Benedikt XVI Predigten 61

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APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI.

NACH MÜNCHEN, ALTÖTTING UND REGENSBURG

(9.-14. SEPTEMBER 2006)

GESPRÄCH VON BENEDIKT XVI.

MIT DEN JOURNALISTEN IM FLUGZEUG


Bei seiner Apostolischen Reise nach Bayern beantwortete Papst Benedikt XVI. im Flugzeug einige Fragen, die ihm Journalisten stellten. Auf die Frage nach der gegenwärtigen Situation des Katholizismus in Deutschland antwortete er:


»Erstens fliege ich mit Freude nach Hause. Es ist schön, daß ich wenigstens einmal noch meine alte Heimat sehen darf, auf den Stätten herumgehen, wo ich gewesen bin. Und ich fliege nach Hause in der Freude darauf, daß wir ein großes Fest des Glaubens feiern werden und daß das auch das Miteinander mit euch stärken wird. Ich würde nicht einfach sagen, daß der deutsche Katholizismus müde ist, Müdigkeiten gibt es überall, aber ich habe in diesen Wochen der Vorbereitung gesehen, wie viel Dynamik auch da ist. Unglaublich, wer alles mit wie viel Energie sich eingesetzt hat. Ich weiß gar nicht, wie ich da danken soll. Das kann sich nicht auf meine Person beziehen, es kann sich nur darauf beziehen, daß wir gemeinsam Kirche sein wollen, daß wir also gemeinsam eine Kraft des Friedens für die Nation und die Welt sein möchten. Insofern fliege ich mit großen Hoffnungen nach Hause und bin eben dankbar für alles, was ich gesehen habe, was zeigt: So müde ist der deutsche Katholizismus nicht, wie manche meinen.«

Auf die Frage, warum bei dieser Reise kein Aufenthalt in Berlin vorgesehen sei und ob der Papst einmal nach Berlin kommen möchte, antwortete der Heilige Vater:

»Ja, irgendwie würde es sich vielleicht gehören, daß man, wenn man nach München reist, auch einmal nach Berlin kommt, aber ich bin ja ein alter Mann. Wieviel Zeit mir der Herr noch gibt, weiß ich nicht, und ich bin der Papst für die ganze Weltkirche. Ich denke jetzt vor allem an Türkei, an Brasilien als die nächsten Reisen. Wenn ich noch mal nach Deutschland kommen kann – dann eben auch in die anderen Teile Deutschlands –, würde es mich freuen, würde ich es als ein Geschenk von Gott betrachten.«

Die Frage, ob er auch ein bißchen Heimweh habe, beantwortete Benedikt XVI. mit den Worten:

»Ja schon, denn ich meine, da bin ich eben aufgewachsen. ›Mein Herz schlägt bayrisch‹ – ist ein Buch herausgegeben worden. Andererseits ist so viel Erinnerung in meiner Seele, daß ich in den Landschaften der Erinnerung immer herumwandern kann, mich gar nicht so weit weg fühle, zumal ich jeden Abend mit meinem Bruder telefonieren kann. Also so ganz arg weit entfernt fühle ich mich nicht.«
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(9.-14. SEPTEMBER 2006)

BEGRÜSSUNGSZEREMONIE

Internationaler Flughafen "Franz Joseph Strauss", München
Samstag, 9. September 2006

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,

verehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
meine verehrten Herren Kardinäle,
liebe Mitbrüder im Bischofsamt,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Landsleute!

Bewegten Herzens betrete ich heute zum ersten Mal nach meiner Erhebung auf den Stuhl Petri bayerischen deutschen Boden. Ich kehre in meine Heimat, zu meinen Landsleuten zurück in der Absicht, einige Orte zu besuchen, die in meinem Leben eine grundlegende Bedeutung hatten. Ich danke Ihnen, verehrter Herr Bundespräsident, für die herzlichen Worte, mit denen Sie mich willkommengeheißen haben. In diesen Worten habe ich die Resonanz der Empfindungen unseres ganzen Volkes wahrgenommen. Ich danke der Frau Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, und dem Herrn Ministerpräsidenten, Dr. Edmund Stoiber, für die Freundlichkeit, mit der sie meine Ankunft auf deutschem und bayerischem Boden ehren. Mein dankbarer Gruß gilt darüber hinaus den Regierungsmitgliedern und den kirchlichen, zivilen und militärischen Persönlichkeiten, die sich hier versammelt haben, sowie allen, die gekommen sind, um mich in dieser für mich so bedeutsamen Reise zu empfangen.

In diesem Augenblick steigen in meinem Innern viele Erinnerungen an die in München und Regensburg verbrachten Jahre auf – Erinnerungen an Menschen und Ereignisse, die tiefe Spuren in mir hinterlassen haben. Im Bewußtsein all dessen, was ich empfangen habe, bin ich hier vor allem, um meine herzliche Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, die ich all denen gegenüber empfinde, die zur Formung meiner Persönlichkeit in den Jahrzehnten meines Lebens beigetragen haben. Aber ich bin hier auch als Nachfolger des Apostels Petrus, um die tiefen Bindungen zwischen dem Römischen Bischofssitz und der Kirche in unserer Heimat erneut zu bekräftigen und zu bestätigen.

