Kommentar zum Evangelium Mt 72

Zweiundsiebzigste Homilie Kap.23, Kap.XXIII,V.1-13.

72 Mt 23,1-13
1.

V.1: "Damals redete Jesus zu den Scharen und zu seinen Jüngern, 

   V.2: und sprach: Auf den Stuhl Mosis haben sich gesetzt die Schriftgelehrten und die Pharisäer. V.3: Alles nun, was sie immer euch sagen, haltet und tuet; nach ihren Werken aber, handelt nicht." 

   Wann "damals"? Als der Herr die vorausgegangenen Worte gesprochen, als er die Pharisäer zum Schweigen gebracht und sie gezwungen hatte, von ferneren Versuchungen abzustehen, als er dargetan hatte, dass sie unverbesserlich waren. Und nachdem er von dem einen und dem anderen Herrn[606] gesprochen hatte, kehrt er jetzt wieder zum Gesetze zurück. Allein, entgegnest du, das Gesetz sagt nichts dergleichen, sondern bloß: "Der Herr, dein Gott, ist ein einiger Herr" (Dt 6,4). Allein die Hl. Schrift begreift unter dem Gesetze das ganze Alte Testament. In seinen Worten will also der Herr zum Ausdruck bringen, dass er in allen Stücken mit dem Vater völlig übereinstimmt. Wäre er gegen ihn gewesen, so würde er über das Gesetz ganz anders gesprochen haben. So aber verlangt er für dasselbe eine solche Ehrfurcht, dass man es selbst dann beobachten muss, wenn die Gesetzeslehrer schlecht sind. Hier spricht er aber auch über das Leben und Treiben[607] ; denn gerade der verderbte Lebenswandel und der Ehrgeiz der Schriftgelehrten war hauptsächlich daran schuld, dass die Juden so ungläubig waren. Um nun seine Zuhörer in richtiger Weise zu belehren, gibt er an erster Stelle die vornehmlich zum Heile notwendige Weisung, nämlich die Lehrer nicht zu verachten und sich gegen die Priester nicht aufzulehnen. Was er anordnet, beobachtet er aber auch selbst. Obgleich die Gesetzeslehrer verderbt waren, verweigert er ihnen doch nicht die Ehre. Freilich ihre Verantwortung wird dadurch erschwert, den Untergebenen benimmt er indessen jeden Vorwand zur Unbotmäßigkeit. Wie leicht hätte sich jemand ausreden können: Nur weil mein Lehrer schlecht war, bin ich nachlässig geworden. Dieser Ausrede hat er den Boden entzogen. Es liegt ihn so sehr daran, das Ansehen der Gesetzeslehrer trotz ihrer Verkehrtheit aufrechtzuerhalten, dass er, ungeachtet seines oftmaligen früheren Tadels, jetzt dennoch gebietet: "Alles, was sie immer euch sagen, das tuet." Denn die Satzungen, die sie vortragen, sind nicht von ihnen, sondern von Gott, der sie durch Moses gegeben hat. Beachte hierbei, welch große Ehrerbietung Christus gegen Moses an den Tag legt. Um seine Übereinstimmung mit dem Alten Bunde zu beweisen, leitet er von ihm die Ehrwürdigkeit der Gesetzeslehrer ab, indem er spricht: "Auf dem Lehrstuhl Mosis." Da es nicht anging, für die Lehrer auf Grund ihres Lebenswandels Ehrenbezeigungen in Anspruch zu nehmen, so zieht er einen Grund heran." Denn die Satzungen, die sie vortragen, sind nicht von ihnen, sondern von Gott, der sie durch Moses gegeben hat. 

   Beachte hierbei, welch große Ehrerbietung Christus gegen Moses an den Tag legt. Um seine Übereinstimmung mit dem Alten Bunde zu beweisen, leitet er von ihm die Ehrwürdigkeit der Gesetzeslehrer ab, indem er spricht: "Auf dem Lehrstuhle Mosis." Da es nicht anging, für die Lehrer auf Grund ihres Lebenswandels Ehrenbezeigungen in Anspruch zu nehmen, so zieht er einen Grund heran, der sich wohl anführen ließ, nämlich, daß sie den Lehrstuhl als Nachfolger Mosis innehaben. Wenn der Herr sagt: "Alles", so versteht er darunter nicht alle einzelnen Bestimmungen des Gesetzes, z. B. die Vorschriften über die Speisen, die Opfer u. dgl. So konnte er es gar nicht meinen, da er ja vorher schon diese Gebote aufgehoben hatte. Der Ausdruck: "Alles" umfaßt nur die Vorschriften, die sich auf die Besserung der Sitten und des Lebens beziehen, soweit sie mit den Gesetzen des Neuen Bundes übereinstimmen, nicht aber die Forderung, auch weiterhin unter dem Joche des Gesetzes zu stehen. 

   Warum aber leitet er diese Vorschriften nicht vom Bunde der Gnade, sondern vom Gesetze Mosis ab? Weil er vor seinem Tode am Kreuze noch nicht offen darüber sprechen durfte. Mich will es indes bedünken, daß in seinen Worten noch eine andere Andeutung lag. Da er nämlich im Begriffe stand, die Schriftgelehrten zu tadeln, so will er zuerst der Meinung der Unverständigen vorbeugen. als trachte er nach dem Amte der Lehrer oder als liege Gehässigkeit seinem Vorgehen zugrunde. Erst nachdem er sich gegen einen solchen Verdacht gesichert hat, geht er zum Tadel über. - Warum tadelt er sie aber und hält eine so lange Rede gegen sie? Er wollte das Volk vor einem ähnlichen Verderben warnen. Es kommt nämlich nicht auf dasselbe hinaus, ob man bloß warnt oder auch die Fehlenden nennt, ebensowenig wie es dasselbe ist, bloß die Pflicht zu preisen oder auch auf die Pflichtgetreuen hinzuweisen. Darum schickt er auch die Warnung voraus: "Nach ihren Werken handelt nicht." Sie hätten leicht der Meinung sein können, sie müßten wegen der Pflicht des Gehorsams ihre Lehrer auch nachahmen. Deshalb klärt er sie durch diese Bemerkung auf und stellt das, was für die Pharisäer ein Gegenstand der Ehre zu sein schien, als Anlaß zur Schuld hin. Oder kann es wohl etwas Erbärmlicheres geben, als einen Lehrer, dessen Jünger nur dann gerettet. werden, wenn sie seinem Beispiele nicht folgen? Somit gereicht ihnen auch ihr Amt, das eine Ehre für sie zu sein schien, zum größten Vorwurfe, da sie einen Lebenswandel führen, den die Menschen nicht nachahmen können, ohne zugrunde zu gehen. Das also ist der Grund, warum er sie tadelt. Außerdem wollte er noch zeigen, daß ihr Unglaube, den sie seit jeher an den Tag legten, und der Kreuzestod, den sie ihm dann bereiteten, nicht ihm, den sie kreuzigten und dem sie den Glauben verweigerten, Schande brachte, sondern ihrer eigenen Undankbarkeit zum Vorwurfe gereichte. 

