Benedikt XVI Predigten 90

90

GRUSSWORTE VON BENEDIKT XVI.

NACH DER VORWEIHNACHTLICHEN BEGEGNUNG MIT DEN STUDENTEN DER RÖMISCHEN UNIVERSITÄTEN Petersdom

Donnerstag, 14. Dezember 2006

Liebe Freunde!


Auch dieses Jahr habe ich die willkommene Gelegenheit zur Begegnung mit der Welt der römischen Universitäten, um mit euch die Wünsche zum nahen Weihnachtsfest auszutauschen. Ich grüße Kardinal Camillo Ruini, der der Eucharistiefeier vorgestanden und euch in der Reflexion über die liturgischen Texte geleitet hat. Sodann danke ich dem Rektor der Universität »Roma Tre« und der jungen Studentin, die im Namen eurer qualifizierten Versammlung gesprochen haben. Allen und jedem einzelnen gilt mein herzlicher Gruß.

Unsere Begegnung findet kurz vor Weihnachten statt, dem Fest der Geschenke, wie ich am vergangenen Sonntag beim Besuch der neuen römischen Pfarrgemeinde sagte, die der allerseligsten Jungfrau Maria, Stern der Evangelisierung, geweiht ist. Die Weihnachtsgeschenke erinnern uns an das Geschenk schlechthin, zu dem sich der Sohn Gottes für uns in der Menschwerdung gemacht hat. Darum wird Weihnachten durch die vielen Geschenke, welche die Menschen in diesen Tagen miteinander austauschen, auf angemessene Weise herausgehoben. Man darf jedoch das wichtigste Geschenk nicht vergessen, für das die anderen Geschenke nur ein Symbol sind. Weihnachten ist der Tag, an dem Gott sich selbst der Menschheit geschenkt hat, und dieses Geschenk wird in der Eucharistie sozusagen vollendet. Unter der Gestalt eines kleinen Stückes Brot – so sagte ich zu den Kindern der erwähnten römischen Pfarrei, die sich auf die Erstkommunion und auf die Firmung vorbereiten – schenkt sich Jesus selbst und will in unser Herz kommen. Liebe junge Leute, ihr denkt in diesem Jahr über dieses Thema – die Eucharistie – nach und folgt damit dem von der Diözese Rom vorgegebenen geistlichen und pastoralen Programm. Das eucharistische Geheimnis bildet den Hauptpunkt, an dem die verschiedenen Bereiche der christlichen Existenz zusammenlaufen, einschließlich des Bereiches der intellektuellen Forschung. Der eucharistische Jesus, dem wir in der Liturgie begegnen und den wir in der Anbetung betrachten, ist wie ein »Prisma«, durch das man besser in die Wirklichkeit vordringen kann, sowohl aus asketischer und mystischer als auch aus intellektueller und spekulativer sowie aus historischer und moralischer Sicht. »Konzentrat« der Wahrheit und der Liebe In der Eucharistie ist Christus wirklich gegenwärtig, und die heilige Messe ist das lebendige Gedächtnis seines Pascha. Das Allerheiligste Sakrament ist der qualitative Mittelpunkt des Kosmos und der Geschichte. Dadurch stellt es für jeden, der sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt und mit ihr zusammenwirken will, eine unerschöpfliche Quelle des Denkens und des Handelns dar. Es ist sozusagen ein »Konzentrat« der Wahrheit und der Liebe. Es erhellt nicht nur die Erkenntnis, sondern auch und vor allem das Handeln des Menschen, der sich in seinem Leben »von der Liebe geleitet an die Wahrheit« hält (Ep 4,15), wie der hl. Paulus sagt, im täglichen Bemühen darum, sich so zu verhalten, wie Jesus selbst sich verhalten hat. Die Eucharistie hält daher in dem Menschen, der sich ständig und im Glauben durch sie nährt, die fruchtbare Einheit zwischen Kontemplation und Aktion aufrecht.

Liebe Freunde, treten wir in das bereits nahe Weihnachtsgeheimnis durch die »Pforte« der Eucharistie ein: In der Grotte von Betlehem beten wir den Herrn an, der im Sakrament der Eucharistie unsere geistliche Nahrung werden wollte, um die Welt von innen her, vom Herzen des Menschen ausgehend, zu verwandeln. Ich weiß, daß es für viele von euch, den Universitätsstudenten von Rom, inzwischen Brauch geworden ist, zu Beginn des Studienjahres eine besondere Diözesanwallfahrt nach Assisi zu unternehmen, und ich weiß, daß ihr auch vor kurzem in großer Zahl daran teilgenommen habt. Wurden nicht auch der hl. Franz und die hl. Klara beide vom eucharistischen Geheimnis »ergriffen«? In der Eucharistie haben sie die Liebe Gottes erfahren, dieselbe Liebe, die in der Menschwerdung den Schöpfer der Welt dazu gedrängt hat, klein zu werden, ja sogar der Kleinste und Diener aller. Liebe Freunde, tragt bei eurer Vorbereitung auf das Heilige Weihnachtsfest dieselben Empfindungen in euch wie diese großen Heiligen, die vom italienischen Volk so sehr geliebt werden. Richtet wie sie den Blick auf das in Windeln gewickelte und in einer Krippe liegende Kind (vgl. Lk Lc 2,7 Lk Lc 2,12 Lk Lc 2,16).

Geht in die Schule der Jungfrau Maria, die als erste das Menschsein des fleischgewordenen Wortes, das Menschsein der Göttlichen Weisheit betrachtet hat. Im Jesuskind, mit dem sie in nie endender stiller Zwiesprache stand, erkannte sie das menschliche Antlitz Gottes, so daß sich die geheimnisvolle Weisheit des Sohnes in den Geist und in das Herz der Mutter eingeprägt hat. Daher ist Maria der »Sitz der Weisheit« geworden, und unter diesem Titel wird sie besonders von der akademischen Gemeinschaft Roms verehrt. Der »Sedes Sapientiae« ist eine besondere Ikone gewidmet, die von Rom aus schon verschiedene Länder besucht hat, auf einer Pilgerreise durch die universitären Einrichtungen. Heute ist sie hier zugegen, weil sie von der Delegation aus Bulgarien an die Delegation aus Albanien weitergegeben wird. Ich grüße herzlich die Vertretungen dieser beiden Nationen und wünsche, daß ihre jeweiligen akademischen Gemeinschaften »per Mariam« in der Suche nach der Wahrheit und nach dem Guten im Licht der göttlichen Weisheit immer weiter voranschreiten mögen. Dies wünsche ich von Herzen jedem von euch, die ihr hier anwesend seid, und begleite diesen Wunsch mit einem besonderen Segen, in den ich gern alle eure Angehörigen einschließe. Frohe Weihnachten!



AN SEINE SELIGKEIT ANTONIOS NAGUIB,

PATRIARCH VON ALEXANDRIEN DER KOPTEN Clementina-Saal

Freitag, 15. Dezember 2006

Eure Seligkeit,

verehrte Brüder im Bischofsamt,
liebe Söhne und Töchter der koptisch-katholischen Kirche!

Nach Ihrer Wahl, Seligkeit, auf den Patriarchalsitz von Alexandrien der katholischen Kopten ist Ihr erster offizieller Besuch beim Nachfolger Petri ein gnadenreicher Augenblick für die Kirche. Ich danke Ihnen für die Worte, die Sie bezüglich Ihres Patriarchats an mich gerichtet haben, und für Ihr Gebet für meinen Dienst. Ich freue mich, Ihnen – umgeben von Bischöfen Ihres Patriarchats, Priestern und Gläubigen – hier zu begegnen, um die »communio ecclesiastica« zu feiern, die ich Ihnen am 6. April mit Freude gewährt habe. Ich grüße euch alle herzlich, die ihr gekommen seid, um an diesem großen Augenblick der brüderlichen Gemeinschaft und der Einheit der koptisch-katholischen Kirche mit dem Apostolischen Stuhl teilzunehmen. Ich nütze die Gelegenheit, den em. Patriarchen, Seine Seligkeit Kardinal Stephanos II., zu grüßen, den ich mit Freude empfange: Er hat sein Leben dem Dienst an Gott und an der koptisch-katholischen Kirche geweiht.