Es sind Bindungen, die in ihrer jahrhundertelangen Geschichte stets lebendig erhalten wurden durch die Treue zu den Werten des christlichen Glaubens, derer sich gerade die bayerischen Lande besonders rühmen dürfen. Zeugnisse dafür sind berühmte Baudenkmäler, majestätische Kathedralen, Skulpturen und Gemälde von hohem künstlerischen Wert, literarische Werke, kulturelle Initiativen und vor allem viele Schicksale Einzelner und von Gemeinschaften, in denen sich die tiefen christlichen Überzeugungen der Generationen widerspiegeln, die in diesem mir so lieben Land aufeinander gefolgt sind. Die Beziehungen Bayerns zum Heiligen Stuhl waren, abgesehen von einigen Momenten der Spannung, stets geprägt von respektvoller Herzlichkeit. In den entscheidenden Stunden seiner Geschichte hat das bayerische Volk immer seine tiefe Ergebenheit gegenüber dem Stuhl Petri und seine Treue zum katholischen Glauben bestätigt. Die Mariensäule, die auf dem zentralen Platz unserer Hauptstadt München steht, ist ein beredtes Zeugnis dafür.

Der heutige gesellschaftliche Kontext ist in vieler Hinsicht verschieden von dem der Vergangenheit. Trotzdem denke ich, daß uns alle die Hoffnung verbindet, die kommenden Generationen mögen dem geistigen Erbe treu bleiben, das durch alle Krisen der Geschichte hindurch standgehalten hat. Mein Besuch in dem Land, in dem ich geboren wurde, möchte in diesem Sinn auch eine Ermutigung sein: Bayern ist ein Teil Deutschlands, der Geschichte Deutschlands in ihrem Auf und Ab zugehörig, und kann mit Recht stolz sein auf die von der Vergangenheit ererbten Traditionen. Mein Wunsch ist es, daß alle meine Landsleute in Bayern und in Deutschland insgesamt sich aktiv an der Weitergabe der grundlegenden Werte des christlichen Glaubens an die Bürger von morgen beteiligen, der uns alle trägt und der nicht abgrenzt, sondern der öffnet und die Menschen aus den verschiedenen Völkern, Kulturen und Religionen zueinander bringt. Ich hätte gerne meinen Besuch auch auf andere Teile Deutschlands ausgedehnt, um zu all den verschiedenen Ortskirchen zu kommen, besonders zu denen, mit denen mich persönliche Erinnerungen verbinden.

Viele Zeichen der Zuneigung habe ich von überall und besonders aus den bayerischen Diözesen während meines Pontifikatsbeginns und all die Jahre hindurch erhalten dürfen. Das stärkt mich Tag um Tag. So möchte ich diese Gelegenheit benützen, um meinen ganz herzlichen Dank gegenüber Euch allen zum Ausdruck zu bringen. Ich habe auch lesen und verfolgen können, was in diesen Wochen und Monaten alles getan worden ist, wie viele Menschen sich mit all ihren Kräften daran beteiligt haben, daß dieser Besuch schön wird. Und jetzt danken wir dem Herrn, daß er uns auch den bayerischen Himmel dazu schenkt, denn den konnten wir nicht bestellen! Vergelt’s Gott also für all das, was geschehen ist von den verschiedensten Seiten – ich werde auch bei anderen Anlässen darauf zurückkommen können –, um einen schönen Ablauf dieses Besuches und dieser Tage zu gewährleisten. Über diesen Gruß an Euch, liebe Landsleute, hinaus – ich sehe vor mir die Stationen meines Weges von Marktl über Tittmoning nach Aschau nach Traunstein nach Regensburg nach München – über diesen Gruß an Euch hinaus möchte ich natürlich meinen Gruß an alle Einwohner Bayerns und ganz Deutschlands richten und denke dabei nicht nur an die katholischen Gläubigen, denen mein Besuch in erster Linie gilt, sondern auch an die Mitglieder der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, besonders an die evangelischen und die orthodoxen Christen. Und Sie, lieber Herr Bundespräsident, haben mir aus dem Herzen gesprochen: Auch wenn man fünfhundert Jahre nicht einfach bürokratisch oder durch gescheite Gespräche beiseite schieben kann – wir werden uns mit Herz und Verstand darum mühen, daß wir zueinander kommen.

Schließlich grüße ich die Angehörigen anderer Religionen und alle Menschen guten Willens, denen der Friede und die Ruhe des Landes und in der Welt ein Herzensanliegen sind. Möge der Herr die Bemühungen aller segnen, die auf die Schaffung einer Zukunft in echtem Wohlstand und auf der Grundlage der Gerechtigkeit, die den Frieden schafft, ausgerichtet sind. Diese Segenswünsche vertraue ich der Jungfrau Maria an, die in diesem unserem Land als Patrona Bavariae verehrt wird. Ich tue es in der klassischen Formulierung der Fürbitte von Jakob Balde, die zu Füßen der Mariensäule geschrieben steht: Rem regem regimen regionem religionem conserva Bavaris, Virgo Patrona, tuis! – Erhalte, Jungfrau Patronin, Deinen Bayern das Gut, oder wie man im Dialekt sagt „das Sach“, die Regierung, das Land und die Religion!

Euch allen ein herzliches „Grüß Gott!“
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(9.-14. SEPTEMBER 2006)

GEBET VOR DER MARIENSÄULE

GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI. Marienplatz, München

Samstag, 9. September 2006

Verehrte Frau Bundeskanzlerin,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
verehrte liebe Herren Kardinäle,
liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder!

