ihnen entgegengehalten; Warum habt ihr ihm also nicht geglaubt? Wenn sie nämlich ihm geglaubt hätten, so konnten sie jene Frage nicht stellen, da Johannes von ihm gesagt hatte: "Ich bin nicht wert, die Riemen an seinen Schuhen zu lösen" (Lc 3,16), und: Siehe das Lamm Gottes, das auf sich nimmt die Sünde der Welt";"Dieser ist der Sohn Gottes", und: "Wer von oben herkommt, ist über allem" (Jn 1,29 u. Jn 1,34 und Jn 3,31); ebenso: "Seine Wurfschaufel hat er in seiner Hand und wird reinigen seine Tenne" (Mt 3,12). Wenn sie also dem Täufer geglaubt hätten, dann mußten sie unbedingt wissen, woher er die Gewalt zu solch einem Auftreten hatte. Als sie sodann voll Bosheit erwidern: 

   V.27: "Wir wissen es nicht", 

   spricht er nicht etwa: Auch ich weiß es nicht, sondern:"Auch ich sage es euch nicht." Hätten sie es wirklich nicht gewußt, so hätte er sie belehren müssen, da sie aber nur aus Verbissenheit so antworteten, war es ganz am Platze, dass er ihnen keine Aufklärung gab. Warum entgegneten sie aber nicht, die Taufe des Johannes sei Menschenwerk gewesen? "Sie fürchteten das Volk", heißt es. Siehst du, wie verkehrt sie sind? Sie verachten Gott und tun alles nur der Menschen wegen. So auch hier; sie achten den Johannes, nicht aus Ehrfurcht gegen seine Person, sondern um der Leute willen; ebenso verweigern sie Christo den Glauben aus Rücksicht auf die Menschen. Überhaupt, alles Böse, das sie taten, hatte seine Quelle in dieser Verkehrtheit. Dann fuhr der Herr fort: 

   V.28: "Was dünkt euch: Ein Mann hatte zwei Söhne. Und er sprach zu dem ersten: Geh heute hin und arbeite in meinem Weinberge! 

   V.29: Der aber antwortete: Ich mag nicht. Später aber reute es ihn und er ging hin. 

   V.30:Da trat[593] zu dem andern und sprach gleicherweise. Jener aber antwortete: Ich gehe, Herr! aber er ging nicht. 

   V.31: Welcher von den zweien hat den Willen des Vaters getan? Sie sagten: der erste." 

   Wieder versetzt ihnen der Herr durch das Gleichnis einen Hieb; denn er weist darin auf ihre Undankbarkeit hin und auf die Willigkeit der so sehr verachteten Heiden. Die beiden Söhne sind Sinnbilder für das Verhalten der Heiden und Juden. Erstere hatten keinen Gehorsam gelobt, und hatten von dem Gesetze keine Kunde; sie erwiesen sich aber gehorsam in ihren Werken. Letztere hatten gelobt: "Alles, was der Herr sagt, wollen wir tun und beobachten" (Ex 19,8 u. Ex 24,3); in ihren Werken hielten sie es aber nicht. Um ihnen nun den Glauben zu benehmen, als werde ihnen das Gesetz etwas nützen, zeigt er, dass sie durch dasselbe werden verurteilt werden. So spricht sich auch Paulus aus: "Nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott, sondern die Vollbringer des Gesetzes werden gerechtfertigt werden" (Rm 2,13). Um sie nun durch ihren eigenen Mund zu verdammen, veranlaßt er sie, sich selbst das Urteil zu sprechen. Ähnlich macht er es auch in der folgenden Parabel vom Weinstock.



3.

Um diese Absicht zu erreichen, legt er die Schuld einer anderen Person zur Last. Da sie nämlich bei offener Darlegung der Sache sich nicht schuldig gegeben hätten, führt er sie durch das Gleichnis dahin, wo er sie haben wollte. Nachdem sie aber, ohne zu sehen, worauf er abzielte, ihre Meinung abgegeben hatten, deckt er ihnen den versteckten Sinn auf und spricht: 

   V.31: "Die Zöllner und die Buhlerinnen werden vor euch in das Reich Gottes gelangen. 

