Benedikt XVI Predigten 170

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AN DIE TEILNEHMER DER VOM PÄPSTLICHEN RAT FÜR DIE INTERPRETATION VON GESETZESTEXTEN VERANSTALTETEN STUDIENTAGUNG ANLÄSSLICH DES 25. JAHRESTAGES DER PROMULGATION DES CODEX DES KANONISCHEN RECHTS Freit



Meine Herren Kardinäle,
verehrte Brüder im Bischofs- und im Priesteramt,
sehr geehrte Professoren und Fachleute des kanonischen Rechts!

Mit aufrichtiger Freude nehme ich an diesem abschließenden Moment der vom Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten veranstalteten Studientagung anläßlich des 25. Jahrestages der Promulgation des Codex des kanonischen Rechtes teil. Ihr habt Überlegungen angestellt zum Thema »Das kanonische Recht im Leben der Kirche: Untersuchung und Perspektiven im Zeichen des päpstlichen Lehramtes der jüngeren Zeit.« Ich begrüße jeden von euch sehr herzlich, insbesondere den Präsidenten des Päpstlichen Rates, Erzbischof Francesco Coccopalmerio, dem ich für die freundlichen Worte, die er in eurem Namen an mich gerichtet hat, sowie für die Überlegungen zum Codex und zum Recht in der Kirche danke. Gleichfalls gilt mein Dank dem gesamten Päpstlichen Rat, den Mitgliedern und Konsultoren, für ihre wertvolle Mitarbeit mit dem Papst im kirchenrechtlichen Bereich: Das Dikasterium wacht über die Vollständigkeit und die Aktualisierung der Gesetzgebung der Kirche und gewährleistet ihre Widerspruchsfreiheit. Ich erinnere mich gern und mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit gegenüber dem Herrn daran, daß auch ich zur Abfassung des Codex beigetragen habe: Als ich Metropolitan-Erzbischof von München und Freising war, wurde ich vom Diener Gottes Johannes Paul II. zum Mitglied der Kommission für die Revision des Codex des kanonischen Rechtes ernannt, bei dessen Promulgation am 26. Januar 1983 ich dann auch anwesend war.

Die Tagung anläßlich dieses bedeutsamen Jahrestages ist einem Thema gewidmet, das von großem Interesse ist, da es die enge Verbindung betont, die zwischen dem kanonischen Recht und dem Leben der Kirche nach dem Willen Jesu Christi besteht. Ich möchte daher bei dieser Gelegenheit noch einmal einen grundlegenden Gedanken hervorheben, der für das Kirchenrecht bezeichnend ist. Das »ius ecclesiae« ist nicht nur eine Ansammlung von Normen, die vom kirchlichen Gesetzgeber für dieses besondere Volk, die Kirche Christi, erlassen wurden. Es ist in erster Linie die von seiten des kirchlichen Gesetzgebers vorgenommene maßgebliche Erklärung der Pflichten und der Rechte, die in den Sakramenten gründen und die somit aus der Einsetzung durch Christus selbst entstanden sind. Dieses Gefüge juristischer Realitäten, das vom Codex aufgezeigt wird, setzt sich zusammen zu einem wunderbaren Mosaik, das das Antlitz aller Gläubigen, Laien und Hirten, und aller Gemeinschaften, von der Universalkirche bis hin zu den Teilkirchen, abbildet. Ich möchte an dieser Stelle das wirklich einprägsame Wort des sel. Antonio Rosmini in Erinnerung rufen: »Die menschliche Person ist das Wesen des Rechts« (A. Rosmini, Filosofia del diritto, Teil 1, 1. Bd., Kap. 3). Das, was dieser große Philosoph mit tiefer Intuition über das menschliche Recht sagte, müssen wir um so mehr für das kanonische Recht bekräftigen: Das Wesen des kanonischen Rechts ist die Person des Christen in der Kirche.