Es ist für mich tief bewegend, wieder auf diesem wunderschönen Platz zu Füßen der Mariensäule zu stehen, an einem Ort – es ist schon gesagt worden –, der für mich zweimal Zeuge entscheidender Wendepunkte in meinem Leben war. Hier haben mich – es wurde erzählt – vor dreißig Jahren die Gläubigen mit großer Herzlichkeit aufgenommen, und ich habe der Muttergottes den Weg anvertraut, den ich nun zu gehen hatte, denn der Sprung vom Professorenstuhl auf den Dienst des Erzbischofs von München und Freising war gewaltig, und nur unter einem solchen Schutz und mit der spürbaren Liebe der Münchner und der Bayern konnte ich es wagen, diesen Dienst in der Nachfolge von Kardinal Döpfner zu übernehmen. Dann war es eben wieder so 1982: Hier habe ich Abschied genommen, und damals war der Erzbischof der Glaubenskongregation, der spätere Kardinal Hamer, dabei und sagte: Die Münchner sind wie Neapolitaner, sie wollen den Erzbischof anrühren und haben ihn gern. Es hat ihn förmlich verwundert, so viel Herzlichkeit hier in München zu sehen, das bayerische Herz an diesem Ort kennenlernen zu dürfen, an dem ich mich noch einmal der Muttergottes anvertraut habe.

Ich danke Ihnen, verehrter lieber Herr Ministerpräsident, für den freundlichen Willkommensgruß, den Sie im Namen der bayerischen Landesregierung und des bayerischen Volkes an mich gerichtet haben. Ich danke besonders herzlich auch meinem lieben Nachfolger im Amt des Hirten der Erzdiözese München und Freising, Herrn Kardinal Friedrich Wetter, für die herzlichen Worte, mit denen er mich hier begrüßt hat. Ich grüße Frau Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, und alle politischen, zivilen und militärischen Persönlichkeiten, die an dieser Begegnung zur Begrüßung und zum Gebet teilnehmen. Einen besonderen Gruß möchte ich an die Priester richten, besonders an diejenigen, mit denen ich als Priester und als Bischof in meinem Heimatbistum München und Freising zusammenarbeiten durfte. Euch alle aber, liebe Landsleute, die Ihr Euch um diesen Platz versammelt habt, möchte ich mit großer Herzlichkeit und Dankbarkeit begrüßen. Ich danke Euch für diesen bayerisch-herzlichen Empfang und danke, wie ich es schon am Flughafen tun durfte, all den vielen, die an der Vorbereitung mitgewirkt haben und jetzt dafür sorgen, daß alles sich in so schöner Weise abspielen kann.

Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit einen Gedanken wieder aufgreifen, den ich in meinen kurzen Erinnerungen im Zusammenhang meiner Ernennung zum Erzbischof von München und Freising dargestellt hatte. Ich sollte ja Nachfolger des heiligen Korbinian werden und bin es geworden. An der Legende dieses Heiligen hat mich seit meiner Kindheit die Geschichte fasziniert, wonach ein Bär sein Reittier auf seiner Reise über die Alpen zerrissen hat. Korbinian verwies es ihm streng und lud ihm zur Strafe sein Gepäck auf, das er nun bis nach Rom zu schleppen hatte. So mußte der Bär, beladen mit dem Bündel des Heiligen, nach Rom wandern und wurde erst dort von Korbinian freigelassen.

Als ich 1977 vor die schwierige Entscheidung gestellt wurde, die Ernennung zum Erzbischof von München und Freising anzunehmen oder nicht – eine Ernennung, die mich aus meiner gewohnten Tätigkeit als Universitätslehrer herausholte in neue Aufgaben und Verantwortungen – da habe ich sehr nachgedacht, mich dann gerade an diesen Bären erinnert und an die Interpretation, die der heilige Augustinus von den Versen 22 und 23 des Psalmes 72 [73] in seiner ganz ähnlichen Situation bei seiner Priester- und Bischofsweihe entwickelt und später in seinen Psalmenpredigten niedergelegt hat. In diesem Psalm fragt sich der Psalmist, warum es den schlechten Menschen dieser Welt oft so gut geht und warum es so vielen guten Menschen in der Welt so schlecht geht. Dann sagt der Psalmist: Ich war dumm, wie ich nachdachte, ich war wie ein Stück Vieh vor dir, aber dann bin ich in den Tempel hineingegangen und habe gewußt, daß ich gerade in meinen Nöten ganz nah bei dir bin und daß du immer mit mir bist. Augustinus hat diesen Psalm mit Liebe immer wieder aufgenommen und hat in diesem Wort: „Ich war wie ein Vieh vor dir“ (iumentum im Lateinischen) die Bezeichnung für die Zugtiere gesehen, die damals in der Landwirtschaft in Nordafrika üblich waren, und er hat sich selbst in dieser Bezeichnung „iumentum“ als Lasttier Gottes wiedererkannt, sich selbst darin gesehen als einen, der unter der Last seines Auftrages der „sarcina episcopalis“ steht. Er hatte von sich aus das Leben eines Gelehrten gewählt und war, wie er dann sagt, von Gott zum „Zugtier“ Gottes bestimmt worden – zum braven Ochsen, der den Pflug im Acker Gottes zieht, die schwere Arbeit tut, die ihm aufgetragen wird. Doch dann erkannte er: Wie das Zugtier ganz nahe bei dem Bauern ist, unter dessen Führung es arbeitet, so bin ich ganz nahe bei Gott, denn so diene ich ihm unmittelbar für das Errichten seines Reiches, für das Bauen der Kirche.