   Beachte, wie er anhebt und den Tadel allmählich steigert! "Denn sie reden wohl", spricht er, "tun aber nicht." Ist schon jedermann, der das Gesetz übertritt, straffällig, dann besonders, wer das Ansehen der Lehrgewalt genießt. Einen solchen trifft mit vollem Rechte die doppelte und dreifache Strafe: Erstens, weil er das Gesetz übertritt, zweitens, weil er wegen seiner Stellung größere Strafe verdient, da er hinkt, wo er die Pflicht hat, andere zu stützen, drittens, weil er umso mehr Verderben anrichtet, wenn er sich als Lehrer Übertretungen zuschulden kommen läßt. Hieran knüpft der Herr noch eine weitere Anschuldigung, nämlich, daß sie gegen andere, die das Gesetz übertreten, strenge vorgehen. 

   V. 4: "Denn sie binden schwere und unerträgliche. Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen; mit ihrem Finger aber wollen sie dieselben nicht bewegen:“ 

   Damit zeigt Jesus, daß ihre Bosheit zweifach ist, einmal, weil sie von ihren Untergebenen äußerste Strenge des Lebens fordern, dann aber, wen sie sich selbst die größte Zügellosigkeit gestatten. Ein guter Oberer muß gerade das Gegenteil tun; seine eigene Person unerbittlich und strenge, die Untergebenen voll Nachsicht und Milde behandeln; die Schriftgelehrten machten es umgekehrt.



2.

So sind sie aber alle, die die Tugend nur in Worten üben; sie sind unnachsichtig und streng, weil sie keine Erfahrung besitzen, wie schwer die tatsächliche Übung ist. Das ist aber kein geringer Fehler und vermehrt ihre sonstige Schuld noch bedeutend. Beachte aber, wie auch dieser Umstand ihre Schuld steigert; denn der Herr sagt absichtlich: "sie wollen nicht", nicht: sie können nicht; er sagt: "mit dem Finger bewegen", nicht: tragen, d. h. sie treten nicht heran, sie berühren sie nicht einmal. Aber wo zeigen sie Eifer und Fleiß? In verbotenen Dingen. 

   V.5: "Alle ihre Werke aber tun sie, um angestaunt zu werden von den Menschen.“ 

   In diesen Worten will er ihre Eitelkeit an den Pranger stellen; diese hat sie ja auch zugrunde gerichtet. Ihr erster Fehler war Härte und Trägheit; jetzt ist es die Ehrsucht, die sie von Gott trennte und auf einen fremden Kampfplatz stellte, wo sie zugrunde gingen. Denn je nachdem die Zuschauer sind, die man hat, und denen man gefallen will, richtet man auch seinen Kampf ein. Wer unter den Augen tapferer Menschen ringt, kämpft auch selber tapfer; wer vor Furchtsamen und Feiglingen kämpft, wird selbst nichtsnutzig. Hat z. B. jemand einen Zuschauer, der gern lacht, wird er ein Possenreißer werden, um den Zuschauer zu ergötzen; ist aber der Zuschauer ernst und gemessen, dann bemüht er sich, es auch zu sein, eben weil der Lobspender von solcher Gesinnung ist. - Beachte aber, Wie der göttliche Heiland auch hier wieder einen scharfen Tadel ausspricht, denn die Pharisäer handeln nicht bald aus diesem bald aus jenem Beweggrunde, sondern immer nur aus Eitelkeit. Zuerst wirft er ihnen also ihre Eitelkeit vor; dann aber zeigt er, daß sie sich nicht einmal auf Großes und Wichtiges etwas einbilden - denn da sie keine Tugenden besaßen, gebrach es ihnen an Großem -, sondern auf Wertloses und Nichtssagendes, das nur geeignet war, ihre Bosheit zu enthüllen, nämlich auf Denkzettel und Borten: 

   V.5: "Denn sie machen breit ihre Gedenkzettel und groß den Saum ihrer Gewänder.“ 

   Was sind denn diese Gedenkzettel und Borten? Da sie immerfort auf die Wohltaten Gottes vergaßen, hatte er ihnen befohlen, seine Großtaten in kleine Büchlein zu verzeichnen und an ihre Arme zu hängen; so heißt es: "Du sollst sie zwischen deinen Augen schwebend haben" (Dt 6,8). Das nannten sie Gedenkzettel. Ähnlich tragen jetzt viele Frauen das Evangelium am Halse. Aber auch sonst noch sollten sie daran gemahnt werden. Gott befahl ihnen darum, als wären es kleine Kinder, an den unteren Saum ihrer Kleider dunkelrote Stickereien anzunähen (Nb 15,38), daß sie so auf seine Gebote aufmerksam gemacht und daran erinnert würden - ähnlich verfahren oft die Leute, wenn sie sich Hanf oder Fäden um die Finger wickeln, um etwas nicht zu vergessen -. Das nannte man Borten. 

   Also in diesen Dingen waren sie eifrig, machten die Hängeriemen der Büchlein sehr breit und die Borten sehr groß: das war aber ein Zeichen ärgster Eitelkeit. Warum bildest du dir etwas ein, wenn du dergleichen Dinge recht breit machst? Ist das etwa ein gutes Werk? Nützt es dir etwas, wenn du dich dabei nicht besserst? Gott verlangt nicht, daß solche Dinge breit und groß seien, sondern daß man auf gute Werke bedacht sei. Man darf ja nicht einmal auf Almosen und Fasten sich etwas zugute tun, trotzdem sie uns schwer fallen und unsere guten Werke sind; wie kannst du dir. also, o Jude, etwas einbilden auf Dinge, die so deutlich deine Nachlässigkeit anklagen? 

   Allein nicht bloß in diesen, sondern noch in anderen Kleinigkeiten äußerte sich die. Verkehrtheit der Pharisäer: 

   V. 6: "Sie lieben die ersten Plätze bei den Gastmählern und die vordersten Stühle in den Synagogen. 

   V.7: und die Begrüßungen auf dem Markte und wollen von den Leuten "Rabbi" genannt werden." 