Der Codex des kanonischen Rechtes enthält auch die vom kirchlichen Gesetzgeber erlassenen Normen für das Wohl der Person und der Gemeinschaften im ganzen mystischen Leib, der die heilige Kirche ist. Wie mein geliebter Vorgänger Johannes Paul II. bei der Promulgation des Codex des kanonischen Rechtes am 25. Januar 1983 sagte, ist die Kirche nach Art eines sozialen und sichtbaren Gefüges gestaltet; als solches »braucht sie Normen, Gesetze, damit ihre hierarchische und organische Struktur sichtbar wird; damit die Ausübung der ihr von Gott übertragenen Ämter und Aufgaben, insbesondere die der kirchlichen Gewalt und der Verwaltung der Sakramente, ordnungsgemäß wahrgenommen wird; damit die gegenseitigen Beziehungen der Gläubigen in einer auf Liebe fußenden Gerechtigkeit gestaltet werden, wobei die Rechte der einzelnen gewährleistet und festgesetzt sind; damit schließlich die gemeinsamen Initiativen, die unternommen werden, um das christliche Leben immer vollkommener zu führen, durch die kanonischen Bestimmungen unterstützt, gestärkt und gefördert werden« (Apost. Konst. Sacrae disciplinae leges). Auf diese Weise erkennt die Kirche ihren Gesetzen eine zweckgerichtete und pastorale Natur und Funktion zu – um das ihr eigene Ziel zu verfolgen, das bekanntlich die Erlangung der »salus animarum« ist. »So zeigt sich das kanonische Recht verbunden mit dem Wesen der Kirche selbst; es bildet eine Einheit mit ihm zum Zweck der richtigen Ausübung des ›munus pastorale‹« (Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des internationalen Symposiums über das kanonische Recht, 23. April 1993; in O.R. dt., Nr. 23, 11.6.1993, S. 8).

Damit das Kirchenrecht diesen wertvollen Dienst leisten kann, muß es vor allem ein gut strukturiertes Recht sein. Es muß also einerseits an jene theologische Grundlage gebunden sein, die ihm Berechtigung verleiht und die der wesentliche Rechtsgrund kirchlicher Legitimität ist; andererseits muß es den sich wandelnden Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit des Gottesvolkes entsprechen. Außerdem muß es klar formuliert werden, ohne Doppeldeutigkeiten und stets im Einklang mit den übrigen Gesetzen der Kirche. Daher müssen überholte Normen aufgehoben und korrekturbedürftige modifiziert werden. Kontroverse Normen müssen im Licht des lebendigen Lehramtes der Kirche interpretiert und letztlich eventuelle »lacunae legis« geschlossen werden. Wie Papst Johannes Paul II. zur Römischen Rota sagte, »sind alle die zahlreichen Formen jener Flexibilität vor Augen zu halten und anzuwenden, die gerade aus pastoralen Gründen das Kirchenrecht schon immer ausgezeichnet haben« (Ansprache an den Gerichtshof der Rota Romana zur Eröffnung des Gerichtsjahres, 18. Januar 1990; in O.R. dt., Nr. 5, 2.2.1990, S. 9–10). Eure Aufgabe im Päpstlichen Rat für die Interpretation von Gesetzestexten ist es, darüber zu wachen, daß die Arbeit der verschiedenen Instanzen, die in der Kirche berufen sind, Normen für die Gläubigen zu erlassen, als Ganzes stets die der Kirche eigene Einheit und Gemeinschaft widerspiegelt.

Da das Kirchenrecht die Regel absteckt, die notwendig ist, damit das Gottesvolk sich effektiv auf sein Ziel hin ausrichten kann, versteht man, warum es wichtig ist, daß dieses Recht von allen Gläubigen geliebt und beachtet wird. Das Gesetz der Kirche ist vor allem »lex libertatis«: ein Gesetz, das frei macht, um Jesus nachzufolgen. Daher ist es notwendig, dem Gottesvolk, den jungen Generationen und denen, die berufen sind, dem Kirchenrecht Beachtung zu verleihen, seine konkrete Verbindung mit dem Leben der Kirche aufzuzeigen: zur Wahrung der heiklen Belange der Dinge Gottes, zum Schutz der Rechte der Schwächsten, derer, die keine anderen Kräfte haben, um sich Geltung zu verschaffen, aber auch zur Verteidigung jener besonderen »Güter«, die jeder Gläubige unentgeltlich empfangen hat – das Geschenk des Glaubens, der Gnade Gottes vor allem – und die in der Kirche nicht ohne angemessenen Schutz von seiten des Rechts bleiben können.