Auf dem Hintergrund der Gedanken des Bischofs von Hippo ermutigt mich der Bär immer neu, meinen Dienst mit Freude und Zuversicht zu tun – vor dreißig Jahren wie auch nun in meiner neuen Aufgabe – und Tag für Tag mein Ja zu Gott zu sagen: Ein Lasttier bin ich für dich geworden, doch gerade so bin ich „immer bei dir“ (Ps 72 [73], 23). Der Bär des heiligen Korbinian wurde in Rom freigelassen. In meinem Fall hat der Herr anders entschieden. Und so stehe ich also wieder zu Füßen der Mariensäule, um die Fürsprache und den Segen der Muttergottes zu erflehen, nicht nur für die Stadt München und auch nicht nur für das liebe Bayernland, sondern für die Kirche der ganzen Welt und für alle Menschen guten Willens.
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(9.-14. SEPTEMBER 2006)

GEBET VOR DER MARIENSÄULE

GEBET VON BENEDIKT XVI. Marienplatz, München

Samstag, 9. September 2006

Heilige Mutter des Herrn,


unsere Vorfahren haben in bedrängter Zeit dein Bild hier im Herzen der Stadt München aufgestellt, um dir Stadt und Land anzuvertrauen. Dir wollten sie auf den Wegen des Alltags immer wieder begegnen und von dir das rechte Menschsein lernen; von dir lernen, wie wir Gott finden und wie wir so zueinander kommen können. Sie haben dir Krone und Zepter, die damaligen Symbole der Herrschaft über das Land gegeben, weil sie wußten, daß dann die Macht und die Herrschaft in den rechten Händen sind – in den Händen der Mutter.

Dein Sohn hat seinen Jüngern kurz vor der Stunde des Abschieds gesagt: Wer unter euch groß sein will, der sei euer Bediener, und wer unter euch der erste sein möchte, der sei aller Knecht (Mc 10, 43f). Du hast in der entscheidenden Stunde deines Lebens gesagt: Siehe, ich bin die Magd des Herrn (Lc 1,38) und hast dein ganzes Leben als Dienst gelebt. Du tust es weiter die Jahrhunderte der Geschichte hindurch: Wie du einst für die Brautleute in Kana leise und diskret eingetreten bist, so tust du es immer: Alle Sorgen der Menschen nimmst du auf dich und trägst sie vor den Herrn, vor deinen Sohn. Deine Macht ist die Güte. Deine Macht ist das Dienen.

Lehre uns, die Großen und die Kleinen, die Herrschenden und die Dienenden, auf solche Weise unsere Verantwortung zu leben. Hilf uns, die Kraft des Versöhnens und das Vergeben zu finden. Hilf uns, geduldig und demütig zu werden, aber auch frei und mutig, wie du es in der Stunde des Kreuzes gewesen bist. Du trägst Jesus auf deinen Armen, das segnende Kind, das doch der Herr der Welt ist. So bist du, den Segnenden tragend, selbst zum Segen geworden. Segne uns und diese Stadt und dieses Land. Zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes. Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.


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(9.-14. SEPTEMBER 2006)

GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI.

VOM BALKON DES ERZBISCHÖFLICHEN PALAIS IN MÜNCHEN Sonntag, 10. September 2006

Liebe Freunde!


Jedes Jahr bin ich beim Beginn des Oktoberfestes auf diesem Balkon gestanden. Jetzt freue ich mich, daß ich heute noch einmal da stehen darf, daß so viele Menschen mich begrüßen, daß ich mich richtig zu Hause fühlen darf und von einer solchen Herzlichkeit umgeben bin. Ich sage einfach: Vergelt’s Gott und danke auch dem Lieben Gott für das, für den schönen weiß-blauen Himmel, den er uns schenkt. Ich danke jetzt schon der Musik, die mich schon bei meiner Ankunft so wundervoll begrüßt hat. Ein herzliches Vergelt’s Gott euch allen. Noch einen schönen Sonntag und gesegnete Zeit!



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NACH MÜNCHEN, ALTÖTTING UND REGENSBURG

(9.-14. SEPTEMBER 2006)

TREFFEN MIT DEN VERTRETERN

AUS DEM BEREICH DER WISSENSCHAFTEN


Aula Magna der Universität Regensburg
Dienstag, 12. September 2006

Glaube, Vernunft und Universität.


Erinnerungen und Reflexionen.


Eminenzen, Magnifizenzen, Exzellenzen,
verehrte Damen und Herren!