   Mag man solche Dinge auch für Kleinigkeiten ansehen, sie sind doch die Ursache großer übel. Sie sind es, die schon Städte und Kirchen zerstört haben. Ja, mich kommt das Weinen an, wenn ich von den ersten Plätzen und vom Begrüßen höre und bedenke, wieviel Unheil dadurch in den Kirchen Gottes angerichtet worden ist. Es ist aber gar nicht notwendig, euch das mitzuteilen; ja die älteren unter euch brauchen es nicht erst von uns zu erfahren. - Beachte aber, wie sich die Eitelkeit der Pharisäer gerade dort breit machte, wo ihnen der Ehrgeiz am meisten untersagt war, in den Synagogen, in die sie kamen, um andere zu unterweisen. Wenn sie bei den Gastmählern dieser Leidenschaft huldigten, mag es nicht so arg erscheinen, obwohl der Lehrmeister auch dort als Vorbild dienen sollte, wie ja überhaupt überall, nicht bloß in der Kirche. Wie sich der Mensch, er mag sein, wo er will, immer von den unvernünftigen Wesen unterscheidet, so soll auch der Lehrmeister im Reden, im Schweigen, bei der Mahlzeit und was er sonst tut, als Meister zu erkennen sein, am Gange, am Blicke, an der Haltung, in seinem ganzen Wesen. Die Pharisäer aber machten sich überall lächerlich und verächtlich, weil sie taten, was sie hätten unterlassen sollen. "Sie lieben", sagt der Herr. Wenn er sie schon deshalb tadelt, weil sie solche Dinge lieben, wie wird es erst sein, wenn sie dieselben tun? wie böse muß es sein, wenn sie darnach haschen und gierig verlangen?



3.

In Bezug auf diese Dinge ließ es der Herr bei dem bloßen Tadel bewenden, weil sie nur unbedeutend und geringfügig waren und weil keine Notwendigkeit vorlag, die Jünger besonders darüber zu unterweisen. Anders verhielt es sich mit der Herrschsucht und der Anmaßung des Lehramtes; daraus ging alles Unheil hervor. Er geht daher eigens darauf ein, um die Jünger genau zu belehren und ihnen darüber nachdrückliche Weisungen zu geben. Was sagt er doch? 

   V.8: "Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen.“ 

   Er gibt auch den Grund an: "Denn einer ist euer Lehrmeister, ihr alle aber seid Brüder." 

   Keiner hat etwas vor dem anderen voraus, denn niemand weiß etwas aus sich selbst. Deshalb schreibt Paulus: "Was ist denn Paulus, was Apollo, was Kephas, wenn nicht Diener?" (1Co 3) Also nicht "Lehrmeister". Weiter spricht der Herr: 

   V. 9: "Auch sollt ihr niemand Vater nennen", 

   nicht etwa, als sollten sie diesen Namen nie gebrauchen, sondern sie sollten wissen, wen man vorzüglich Vater zu heißen hätte. Wie nämlich der Name "Lehrer" nicht einem Lehrer vorzugsweise und ausschließlich zukommt, so ist es auch mit dem Namen Vater. Gott ist der Ursprung aller Lehrerschaft und Vaterschaft. Dann fügt Christus noch hinzu: 

   V. 10: "Und lasset euch nicht Meister nennen. Denn einer ist euer Meister: Christus." 

   Er sagt nicht: Ich. Früher hatte er auch nicht gefragt: "Was haltet ihr von mir?" sondern: "von Christus?" (Mt 22) so drückt er sich auch jetzt aus. Hier möchte ich gerne fragen, was diejenigen wohl erwidern, welche die Worte „einer" und "einer" stets nur auf den Vater beziehen, um den Sohn zu verwerfen. Ist der Vater ein Lehrer? Alle sagen: ja; keiner widerspricht. Aber "euer Meister ist einer; Christus", heißt es. Wie also Christus, wenn er sich den einen Meister nennt, damit nicht den Vater" aus dem Amte eines Meisters verdrängt, ebenso schließt auch der Vater, wenn er der eine Lehrer heißt, den Sohn nicht vom Amte des Lehrers aus. Die Worte "einer" und "einer" drücken bloß den Gegensatz zu den Menschen und der übrigen Schöpfung aus. Nachdem er so die Jünger vor dieser schlimmen Leidenschaft, dem Hochmute, gewarnt, gibt er ihnen an, durch welche Mittel sie sich dagegen schützen können: er lehrt sie die Demut. Deshalb fährt er fort: 

   V. 11: "Wer aber der Größere ist unter euch, wird euer Diener sein. 

   V. 12: Wer aber sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden." 

   Nichts kommt der Bescheidenheit gleich. Deshalb erinnert er sie unablässig an diese Tugend, so damals als er die Kinder in ihre Mitte stellte, desgleichen hier; als er auf dem Berge die Seligkeiten vortrug, machte er eben damit den Anfang. Hier sucht er den Wurzelstock selbst auszureißen, wenn er sagt: "Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden." Merkst du, wie er den Zuhörer auf das gerade Gegenteil der Eitelkeit hinweist? Er verbietet nicht allein, nach den ersten Plätzen zu trachten, sondern heißt uns vielmehr die letzten wählen. So wirst du erreichen, will er sagen, wonach du verlangst. Mithin muß man, wenn man nach dem ersten Platze strebt, den letzten einzunehmen trachten, denn "wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden." 

   Wo würden wir nun eine solche Demut finden? Wohlan, gehen wir wieder an jene Stätte der Tugend, in die Hütten der Heiligen, ich meine in die Berge und Täler! Dort können wir die vollkommene Demut finden. Leute, die durch weltliche Würden oder durch Reichtum einen Namen hatten, erniedrigen sich dort in jeder Beziehung, in Kleidung, Wohnung, Bedienung, und drücken in ihrem ganzen Wesen wie mit Lettern die Demut aus. Alles, was für den Hochmut ein Zunder sein kann, ist von dort ferngehalten: schöne Kleider, vornehme Wohnung, zahlreiche. Dienerschaft - lauter Dinge, die oft, ohne daß man es will, den Hochmut erwecken. Eigenhändig machen sie das Feuer an, spalten Holz und in eigener Person he dienen sie die Fremden. Da hört man niemanden schimpfen, da sieht man keinen, der gescholten wird, niemand erteilt Befehle, keinem werden sie erteilt; alle sind Diener, alle wetteifern miteinander, den Gästen die Fuße zu waschen. Sie tun es, ohne zu fragen, wer es ist, ob Knecht oder Herr, sie erweisen Dienst allen ohne Unterschied. Da gibt es weder Große noch Geringe. Wie ist aber das möglich? reißt denn da keine Unordnung ein? Mit nichten, es herrscht vielmehr die schönste Ordnung. Und wenn auch ein Geringer dort ist, der Große bemerkt es nicht, er erachtet sich selbst für niedrig und gewinnt gerade dadurch an Größe. Alle haben nur einen Tisch, sowohl die Bedienten wie die Dienenden, alle die gleiche Kost, die gleiche Kleidung, die gleiche Behausung, die gleiche Lebensweise. Als groß gilt, dort jener, der sich einer niedrigen Arbeit unterzieht. Mein und Dein kennt man nicht, sogar das bloße Wort, das Anlaß zu unzähligen Kriegen gab, ist gänzlich verbannt. 