   V.32: Denn es kam Johannes zu euch auf dem Wege der Gerechtigkeit und ihr habt ihm nicht geglaubt; die Zöllner aber und die Buhlerinnen haben ihm geglaubt; ihr aber, wiewohl ihr es sahet, wurdet auch später nicht reuigen Sinnes, um ihm zu glauben." 

   Hätte Jesus von vornherein gesagt: die Buhlerinnen werden euch vorangehen, so hätten sie sich an seiner Rede gestoßen; jetzt, nachdem sie selbst ihr Urteil ausgesprochen hatten, erscheint sie milder. Darum führt er auch den Grund dafür an. Nämlich: "Johannes ist zu euch gekommen", nicht zu jenen; und was noch mehr ist, er kam "auf dem Wege der Gerechtigkeit". Auch könnt ihr ihm nicht vorwerfen, er sei sorglos und unnütz gewesen. Im Gegenteil, sein Leben war tadellos und sein Eifer groß, und doch kehrt ihr euch nicht an ihn. Hierzu kommt noch ein anderer Vorwurf, nämlich dass sogar die Zöllner auf ihn hörten, und noch einer, dass ihr nicht einmal daraufhin glaubet. Ihr hättet schon vor ihnen auf Johannes hören sollen; dass ihr es nicht einmal nach ihnen tatet, macht eure Schuld vollends unverzeihlich. Wie die Zöllner das größte Lob verdienen, so verdient ihr den ärgsten Tadel. Zu euch war er gekommen und ihr habt ihn nicht aufgenommen; jene, zu denen er nicht gekommen war, nahmen ihn auf, und ihr ließt euch nicht einmal durch deren Beispiel belehren. 

   Siehe, wie mannigfach die rühmlichen Seiten der einen und die tadelnswerten der anderen gezeichnet werden. Zu euch kam er, zu jenen nicht. Ihr glaubtet nicht; jene ließen sich dadurch nicht irre machen. Sie glaubten; ihr zoget daraus keinen Nutzen. In den Worten: "sie werden vorangehen" ist aber nicht mit ausgedrückt, dass die Juden wirklich nachfolgen werden, sondern nur, dass sie Aussicht haben zu folgen, wenn sie guten Willens sind. Denn nichts ist so sehr geeignet, die Lässigen anzuspornen, wie die Eifersucht. Darum sagt Christus immer wieder: "Die ersten werden die letzten und die letzten werden die ersten sein." Um sie zum Eifer anzutreiben, erwähnt er die Buhlerinnen und Zöllner. Damit sind nämlich die zwei schlimmsten Sünden hervorgehoben, die in der ungeordneten Liebe entspringen, die eine aus der zum Fleische, die andere aus der zum Geld. Er zeigt ferner, dass, wer dem Johannes folgt, auch dem Gesetze Gottes gehorcht. Es ist demnach nicht bloß eine Gnade, wenn die Buhlerinnen ins Himmelreich eingehen, sondern auch eine Forderung der Gerechtigkeit. Solange sie Buhlerinnen bleiben, dürfen sie ja nicht eintreten, sondern erst wenn sie gehorchen, glauben, sich reinigen und bekehren. Siehst du, wie der Herr in seine Worte Milde und doch wieder Strenge hineinlegte, sowohl durch das Gleichnis, wie auch durch den Hinweis auf die Buhlerinnen? Er sagte nicht gerade heraus: Warum habt ihr dem Johannes nicht geglaubt? sondern wies was viel kräftiger wirkte vorher auf die Buhlerinnen und Zöllner hin, um dann erst durch die zwingende Macht der Tatsachen darzutun, dass sie ganz unverzeihlich handelten, wenn sie sich in allem nur von Menschenrücksicht und eitler Ehre leiten ließen. Zu Christus bekannten sie sich nicht, weil sie befürchteten, man könne sie aus den Synagogen ausschließen, und gegen Johannes getrauten sie sich nicht zu reden, nicht etwa aus Hochschätzung, sondern ebenfalls wieder aus Furcht. 