Es ist für mich ein bewegender Augenblick, noch einmal in der Universität zu sein und noch einmal eine Vorlesung halten zu dürfen. Meine Gedanken gehen dabei zurück in die Jahre, in denen ich an der Universität Bonn nach einer schönen Periode an der Freisinger Hochschule meine Tätigkeit als akademischer Lehrer aufgenommen habe. Es war – 1959 – noch die Zeit der alten Ordinarien-Universität. Für die einzelnen Lehrstühle gab es weder Assistenten noch Schreibkräfte, dafür aber gab es eine sehr unmittelbare Begegnung mit den Studenten und vor allem auch der Professoren untereinander. In den Dozentenräumen traf man sich vor und nach den Vorlesungen. Die Kontakte mit den Historikern, den Philosophen, den Philologen und natürlich auch zwischen beiden Theologischen Fakultäten waren sehr lebendig. Es gab jedes Semester einen sogenannten Dies academicus, an dem sich Professoren aller Fakultäten den Studenten der gesamten Universität vorstellten und so ein Erleben von Universitas möglich wurde – auf das Sie, Magnifizenz, auch gerade hingewiesen haben – die Erfahrung nämlich, daß wir in allen Spezialisierungen, die uns manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen – das wurde erlebbar. Die Universität war auch durchaus stolz auf ihre beiden Theologischen Fakultäten. Es war klar, daß auch sie, indem sie nach der Vernunft des Glaubens fragen, eine Arbeit tun, die notwendig zum Ganzen der Universitas scientiarum gehört, auch wenn nicht alle den Glauben teilen konnten, um dessen Zuordnung zur gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen. Dieser innere Zusammenhalt im Kosmos der Vernunft wurde auch nicht gestört, als einmal verlautete, einer der Kollegen habe geäußert, an unserer Universität gebe es etwas Merkwürdiges: zwei Fakultäten, die sich mit etwas befaßten, was es gar nicht gebe – mit Gott. Daß es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.

All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte.[1] Der Kaiser hat vermutlich während der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben sind, als die seines persischen Gesprächspartners.[2] Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes- und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise um das Verhältnis der, wie man sagte, „drei Gesetze“ oder „drei Lebensordnungen“: Altes Testament – Neues Testament – Koran. Jetzt, in dieser Vorlesung möchte ich darüber nicht handeln, nur einen – im Aufbau des ganzen Dialogs eher marginalen – Punkt berühren, der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.

In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde (d???e??? – Kontroverse) kommt der Kaiser auf das Thema des Djihad, des heiligen Krieges zu sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen – es ist wohl eine der frühen Suren aus der Zeit, wie uns ein Teil der Kenner sagt, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den heiligen Krieg. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von „Schriftbesitzern“ und „Ungläubigen“ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“.[3] Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. „Gott hat kein Gefallen am Blut”, sagt er, „und nicht vernunftgemäß, nicht „s?`? ????” zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann...".[4]

Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.[5] Der Herausgeber, Theodore Khoury, kommentiert dazu: Für den Kaiser als einen in griechischer Philosophie aufgewachsenen Byzantiner ist dieser Satz evident. Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit.[6] Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazm so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben.[7]

An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert. Ist es nur griechisch zu glauben, daß vernunftwidrig zu handeln dem Wesen Gottes zuwider ist, oder gilt das immer und in sich selbst? Ich denke, daß an dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist, und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten Vers der Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. Dies ist genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt „s?`? ????”, mit Logos. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und verschlungenen Wege des biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre Synthese finden. Im Anfang war der Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der biblischen Botschaft und des griechischen Denkens war kein Zufall. Die Vision des heiligen Paulus, dem sich die Wege in Asien verschlossen und der nächtens in einem Gesicht einen Mazedonier sah und ihn rufen hörte: Komm herüber und hilf uns (Ac 16,6 – 10) – diese Vision darf als Verdichtung des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen gedeutet werden.

Dabei war dieses Zugehen längst im Gang. Schon der geheimnisvolle Gottesname vom brennenden Dornbusch, der diesen Gott aus den Göttern mit den vielen Namen herausnimmt und von ihm einfach das „Ich bin“, das Dasein aussagt, ist eine Bestreitung des Mythos, zu der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in einer inneren Analogie steht.[8] Der am Dornbusch begonnene Prozeß kommt im Innern des Alten Testaments zu einer neuen Reife während des Exils, wo nun der landlos und kultlos gewordene Gott Israels sich als den Gott des Himmels und der Erde verkündet und sich mit einer einfachen, das Dornbusch-Wort weiterführenden Formel vorstellt: „Ich bin’s.“ Mit diesem neuen Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand, die sich im Spott über die Götter drastisch ausdrückt, die nur Machwerke der Menschen seien (vgl. Ps Ps 115). So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche bei aller Schärfe des Gegensatzes zu den hellenistischen Herrschern, die die Angleichung an die griechische Lebensweise und ihren Götterkult erzwingen wollten, dem Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung, wie sie sich dann besonders in der späten Weisheits-Literatur vollzogen hat. Heute wissen wir, daß die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments – die Septuaginta – mehr als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende) Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein eigener wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, in dem sich diese Begegnung auf eine Weise realisiert hat, die für die Entstehung des Christentums und seine Verbreitung entscheidende Bedeutung gewann.[9] Zutiefst geht es dabei um die Begegnung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen rechter Aufklärung und Religion. Manuel II. hat wirklich aus dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich aus dem Wesen des Griechischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte, sagen können: Nicht „mit dem Logos“ handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.