   72.4. Warum wunderst du dich, daß bei ihnen Lebensweise, Mahlzeiten und Kleidung gleich sind? Haben sie doch auch nur eine Seele, nicht bloß der Wesenheit nach[608] , sondern auch der Liebe nach. Wie könnte diese sich je über sich selbst erheben? Wo es weder Armut noch Reichtum, weder Ehre noch Geringschätzung gibt, wie sollte da Einbildung und Hochmut Eingang finden? Große und Kleine gibt es unter ihnen nur, insoweit die Tugend als Maßstab angelegt wird, aber, wie gesagt, niemand sieht darauf. Der Kleine braucht sich nicht über Verachtung zu betrüben, weil er eben von niemanden verachtet wird und wenn einer wirklich einmal geringschätzig behandelt wird, so sind sie ja besonders darin geschult, Verachtung, Geringschätzung und Demütigungen in Wort und Werk über sich ergehen zu lassen. Sie verkehren mit Bettlern und Krüppeln, denn diese Art Gäste finden sich bei ihren Mahlzeiten zahlreich ein; das ist es eben, was sie des Himmels würdig macht. Der eine pflegt einem Verstümmelten die Wunden, ein anderer führt einen Blinden, ein Dritter trägt einen, der sich das Bein verletzt hat. Bei ihnen gibt es auch keine Scharen von Schmeichlern und Schmarotzern; sie wissen nicht einmal, was Schmeichelei ist. Wie sollen sie sich da jemals überheben? Da alle untereinander gleich sind, wird es ihnen so leicht, die Tugend zu üben. Denn auf diese Weise werden die Schwätzer besser zur Tugend angeleitet, als wenn man sie nötigte, die ersten Plätze abzutreten. Wie nämlich der Frechling eine Lehre empfängt, wenn der Geschlagene Sanftmut übt, so erhält sie auch der Ehrgeizige, nicht von einem, der darnach strebt, sondern von einem, der die Ehre verachtet. Und das tun die Mönche gar eifrig; so groß bei uns das Ringen um die ersten Stellen ist, so groß ist bei ihnen der Wettstreit, sie zurückzuweisen; ihr ganzer Eifer ist nur darauf gerichtet, einander Ehre zu erweisen, nicht solche zu empfangen. 

   Übrigens ist ihre Tätigkeit selbst schon geeignet, die Mönche in Bescheidenheit zu erhalten und die Aufgeblasenheit zu ersticken. Denn sage mir einmal, wird sich wohl jemand etwas darauf einbilden, wenn er den Boden umgräbt, begießt, bepflanzt, oder wenn er Körbe flicht, Säcke webt oder sonst dergleichen arbeitet? Wird einer von dieser Leidenschaft befallen werden, wenn er in Armut lebt und mit Hunger zu kämpfen hat? Gewiß nicht. Darum fällt ihnen aber auch die Demut leicht. Ist es in der Welt schwer, bescheiden zu bleiben, wo es Scharen von Lobrednern und Bewunderern gibt, so wird es den Mönchen leicht, weil sie nur die Wüste und den Flug der Vögel, das Schwanken der Bäume sehen, nur das Wehen der Winde und das Rauschen der Bäche in den Schluchten hören. Wie sollte ein solches Leben in der Einöde zur Überhebung führen? Allein wir werden in dem Umstande, daß wir mit der Welt verkehren müssen, dennoch keine Entschuldigung für unsere Eitelkeit finden. Auch Abraham lebte mitten unter den Chananäern und bekannte doch: "Staub und Asche bin ich" und David sagte mitten im Lager: "Ich bin ein Wurm und kein Mensch" (Ps 21), desgleichen der Apostel mitten in der Stadt: „Nicht bin ich wert, Apostel zu heißen" (1Co 15). Wenn wir nun trotz so vieler Beispiele nicht bescheidener sind, was wird uns zur Entschuldigung und Rechtfertigung gereichen? Jene Männer verdienen große Belohnung, weil sie keine Vorbilder hatten und doch diesen Tugendweg gewandelt sind; um so mehr aber verdienen wir Strafe wenn wir uns nicht zu gleichem Eifer angespornt fühlen, obschon wir so viele Vorgänger haben, die uns in der Schrift gezeichnet sind, und das Beispiel so vieler Männer, die noch jetzt leben und durch ihre Werke unsere Bewunderung erregen. 

   Was kannst du wohl zur Entschuldigung vorbringen wenn du dich nicht besserst? Etwa, daß du die Tugenden der Altvordern nicht kennst, weil du nicht lesen kannst, weil du in der Schrift nicht bewandert bist? Aber das ist ja gerade ein besonderer Vorwurf, daß du nicht in die Kirchen gehst, obwohl sie immer offen stehen, und die reinen Quellen nicht benützest. übrigens, wenn du schon die Verstorbenen nicht aus der Schrift kennst, so solltest du doch die Männer beobachten, die jetzt noch leben. Aber es ist niemand, der dich hinführt? Nun, so komme zu mir, ich will dir zeigen. wo diese Heiligen wohnen; komm laß dich belehren und es wird dir zum Heile gereichen. Sie sind ja die Leuchten, die über die ganze Erde hinstrahlen, sie sind die Mauern, welche die Städte umwallen. Deshalb haben sie die Einöden gewählt, um dir zu zeigen, daß man das Getümmel der Welt verachten soll. Sie sind stark und verstehen es daher, auch mitten im Sturme Ruhe zu finden, während du nach allen Seiten hin- und hergeworfen wirst und mithin der Ruhe und der Erholung von dem beständigen Wogenschwall bedürftig bist. 

   Geh also oft dorthin, um dich durch ihr Gebet und ihre Ermahnungen von deinen Makeln zu reinigen; dann wirst du im Diesseits ein ordentliches Leben führen und im Jenseits den ewigen Lohn empfangen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, durch den und mit dem der Vater und der Hl. Geist Ruhm, Macht und Ehre besitzt jetzt und allezeit und in alle' Ewigkeit. Amen!






73 Mt 23,13-28
1.

V.14: "Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Weil ihr Haus und Hof der Witwen aufzehret, indes ihr lange Gebete betet, deshalb werdet ihr ein überstrenges Gericht finden." 