In der Feier der Göttlichen Liturgie offenbart sich am besten die Gemeinschaft in Christus, die uns zu Brüdern macht. Dort findet die Gemeinschaft unter allen Katholiken um den Nachfolger Petri ihren vollen Ausdruck. Sie, Seligkeit, sind der Vater und das Oberhaupt der koptisch-katholischen Kirche von Alexandrien, einem bedeutenden Sitz, dem während der ersten fünf Jahrhunderte der ehrenvolle Rang des ersten Patriarchats nach Rom zukam. Ihre Patriarchatsgemeinschaft ist Trägerin einer reichen geistlichen, liturgischen und theologischen Tradition – der alexandrinischen Tradition –, deren Schätze zum Erbe der Kirche gehören: Sie war Empfängerin der Predigt des heiligen Evangelisten Markus, Sprachrohr des Apostels Petrus; so verbindet ein besonderes Band der Brüderlichkeit Ihr Patriarchat mit dem Stuhl Petri. Ich möchte Sie daher meines Gebetes und meiner Unterstützung für »die besondere Aufgabe « versichern, die das Zweite Vatikanische Konzil den katholischen Ostkirchen anvertraute, nämlich »die Einheit aller Christen, besonders der ostkirchlichen, zu fördern« (Orientalium ecclesiarum OE 24), insbesondere mit euren Brüdern der koptisch-orthodoxen Kirche. Ebenso kommt euch eine wichtige Rolle im interreligiösen Dialog zu, um die Brüderlichkeit und Achtung zwischen Christen und Muslimen und unter allen Menschen zu entfalten.

Seligkeit, Sie haben, als Sie Patriarch wurden, Ihren Vornamen – Antonios – beibehalten, der an die große Bewegung des Mönchtums erinnert, das in Ägypten entstanden ist und das die Überlieferung mit dem Wirken des hl. Antonius und dann mit dem des hl. Pachomius in Zusammenhang bringt. Dank des abendländischen Beitrags des hl. Benedikt ist das Mönchtum zu einem riesigen Baum geworden, der reiche und herrliche Früchte in der ganzen Welt getragen hat. Wie könnte man bei der Erwähnung der koptischen Kirche nicht an die Schriftsteller, an die Exegeten und an die Philosophen denken, wie Clemens von Alexandria und Origenes, aber auch an die großen Patriarchen, Bekenner und Kirchenlehrer, wie Athanasius und Cyrill, deren berühmte Namen durch Jahrhunderte hindurch den Glauben eines frommen Volkes prägen!

Ihren Spuren müßt ihr unablässig folgen, wenn ihr die theologische und geistliche Forschung entfaltet, die eurer Tradition zu eigen ist.

In der heutigen Welt ist eure Sendung von großer Bedeutung für eure Gläubigen und für alle Menschen, denen die Frohe Botschaft zu verkünden uns die Liebe Christi drängt. Ich begrüße insbesondere eure Aufmerksamkeit für die menschliche, geistliche, sittliche und intellektuelle Erziehung der Jugend durch ein hochwertiges schulisches und katechetisches Netz, das einen Dienst an der ganzen Gesellschaft darstellt. Ich wünsche aufrichtig, daß dieses erzieherische Engagement immer mehr Anerkennung finden möge, damit im Bedachtsein auf die den katholischen Schulen eigene Identität die grundlegenden Werte weitergegeben werden; auf diese Weise werden die Jugendlichen von heute verantwortungsvolle Männer und Frauen in ihren Familien und in der Gesellschaft werden können, die bestrebt sind, eine größere Solidarität und eine innigere Brüderlichkeit unter allen Angehörigen der Nation aufzubauen. Übermittelt den jungen Menschen meine ganze Wertschätzung und meine ganze Liebe, wenn ihr sie daran erinnert, daß die Kirche und die ganze Gesellschaft ihren Enthusiasmus und ihre Hoffnung dringend brauchen.

Ich fordere euch auf, die Ausbildung der Priester und der zahlreichen jungen Männer, die sich dem Herrn weihen wollen, zu intensivieren. Die Lebenskraft der christlichen Gemeinschaften in unserer heutigen Welt erfordert Hirten nach dem Herzen Gottes, die wahre Zeugen des Wortes Gottes und Führer sein sollen, um den Gläubigen zu helfen, ihr Leben und ihre Sendung immer tiefer in Christus zu verwurzeln!

Ich weiß, welchen Platz das geweihte Leben in eurer Kirche einnimmt. Möge das Leben nach den evangelischen Räten der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ein Zeugnis und ein Aufruf zur Heiligkeit für die heutige Welt sein! Mögen die Mitglieder der Institute des geweihten Lebens ihre Sendungen weiterhin durchführen können, insbesondere unter den Jugendlichen und unter den am meisten vernachlässigten Menschen in der Gesellschaft.

Zum Abschluß unserer Begegnung richte ich an Sie, Seligkeit, brüderliche Wünsche, auf daß der Heilige Geist Sie bei der Ausübung Ihres Amtes erleuchte, Ihnen in Schwierigkeiten Trost bringe und Ihnen die Freude bereite, Ihre Patriarchalkirche im Glaubenseifer und zahlenmäßig wachsen zu sehen. Zu Beginn Ihres Amtes möchte ich allen die Worte Christi an die Jünger wiederholen: »Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn euer Vater hat beschlossen, euch das Reich zu geben« (Lc 12,32). Während ich durch euch meine herzlichen Grüße an das ganze ägyptische Volk richte, vertraue ich euch alle der Fürbitte der Jungfrau Maria und aller koptischen Heiligen an. Von Herzen erteile ich euch sowie den Bischöfen und allen Gläubigen eures Patriarchats den Apostolischen Segen.

AN DIE TEILNEHMER AM INTERNATIONALEN

SYMPOSIUM DER VATIKANISCHEN MUSEEN Clementina-Saal

Samstag, 15. Dezember 2006




Herr Kardinal,
verehrte Mitbrüder im Bischofsamt,
meine Damen und Herren!

Es ist mir eine Ehre und eine Freude, heute eine so qualifizierte Vertretung der Verantwortlichen der bedeutendsten Museen der Welt zu empfangen. Jeden von Ihnen grüße ich von Herzen und bedanke mich für Ihren heutigen Besuch. Zunächst gilt mein Gruß dem Präsidenten des Governatorats des Staates der Vatikanstadt, Erzbischof Giovanni Lajolo, dem ich auch dafür danke, daß er die Gesinnung aller Anwesenden in Worte gefaßt hat. Ich grüße den Herrn Kardinal, die Bischöfe, Persönlichkeiten und Experten aller Kontinente. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Direktor der Vatikanischen Museen, seinen Mitarbeitern wie auch allen, die zur Vorbereitung und Organisation dieses Symposiums beigetragen haben, das ein reiches Veranstaltungsprogramm zum 500jährigen Jubiläum der Vatikanischen Museen abschließt. Die zahlreichen über das ganze Jahr verteilten Veranstaltungen wollten nicht nur Ereignisse aus der Vergangenheit in Erinnerung rufen, sondern den zahlreichen Besuchern, die täglich die Museen betreten, auch neue Möglichkeiten zur Vertiefung bieten. Auf diese Weise wurde deutlich, welch großes Interesse ein so verschiedene Zeiträume der Geschichte umfassendes Museum hervorruft.