Innerhalb des soeben beschriebenen komplexen Rahmens ist der Päpstliche Rat für die Interpretation von Gesetzestexten berufen, dem römischen Papst, dem obersten Gesetzgeber, bei seiner Aufgabe als vorrangiger Förderer, Garant und Ausleger des Rechts in der Kirche zu helfen. Bei der Erfüllung dieser wichtigen Pflicht könnt ihr außer auf das Vertrauen auch auf das Gebet des Papstes zählen, der eure Arbeit mit seinem herzlichen Segen begleitet.

AN DEN GERICHTSHOF DER RÖMISCHEN ROTA

ANLÄSSLICH DER ERÖFFNUNG DES GERICHTSJAHRES Samstag, 26. Januar 2008



Liebe Richter, Offiziale und Mitarbeiter
des Gerichtshofes der Römischen Rota!

An den hundertsten Jahrestag der vom hl. Pius X. im Jahr 1908 mit der Apostolischen Konstitution Sapienti consilio angeordneten Wiederherstellung des Apostolischen Gerichtes der Römischen Rota, hat euer Dekan, Bischof Antoni Stankiewicz, soeben mit seinen freundlichen Worten erinnert. Dieser Umstand erhöht meine Gefühle der Wertschätzung und Dankbarkeit, mit denen ich euch nun schon zum dritten Mal begegne. An alle und an jeden einzelnen von euch ergeht mein herzlicher Gruß. In euch, liebe Richter, sowie in allen die auf verschiedene Weise an der Tätigkeit dieses Gerichtes teilhaben, sehe ich eine Institution des Apostolischen Stuhls verkörpert, deren Verwurzelung in der kanonischen Tradition sich als Quelle steter Lebendigkeit erweist. Es ist eure Aufgabe, diese Tradition in der Überzeugung, einen allzeit aktuellen Dienst an der Rechtspflege in der Kirche zu leisten, lebendig zu erhalten.

Dieses hundertjährige Gedenken stellt eine günstige Gelegenheit dar, um über einen grundlegenden Aspekt der Tätigkeit der Rota, nämlich über den Wert der Rechtsprechung der Rota im Bereich der kirchlichen Rechtspflege, nachzudenken. Diesen Aspekt hat bereits die Apostolische Konstitution Pastor bonus in der Beschreibung der Rota hervorgehoben: »Dieses Gericht, das gewöhnlich als höhere Instanz im Fall der Berufung an den Apostolischen Stuhl tätig wird, um die Rechte der Kirche zu schützen, sorgt für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und hilft durch die eigenen Urteile den untergeordneten Gerichten« (Art. 126). Meine geliebten Vorgänger sprachen oft in ihren jährlichen Ansprachen mit Wertschätzung und Vertrauen von der Rechtsprechung der Römischen Rota, sowohl im allgemeinen als auch in bezug auf konkrete, besonders die Ehe betreffende Argumente.