   Hier stellt der Herr sogar die Schwelgerei der Pharisäer an den Pranger. Das Verwerfliche dabei ist, daß diese nicht von den Reichen, sondern von den Witwen zehrten und von ihrer Armut praßten, anstatt ihr abzuhelfen. Ihre Mahlzeiten waren nämlich nicht mehr bloß Essen, sondern Prassereien. Die Art, wie sie es trieben, macht die Sache noch schlimmer: "lange Gebete betend". Jeder Bösewicht verdient Strafe; wer aber das Böse unter dem Vorwande der Frömmigkeit tut und sie zum Deckmantel seiner Schlechtigkeit nimmt, verdient eine weit schärfere Strafe. - Warum setzt aber der Herr die Schriftgelehrten nicht ab? Weil es die Zeitumstände nicht zuließen. Er läßt sie also einstweilen noch im Amte; in seinen Reden bemüht er sich jedoch, das Volk aufzuklären, damit es sich nicht durch ihr Ansehen zur Nachahmung verleiten lasse. Vorher hatte er befohlen: "Alles, was sie euch sagen, daß ihr tun sollet, tut es"; jetzt zeigt er ihnen, inwieweit man sie nachahmen dürfe, damit nicht die Unverständigen die Meinung bekämen, den Schriftgelehrten sei alles erlaubt. 

   V.13: "Wehe euch, die ihr das Himmelreich verschließet vor den Menschen; denn ihr gehet nicht hinein, noch auch lasset ihr jene eintreten; die hineingehen wollen." 

   Ist es schon schuldbar, niemandem zu nützen, so ist es ganz unverzeihlich, anderen zu schaden und hinderlich zu sein. Was besagen aber die Worte: "die hineingehen wollen"? Er meint damit die Bereitwilligen. Wenn es sich darum handelte, anderen Gebote zu geben, so legten die Schriftgelehrten unerträgliche Lasten auf; wenn sie jedoch selbst eine Pflicht erfüllen sollten, handelten sie umgekehrt, sie taten nichts, ja noch etwas weit Schlechteres, sie' verführten sogar andere. Solche Leute bezeichnet man mit dem Namen Pest, weil sie ihre Aufgabe darin sehen, andere zu verderben, und zu dem 'Amte eines Lehrers im geraden Gegensätze stehen. Sache des Lehrers ist es, andere vor dem Verderben zu bewahren; nur die Pest richtet auch den zugrunde, der andere retten will. 

   Sodann kommt der Herr auf einen anderen Vorwurf zu sprechen: 

   V. 15: "Ihr durchreiset das Meer und das Festland, um einen einzigen Bekehrten zu machen; und wenn er es geworden ist, machet ihr aus ihm einen Sohn der Hölle, die er zweimal mehr verdient als ihr", 

   d. h. nicht einmal dann, wenn es euch nur mit Mühe und allen möglichen Anstrengungen gelungen ist, einen Menschen zu gewinnen, schonet ihr seiner. Man pflegt ja sonst eine Sache umso mehr. zu schonen, je mühsamer sie erworben wurde. Euch aber, sagt er, bewegt auch dieser Umstand nicht zur Mäßigung. Ein doppelter Vorwurf liegt in diesen Worten: erstlich, daß sie ungeeignet sind, viele zu retten, und viel Schweiß aufwenden müssen, um auch nur einen zu gewinnen; zweitens, daß sie es sich nicht angelegen sein lassen, einen Gewonnenen zu erhalten, ja, was noch schlimmer ist, daß sie obendrein an ihm auch zum Verräter werden, weil sie ihn durch ihr gottloses Leben verderben und schlechter machen, als sie selbst sind. Denn wenn ein Schüler sieht, daß seine Lehrer selbst so verkehrt sind, wird er noch schlechter, weil er bei der Schlechtigkeit des Lehrers nicht stehen bleibt. Wie man einerseits einen tugendhaften Lehrer nachahmt, so überbietet man einen schlechten noch in der Schlechtigkeit, denn der Weg zur Schlechtigkeit ist gar leicht. Er sagt: "Sohn der Gehenna", d. h: der wirklichen Hölle. Er sagt: "doppelt mehr denn ihr", um den einen Furcht einzujagen und um die anderen kräftiger zu treffen, weil sie Lehrer in der Bosheit sind, und weil sie außerdem bestrebt sind, ihre Jünger zu weit größerer Bosheit zu ,verleiten und schlechter zu machen, als sie selbst sind. Das zeugt von einer ganz besonderen Verderbtheit der Seele. 

   Sodann spottet der Herr über ihre Einsichtslosigkeit, daß sie geboten, auch die wichtigsten Gesetze zu übertreten. Aber er hatte doch vorher das Gegenteil behauptet: "Sie binden schwere und unerträgliche Lasten auf." Beides taten sie immer zum Verderben ihrer Untergebenen, indem sie unbedeutende Dinge mit Strenge forderten und Wichtiges vernachlässigten. 

   V.23: "Ihr gebt den Zehnten von Münze und Anis und Kümmel, aber ihr habt außer acht gelassen, was das Wichtigere am Gesetze ist: das Recht und das Erbarmen und die Treue; dieses hättet ihr tun und jenes nicht unterlassen sollen." 

   So sagte Jesus mit Recht, weil hier der Zehent zugleich ein Almosen war; was schadet denn auch das Almosengeben? Aber er drückt sich nicht so aus, als hätten sie damit das Gesetz beobachtet. Deshalb sagt er hier auch: "Das hättet ihr tun sollen", während er das nicht hinzufügt, wo er von den reinen und unreinen Speisen redet, sondern mit genauer Unterscheidung der inneren und äußeren Reinheit zeigt, daß letztere notwendig aus ersterer folge, nicht umgekehrt. Wo er von der Nächstenliebe spricht, macht er einen solchen Unterschied nicht, sondern geht darüber hinweg. Der Grund ist der gleiche: die Zeit war. noch nicht gekommen, die gesetzlichen Vorschriften ausdrücklich und offen aufzuheben. Wo er aber von den körperlichen Reinigungen spricht, deutet er schon klarer ihre Aufhebung an. So sagt er vom Almosen: "Dieses hattet ihr tun und jenes nicht unterlassen sollen.“ Nicht so hinsichtlich der Reinigungen, sondern: 

   V. 25: "Ihr reiniget die Außenseite des Bechers und der Schüssel, innen aber ist alles voll Raub und Unlauterkeit. 

   V. 26: Reinige das Innere des Bechers, damit auch die Außenseite rein werde." 

   Er wählte zum Gleichnis eine allbekannte und gewöhnliche Sache: Becher und Schüssel.



2.