Deshalb beglückwünsche ich Sie zu diesem Symposium, dessen Aufmerksamkeit einem zweifellos interessanten Thema gilt: Identität und Rolle des Museums heute und seine Perspektiven für die Zukunft. Gerade weil der Kongreß einer Untersuchung der Funktion und der Ziele der Institution »Museum« in der heutigen Gesellschaft gewidmet ist, hat die Initiative nicht nur eine Reihe von Expertenbeiträgen vorgesehen. Vielmehr sollte durch theoretische Studien, besondere Vorträge, Erfahrungsberichte und einen offenen Dialog ein Gedankenaustausch stattfinden, um Elemente hervortreten zu lassen, die es ermöglichen, die Funktion des Museums, die wir »erzieherisch« nennen könnten, im Kontext der heutigen globalisierten Gesellschaft besser zu veranschaulichen. Die Kirche unterstützt und fördert von jeher die Welt der Kunst, deren Sprache sie als vorzügliches Instrument menschlicher und spiritueller Entwicklung betrachtet. Auch bei dieser Gelegenheit lohnt es sich, an die Inschrift zu erinnern, die mein verehrter Vorgänger Benedikt XIV. am Eingang des christlichen Museums anbringen ließ: »Ad augendum Urbis splendorem et asserendam religionis veritatem – den Glanz der Stadt Rom zu mehren und die Wahrheit der christlichen Religion zu bezeugen«.

Die langjährige Entwicklung der Vatikanischen Museen beweist, daß der Einsatz der Päpste stets auch diesen Zielen galt. Bei dem Empfang für das Personal dieser bedeutenden Institution im vergangenen Monat habe ich darauf hingewiesen, daß in ihren »genetischen Code« folgende Wahrheit eingeschrieben ist: die hohe Kultur der klassischen Antike und die jüdischchristliche Kultur stehen nicht im Widerspruch zueinander, sondern konvergieren in dem einen Plan Gottes. Ferner sagte ich, daß es sich dabei um eine dem gesamten Museum eigene Logik handelt, das aus dieser Sicht in der komplexen Gliederung seiner Abteilungen wahrhaft als ein einheitliches Ganzes erscheint. Letztlich könnte man sagen, daß die Vatikanischen Museen eine außerordentliche Evangelisierungsmöglichkeit darstellen, da sie durch die verschiedenen ausgestellten Werke dem Besucher ein bedeutungsvolles Zeugnis der beständigen Verflechtung von Göttlichem und Menschlichem im Leben und in der Geschichte der Völker bieten. Die große Anzahl von Menschen, die sie jeden Tag besuchen, beweist das wachsende Interesse für diese Meisterwerke der Kunst und die Zeugnisse der Geschichte, die eine wunderbare Synthese von Evangelium und Kultur bilden.

Gerade die Erfahrung der Vatikanischen Museen zeigt, wie angebracht die Entscheidung der Organisatoren des Symposiums ist, sich nicht auf die Analyse der Museen in ihrer gegenwärtigen Struktur zu beschränken. Sie haben die Teilnehmer aufgefordert, sich vielmehr zu fragen, welche Rolle die Museen in Zukunft haben könnten, welche Funktion sie in der heutigen Zeit haben sollen, die von schnellem gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet ist und in der das Kommunikationsnetz das gesamte Gefüge der Menschheit durchzieht und ihm Impulse verleiht. Wie im Laufe der Arbeiten festgestellt wurde, hat sich die Funktion des Museums heute zweifellos merklich gewandelt: das einstige Privileg ist heute zu einem Recht geworden; das allein Künstlern, Fachleuten und kulturellen Kreisen vorbehaltene Zentrum ist in unserer heutigen Zeit mehr und mehr zum »Haus« aller geworden, das auf diese Weise einem verbreiteten Bildungsbedürfnis der Gesellschaft entspricht. Ganz besondere Aufmerksamkeit richtet sich berechtigterweise auf die jungen Generationen, die in den Museen die Wurzeln ihrer Geschichte und Kultur erkennen können. Zweifellos soll jede Gelegenheit zur Förderung der Integration und Begegnung zwischen den Menschen und den Völkern genutzt werden. Unter Berücksichtigung der veränderten sozialen Bedingungen kann in dieser Hinsicht auch das Museum ein Ort zur Vermittlung der Kunst, ein Verbindungsglied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kreuzungspunkt für Menschen aus den verschiedenen Kontinenten sowie ein Ort der Suche und der kulturellen und spirituellen Bereicherung sein. Der gottlob stets intensiver erhoffte Dialog zwischen den Kulturen und Religionen wird das gegenseitige Kennenlernen unterstützen und den Einsatz für den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft der Solidarität, des Fortschritts und des Friedens für die ganze Menschheit fördern. Die Museen können zur Verbreitung der Kultur des Friedens beitragen, wenn sie über die Bewahrung ihres Wesens als Stätten des historischen Gedächtnisses hinaus auch Orte des Dialogs und der Freundschaft aller Menschen sind.

Verehrte Damen und Herrn, jedem von Ihnen möchte ich nochmals für den heutigen Besuch herzlich danken und dem Wunsch Ausdruck geben, daß durch Ihre tägliche Arbeit den kommenden Generationen die Liebe zu jener Schönheit vermittelt werden möge, die, wie Dostojewski schreibt, »die Welt retten wird« (Der Idiot). Mit diesen Empfindungen und meinen besten Wünschen für das kommende Weihnachtsfest rufe ich auf Sie alle und Ihre Familien den reichen Segen Gottes herab.
91

AN EINE DELEGATION DES "B'NAI B'RITH INTERNATIONAL" Montag, 18. Dezember 2006



Liebe Freunde!

Mit Freude begrüße ich diese Delegation des »B’nai B’rith International« anläßlich Ihres Besuches im Vatikan. Seit der 1965 erfolgten Verkündung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra Aetate haben Verantwortungsträger des »B’nai B’rith« den Heiligen Stuhl bei vielen Gelegenheiten besucht. Im Geiste der Verständigung, der Achtung und der gegenseitigen Wertschätzung, der sich zwischen unseren Gemeinschaften entwickelt, heiße ich Sie heute willkommen und durch Sie all jene, die Sie vertreten.

Vieles ist in den vergangenen vier Jahrzehnten jüdisch-katholischer Beziehungen erreicht worden, und wir müssen Gott für die beachtliche Wandlung danken, die auf der Grundlage unseres gemeinsamen geistlichen Erbes stattgefunden hat. Es ist dieses reiche Erbe des Glaubens, das unsere Gemeinschaften nicht nur befähigt, einen Dialog aufzunehmen, sondern auch, partnerschaftlich für das Wohl der Menschheitsfamilie zusammenzuarbeiten. Unsere mit Problemen belastete Welt braucht das Zeugnis von Menschen guten Willens, das inspiriert ist von der Wahrheit, die auf der ersten Seite der Heiligen Schrift offenbart wird: daß alle Männer und Frauen als Abbild Gottes geschaffen sind (vgl. Gen 1,26–27) und daher unveräußerliche Würde und Wert besitzen.

Juden und Christen sind berufen, sich gemeinsam für die Heilung der Welt einzusetzen durch die Förderung der geistlichen und sittlichen Werte, die auf unseren Glaubensüberzeugungen gründen. Wenn wir ein klares Beispiel fruchtbarer Zusammenarbeit geben, dann wird unsere Stimme bei der Antwort auf die Nöte der Menschheitsfamilie um so überzeugender sein.