   Alles das hielt er ihnen in seinen Reden vor und versetzte ihnen zuletzt einen noch empfindlicheren Schlag, indem er sprach: "Ihr aber, wiewohl ihr es sahet, wurdet auch später nicht reuigen Sinnes um ihm zu glauben." Es ist eine Sünde, wenn man von vornherein das Gute zurückweist; noch größer aber ist die Schuld, wenn man dann nicht in sich geht. Gerade hier ist der Grund der Verkehrtheit so vieler Menschen zu suchen, dass sie so überaus gleichgültig sind. Auch jetzt mache ich bei manchen diese Wahrnehmung. Es sollte eigentlich niemand so schlecht sein; hat sich aber jemand doch in diesen Abgrund der Verworfenheit gestürzt, so darf er trotzdem an seiner Besserung nicht verzweifeln. Es ist ja nicht so schwer, sich aus der Tiefe der Schlechtigkeit aufzuraffen. Oder habt ihr nichts von jener Buhlerin gehört, die an Wollust alle übertraf, aber dann auch in der Frömmigkeit alle weit überragte? Ich meine nicht jenes Weib im Evangelium, sondern die, welche in unserer Zeit lebte, die Tochter der gottlosesten Stadt Phöniziens. Diese Buhlerin lebte einst in unserer Mitte, hatte den ersten Ruf auf der Bühne und wurde viel genannt nicht bloß in unserer Stadt, sondern sogar in Zilizien und Kappadozien. Gar manchen hatte sie um das Vermögen gebracht, viele Waisen beraubt. Man verleumdete sie oft, als wäre sie eine Zauberin, als beständen ihre Netze nicht nur in ihren körperlichen Reizen, sondern auch in Zauberkünsten. Selbst den Bruder der Kaiserin hatte sie umgarnt, so große Anziehungskraft übte sie aus. Aber mit einem Schlage, ich weiß nicht, wie es kam, ich weiß nur, dass es so kam, mit einem Male faßte sie den Entschluss, sich zu bekehren und ging wirklich in sich, erlangte die Gnade Gottes, verschmähte gänzlich die Wollust von früher, schleuderte die Schlingen des Teufels weit von sich und eilte dem Himmel zu. War sie vorher das schändlichste Weib, das je die Bühne betreten, so hat sie es später gar vielen in der Enthaltsamkeit zuvorgetan und den ganzen Rest ihres Lebens im Gewande der Buße verlebt. Ihretwegen belästigte man sogar den Statthalter und sandte Soldaten, um sie wieder für die Bühne zu gewinnen. Vergebens; mann vermochte sie nicht aus dem Kreise der Jungfrauen zu entführen, bei denen sie Aufnahme gefunden. Sie empfing die hochheiligen Geheimnisse[594] , entfaltete einen dieser Gnade entsprechenden Eifer und beschloß zuletzt ihr Leben, nachdem sie ihre Vergangenheit durch die Gnade abgewaschen und nach der Taufe eine große Tugendhaftigkeit an den Tag gelegt hatte. So oft auch ihre ehemaligen Liebhaber kommen mochten, um sie zu besuchen, sie ließ sie nicht einmal vor; sie hatte sich selbst eingeschlossen und verbrachte viele Jahre wie in einem Gefängnisse. So werden die letzten die ersten und die ersten die letzten sein. In diesem Sinne soll man allezeit seine Seele in Glut erhalten und nichts wird uns hindern, groß und bewundernswert zu werden.



4.