Um nun hervorzuheben, daß es keinen besonderen Nachteil bringt, wenn man die leiblichen Reinigungen unterläßt, indes eine schwere Strafe verdient, wer die Reinheit der Seele - nämlich die Tugend - geringschätzt, so nennt er jene Handlungen eine Mücke, weil es etwas Geringfügiges und Nichtssagendes ist, und diese nennt er Kamel, weil es etwas Wichtiges ist. Daher seine Worte: 

   V. 24: "Die Mücke seihet ihr ab, das Kamel verschlucket ihr." 

   Erstere Vorschriften waren wegen der letzteren gegeben worden, wegen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit; weshalb es denn auch nichts nützt, wenn man sie um ihrer selbst willen beobachtet. Wenn das Geringere wegen des Wichtigeren befohlen ist und man vernachlässigt letzteres, während man ersteres eifrig übt, so bringt einem auch das keinen Vorteil; denn das Wichtigere ist nicht wegen des Geringeren da, sondern umgekehrt. Der Herr will mit seinen Worten darlegen, daß auch zur Zeit vor dem Gesetze der Gnade das Hauptgewicht nicht auf diesen Vorschriften lag, daß der eigentliche Zweck vielmehr im anderen bestand. Wenn es nun schon vor der Gnade so bestellt war, so mußten diese Vorschriften um so wertloser sein, ja ganz außer Geltung treten, nachdem einmal so erhabene Gesetze gegeben wurden. Die Bosheit ist also allweg ein Unheil, vornehmlich aber dann, wenn man glaubt, man bedürfe keiner Besserung, am allermeisten jedoch, wenn man fähig zu sein vermeint, auch noch andere zu bessern. Der Herr gibt das zu erkennen, indem er die Pharisäer blinde Führer heißt. Ist es schon ein großes Unglück und Elend, wenn ein Blinder denkt, er brauche keinen Führer, so liegt es auf der Hand, wohin es kommen muß, wenn er auch noch andere führen will. 

   Der Herr wollte andeuten, daß der Ehrgeiz der Schriftgelehrten überspannt sei und an Wahnsinn grenze. Darin aber lag ja die Wurzel ihres Verderbens, daß sie alles nur des Scheines wegen taten. Deshalb gelangten sie nicht zum Glauben, deshalb vernachlässigten sie das wahre Tugendleben, deshalb waren sie nur auf die leiblichen Reinigungen bedacht, ohne sich um die Reinigung der Seele zu kümmern. Um sie also zur wahren Tugend und zur Reinigung der Seele hinzuführen, spricht Jesus von der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und dem Glauben. Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit sind ja die Pfeiler unseres Lebens; in diesen Tugenden besteht die Reinheit der Seele; sie machen uns zum Verzeihen geneigt und halten uns ab, gegen die Fehlenden allzu erbittert und unversöhnlich zu werden. Daraus erwächst uns ein doppelter Vorteil: wir werden einerseits liebevoll und ziehen uns die Liebe Gottes, des Vaters aller, in reichem Maße zu; ferner werden wir zum Mitleid mit den Bedrängten und zur Hilfeleistung gestimmt; überdies vor Trug und Tücke bewahrt. Wenn aber Christus sagt: "Das eine sollt ihr tun, das andere nicht unterlassen", so will er uns damit nicht die Beobachtung des Gesetzes vorschreiben, durchaus nicht, wie wir schon früher dargelegt haben; und wenn er von der Schüssel und dem Becher spricht: 

   V.26: "Reinige zuerst das Inwendige des Bechers und der Schüssel, damit auch deren Außenseite rein werde", 

   so will er ebensowenig die kleinlichen Vorschriften des Alten Bundes auferlegen; vielmehr zeigt er bei jeder Gelegenheit das gerade Gegenteil, daß sie nämlich überflüssig sind. So sagte er nicht: reiniget die Außenseite, sondern: reiniget das Inwendige, denn das andere folgt von selbst aus diesem. Überhaupt meint er eigentlich gar nicht Becher und Schüssel, sondern Seele und Leib; mit der Außenseite bezeichnet er den Leib, mit dem Inwendigen die Seele. Mußt du nun schon bei einer Schüssel auf das Inwendige sehen, wieviel mehr bei dir selbst. Ihr aber, sagt er, tut das Gegenteil, ihr sehet auf das Geringfügige und Äußerliche, während ihr das Wichtige und Innerliche vernachlässigt. Hieraus erwächst euch der allergrößte Schaden, nämlich daß ihr glaubet, damit alles getan zu haben, und daß ihr das übrige geringschätzet, was dann zur Folge hat, daß ihr euch keine Mühe gebet und keinen Eifer entfaltet, es zu üben. 

   Sodann tadelt er sie wieder wegen ihrer Eitelkeit; er nennt sie übertünchte Gräber und sagt zu allen: Heuchler!" Heuchelei war ja die Ursache all ihrer Schlechtigkeit und die Quelle ihres Verderbens. Er sagt aber nicht einfach, sie seien übertünchte Gräber, sondern setzt noch dazu, sie seien voll Unrat und Heuchelei. Damit wollte er auf den Grund ihres Unglaubens hinweisen, auf ihre große Heuchelei und Ungerechtigkeit. Aber nicht bloß Christus, sondern schon die Propheten machen ihnen immer wieder diesen Vorwurf, daß sie Räuber seien, daß ihre Obrigkeit nicht nach Gerechtigkeit Recht spreche. Überhaupt findet man immer wieder die Tatsache, daß ihre Opfer zurückgewiesen werden und dafür Gerechtigkeit verlangt wird. Es liegt daher nichts Befremdliches, nichts Neues in dem Gesetze oder in den Vorwürfen Christi, ja selbst nicht in dem Bilde vom Grabe. Bereits der Prophet kennt es und nennt die Juden nicht bloß einfachhin ein Grab, sondern sagt sogar: "Ihr Rachen ist ein offenes Grab" (Ps 5,11). Solche Leute gibt es auch heutzutage in großer Zahl, die sich auswendig schmücken, im Innern aber voll Ungerechtigkeit sind. Auch jetzt gibt man sich viele Mühe und verwendet viel Sorge auf die Sauberkeit im Äußeres, auf die Reinheit der Seele aber nicht die geringste. Könnte man das Gewissen jedes einzelnen öffnen, wie viele Würmer, wieviel Eiter und unausstehlicher Gestank würden zutage treten, ich meine: sündhafte Begierden und andere Schlechtigkeiten, die noch ekliger sind als Leichenwürmer!



3.

Allein daß die Schriftgelehrten so schlecht waren, ist zwar schrecklich genug; doch nicht so entsetzlich, als die Tatsache, daß ihr, die ihr die Auszeichnung erhalten habt, Tempel des Hl. Geistes zu werden, wieder Gräber voll des abscheulichen Gestankes geworden seid. Das ist der Gipfel des Elendes. Welch ein schauderhaftes Unglück, daß einer, in dem Christus wohnt, in dem der Hl. Geist so große Geheimnisse gewirkt hat, ein Grab ist! Wie sehr ist zu beweinen und zu beklagen, wenn die Glieder Christi ein Grab voll Unrat werden! Bedenke doch, welche Gaben du bei der Wiedergeburt erhalten, was für ein Kleid du empfangen hast, wie du ein fester, ein schöner Tempel des Hl. Geistes wurdest, geziert nicht mit Gold und Edelsteinen, sondern mit wertvollerem Schmucke als alles das, mit dem Hl. Geiste. Erwäge, daß man in der Stadt kein Grab duldet, daß also auch du in der Stadt dort droben nicht erscheinen darfst; denn wenn es schon hier unstatthaft ist, wieviel mehr wird es dort erst der Fall sein! 