Anläßlich Ihres Besuches bringe ich erneut meine feste Hoffnung und mein Gebet für den Frieden im Heiligen Land zum Ausdruck. Frieden kann nur dann entstehen, wenn er das gemeinsame Bestreben von Juden, Christen und Muslimen ist, das ausgedrückt wird in einem wahren interreligiösen Dialog und konkreten Gesten der Versöhnung. Alle Gläubigen sind aufgefordert zu zeigen, daß nicht Haß und Gewalt, sondern gegenseitiges Verstehen und friedliche Zusammenarbeit die Tür öffnen werden zu jener Zukunft der Gerechtigkeit und des Friedens, die Gottes Verheißung und Geschenk ist.

In dieser heiligen Zeit rufe ich von Herzen auf Sie und Ihre Familien Gottes reichen Segen herab. Shalom alechem!
92

AN DIE KINDER- UND JUGENDSEKTION DER

KATHOLISCHEN AKTION ITALIENS (ACR) Donnerstag, 21. Dezember 2006



Liebe Mädchen und Jungen der Katholischen Aktion Italiens!

Auch in diesem Jahr wolltet ihr unmittelbar vor dem Weihnachtsfest dem Papst einen Besuch abstatten. Von Herzen heiße ich euch willkommen und danke euch für eure Gegenwart, die wie immer Freude und Begeisterung mit sich bringt. Durch euch grüße ich die Jugendlichen der ACR (Jugendorganisation der Katholischen Aktion Italiens), die in allen italienischen Diözesen vertreten sind und in deren Namen ihr hier seid. Herzlich grüße ich euren Generalassistenten Msgr. Francesco Lambiasi und den Präsidenten Prof. Luigi Alici zusammen mit all euren Erziehern.

Ihr habt mir gesagt, daß eure Ausbildung in diesem Jahr »auf dem Weg der Schönheit die Suche nach der Wahrheit« verfolgt. Dafür habt ihr ein einfaches und wirkungsvolles Motto gewählt: »Bello, vero! – Schön, wahr!« Weihnachten ist das große Geheimnis der Wahrheit und der Schönheit Gottes, der für das Heil aller in unsere Mitte kommt. Die Geburt Jesu ist kein Märchen, sondern ein Ereignis, das vor 2000 Jahren in Betlehem wirklich stattgefunden hat. Der Glaube läßt uns in diesem kleinen Kind, geboren von der Jungfrau Maria, den wahren Sohn Gottes erkennen, der aus Liebe zu uns Mensch geworden ist. »Re del cielo, viene in una grotta al freddo e al gelo«, [König des Himmels, der in einer kalten und eisigen Grotte zur Welt kommt], so heißt es in dem weltbekannten Weihnachtslied »Tu scendi dalle stelle« [Du steigst von den Sternen herab].

Im Antlitz des kleinen Jesus betrachten wir das Angesicht Gottes, der sich nicht durch Stärke oder Macht offenbart, sondern vielmehr in der Schwäche und in der zarten Konstitution eines Kindes. Dieses »göttliche Kind«, das Maria mit mütterlicher Fürsorge in Windeln gewickelt in eine Krippe legte, offenbart die ganze Güte und die unendliche Schönheit Gottes. Es zeigt die Treue und die Zärtlichkeit der grenzenlosen Liebe, mit der Gott jeden von uns umgibt. Deshalb feiern wir Weihnachten und machen erneut die gleiche Erfahrung wie die Hirten von Betlehem. Zusammen mit vielen Vätern und Müttern, die jeden Tag Mühen und Opfer auf sich nehmen, zusammen mit den Schwachen, den Kranken und den Armen feiern wir ein Fest, denn mit der Geburt Jesu hat der himmlische Vater auf die in unseren Herzen vorhandene Sehnsucht nach Wahrheit, Vergebung und Frieden geantwortet. Und er hat geantwortet mit einer so großen Liebe, die uns in Erstaunen versetzt: Niemand hätte sie sich vorstellen können, wenn Jesus sie uns nicht offenbart hätte!

Das Staunen, das wir angesichts des weihnachtlichen Wunders empfinden, spiegelt sich in gewisser Weise im wunderbaren Ereignis jeder Geburt wider und es lädt uns ein, das Jesuskind in allen Kindern zu erkennen, die die Freude der Kirche und die Hoffnung der Welt sind. Das Neugeborene, das in Betlehem zur Welt kommt, ist der gleiche Jesus, der durch die Straßen Galiläas ging und sein Leben für uns am Kreuz geopfert hat; es ist der Jesus, der auferstanden ist und nach seiner Himmelfahrt in der Kraft seines Geistes seine Kirche weiterhin führt. Das ist die schöne und große Wahrheit unseres christlichen Glaubens!

Liebe Kinder und Jugendliche der Katholischen Aktion! Der Papst liebt euch, er vertraut euch und überträgt euch heute die Aufgabe, Freunde und Zeugen Jesu zu sein, der in Betlehem in unsere Mitte gekommen ist. Ist es etwa nicht schön, ihn unter euren Freunden, in den Städten, in den Pfarrgemeinden und in euren Familien stets besser bekannt zu machen? Die Kirche braucht euch, um allen Kindern und Jugendlichen, die in Italien leben, nahe zu sein. Gebt Zeugnis davon, daß Jesus eure Freude nicht mindert, sondern euch vielmehr menschlicher, wahrer, schöner werden läßt. Nochmals vielen Dank für euren Besuch. Von Herzen segne ich euch und eure Lieben, eure Erzieher, die Assistenten und alle Freunde der Jugendsektion der Katholischen Aktion. Frohe Weihnachten!
93

AN DAS KARDINALSKOLLEGIUM UND DIE MITGLIEDER

DER RÖMISCHEN KURIE BEIM WEIHNACHTSEMPFANG Freitag, 22. Dezember 2006



Meine Herren Kardinäle,
verehrte Mitbrüder im Bischofs- und im Priesteramt,
liebe Brüder!

Mit großer Freude begegne ich Ihnen heute und richte an jeden meinen herzlichen Gruß. Ich danke Ihnen, daß Sie zu diesem traditionellen vorweihnachtlichen Treffen gekommen sind. Im besonderen danke ich Kardinal Angelo Sodano für seine Worte, mit denen er, ausgehend von dem zentralen Thema der Enzyklika Deus caritas est, die Gesinnung aller Anwesenden zum Ausdruck gebracht hat. Bei dieser bedeutsamen Gelegenheit möchte ich ihm erneut meine Dankbarkeit ausdrücken für den Dienst, den er so viele Jahre lang - vor allem als Staatssekretär - dem Papst und dem Heiligen Stuhl geleistet hat. Ich bitte den Herrn, ihm das Gute zu lohnen, das er mit seiner Weisheit und seinem Eifer für die Sendung der Kirche vollbracht hat. Zugleich möchte ich einen erneuten besonderen Glückwunsch an Kardinal Tarcisio Bertone richten für die neue Aufgabe, die ich ihm übertragen habe. Gerne dehne ich diese meine guten Wünsche auf alle aus, die im Laufe dieses Jahres in den Dienst der Römische Kurie oder des Governatoratos eingetreten sind, während wir mit Liebe und Dankbarkeit derer gedenken, die der Herr aus diesem Leben zu sich gerufen hat.

Das Jahr, das sich dem Ende zuneigt – Sie haben es schon gesagt, Eminenz –, bleibt in unserem Erinnern tief geprägt durch die Schrecknisse des Krieges im Umkreis des Heiligen Landes wie ganz allgemein durch die Gefahr eines Zusammenstoßes von Kulturen und Religionen, die als Drohung über unserer geschichtlichen Stunde steht. Die Frage nach den Wegen zum Frieden ist so zu einer vordringlichen Herausforderung geworden für alle, die sich um den Menschen sorgen. Sie geht in besonderer Weise die Kirche an, für die die Verheißung, die über ihrem Beginn stand, Verantwortung und Aufgabe zugleich bedeutet: Herrlichkeit für Gott in der Höhe und Friede für die Menschen auf Erden, die in seinem Wohlgefallen stehen (Lc 2,14).