Wenn es richtig und angebracht ist, an die von der Rota über viele Jahrhunderte, besonders in den letzten hundert Jahren, ausgeübte Gerichtsbarkeit zu erinnern, so ist es ebenso angemessen, anläßlich dieses hundertjährigen Gedenkens, zu versuchen, den Sinn einer solchen Tätigkeit zu vertiefen, von der die jährlichen Bände der Decisiones ein Zeugnis ablegen und zugleich eine wertvolle Arbeitshilfe darstellen. Im besondern ist die Frage berechtigt, warum die Rotaurteile eine rechtliche Bedeutung haben, die den unmittelbaren Bereich der Verfahren, in denen sie erlassen werden, überschreitet. Abgesehen vom formalen Wert, den jede Rechtsordnung den gerichtlichen Präzedenzfällen zuweisen kann, ist es unbezweifelbar, daß die einzelnen »Decisiones« in gewisser Weise für die gesamte Gesellschaft von Interesse sind. In der Tat bestimmen sie das, was alle von den Gerichten erwarten können, was gewiß auf den Verlauf des sozialen Lebens Einfluß nimmt. Jede Gerichtsordnung muß danach streben, Lösungen anzubieten, in denen zusammen mit der Entscheidung der einzelnen Fälle in ihrer unwiederholbaren Konkretheit, dieselben Prinzipien und allgemeinen Rechtsnormen angewandt werden. Nur auf diese Weise wird ein Klima des Vertrauens in die Tätigkeit der Gerichte geschaffen und die Willkürlichkeit subjektiver Kriterien vermieden. Darüber hinaus besteht im Inneren einer jeden Gerichtsorganisation eine Hierarchie unter den verschiedenen Gerichten, so daß die Möglichkeit, an höhere Gerichte zu appellieren, bereits ein Mittel zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung darstellt.

Die soeben gemachten Überlegungen sind ohne weiteres auch auf die kirchlichen Gerichte anwendbar. Mehr noch, weil die kanonischen Prozesse die rechtlichen Aspekte der Heilsgüter oder anderer zeitlicher, der Sendung der Kirche dienender Güter betreffen, werden das Erfordernis der Einheit in den wesentlichen Kriterien der Rechtspflege und die Notwendigkeit, den Sinn der gerichtlichen Entscheidungen vernünftigerweise vorhersehen zu können, zu einem öffentlichen kirchlichen Gut von besonderer Bedeutung für das gesamte Leben des Volkes Gottes und sein institutionelles Zeugnis in der Welt. Außer dem intrinsischen Wert der Plausibilität, die dem Wirken eines Gerichtes innewohnt, das die Rechtssachen gewöhnlich in letzter Instanz entscheidet, ist es klar, daß der Wert der Rechtsprechung der Römischen Rota davon abhängt, daß sie die höchste Instanz im Appellationsverfahren beim Heiligen Stuhl darstellt. Die gesetzlichen Bestimmungen, die einen solchen Wert anerkennen (vgl. Can. 19 CIC; Ap. Konst. Pastor bonus, Art. 126), schaffen diesen Wert nicht, sondern stellen ihn lediglich fest. Er entspringt letztlich der Notwendigkeit, die Rechtspflege nach gleichen Grundsätzen in all dem, was eben in sich wesentlich gleich ist, auszuüben.

Folglich ist der Wert der Rechtsprechung der Rota keine faktische Frage soziologischer Art, sondern rein rechtlicher Natur, insofern sie sich in den Dienst der substantiellen Rechtspflege stellt. Daher wäre es unangebracht, eine Gegensätzlichkeit zwischen der Rechtsprechung der Rota und den Entscheidungen der Lokalgerichte zu sehen, die dazu berufen sind, eine unverzichtbare Funktion dadurch zu erfüllen, daß sie die Rechtspflege unmittelbar zugänglich machen und die Fälle in ihrer manchmal an die Kultur und Mentalität der Völker gebundenen Konkretheit untersuchen und lösen. Jedenfalls müssen alle Urteile immer auf den Prinzipien und den allgemeinen Normen der Justiz gegründet sein. Ein solches Bedürfnis, das jeder Rechtsordnung anhaftet, nimmt in der Kirche im Hinblick auf die Erfordernisse der Gemeinschaft, eine besondere Bedeutung an, die den Schutz dessen einbezieht, was der Gesamtkirche gemein ist und in besonderer Weise der Höchsten Autorität und den Organen anvertraut ist, die »ad normam iuris« an ihrer »potestas sacra« teilhaben.