Hier ist der Redlichkeit halber anzumerken, daß sich im Spätmittelalter Tendenzen der Theologie entwickelt haben, die diese Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen. Gegenüber dem sogenannten augustinischen und thomistischen Intellektualismus beginnt bei Duns Scotus eine Position des Voluntarismus, die schließlich in den weiteren Entwicklungen dahinführte zu sagen, wir kennten von Gott nur seine Voluntas ordinata. Jenseits davon gebe es die Freiheit Gottes, kraft derer er auch das Gegenteil von allem, was er getan hat, hätte machen und tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die denen von Ibn Hazm durchaus nahekommen können und auf das Bild eines Willkür-Gottes zulaufen könnten, der auch nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist. Die Transzendenz und die Andersheit Gottes werden so weit übersteigert, daß auch unsere Vernunft, unser Sinn für das Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel Gottes mehr sind, dessen abgründige Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen Entscheiden für uns ewig unzugänglich und verborgen bleiben. Demgegenüber hat der kirchliche Glaube immer daran festgehalten, daß es zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen Vernunft eine wirkliche Analogie gibt, in der zwar – wie das Vierte Laterankonzil 1215 sagt – die Unähnlichkeiten unendlich größer sind als die Ähnlichkeiten, aber eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht aufgehoben werden. Gott wird nicht göttlicher dadurch, daß wir ihn in einen reinen und undurchschaubaren Voluntarismus entrücken, sondern der wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als Logos liebend für uns gehandelt hat. Gewiß, die Liebe „übersteigt“, wie Paulus sagt, die Erkenntnis und vermag daher mehr wahrzunehmen als das bloße Denken (vgl. Eph Ep 3,19), aber sie bleibt doch Liebe des Gottes-Logos, weshalb christlicher Gottesdienst, wie noch  ?at?e?a“ ist – Gottesdienst, der im Einklang miteinmal Paulus sagt, „?????? dem ewigen Wort und mit unserer Vernunft steht (vgl. Röm Rm 12,1).[10]

Dieses hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen vollzogen hat, ist ein nicht nur religionsgeschichtlich, sondern weltgeschichtlich entscheidender Vorgang, der uns auch heute in die Pflicht nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht, ist es nicht verwunderlich, daß das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger Entfaltungen im Orient schließlich seine geschichtlich entscheidende Prägung in Europa gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese Begegnung, zu der dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa geschaffen und bleibt die Grundlage dessen, was man mit Recht Europa nennen kann.

Der These, daß das kritisch gereinigte griechische Erbe wesentlich zum christlichen Glauben gehört, steht die Forderung nach der Enthellenisierung des Christentums entgegen, die seit dem Beginn der Neuzeit wachsend das theologische Ringen beherrscht. Wenn man näher zusieht, kann man drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms beobachten, die zwar miteinander verbunden, aber in ihren Begründungen und Zielen doch deutlich voneinander verschieden sind.[11]

Die Enthellenisierung erscheint zuerst mit den Anliegen der Reformation des 16. Jahrhunderts verknüpft. Die Reformatoren sahen sich angesichts der theologischen Schultradition einer ganz von der Philosophie her bestimmten Systematisierung des Glaubens gegenüber, sozusagen einer Fremdbestimmung des Glaubens durch ein nicht aus ihm kommendes Denken. Der Glaube erschien dabei nicht mehr als lebendiges geschichtliches Wort, sondern eingehaust in ein philosophisches System. Das Sola Scriptura sucht demgegenüber die reine Urgestalt des Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist. Metaphysik erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den Glauben befreien muß, damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für die Reformatoren nicht vorhersehbaren Radikalität hat Kant mit seiner Aussage, er habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen, aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei den Glauben ausschließlich in der praktischen Vernunft verankert und ihm den Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen.

Die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts brachte eine zweite Welle im Programm der Enthellenisierung mit sich, für die Adolf von Harnack als herausragender Repräsentant steht. In der Zeit, als ich studierte, wie in den frühen Jahren meines akademischen Wirkens war dieses Programm auch in der katholischen Theologie kräftig am Werk. Pascals Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs diente als Ausgangspunkt dafür. In meiner Bonner Antrittsvorlesung von 1959 habe ich mich damit auseinanderzusetzen versucht,[12] und möchte dies alles hier nicht neu aufnehmen. Wohl aber möchte ich wenigstens in aller Kürze versuchen, das unterscheidend Neue dieser zweiten Enthellenisierungswelle gegenüber der ersten herauszustellen. Als Kerngedanke erscheint bei Harnack die Rückkehr zum einfachen Menschen Jesus und zu seiner einfachen Botschaft, die allen Theologisierungen und eben auch Hellenisierungen voraus liege: Diese einfache Botschaft stelle die wirkliche Höhe der religiösen Entwicklung der Menschheit dar. Jesus habe den Kult zugunsten der Moral verabschiedet. Er wird im letzten als Vater einer menschenfreundlichen moralischen Botschaft dargestellt. Dabei geht es Harnack im Grunde darum, das Christentum wieder mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar philosophischen und theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes befreie. Insofern ordnet die historisch-kritische Auslegung des Neuen Testaments, wie er sie sah, die Theologie wieder neu in den Kosmos der Universität ein: Theologie ist für Harnack wesentlich historisch und so streng wissenschaftlich. Was sie auf dem Weg der Kritik über Jesus ermittelt, ist sozusagen Ausdruck der praktischen Vernunft und damit auch im Ganzen der Universität vertretbar. Im Hintergrund steht die neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft, wie sie in Kants Kritiken klassischen Ausdruck gefunden hatte, inzwischen aber vom naturwissenschaftlichen Denken weiter radikalisiert wurde. Diese moderne Auffassung der Vernunft beruht auf einer durch den technischen Erfolg bestätigten Synthese zwischen Platonismus (Cartesianismus) und Empirismus, um es verkürzt zu sagen. Auf der einen Seite wird die mathematische Struktur der Materie, sozusagen ihre innere Rationalität vorausgesetzt, die es möglich macht, sie in ihrer Wirkform zu verstehen und zu gebrauchen: Diese Grundvoraussetzung ist sozusagen das platonische Element im modernen Naturverständnis. Auf der anderen Seite geht es um die Funktionalisierbarkeit der Natur für unsere Zwecke, wobei die Möglichkeit der Verifizierung oder Falsifizierung im Experiment erst die entscheidende Gewißheit liefert. Das Gewicht zwischen den beiden Polen kann je nachdem mehr auf der einen oder der anderen Seite liegen. Ein so streng positivistischer Denker wie J. Monod hat sich als überzeugten Platoniker bezeichnet.