Dieses Grußwort des Engels an die Hirten in der Nacht der Geburt Jesu zu Bethlehem weist auf einen unlöslichen Zusammenhang zwischen dem Verhältnis der Menschen zu Gott und ihrem Verhältnis untereinander hin. Der Friede auf Erden kann nicht gefunden werden ohne die Versöhnung mit Gott, ohne den Einklang zwischen Himmel und Erde. Diese Zusammengehörigkeit des Themas „Gott“ und des Themas „Friede“ war der bestimmende Gesichtspunkt bei den vier Apostolischen Reisen dieses Jahres, auf die ich in dieser Stunde noch einmal zurückblicken möchte. Da war zunächst der Pastoralbesuch in Polen, in dem Geburtsland unseres geliebten Papstes Johannes’ Pauls II. Die Reise in seine Heimat war für mich eine innere Pflicht des Dankes für alles, was er mir persönlich und vor allem für das, was er der Kirche und der Welt im Vierteljahrhundert seines Dienstes geschenkt hat. Sein größtes Geschenk an uns alle war sein unerschütterlicher Glaube und die Radikalität seiner Hingabe. „Totus tuus“ hieß sein Wahlspruch, in dem sich sein ganzes Wesen spiegelte. Ja, er war uneingeschränkt hingegeben an Gott, an Christus, an die Mutter Christi, an die Kirche, an den Dienst für den Erlöser und die Erlösung des Menschen. Er hat nichts ausgespart, sich von der Flamme des Glaubens bis auf den Grund verzehren lassen. Er hat uns gezeigt, wie man als Mensch dieses unseres Heute an Gott glauben kann, an den lebendigen, in Christus uns nahe gewordenen Gott. Er hat uns gezeigt, daß endgültige und radikale Hingabe des ganzen Lebens möglich ist und daß gerade im Sich-Geben das Leben groß und weit und fruchtbar wird. In Polen habe ich überall, wo ich hinging, die Freude des Glaubens vorgefunden. „Die Freude am Herrn ist eure Stärke“ – dieses Wort, das der Schriftgelehrte Esra dem gerade aus dem Exil heimgekehrten Israel mitten in der Armseligkeit seines Neubeginns zugerufen hat (Ne 8,10), - es war hier als Wirklichkeit zu erleben. Zutiefst beeindruckt bin ich geblieben von der großen Herzlichkeit, mit der ich allerorten empfangen worden bin. Die Menschen sahen in mir den Nachfolger Petri, dem der Hirtendienst für die ganze Kirche aufgetragen ist. Sie sahen denjenigen, dem in aller menschlichen Schwachheit heute wie damals das Wort des auferstandenen Herrn gilt: „Weide meine Schafe“ (Jn 21,15 – 19); den Nachfolger dessen, zu dem Jesus bei Caesarea Philippi sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18). Petrus war aus Eigenem kein Fels, sondern ein schwacher und schwankender Mensch. Aber der Herr wollte gerade ihn zum Felsen machen und zeigen, daß er selber durch einen schwachen Menschen hindurch seine Kirche unerschütterlich trägt und in der Einheit erhält. So ist der Besuch in Polen für mich im tiefsten ein Fest der Katholizität gewesen. Christus ist unser Friede, der die Getrennten zusammenfügt; er ist die Versöhnung über alle Verschiedenheit der geschichtlichen Zeiten und der Kulturen hin. Durch den Petrusdienst erleben wir diese vereinigende Kraft des Glaubens, der immer wieder in den vielen Völkern das eine Volk Gottes aufbaut. Wir haben es mit Freuden wirklich erfahren, daß wir aus vielen Völkern das eine Volk Gottes, seine heilige Kirche sind. Dafür darf der Petrusdienst als sichtbares Zeichen stehen, das diese Universalität verbürgt und konkrete Einheit gestaltet. Für diese bewegende Erfahrung der Katholizität möchte ich der Kirche in Polen noch einmal ausdrücklich und herzlich danken.

Bei meinen Wegen durch Polen konnte der Besuch in Auschwitz-Birkenau nicht fehlen, an der Stätte der grausamsten Unmenschlichkeit – des Versuchs, das Volk Israel auszulöschen und so auch die Erwählung Gottes zuschanden zu machen, Gott selbst aus der Geschichte zu verbannen. Es war für mich ein großer Trost, als am Himmel ein Regenbogen erschien, während ich in der Gebärde des Ijob zu Gott rief angesichts des Grauens dieser Stätte, im Schrecken über die scheinbare Abwesenheit Gottes und zugleich in der Gewißheit, daß er auch in seinem Schweigen nicht aufhört, bei uns zu sein und zu bleiben. Der Regenbogen war wie eine Antwort: Ja, ich bin da, und die Worte der Verheißung, des Bundes, die ich nach der Sintflut gesprochen habe, gelten auch heute (vgl. Gen Gn 9,12 – 17).

Die Reise nach Spanien – Valencia – stand ganz im Zeichen des Themas „Ehe und Familie“. Es war schön, vor der Versammlung von Menschen aus allen Kontinenten das Zeugnis von Ehepaaren zu vernehmen, die – mit einer großen Schar von Kindern gesegnet – vor uns hintraten und von ihrem Weg im Sakrament der Ehe und als kinderreiche Familien sprachen. Sie haben nicht verheimlicht, daß es auch schwere Tage gab, daß sie Zeiten der Krise durchschreiten mußten. Aber gerade in der Mühe des täglichen Einander-Ertragens, gerade im Erleiden der Mühsal, sich immer neu anzunehmen und das Ja des Anfangs durchzuleben und durchzuleiden – gerade in diesem Weg des „Sich-Verlierens“ im Sinne des Evangeliums waren sie gereift, hatten sie sich selbst gefunden und waren glücklich geworden. Das Ja zueinander, das sie sich gegeben hatten, war in der Geduld des Weges und in der Kraft des Sakramentes, durch das Christus sie aneinander band, zu einem großen Ja zu sich selbst, zu den Kindern, zum Schöpfergott und zum Erlöser Jesus Christus geworden. So kam vom Zeugnis dieser Familien her eine Welle der Freude zu uns – nicht einer oberflächlichen und billigen Fröhlichkeit, die schnell zerrinnt, sondern einer auch im Leiden gereiften Freude, die in die Tiefe geht und den Menschen wirklich erlöst. Angesichts dieser Familien mit den Kindern, in denen sich die Generationen die Hände geben und Zukunft Gegenwart ist, ist mir die Frage nach Europa in die Seele gedrungen, das anscheinend kaum noch Kinder will. Für den Außenstehenden scheint es müde zu sein, ja, sich selbst von der Geschichte verabschieden zu wollen. Warum ist das so? Das ist die große Frage. Die Antworten darauf müssen sicher sehr vielschichtig sein. Bevor solche Antworten versucht werden, ist zuallererst der Dank an die vielen Ehepaare nötig, die auch heute, in unserem Europa, Ja sagen zum Kind und die die Mühen auf sich nehmen, die damit verbunden sind: die sozialen und die finanziellen Probleme wie die Sorgen und Mühen Tag um Tag; die Hingabe, die nötig ist, um den Kindern den Weg in die Zukunft zu öffnen. Mit dem Andeuten dieser Mühsale zeigen sich wohl auch die Gründe, warum das Wagnis des Kindes so vielen zu groß erscheint. Das Kind braucht Zuwendung. Das bedeutet: Wir müssen ihm etwas von unserer Zeit geben, Zeit unseres Lebens. Aber gerade dieser wesentliche „Rohstoff“ des Lebens – die Zeit – scheint immer knapper zu werden. Die Zeit, die wir haben, reicht kaum aus für das eigene Leben; wie sollten wir sie abtreten, sie jemand anderem geben? Zeit haben und Zeit geben – das ist eine ganz praktische Weise, wie wir erlernen müssen, uns selber zu geben, uns zu verlieren, um uns zu finden. Dazu kommt das schwierige Kalkül: Welche Vorgaben des rechten Weges sind wir dem Kind schuldig, und wie müssen wir dabei seine Freiheit achten? Das Problem ist auch deshalb so schwierig geworden, weil wir der Vorgaben nicht mehr sicher sind; weil wir nicht mehr wissen, was der rechte Gebrauch der Freiheit, was die rechte Weise des Lebens, was das sittlich Gebotene und das Unzulässige ist. Der moderne Geist ist orientierungslos geworden, und diese eigene Orientierungslosigkeit hindert uns, anderen Wegweiser zu sein. Ja, die Problematik reicht noch tiefer. Der Mensch von heute ist der Zukunft unsicher. Kann man jemand in diese unbekannte Zukunft hineinschicken? Ist es überhaupt gut, ein Mensch zu sein? Diese tiefe Unsicherheit über den Menschen selbst ist – neben dem Willen, das Leben ganz für sich zu haben – wohl der tiefste Grund, warum das Wagnis des Kindes vielen kaum noch vertretbar scheint. In der Tat, das Leben können wir verantwortungsvoll nur weitergeben, wenn wir mehr zu geben vermögen als das bloß biologische Leben – einen Sinn, der auch in den Krisen der kommenden Geschichte trägt und eine Gewißheit der Hoffnung, die stärker ist als die Wolken, die über der Zukunft stehen. Wenn wir nicht neu die Gründe des Lebens erlernen – wenn wir nicht die Gewißheit des Glaubens neu finden – dann werden wir auch immer weniger den anderen die Gabe des Lebens und den Auftrag der unbekannten Zukunft anvertrauen können. Damit hängt schließlich noch das Problem endgültiger Entscheidungen zusammen: Kann der Mensch sich für immer binden? Kann er ein Ja auf Lebenszeit sagen? Ja, er kann es. Er ist dazu geschaffen. Gerade so verwirklicht sich des Menschen Freiheit, und so entsteht auch der heilige Raum der Ehe, die zur Familie wächst und Zukunft baut.