Im Bereich der Ehe hat die Rechtsprechung der Rota in diesen hundert Jahren eine beträchtliche Arbeit geleistet. Im einzelnen hat sie wichtige Beiträge geliefert, die in die geltende Gesetzgebung eingemündet sind. Somit kann nicht angenommen werden, daß die Bedeutung der rechtsprechenden Interpretation des Rechtes durch die Rota abgenommen hat. In der Tat erfordert gerade die Anwendung des geltenden kanonischen Rechts, daß dessen wahrer Sinn der Gerechtigkeit wahrgenommen wird, der vor allem an das Wesen selbst der Ehe gebunden ist. Die Römische Rota ist ständig dazu berufen, eine schwierige Aufgabe zu erfüllen, die auf die Arbeit aller Gerichte einen großen Einfluß hat: die mehr oder minder vorhandene Existenz der ehelichen Wirklichkeit zu erfassen, die ihrem innersten Wesen nach anthropologisch, theologisch und juridisch ist. Um die Rolle der Rechtsprechung besser zu verstehen, möchte ich darauf bestehen, was ich euch im letzten Jahr über die der Ehe innewohnende rechtliche Dimension gesagt habe (vgl. Ansprache vom 27. Januar 2007, in: AAS 99 [2007], S. 86–91). Das Recht darf nicht auf eine reine Ansammlung von positiven Normen reduziert werden, die die Gerichte anzuwenden haben. Die einzige Weise, um die rechtsprechende Arbeit sicher zu gründen, besteht darin, sie als echte Ausübung der »prudentia iuris« aufzufassen, einer Kenntnis, die alles andere als Willkür oder Relativismus ist, weil sie es gestattet, in den Ereignissen das Vorhandensein oder die Abwesenheit des speziellen Bezugs zur Gerechtigkeit zu lesen, den die Ehe in ihrer menschlichen und erlösenden Wirklichkeit darstellt. Nur auf diese Weise erlangen die rechtsprechenden Maximen ihren wahren Wert und werden nicht zu einer Ansammlung von abstrakten und wiederholbaren Regeln, die der Gefahr subjektiver und willkürlicher Interpretationen ausgesetzt sind.

Deshalb stellt die objektive, im Licht des Lehramtes und des kirchlichen Rechtes erfolgte Bewertung der Tatsachen einen äußerst wichtigen Aspekt der Tätigkeit der Römischen Rota dar und übt einen großen Einfluß auf die Arbeit der Rechtspfleger in den lokalen Gerichten aus. Die Rechtsprechung der Rota ist als beispielhaftes Werk juridischer Weisheit anzusehen, das mit der Autorität des Gerichtes vollbracht wird, das der Nachfolger Petri dauernd zum Wohl der Gesamtkirche errichtet hat. Dank dieses Werkes wird in den Ehenichtigkeitsverfahren der konkrete Sachverhalt objektiv im Licht jener Kriterien beurteilt, die beständig die Wirklichkeit der unauflöslichen Ehe bekräftigen, die jedem Mann und jeder Frau entsprechend dem Plan Gottes, des Schöpfers und Heilands, offen steht. Dies erfordert eine ständige Anstrengung, um jene Einheit der Kriterien der Gerechtigkeit zu erreichen, die wesentlich den Begriff der Rechtsprechung ausmacht und die grundlegende Voraussetzung für ihre Tätigkeit bildet. In der Kirche besteht gerade aufgrund ihrer Universalität und der Unterschiedlichkeit der rechtlichen Kulturen, in denen zu wirken sie berufen ist, die Gefahr, daß sich »sensim sine sensu« »lokale Rechtsprechungen« bilden, die sich immer mehr von der gemeinsamen Interpretation der positiven Gesetze und sogar von der Lehre der Kirche über die Ehe entfernen. Ich wünsche, daß angemessene Mittel gefunden werden, um die Rechtsprechung der Rota auf immer offensichtlichere Weise einheitlich zu gestalten und tatsächlich allen Rechtspflegern zugänglich zu machen, so daß sie in allen kirchlichen Gerichten eine gleichförmige Anwendung findet.