Dies bringt zwei für unsere Frage entscheidende Grundorientierungen mit sich. Nur die im Zusammenspiel von Mathematik und Empirie sich ergebende Form von Gewißheit gestattet es, von Wissenschaftlichkeit zu sprechen. Was Wissenschaft sein will, muß sich diesem Maßstab stellen. So versuchten dann auch die auf die menschlichen Dinge bezogenen Wissenschaften wie Geschichte, Psychologie, Soziologie, Philosophie, sich diesem Kanon von Wissenschaftlichkeit anzunähern. Wichtig für unsere Überlegungen ist aber noch, daß die Methode als solche die Gottesfrage ausschließt und sie als unwissenschaftliche oder vorwissenschaftliche Frage erscheinen läßt. Damit aber stehen wir vor einer Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft, die in Frage gestellt werden muß.

Darauf werde ich zurückkommen. Einstweilen bleibt festzustellen, daß bei einem von dieser Sichtweise her bestimmten Versuch, Theologie „wissenschaftlich“ zu erhalten, vom Christentum nur ein armseliges Fragmentstück übrigbleibt. Aber wir müssen mehr sagen: Wenn dies allein die ganze Wissenschaft ist, dann wird der Mensch selbst dabei verkürzt. Denn die eigentlich menschlichen Fragen, die nach unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und des Ethos können dann nicht im Raum der gemeinsamen, von der so verstandenen „Wissenschaft“ umschriebenen Vernunft Platz finden und müssen ins Subjektive verlegt werden. Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive „Gewissen“ wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören. Was an ethischen Versuchen von den Regeln der Evolution oder von Psychologie und Soziologie her bleibt, reicht einfach nicht aus.

Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, auf die ich mit alledem hinaus will, muß ich noch kurz die dritte Enthellenisierungswelle andeuten, die zurzeit umgeht. Angesichts der Begegnung mit der Vielheit der Kulturen sagt man heute gern, die Synthese mit dem Griechentum, die sich in der alten Kirche vollzogen habe, sei eine erste Inkulturation des Christlichen gewesen, auf die man die anderen Kulturen nicht festlegen dürfe. Ihr Recht müsse es sein, hinter diese Inkulturation zurückzugehen auf die einfache Botschaft des Neuen Testaments, um sie in ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren. Diese These ist nicht einfach falsch, aber doch vergröbert und ungenau. Denn das Neue Testament ist griechisch geschrieben und trägt in sich selber die Berührung mit dem griechischen Geist, die in der vorangegangenen Entwicklung des Alten Testaments gereift war. Gewiß gibt es Schichten im Werdeprozeß der alten Kirche, die nicht in alle Kulturen eingehen müssen. Aber die Grundentscheidungen, die eben den Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen, die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung.

Damit komme ich zum Schluß. Die eben in ganz groben Zügen versuchte Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind dankbar für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen hat und für die Fortschritte an Menschlichkeit, die uns geschenkt wurden. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit – Sie haben es angedeutet Magnifizenz – ist im übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den wesentlichen Entscheiden des Christlichen gehört. Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. Denn bei aller Freude über die neuen Möglichkeiten des Menschen sehen wir auch die Bedrohungen, die aus diesen Möglichkeiten aufsteigen, und müssen uns fragen, wie wir ihrer Herr werden können. Wir können es nur, wenn Vernunft und Glaube auf neue Weise zueinanderfinden; wenn wir die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen. In diesem Sinn gehört Theologie nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft des Glaubens an die Universität und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein.

Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. In der westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische Vernunft und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien universal. Aber von den tief religiösen Kulturen der Welt wird gerade dieser Ausschluß des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen. Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. Dabei trägt, wie ich zu zeigen versuchte, die moderne naturwissenschaftliche Vernunft mit dem ihr innewohnenden platonischen Element eine Frage in sich, die über sie und ihre methodischen Möglichkeiten hinausweist. Sie selber muß die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz zwischen unserem Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen ganz einfach als Gegebenheit annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht. Aber die Frage, warum dies so ist, die besteht doch und muß von der Naturwissenschaft weitergegeben werden an andere Ebenen und Weisen des Denkens – an Philosophie und Theologie. Für die Philosophie und in anderer Weise für die Theologie ist das Hören auf die großen Erfahrungen und Einsichten der religiösen Traditionen der Menschheit, besonders aber des christlichen Glaubens, eine Erkenntnisquelle, der sich zu verweigern eine unzulässige Verengung unseres Hörens und Antwortens wäre. Mir kommt da ein Wort des Sokrates an Phaidon in den Sinn. In den vorangehenden Gesprächen hatte man viele falsche philosophische Meinungen berührt, und nun sagt Sokrates: Es wäre wohl zu verstehen, wenn einer aus Ärger über so viel Falsches sein übriges Leben lang alle Reden über das Sein haßte und schmähte. Aber auf diese Weise würde er der Wahrheit des Seienden verlustig gehen und einen sehr großen Schaden erleiden.[13] Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und könnte damit einen großen Schaden erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe – das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt. „Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln ist dem Wesen Gottes zuwider“, hat Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden, ist die große Aufgabe der Universität.

[1] Von den insgesamt 26 Gesprächsrunden (d???e??? – Khoury übersetzt „Controverse“) des Dialogs („Entretien“) hat Th. Khoury die 7. „Controverse“ mit Anmerkungen und einer umfassenden Einleitung über die Entstehung des Textes, die handschriftliche Überlieferung und die Struktur des Dialogs sowie kurze Inhaltsangaben über die nicht edierten „Controverses“ herausgegeben; dem griechischen Text ist eine französische Übersetzung beigefügt: Manuel II Paléologue, Entretiens avec un Musulman. 7e Controverse. Sources chrétiennes Nr. 115, Paris 1966. Inzwischen hat Karl Förstel im Corpus Islamico-Christianum (Series Graeca. Schriftleitung A.Th. Khoury – R. Glei) eine kommentierte griechisch-deutsche Textausgabe veröffentlicht: Manuel II. Palaiologus, Dialoge mit einem Muslim. 3 Bde. Würzburg - Altenberge 1993 – 1996. Bereits 1966 hatte E. Trapp den griechischen Text – mit einer Einleitung versehen – als Band II. der Wiener byzantinischen Studien herausgegeben. Ich zitiere im folgenden nach Khoury.

[2] Vgl. über Entstehung und Aufzeichnung des Dialogs Khoury S. 22 – 29; ausführlich äußern sich dazu auch Förstel und Trapp in ihren Editionen.

[3] Controverse VII 2c; bei Khoury S. 142/143; Förstel Bd. I, VII. Dialog 1.5 S. 240/241. Dieses Zitat ist in der muslimischen Welt leider als Ausdruck meiner eigenen Position aufgefaßt worden und hat so begreiflicherweise Empörung hervorgerufen. Ich hoffe, daß der Leser meines Textes sofort erkennen kann, daß dieser Satz nicht meine eigene Haltung dem Koran gegenüber ausdrückt, dem gegenüber ich die Ehrfurcht empfinde, die dem heiligen Buch einer großen Religion gebührt. Bei der Zitation des Texts von Kaiser Manuel II. ging es mir einzig darum, auf den wesentlichen Zusammenhang zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen. In diesem Punkt stimme ich Manuel zu, ohne mir deshalb seine Polemik zuzueignen.

[4] Controverse VII 3b - c; bei Khoury S. 144/145; Förstel Bd. I, VII. Dialog 1.6 S. 240 – 243.

[5] Einzig um dieses Gedankens willen habe ich den zwischen Manuel und seinem persischen Gesprächspartner geführten Dialog zitiert. Er gibt das Thema der folgenden Überlegungen vor.

[6] Khoury, a.a.O. S. 144 Anm. 1.

[7]R. Arnaldez, Grammaire et théologie chez Ibn Hazm de Cordoue. Paris 1956 S. 13; cf Khoury S. 144. Daß es in der spätmittelalterlichen Theologie vergleichbare Positionen gibt, wird im weiteren Verlauf dieses Vortrags gezeigt.

[8] Für die viel diskutierte Auslegung der Dornbuschszene darf ich auf meine „Einführung in das Christentum“ (München 1968) S. 84 – 102 verweisen. Ich denke, daß das dort Gesagte trotz der weitergegangenen Diskussion nach wie vor sachgemäß ist.

[9] Vgl. A. Schenker, L’Ecriture sainte subsiste en plusieurs formes canoniques simultanées, in: L’interpretazione della Bibbia nella Chiesa. Atti del Simposio promosso dalla Congregazione per la Dottrina della Fede. Città del Vaticano 2001 S. 178 – 186.

[10] Ausführlicher habe ich mich dazu geäußert in meinem Buch „Der Geist der Liturgie. Eine Einführung.“ Freiburg 2000 S. 38 – 42.

[11] Aus der umfänglichen Literatur zum Thema Enthellenisierung möchte ich besonders nennen A. Grillmeier, Hellenisierung – Judaisierung des Christentums als Deuteprinzipien der Geschichte des kirchlichen Dogmas, in: ders., Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven. Freiburg 1975 S. 423 – 488.

[12] Neu herausgegeben und kommentiert von Heino Sonnemans (Hrsg.): Joseph Ratzinger – Benedikt XVI., Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis. Johannes-Verlag Leutesdorf, 2. ergänzte Auflage 2005.

[13] 90 c – d. Vgl. zu diesem Text R. Guardini, Der Tod des Sokrates. Mainz – Paderborn 19875 S. 218 – 221.
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Benedikt XVI Predigten 61