An dieser Stelle kann ich meine Beunruhigung über die Gesetze bezüglich der De-facto-Partnerschaften nicht verschweigen. Ein Großteil dieser Paare hat diesen Weg gewählt, weil sie sich – jedenfalls im Augenblick – nicht imstande fühlen, die rechtlich geordnete und bindende Gemeinschaft der Ehe anzunehmen. So ziehen sie es vor, im bloßen Faktum zu bleiben. Wenn nun eine neue Art von Rechtsform geschaffen und damit die Ehe relativiert wird, erhält der Verzicht auf die endgültige Bindung sozusagen ein rechtliches Siegel. Das Sich-Entscheiden wird dann für die, die darum ringen, noch schwieriger. Dazu kommt die Relativierung der Geschlechter-Differenz bei dieser anderen Form der Partnerschaft. Es ist nun gleich, ob es sich um das Miteinander von Mann und Frau oder um gleichgeschlechtliche Verbindungen handelt. Damit wird im stillen jenen verhängnisvollen Theorien recht gegeben, die das Mann-Sein und Frau-Sein des Menschen als bloße Biologie abqualifizieren; die uns sagen, der Mensch – das heißt sein Intellekt und sein Wille – entscheide selbst, was er sei oder nicht sei. Das ist eine Verhöhnung der Leiblichkeit, in der der Mensch sich von seinem Leib – von der „biologischen Sphäre“ – emanzipieren will und sich dabei nur selbst zerstören kann. Wenn man uns sagt, die Kirche dürfe sich da nicht einmischen, dann können wir nur antworten: Geht uns etwa der Mensch nichts an? Haben die Gläubigen von der großen Kultur ihres Glaubens her kein Recht, da mitzureden? Ist es nicht vielmehr ihre, unsere Pflicht, da die Stimme zu erheben und den Menschen, jenes Geschöpf zu verteidigen, das gerade in der Untrennbarkeit von Leib und Seele Gottes Ebenbild ist? Die Reise nach Valencia ist mir zu einer Reise nach der Frage des Menschseins geworden.

Fahren wir im Geiste weiter nach Bayern – München, Altötting, Regensburg, Freising. Dort habe ich unvergeßlich schöne Tage der Begegnung mit dem Glauben und den Gläubigen meiner Heimat erleben dürfen. Das große Thema meiner Deutschland-Reise war Gott. Die Kirche muß über vieles sprechen – über all die Fragen des Menschseins, über ihre eigene Gestalt und Ordnung usw. Aber ihr eigentliches und in gewisser Hinsicht einziges Thema ist „Gott“. Und das große Problem der westlichen Welt ist die sich ausbreitende Gott-Vergessenheit. Im letzten lassen sich – davon bin ich überzeugt – alle Einzelprobleme auf diese Frage zurückführen. Darum ging es mir in dieser Reise vor allem darum, das Thema „Gott“ groß herauszustellen, auch eingedenk der Tatsache, daß in manchen Teilen Deutschlands eine Mehrheit von Ungetauften lebt, für die das Christentum und der Gott des Glaubens der Vergangenheit anzugehören scheinen. Von Gott sprechend sind wir auch genau bei dem, worum es Jesus in seiner irdischen Verkündigung zentral gegangen ist. Das Grundthema seiner Verkündigung ist die Herrschaft Gottes, das „Reich Gottes“. Damit ist nicht etwas irgendwann in einer unbestimmten Zukunft Kommendes gemeint. Damit ist auch nicht die bessere Welt gemeint, die wir allmählich durch unsere eigene Kraft zu schaffen versuchen. In dem Wort „Reich Gottes“ ist das Wort „Gott“ ein sogenannter Genitiv des Subjekts. Das bedeutet: Gott ist nicht eine Zutat zum „Reich“, die man vielleicht auch weglassen könnte. Gott ist das Subjekt. „Reich Gottes“ heißt in Wirklichkeit: Gott herrscht. Er selbst ist da und ist bestimmend für die Menschen in der Welt. Er ist das Subjekt, und wo dieses Subjekt fehlt, bleibt nichts von der Botschaft Jesu übrig. Darum sagt uns Jesus: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man sich sozusagen daneben stellen und bei seinem Kommen zuschauen kann. „Es ist mitten unter euch“ (vgl. Lk Lc 17, 20f). Es wird da, wo Gottes Wille geschieht. Es ist da, wo Menschen sich seiner Ankunft öffnen und damit Gott in die Welt einlassen. Darum ist Jesus das Reich Gottes in Person: der Mensch, in dem Gott in unserer Mitte ist und durch den wir Gott anrühren, in die Nähe Gottes kommen können. Wo dies geschieht, wird die Welt heil.