In dieser realistischen Sichtweise ist auch der Wert der Interventionen des kirchlichen Lehramtes zu Fragen des kirchlichen Eherechtes zu verstehen, einschließlich der Ansprachen des Papstes an die Römische Rota. Diese stellen geradezu eine Richtschnur für die Tätigkeit aller kirchlichen Gerichte dar, insofern sie mit Autorität all das lehren, was zum Wesen der Ehe gehört. Mein verehrter Vorgänger Johannes Paul II. warnte in seiner letzten Ansprache an die Rota vor dem positivistischen Verständnis des Rechtes, das dazu neigt, die Gesetze und die in der Rechtsprechung geltenden Richtlinien von der Lehre der Kirche zu trennen. Er sagte: »In Wirklichkeit hat die authentische Auslegung des Wortes Gottes, die vom Lehramt der Kirche vorgenommen wird, rechtliche Bedeutung in dem Maß, in dem sie den Rechtsbereich betrifft, und sie benötigt keinen weiteren formellen Übergang, um rechtlich und moralisch bindend zu werden. Für eine gesunde rechtliche Hermeneutik ist es zudem unerläßlich, die Gesamtheit der Weisungen der Kirche zu erfassen und jede Aussage organisch in die Tradition einzubinden. Auf diese Weise werden selektive und verzerrte Auslegungen sowie unfruchtbare Kritiken an einzelnen Passagen vermieden« (AAS 97 [2005], S. 166, Nr. 6).

Das jetzige hundertjährige Jubiläum ist dazu bestimmt, über eine formale Gedenkfeier hinauszugehen. Es gibt Anlaß zu einer Überlegung, die euren Einsatz stärken und ihn mit einem immer tieferen kirchlichen Sinn der Gerichtsbarkeit beleben soll, der wahrer Dienst an der heilbringenden Gemeinschaft ist. Ich ermutige euch, täglich für die Römische Rota und alle jene zu beten, die im Bereich der kirchlichen Rechtspflege tätig sind sowie um die mütterliche Fürsprache der seligen Jungfrau Maria, »Speculum iustitiae«, zu bitten. Diese Aufforderung könnte als nur zur Frömmigkeit gehörig und in bezug auf euer Amt eher als außenstehend angesehen werden: wir dürfen hingegen nicht vergessen, daß in der Kirche alles durch die Kraft des Gebets verwirklicht wird, das unser ganzes Dasein verwandelt und uns mit der von Jesus verheißenen Hoffnung erfüllt. Dieses Gebet, das vom alltäglichen ernsthaften und kompetenten Einsatz nicht zu trennen ist, wird Licht und Kraft, Treue und echte Erneuerung in das Leben dieser ehrwürdigen Institution bringen, durch die der Bischof von Rom »ad normam iuris« seine primatiale Sorge für die Rechtspflege im ganzen Volk Gottes ausübt. Mein heutiger Segen möchte daher voll Zuneigung und Dankbarkeit sowohl euch, die ihr anwesend seid, als auch alle jene umfassen, die der Kirche und den Gläubigen auf der ganzen Welt in diesem Bereich dienen.

AN DIE TEILNEHMER DER INTERAKADEMISCHEN STUDIENTAGUNG ZUM THEMA "DIE WECHSELNDE IDENTITÄT DES INDIVIDUUMS" Montag, 28. Januar 2008



Meine Herren Kanzler,
Exzellenzen,
liebe Freunde und Mitglieder der Akademien,
meine Damen und Herren!

Mit Freude empfange ich euch zum Abschluß eurer Studientagung, die am »Institut de France« in Paris begonnen hat und nun hier in Rom zu Ende geht und dem Thema »Die wechselnde Identität des Individuums« gewidmet war. Ich danke zuallererst Graf Gabriel de Broglie für die Grußworte, mit denen er unsere Begegnung eingeleitet hat. Ich möchte gleichfalls die Mitglieder aller akademischen Institutionen begrüßen, unter deren Schirmherrschaft diese Studientagung organisiert worden ist: der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften und der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften, der Akademie für ethische und politische Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften sowie des »Institut Catholique« in Paris. Ich freue mich, daß zum ersten Mal eine derartige interakademische Zusammenarbeit zustande kommen konnte, die den Weg für immer fruchtbarere und anspruchsvolle, fachübergreifende Forschungen eröffnet.