   Aber auch schon hier bist du ein Gegenstand des Spottes, wenn du eine tote Seele herumträgst; ja nicht bloß ein Gegenstand des Spottes, sondern auch des Abscheues. Denn, sage mir, würden nicht alle einem ausweichen, nicht alle vor einem Menschen fliehen, der eine -Leiche mit sich herumtrüge. So sollst auch in diesem Falle urteilen, denn du bietest einen noch viel häßlicheren Anblick, wenn du mit einer von Sünden getöteten, in Auflösung begriffenen Seele herumgehst. Wer wird mit einem solchen Menschen Mitleid haben? Wenn du selbst mit deiner Seele kein Erbarmen hast, wie soll ein anderer Mitleid haben mit dem, der gegen sich selber so grausam, so voll Feindschaft und Haß ist? Was würdest du tun, wollte jemand da, wo du schläfst und speisest, eine Leiche begraben? Und du begräbst eine Leiche, nicht wo du frühstückst, nicht wo du schläfst, sondern in den Gliedern Christi, und du hast keine Angst, es könnten tausend Blitze und Wetterschläge auf dein Haupt niedersausen? Wie kannst du es wagen, die Kirche Gottes und den geheiligten Tempel zu betreten, während in deinem Innern so schauderhafter Gestank herrscht? Wenn jemand eine Leiche in die Königsburg brächte, um sie da zu begraben, er würde aufs schwerste bestraft werden; bedenke, welche Strafe erst dich treffen muß, wenn du die Schwelle des Heiligtums überschreitest während du einen so entsetzlichen Gestank verbreitest? Ahme doch jene Buhlerin nach, welche Christi Füße mit Myrrhe salbte und das ganze Haus mit Wohlgeruch erfüllte (Lc 7,38), indes bei dir das gerade Gegenteil der Fall ist. 

   Wenn du aber gar nicht einmal merkst, daß du solch üblen Geruch verbreitest? Das ist eben das Beklagenswerte an deiner Krankheit, das macht dein Leiden unheilbar, so daß du schlimmer daran bist, als jene, deren Leib bereits von Fäulnis riecht. Denn diese Krankheit macht sich den Leidenden bemerkbar und gereicht ihnen nicht zum Vorwurfe, sondern erweckt Mitleid, die deinige hingegen zieht dir Haß und Strafe zu. Weil also die Krankheit aus diesem Grunde so schwer ist, weil sie ferner der Kranke gar nicht merkt, wie es doch der Fall sein sollte, so schenke meinen Worten willig Gehör, damit du dir über ihre Verderbtheit völlig klar werdest. Zuvörderst beachte, was du in den Psalmen betest: "Mein Gebet komme wie Weihrauch vor Dein Angesicht" (Ps 140). Wenn nun aber stinkender Qualm anstatt Weihrauchduft von dir und deinen Werken emporsteigt, welches wird dann wohl deine Strafe sein müssen? Worin besteht aber dieser stinkende Qualm? Darin daß viele in die Kirche kommen, um schöne Frauen zu begaffen; andere richten ihr Augenmerk auf anmutige Kinder. Wunderst du dich da, daß kein Blitz niederfährt und alles in Grund und Boden schlägt? Ein solches Betragen wäre gewiß wert, daß der Blitz dareinführe und sie in die Hölle schleuderte. Weil aber Gott langmütig und allbarmherzig ist, hält er mit seinem Zorne vorläufig zurück und ladet dich zur Reue und Besserung ein. Was treibst du, O Mensch? Du gibst dich mit schönen Weibern ab, ohne zu erschaudern daß du damit den Tempel Gottes entweihest? Meinst du, die Kirche sei ein Buhlhaus und weniger ehrwürdig als der Markt? Auf dem Markte scheuest und schämst du dich, offen einem Weibe gegenüber zudringlich zu sein; im Tempel Gottes aber, wo Gott dir unter Drohungen verbietet, so etwas zu tun, da buhlst du und treibst Ehebruch, und zwar zu eben der Zeit, da du hörst, daß man dergleichen nicht tun darf? Und du bebst nicht, es graust dir nicht? Solche Dinge lehren auch die wollüstigen Schauspiele, diese unausrottbare Pest, dieser Gifttrank, diese böse Schlinge der Üppigkeit, und jene liederlichen Menschen, die noch in ihrem Untergang ausgelassen sind. Daher spricht auch der Prophet den Tadel aus: "Weder deine Augen noch dein Herz ist gut" (Jr 22,17). Es wäre wahrlich besser, solche Leute wären blind; besser krank sein, als mit den Augen einen solchen Mißbrauch treiben. Im Innern solltet ihr eine Mauer haben, die euch von den Weibern trennt; da dem aber nicht so ist, so erachteten es eure Väter für notwendig, euch wenigstens durch die Gitter hier von ihnen zu scheiden. Wie ich von älteren Leuten höre, gab es früher keine solche Schranken, "denn in Christus Jesus ist weder Mann noch Weib" (Ga 3,28). Auch zu den Zeiten der Apostel waren Männer und Frauen miteinander beisammen, denn die Männer waren eben Männer und die Frauen waren wirklich Frauen. Jetzt aber ist es ganz anders geworden. Die Weiber haben die Art von Buhlerinnen angenommen und die Männer sind wie brünstige Hengste. Habt ihr nicht gehört, daß in dem Abendmahlsaale Männer und Frauen beisammen waren und daß diese Versammlung eine Wonne für den Himmel war? (Ac 1,13-14) Mit vollem Rechte. Damals waren eben die Frauen tugendhaft, die Männer keusch und enthaltsam. Vernehmet nur, wie die Purpurhändlerin spricht: "Wenn ihr mich für würdig befunden habet des Herrn, so tretet in mein Haus und bleibet" (Ac 1,13-14). Höret, wie Frauen mit den Aposteln herumreisten, wie sie eine männliche Gesinnung angenommen hatten, eine Priszilla, eine Persis und andere. Von diesen sind unsere Frauen ebenso weit verschieden, wie unsere Männer von den Männern jener Zeit.



4.