Mit dem Thema „Gott“ waren und sind zwei Themen verknüpft, die die Tage des Besuchs in Bayern prägten: das Thema „Priestertum“ und das Thema „Dialog“. Paulus nennt den Timotheus und in ihm den Bischof und Priester überhaupt einen „Gottesmenschen“ (1Tm 6,11). Dies ist die zentrale Aufgabe des Priesters: Gott zu den Menschen zu bringen. Das kann er freilich nur, wenn er selbst von Gott her kommt, mit Gott und von Gott her lebt. Wunderbar ist das ausgedrückt in dem Vers eines Priester-Psalms, den wir – die alte Generation – bei der Aufnahme in den Klerikerstand gesprochen haben: „Du, Herr, bist mein Erbe und reichst mir den Becher; du hältst mein Los in deinen Händen“ (Ps 15 [16], 5). Der priesterliche Beter dieses Psalms deutet seine Existenz von der im Deuteronomium (10, 9) festgelegten Form der Landverteilung her. Jeder Stamm erhält nach der Landnahme durch das Los seinen Teil am heiligen Land und bekommt damit Anteil an der dem Stammvater Abraham verheißenen Gabe. Nur der Stamm Levi erhält kein Land: Sein Land ist Gott selbst. Diese Aussage hatte gewiß eine ganz praktische Bedeutung. Die Priester lebten nicht wie die anderen Stämme vom Bebauen des Landes, sondern von den Opfergaben. Aber die Aussage reicht doch viel tiefer. Der eigentliche Lebensgrund des Priesters, der Boden seiner Existenz, das Land seines Lebens, ist Gott selbst. Die Kirche hat in dieser alttestamentlichen Deutung priesterlicher Existenz, die auch im Psalm 118 (119) immer wieder aufscheint, mit Recht die Interpretation dafür gefunden, was priesterliche Sendung in der Nachfolge der Apostel, in der Gemeinschaft mit Jesus Christus selbst bedeutet. Der Priester kann und muß auch heute mit dem Leviten sagen: Dominus pars heriditatis meae et calicis mei. Gott selbst ist mein Anteil am Land, der äußere und innere Grund meiner Existenz. Diese Theozentrik der priesterlichen Existenz ist gerade in unserer ganz funktionalistischen Welt nötig, in der alles auf errechenbaren und greifbaren Leistungen beruht. Der Priester muß wirklich Gott von innen her kennen und ihn so zu den Menschen bringen: Das ist der allererste Dienst, den die Menschheit heute braucht. Wenn in einem priesterlichen Leben diese Zentralität Gottes verlorengeht, dann wird auch der Eifer des Tuns allmählich leer. Im Übermaß des Äußeren fehlt die Mitte, die allem Sinn gibt und es zur Einheit fügt. Da fehlt der Lebensgrund, das „Land“, auf dem dies alles stehen und gedeihen kann.

Der Zölibat, die Ehelosigkeit der Priester, die in der ganzen Kirche aus Ost und West für die Bischöfe und gemäß einer bis nah an die Apostelzeit heranreichenden Tradition in der lateinischen Kirche für die Priester überhaupt gilt, kann letztlich nur von hier aus verstanden und gelebt werden. Die bloß pragmatischen Begründungen, der Hinweis auf die größere Verfügbarkeit reichen nicht aus: Solches Verfügen über die Zeit könnte leicht auch zum Egoismus werden, der sich die Opfer und Mühsale erspart, die das tägliche Einander-Annehmen und Ertragen in Ehe und Familie verlangt; es würde dann zu geistlicher Verarmung oder zu seelischer Härte führen. Der wirkliche Grund für den Zölibat kann nur in dem Satz liegen: Dominus pars – Du bist mein Land. Er kann nur theozentrisch sein. Er kann nicht bedeuten, der Liebe leer zu bleiben, sondern muß bedeuten, sich von der Leidenschaft für Gott ergreifen zu lassen und im innersten Sein mit ihm dann zugleich den Menschen dienen zu lernen. Zölibat muß ein Zeugnis des Glaubens sein: Glaube an Gott wird konkret in der Lebensform, die nur von Gott her Sinn hat. Das Leben auf ihn setzen, unter Verzicht auf Ehe und Familie, das sagt aus, daß ich Gott als Wirklichkeit annehme und erfahre und ihn deshalb zu den Menschen bringen kann. Unsere ganz positivisitisch gewordene Welt, in der Gott allenfalls als Hypothese, aber nicht als praktische Wirklichkeit ins Spiel kommt, braucht dieses Setzen auf Gott in der konkretesten und radikalsten Weise, die möglich ist. Sie braucht das Gotteszeugnis des Entscheids, Gott als Boden des eigenen Lebens anzunehmen. Darum ist der Zölibat gerade heute in unserer gegenwärtigen Welt wichtig, auch wenn seine Erfüllung in unserer Gegenwart immerfort bedroht und gefährdet ist. Es bedarf sorgfältiger Vorbereitung auf dem Weg dahin; immerwährender Wegbegleitung durch den Bischof, die priesterlichen Freunde und durch Laien, die dieses priesterliche Zeugnis mittragen. Es bedarf des Gebetes, das Gott immerfort als den lebendigen Gott ruft und sich an ihn in Stunden der Verwirrung wie in Stunden der Freude hält. So kann gegen den kulturellen Trend, der uns unsere Fähigkeit zu solchen Entscheidungen ausreden will, dieses Zeugnis gelebt und damit Gott als Realität in unserer Welt ins Spiel gebracht werden.

Das andere große Thema, das mit dem Thema „Gott“ verbunden ist, lautet „Dialog“. Der innere Ring des heute nötigen vielschichtigen Dialogs, das gemeinsame Mühen aller Christen um Einheit, wurde in der ökumenischen Vesper im Regensburger Dom sichtbar, bei der ich neben den Brüdern und Schwestern der katholischen Kirche vielen Freunden aus der Orthodoxie und aus der evangelischen Christenheit begegnen durfte. Im Psalmengebet und im Hören auf Gottes Wort waren wir dort alle vereinigt, und es ist nichts Geringes, daß uns diese Einheit geschenkt ist. Die Begegnung mit der Universität war – wie es sich an diesem Ort ziemt – dem Dialog zwischen Glaube und Vernunft gewidmet. Bei meiner Begegnung mit dem Philosophen Jürgen Habermas vor einigen Jahren in München hatte dieser geäußert, es seien Denker notwendig, die die im christlichen Glauben verschlüsselten Einsichten in die Sprache der säkularen Welt zu übersetzen vermöchten, um sie so auf neue Weise zur Wirkung zu bringen. In der Tat wird immer offenkundiger, wie dringend die Welt des Dialogs zwischen Glaube und Vernunft bedarf. Immanuel Kant hatte seinerzeit das Wesen der Aufklärung in dem Spruch „sapere aude“ ausgesprochen gesehen: als den Mut des Denkens, das sich durch keine Vorurteile beirren läßt. Nun, das Erkennen des Menschen, seine Beherrschung der Materie durch die Kraft des Erkennens hat inzwischen Fortschritte gemacht, die man sich ehedem nicht hätte vorstellen können. Aber die Macht des Menschen, die ihm von der Wissenschaft her zugewachsen ist, wird immer mehr zu einer Gefahr, die ihn selbst und die Welt bedroht. Die ganz auf das Beherrschen der Welt gerichtete Vernunft akzeptiert keine Grenzen mehr. Sie ist dabei, den Menschen selbst nur noch als Materie ihres Produzierens und Könnens zu behandeln. Unser Erkennen wächst, aber zugleich gibt es eine Erblindung der Vernunft für ihre eigenen Gründe; für die Maßstäbe, die ihr Richtung und Sinn geben. Der Glaube an den Gott, der selbst die schöpferische Vernunft des Ganzen ist, muß von der Wissenschaft neu als Herausforderung und als Chance angenommen werden. Umgekehrt muß dieser Glaube seine innere Weite und seine eigene Vernunft neu erkennen. Die Vernunft braucht den Logos, der am Anfang steht und unser Licht ist; der Glaube seinerseits braucht das Gespräch mit der modernen Vernunft, damit er seine Größe wahrnimmt und seiner Verantwortung gerecht wird. Das habe ich in der Regensburger Vorlesung zu zeigen versucht. Es ist eine Frage, die beileibe nicht nur akademischer Natur ist; in ihr geht es um unser aller Zukunft.