In der heutigen Zeit, wo die exakten Natur- und Humanwissenschaften erstaunliche Fortschritte in der Kenntnis über den Menschen und sein Universum gemacht haben, ist die Versuchung groß, die Identität des Menschen gänzlich eingrenzen zu wollen und ihn in das Wissen einzuschließen, das man von ihm haben kann. Um sich nicht auf einen solchen Weg einzulassen, ist es notwendig, der anthropologischen, philosophischen und theologischen Forschung die ihr gebührende Stimme zu geben, die es erlaubt, im Menschen das ihm eigene Geheimnis erscheinen zu lassen und zu bewahren, denn keine Wissenschaft kann sagen, wer der Mensch ist, woher er kommt und wohin er geht. Die Wissenschaft vom Menschen wird daher zur unentbehrlichsten aller Wissenschaften. Das hat Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika Fides et ratio formuliert: »Eine große Herausforderung, die uns am Ende dieses Jahrtausends erwartet, besteht darin, daß es uns gelingt, den ebenso notwendigen wie dringenden Übergang vom Phänomen zum Fundament zu vollziehen. Wir können unmöglich bei der bloßen Erfahrung stehenbleiben; auch wenn diese die Innerlichkeit des Menschen und seine Spiritualität ausdrückt und verdeutlicht, muß das spekulative Denken die geistliche Mitte und das sie tragende Fundament erreichen« (Nr. 83). Der Mensch geht immer weit über das hinaus, was man von ihm sieht oder durch die Erfahrung wahrnimmt. Die Vernachlässigung der Frage nach dem Wesen des Menschen führt unvermeidlich zur Weigerung, die objektive Wahrheit über das Sein in seiner Ganzheitlichkeit zu erforschen, und schließlich dazu, daß man nicht mehr in der Lage ist, das Fundament zu erkennen, auf dem die Würde des Menschen beruht, jedes Menschen, vom embryonalen Zustand bis zu seinem natürlichen Tod.

Ihr habt bei eurer Studientagung die Erfahrung gemacht, daß die Wissenschaften, die Philosophie und die Theologie einander helfen können, die Identität des Menschen, der immer im Werden ist, wahrzunehmen. Ausgehend von einer Fragestellung über das aus der Zellverschmelzung hervorgegangene neue Lebewesen, das Träger eines neuen und spezifischen genetischen Erbes ist, habt ihr wesentliche Elemente des Geheimnisses des Menschen ans Licht gebracht, der von der Andersheit geprägt ist: ein von Gott nach dem Bild Gottes geschaffenes Wesen, ein geliebtes Wesen, das geschaffen wurde, um zu lieben. Als Mensch ist er nie in sich selbst verschlossen; er ist immer Träger der Andersheit und steht von Anfang an in Interaktion mit anderen Menschen, wie uns die Humanwissenschaften zunehmend deutlich machen. Wie sollte man sich da nicht der wunderbaren Meditation des Psalmisten über den Menschen erinnern, der, gewoben im Schoß seiner Mutter, gleichzeitig allein von Gott, der ihn liebt und beschützt, in seiner Identität und in seinem Geheimnis erkannt wird (vgl. Ps 139,1–16)!

Der Mensch ist weder eine Frucht des Zufalls, noch eines Bündels von Übereinstimmungen oder Vorherbestimmtheiten oder physisch-chemischen Wechselwirkungen; er ist ein Wesen, das eine Freiheit genießt, die seiner Natur Rechnung trägt, sie aber übersteigt und Zeichen des Geheimnisses der Andersheit ist, die in ihm wohnt. Aus diesem Blickwinkel sagte der große Denker Pascal, daß »der Mensch den Menschen unendlich übersteigt«. Diese Freiheit, die zum eigentlichen Wesen des Menschen gehört, bewirkt, daß dieser sein Leben auf ein Ziel hin ausrichten kann, daß er durch die von ihm gesetzten Handlungen auf das Glück zusteuern kann, zu dem er in Ewigkeit berufen ist. Diese Freiheit läßt erkennen, daß die Existenz des Menschen einen Sinn hat. In der Ausübung seiner authentischen Freiheit verwirklicht der Mensch seine Berufung; sie erfüllt sich; sie verleiht seiner tiefen Identität Gestalt. So übt er im Gebrauch seiner Freiheit seine Verantwortung für seine Taten aus. In diesem Sinn ist die Würde des Menschen ein Geschenk Gottes und zugleich die Verheißung einer Zukunft.