Darum soll keiner, der ein Sündenleben führt, verzagen; keiner, der tugendhaft ist, die Hände in den Schoß legen. Dieser soll nicht vertrauensselig sein, denn leicht kann ihn eine Buhlerin überholen; jener hingegen darf nicht verzweifeln, denn er hat es in seiner Hand auch die ersten zu überflügeln. Höre nur, was Gott zu Jerusalem spricht: "Ich sprach, nachdem sie all diese Unzucht getrieben hatte: Kehre zurück zu mir, und sie ist nicht zurückgekehrt" (Jr 3,7). Sobald wir voll Eifer zur Liebe Gottes zurückkehren, gedenkt Gott nicht mehr des Geschehenen. Er handelt eben nicht wie ein Mensch; er wirft uns, wenn wir uns bekehren, das Vergangene nicht vor und spricht nicht: Warum hast du dich solange ferngehalten? Er ist vielmehr glücklich, wenn wir zu ihm zurückkehren, wenn wir uns pflichtschuldig ihm zuwenden. Klammern wir uns nur recht fest an ihn und prägen wir die Furcht vor ihm tief in unser Herz ein. Derartige Bekehrungen finden sich indessen nicht bloß im Neuen Testamente, sondern auch schon im Alten Bunde. Gibt es wohl einen schlechteren Menschen, als Manasses war? Und doch vermochte er, Gott sich gnädig zu stimmen. Gab es je einen glücklicheren als Salomon? Und doch fiel er, weil er lau wurde. Ja ich kann euch sogar einen Mann als Beisspiel für beide Tatsachen anführen, nämlich Salomons Vater, der einmal gut und auch einmal böse war. Gibt es einen Menschen, der glücklicher hätte sein können, als Judas? Er wurde zum Verräter. Gibt es einen nichtswürdigeren als Matthäus? Er wurde ein Evangelist. Gibt es einen schlechteren als Paulus? Er wurde zum Apostel. Gibt es einen beneidenswerteren als Simon[595] ? Er wurde der beklagenswerteste von allen. Wie viele Wandlungen dieser Art lassen sich so in Vergangenheit und Gegenwart beobachten! 

   Darum eben sage ich, der Schauspieler soll nicht verzagen, das Glied der Kirche nicht auf sich selbst vertrauen. Letzterem gelten die Worte: "Wer vermeint zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle" (1Co 10,12), jenem: "Soll, wer fällt, nicht wieder aufstehen?" (Jr 8,4) und: Stärket die matten Hände und kräftigt die schwachen Knie" (Is 35,3); zu den letzeren wird gesagt: "Wachet",und zu jenen:"Wache auf, der du schläfst und erstehe von den Toten" (Ep 5,14). Die Tugendhaften müssen nämlich hüten, was sie besitzen, die Verirrten sollen werden, was sie nicht sind; jene ihre Gesundheit bewahren, diese von ihrem Leiden sich befreien, denn sie sind krank. Aber, wie viele Kranke gesunden, und wie viele Gesunde erkranken, weil sie nicht acht haben! Zu jenem also sagt der Herr: "Siehe, du bist gesund geworden, sündige nicht mehr, damit nicht etwas Schlimmeres dir widerfahre", zu diesem: "Willst du gesund werden? Stehe auf, nimm dein Bett und wandle" (Jn 5,14 u. Jn 6,8). Ja fürwahr, die Sünde gleicht einer sehr schweren Wassersucht, und nicht bloß einer Wassersucht, sondern noch etwas viel Schlimmerem. Ein Sünder ist nicht bloß unfähig, gute Werke zu verrichten, er wird auch von vielen Übeln gequält. Aber nichts desto weniger, alle diese Übel lassen sich beseitigen, wenn du nur ein wenig guten Willen hast, dich aufzuraffen; und wärest du selbst schon achtunddreißig Jahre lang siech, niemand hindert dich zu gesunden, wenn du dir nur Mühe gibst. Auch jetzt noch steht Christus vor dir und spricht: "Nimm dein Bett"; du brauchst dich nur zum Aufstehen zu entschließen. Verzage also nicht! Du hast keinen Menschen? Nun, du hast doch Gott. Du hast niemanden, der dich in den Badeteich bringt? Aber du hast ihn, der ja bewirken kann, dass du den Teich gar nicht nötig hast. Du hast niemanden, der dich hineintaucht? Aber du hast ihn, der dir befiehlt, dein Bett zu nehmen. Du darfst nicht sagen: "Bis ich komme, steigt ein anderer vor mir hinab" (Jn 5,7), denn wenn du nur ernstlich willst, so hindert dich niemand, in den Brunnen hinabzusteigen. Die Gnade ist nicht eine Sache, die verausgabt und verbraucht wird, sie ist ein Quell, der unaufhörlich fließt; aus ihrer Fülle können wir alle an Leib und Seele geheilt werden. 

   Lasset uns also auch jetzt noch hinzutreten. Auch Rahab war ja eine Buhlerin und wurde gerettet; der Schächer war ein Mörder und wurde ein Bürger des Paradieses. Judas ging zugrunde, trotzdem er in der Gesellschaft des Meisters war, der Schächer dagegen wurde ein Jünger, obschon er am Kreuze hing. Das sind die unerforschlichen Wege Gottes. Die Magier fanden Gnade, der Zöllner wurde ein Evangelist, der Lästerer ein Apostel.