Der Dialog der Religionen war dabei nur am Rand zur Sprache gekommen und in einem zweifachen Sinn anvisiert. Die bloß säkulare Vernunft ist nicht imstande, in einen wirklichen Dialog mit den Religionen zu treten. Bleibt sie der Gottesfrage gegenüber verschlossen, so führt dies zum Zusammenstoß der Kulturen. Der andere Aspekt bestand in der Aussage, daß die Religionen einander begegnen müssen in der gemeinsamen Aufgabe, im Dienst der Wahrheit und so des Menschen zu stehen. Der Besuch in der Türkei gab mir die Gelegenheit, die Ehrfurcht vor der islamischen Religion auch öffentlich darzustellen, die uns im übrigen vom II. Vatikanischen Konzil als verpflichtende Einsicht auf den Weg gegeben worden ist (vgl. Erkl. Nostra Aetate NAE 3). Ich möchte in diesem Augenblick noch einmal meine Dankbarkeit den Autoritäten der Türkei und dem türkischen Volk gegenüber ausdrücken, das mich mit so großer Gastfreundschaft aufgenommen und mir unvergeßliche Tage der Begegnung geschenkt hat. Bei einem verstärkt zu führenden Dialog mit dem Islam werden wir vor Augen halten müssen, daß die islamische Welt heute mit großer Dringlichkeit sich vor einer ganz ähnlichen Aufgabe findet, wie sie den Christen seit der Aufklärung auferlegt ist und vom II. Vatikanischen Konzil als Frucht eines langen Ringens für die katholische Kirche zu konkreten Lösungen geführt wurde. Es geht um die Stellung der Gemeinschaft der Glaubenden angesichts der Einsichten und Forderungen, die in der Aufklärung gewachsen sind. Einerseits gilt es, einer Diktatur der positivistischen Vernunft zu widersprechen, die Gott aus dem Leben der Gemeinschaft und aus den öffentlichen Ordnungen ausschließt und dabei den Menschen seiner Maßstäbe beraubt. Andererseits müssen die wahren Errungenschaften der Aufklärung, die Menschenrechte und dabei besonders die Freiheit des Glaubens und seiner Ausübung als wesentliche Elemente gerade auch für die Authentizität der Religion aufgenommen werden. Wie es in der christlichen Gemeinschaft ein langes Ringen um den rechten Standort des Glaubens diesen Einsichten gegenüber gab, das freilich nie ganz zu Ende ist, so steht auch die islamische Welt mit ihrer eigenen Überlieferung vor der großen Aufgabe, hier die angemessenen Lösungen zu finden. Inhalt des Dialogs von Christen und Muslimen wird es in diesem Augenblick vor allem sein müssen, sich in diesem Mühen zu begegnen und die rechten Lösungen zu finden. Die Gottvergessenheit des Westens dient heute gewissen Kräften in der islamischen Welt als Vorwand, Gewalt als Teil der Religion zu propagieren. Wir Christen wissen uns solidarisch mit all denen, die gerade von ihrer religiösen Überzeugung als Muslime her gegen die Gewalt und für das Miteinander von Glaube und Vernunft, von Religion und Freiheit eintreten. In diesem Sinn greifen die beiden Dialoge, von denen ich sprach, eng ineinander.

In Istanbul konnte ich schließlich in der Begegnung mit dem ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. noch einmal beglückende Stunden ökumenischer Nähe erleben. Patriarch Bartholomaios hat in diesen Tagen einen Brief an mich geschrieben, in dessen zutiefst von Herzen kommenden Worten der Dankbarkeit mir das Miteinander jener Tage noch einmal ganz gegenwärtig geworden ist. Wir haben es erlebt, daß wir nicht nur den Worten und der Geschichte nach, sondern von innen her Brüder sind; daß uns der gemeinsame Glaube der Apostel bis in unser persönliches Denken und Fühlen verbindet. Wir haben eine tiefe Einheit im Glauben erfahren und werden den Herrn noch inständiger bitten, daß er uns bald auch die volle Einheit im gemeinsamen Brotbrechen schenkt. Mein tiefer Dank und mein brüderliches Beten geht in dieser Stunde zu Patriarch Bartholomaios und zu seinen Gläubigen wie zu den verschiedenen christlichen Gemeinden, die ich in Istanbul treffen durfte. Wir hoffen und beten, daß die religiöse Freiheit, die dem inneren Wesen des Glaubens entspricht und in den Prinzipien der türkischen Verfassung anerkannt wird, immer mehr in den geeigneten rechtlichen Formen wie im Leben des Alltags für das Patriarchat und die übrigen christlichen Gemeinschaften praktische Verwirklichung findet.

Et erit iste pax – dieser wird der Friede sein, sagt der Prophet Micha (5, 4) über den künftigen Herrscher Israels, dessen Geburt in Bethlehem er ankündigt. Den Hirten, die auf den Feldern um Bethlehem ihre Schafe weideten, haben die Engel gesagt: Der Verheißene ist da. „Friede den Menschen auf Erden“ (Lc 2,14). Er selbst – Christus, der Herr – hat seinen Jüngern gesagt: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“ (Jn 14,27). Aus diesen Worten ist der liturgische Gruß geworden: „Der Friede sei mit euch“. Dieser Friede, der in der Liturgie mitgeteilt wird, ist Christus selbst. Er schenkt sich uns als der Friede, als die Versöhnung über alle Grenzen hin. Wo er aufgenommen wird, wachsen Inseln des Friedens. Wir Menschen hätten uns gewünscht, daß Christus alle Kriege ein für alle Mal verbannen, die Waffen zerbrechen und den Weltfrieden wiederherstellen würde. Aber wir müssen lernen, daß der Friede durch Strukturen von außen her allein nicht erreicht werden kann und daß der Versuch, ihn mit Gewalt herzustellen, nur zu immer neuer Gewalt führt. Wir müssen lernen, daß der Friede – wie es der Engel von Bethlehem sagte – mit der Eudokia zusammenhängt, mit dem Offenwerden unserer Herzen für Gott. Wir müssen lernen, daß Friede nur sein kann, wenn der Haß und die Eigensucht von innen her überwunden werden. Der Mensch muß von seinem Innern her erneuert, neu und anders werden. So bleibt der Friede in dieser Welt immer schwach und zerbrechlich. Wir leiden darunter. Uns ist um so mehr aufgetragen, uns innerlich vom Frieden Gottes durchdringen zu lassen, seine Kraft in die Welt hineinzutragen. In unserem Leben muß Wirklichkeit werden, was in der Taufe sakramental an uns geschehen ist: das Sterben des alten Menschen und so das Auferstehen des neuen. Und immer wieder werden wir den Herrn mit aller Dringlichkeit bitten: Rüttle du die Herzen auf! Mache uns zu neuen Menschen! Hilf, daß die Vernunft des Friedens die Unvernunft der Gewalt überwindet! Mache uns zu Trägern deines Friedens!

Diese Gnade erwirke uns die Jungfrau Maria, der ich Sie und Ihre Arbeit anempfehle. Jedem von Ihnen, die Sie hier zugegen sind, sowie allen, die Ihnen nahestehen, spreche ich erneut meine tief empfundenen Glückwünsche aus. Von Herzen erteile ich Ihnen den Apostolischen Segen, den ich auf die Mitarbeiter der verschiedenen Dikasterien und Büros der Römischen Kurie sowie des Governatoratos des Vatikanstaates ausdehne. Frohe Weihnachten und beste Wünsche auch für das Neue Jahr!
Januar 2007

94
Benedikt XVI Predigten 90