Damals konnten die Frauen Reisen machen, ohne in schlechten Ruf zu kommen, während sie heutzutage dem Verdachte kaum entgehen, auch wenn sie ihre Behausungen nicht verlassen. Das hat die Putzsucht und die Üppigkeit mit sich gebracht. Damals waren die Gedanken der Frauen darauf gerichtet, die Predigt des Evangeliums zu fördern; heutzutage, wie sie wohlgestaltet schön und reizend erscheinen können; hierin suchen sie ihren Ruhm und ihr Glück, an die Erhabenheit und Größe guter Werke denken sie nicht einmal im Traume. Wo gibt es eine Frau, die sich eifrig bemüht, ihren Mann zu bessern? Wo der Mann, der es sich angelegen sein läßt, sein Weib zu bessern? Nirgends. Alles Trachten des Weibes geht vielmehr auf in der Sorge um Goldgeschmeide, um Kleider und dergleichen Putz des Leibes und um Vergrößerung des Vermögens; der Männer Trachten ist auf dasselbe gerichtet und auf vieles andere noch, stets aber nur auf weltliche Dinge. Wer frägt vor dem Heiraten nach den Sitten und der Erziehung des Mädchens? Niemand, sondern zuerst frägt man nach dem Gelde, dem Besitzstande, nach dem Vermögen jeglicher Art, gerade als wollte man einen Kauf oder sonst ein Handelsgeschäft abschließen. Oft wird darum die Ehe auch mit dem Namen Vertrag bezeichnet. Wie oft habe ich schon sagen hören: Der hat mit jener den Heiratsvertrag eingegangen, das soll heißen: er hat sich mit ihr vermählt. Man geht Ehen ein, als wäre es ein Kauf oder Verkauf, und versündigt sich so an Gottes Einrichtungen. Dabei werden Schriftstücke von größerer Sicherheit gefordert als bei Handel und Geschäft. Sehet doch zu, wie eure Ahnen geheiratet haben und nehmet euch ein Beispiel daran. Ja, wie schlossen denn sie die Ehe? Sie fragten nach den Sitten der Braut, nach ihrem Lebenswandel und ihrer Tugend. Darum brauchten sie auch keine Urkunden, keine Sicherstellung durch Papier und Tinte; mehr als alles andere bot ihnen der Wandel der Braut Bürgschaft. Ich bitte euch daher, sehet nicht auf Geld und Vermögen, sondern auf Sittsamkeit und Bescheidenheit. Frage nach der Frömmigkeit und Tugend des Mädchens; das wird dich glücklicher machen, als wer weiß wie viele Schätze. Wenn du die Gottesfurcht im Auge hast, wird auch das andere hinzukommen; wenn du sie aber übersiehst und nur auf anderes achtest, wirst du auch das nicht finden. 

   Aber, entgegnest du, ich kenne einen, der ist durch sein Weib zu Vermögen gekommen. - Schämst du dich nicht, so zu reden? Ich habe oft sagen hören: Tausendmal lieber wollte ich arm bleiben, als durch ein Weib reich werden. Gibt es etwas Lästigeres, als einen solchen Reichtum? etwas Bittereres, als eine solche Wohlhabenheit? Gibt es etwas Schmählicheres, als auf einem solchen Wege zu Ansehen zu gelangen und es sich von aller Welt vorwerfen zu lassen: der und jener ist nur durch seine Frau reich geworden? Ich will ganz schweigen von den Unannehmlichkeiten im Haus, die die notwendige Folge einer derartigen Verbindung sind: von dem Hochmut des Weibes, der Abhängigkeit des Mannes, den Frechheiten und Schmähungen von seiten der Dienstboten, die da sagen: Dieser Habenichts, dieser Lump, dieser gemeine Kerl, der nur von gemeinen Eltern abstammt! Was hat er denn mitgebracht? gehört nicht etwa alles der Frau? - Aber du machst dir nichts aus solchen Reden? Dann bist du eben kein freier Mann. Man macht es wie die Schmarotzer, die auch unempfindlich sind, wenn sie solche und noch peinlichere Reden zu hören bekommen; sie gefallen sich sogar noch in ihrer Schande. und wenn man sie ihnen vorhält, entgegnen sie: Wenn es nur süß und angenehm schmeckt, meinetwegen. mag ich dann daran ersticken. O dieser böse Teufel! Was für Redensarten hat er in der Welt aufgebracht, Redensarten, die imstande sind, das ganze Leben solcher Menschen zu zerrütten. 

   Siehe nur zu, wie groß das Unheil ist, das die erwähnte teuflische und verderbliche Redensart anstiftet. Diese Worte besagen nichts anderes als: Laß es dich nicht anfechten, ob etwas ehrwürdig, ob etwas gerecht ist; kümmere dich nicht darum, eines nur sei deine Sorge: das Vergnügen. Und müßtest du auch daran ersticken, strebe trotzdem darnach; ja, nimm alles ruhig hin selbst wenn man dich beim Begegnen anspuckt, mit Kot bewirft, wie einen Hund davonjagt. Wenn Schweine, wenn unreine Hände sprechen könnten, würden sie anders reden? Ja, es kann sein, sie würden keine so tollen Reden führen, wie sie der Teufel den Menschen einflüstert. Darum beschwöre ich euch, kommet doch zur Einsicht, wie widersinnig solche Redensarten sind; meidet sie und suchet ihnen andere Sätze aus der Schrift entgegenzuhalten. Und welche etwa? "Den Lüsten deines Herzens gehe nicht nach und wende dich ab von deinen Begierden" (Si 18,30), und über die Buhlerin spricht die Schrift ebenfalls ganz im Gegensatz zu obiger Redensart: "Achte nicht auf ein schlechtes Weib; denn Honigseim träufelt von der Buhlerin Lippen und sie schmeichelt eine Zeitlang deinem Gaumen; doch nachher wirst du sie bitterer finden als Galle und schärfer denn ein zweischneidig Schwert" (Pr 5,2-4). Auf solche Sprüche sollen wir hören, nicht auf die anderen. Daher rührt die freie, sklavische Gesinnung mancher; daher das unvernünftige Gebaren der Menschen, die immer nur der Lust nachjagen, wie es ihre Redensart besagt, die doch, ganz abgesehen von der Erklärung, die wir gegeben haben, schon an und für sich töricht ist. Wenn nämlich jemand erstickt ist, was nützt ihm dann die Süßigkeit? 

   Setzet euch also nicht länger einer solchen Lächerlichkeit aus und schüret auch nicht weiter das unauslöschliche Feuer der Hölle an. Lasset uns, wenn auch spät, den Blick auf die Ewigkeit richten, wie es sich gebührt, und unser Auge klären, damit wir das irdische Leben anständig, keusch und mäßig verbringen, um dann den ewigen Lohn zu ernten durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre sei in alle Ewigkeit. Amen






Kommentar zum Evangelium Mt 72