5.

Auf solche Beispiele mußt du hinblicken, nicht aber verzweifeln, vielmehr stets voll Vertrauen sein und dich selbst aufrichten. Mache dich nur einmal auf den Weg, der zur Bekehrung führt und schreite munter darauf vorwärts. Versperre dir nicht das Tor, verlege dir nicht den Zugang. Das gegenwärtige Leben ist kurz, die Mühe ist gering. Und wäre sie auch groß, du dürftest dennoch nicht ermatten. Willst du aber diese schönste aller Lasten, wie sie die Bekehrung und das Tugendstreben mit sich bringen, nicht auf dich nehmen, so wirst du trotzdem in dieser Welt allerlei Mühen ertragen müssen und in anderer Hinsicht geplagt sein. Wenn es nun weder hier noch dort ohne Anstrengung abgeht, warum wollt ihr nicht diejenige wählen, welche so reichliche Früchte und großen Lohn im Gefolge hat? Nun sind aber die Mühen auf beiden Seiten gar nicht einmal gleich. Denn im Weltleben gibt es beständig Gefahren und gegenseitige Schädigungen, ungewisse Aussichten und zahlreiche Frondienste, Verluste an Geld, an Leib und Seele, und bei all dem, bleibt der Ertrag der Früchte, wenn überhaupt einer dabei herauskommt, weit hinter der Erwartung zurück. Denn nicht alle Mühen im Weltdienste bringen jedesmal Früchte; aber selbst wenn sie nicht fehlschlagen, sondern reichlich Erträgnis abwerfen sollten, so ist es doch nur von kurzer Dauer. Erst wenn du alt geworden bist und die Freude am Genusse nicht mehr recht lebendig ist, bringen dir deine Mühen ihre Früchte. Die mühevolle Arbeit muß man in der Blüte des Lebens verrichten, die Früchte und der Wohlstand stellen sich erst ein, wenn man alt und schwach geworden und das Empfinden durch die Zeit abgestumpft ist. Wenn aber auch dem nicht so wäre, die Erwartung des Todes würde den Genuss der Lebenslust nicht zulassen. 

   Auf religiösem Gebiete steht die Sache ganz anders. Während man die Mühen leistet, schwindet der Leib zwar dahin und stirbt ab, wenn aber der Lohn eingeheimst wird, ist der Leib unversehrt, unsterblich und unvergänglich. Die Anstrengung geht voraus und ist kurz, der Lohn folgt nach und ist ohne Ende, so dass der Genuss von keiner Furcht und Angst vor Unheil begleitet ist, denn dort ist weder Wechsel noch Verlust zu befürchten, wie hier auf Erden. Sind das also wirklich noch Güter, die so unsicher sind und dabei so kurz währen, die aus Staub bestehen, dahinwelken, ehe sie noch zutage treten, und so viel Mühe bereiten, bis man sie besitzt? Gibt es anderseits Güter, die denen gleichkommen, welche nie vergehen, nie altern, deren Besitz keine Anstrengung erfordert, die sogar schon während des Ringens Siegeskränze mit sich bringen? Wer den irdischen Besitz verachtet, der wird schon hier dafür entlohnt, indem er mit Sorgen, Eifersucht, Betrug, Nachstellungen und Neid verschont bleibt. Wer rein und tugendhaft lebt, wird schon vor seinem Tode gekrönt und lebt in Wonne, da er nichts von Schmach, Spott, Gefahren, Vorwürfen und anderen Widerwärtigkeiten zu leiden hat. Und so trägt jede einzelne Tugend schon im Diesseits ihren Lohn in sich. So lasset uns denn das Böse fliehen und die Tugend erwählen, damit wir des Lohnes hier und dort teilhaftig werden; dann werden wir hier glücklich leben und zugleich die Seligkeit im Himmel gewinnen, die wir alle erlangen mögen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem die Ehre und die Macht gebührt in alle Ewigkeit. Amen!






Kommentar zum Evangelium Mt 66