Der Mensch trägt in sich eine ihm eigene Fähigkeit, nämlich zu unterscheiden, was gut und wohlgetan ist. Die ihm vom Schöpfer wie ein Siegel eingeprägte Synteresis drängt ihn dazu, das Gute zu tun. Von ihr beseelt ist der Mensch dazu berufen, sein Gewissen durch Bildung und Übung weiterzuentwickeln, um im Leben frei voranzugehen, indem er sich auf die wesentlichen Gesetze stützt, nämlich das Naturgesetz und das Sittengesetz. In der heutigen Zeit, wo die Entwicklung der Wissenschaften mit den angebotenen Möglichkeiten lockt und verführt, ist es notwendiger denn je, die Gewissen unserer Zeitgenossen zu erziehen, damit die Wissenschaft nicht zum Kriterium des Guten wird, und damit der Mensch als Mittelpunkt der Schöpfung respektiert werde und nicht Objekt ideologischer Manipulationen, willkürlicher Entscheidungen oder des Mißbrauchs der Stärkeren gegenüber den Schwächeren sei. All dies sind Gefahren, deren Zutagetreten wir im Laufe der Menschheitsgeschichte und besonders im 20. Jahrhundert erleben mußten.

Jedes wissenschaftliche Forschen muß auch ein von Liebe beseeltes Forschen sein, das dazu bestimmt ist, sich in den Dienst des Menschen und der Menschheit zu stellen und seinen Beitrag zum Aufbau der Identität der Menschen zu leisten. Wie ich in der Enzyklika Deus caritas est hervorgehoben habe, »umfaßt die Liebe das Ganze der Existenz in allen ihren Dimensionen, auch in derjenigen der Zeit… Liebe ist ›Ekstase‹«, das heißt »Ekstase als ständiger Weg aus dem in sich verschlossenen Ich zur Freigabe des Ich, zur Hingabe und so gerade zur Selbstfindung« (Nr. 6). Die Liebe läßt den Menschen aus sich heraustreten, um den anderen zu entdecken und kennenzulernen; dadurch, daß sie den Menschen für die Andersheit öffnet, stärkt sie auch seine Identität, denn der andere zeigt mir, wie ich wirklich bin. Das ist quer durch die ganze Bibel die Erfahrung, die, angefangen bei Abraham, von zahlreichen Gläubigen gemacht worden ist. Das Vorbild der Liebe schlechthin ist Christus. In dem Akt, sein Leben für seine Brüder hinzugeben, sich völlig hinzugeben, offenbart sich seine tiefe Identität, und wir erhalten darin den Schlüssel für die Deutung seines Wesens und seiner Sendung.

Während ich eure Forschungen der Fürsprache des hl. Thomas von Aquin anvertraue, dessen die Kirche am heutigen Tag gedenkt und »der ein »authentisches Vorbild für alle ist, die nach der Wahrheit suchen« (Fides et ratio, 78), versichere ich euch meines Gebets für euch, für eure Familien und für eure Mitarbeiter und erteile allen von Herzen den Apostolischen Segen.



AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DER KONGREGATION FÜR DIE GLAUBENSLEHRE Donnerstag, 31. Januar 2008

Meine Herren Kardinäle,

verehrte Mitbrüder im Bischofs- und im Priesteramt,
liebe und treue Mitarbeiter!

Die Begegnung mit euch anläßlich eurer Vollversammlung ist für mich ein Grund zu großer Freude. So kann ich euch die Gefühle tiefer Dankbarkeit und herzlicher Wertschätzung für die Arbeit mitteilen, die euer Dikasterium im Dienst an der Einheit erfüllt, der in besonderer Weise dem Römischen Papst anvertraut ist. Es ist ein Dienst, der hauptsächlich in der Funktion der Wahrung der Einheit des Glaubens zum Ausdruck kommt, die sich auf das »sacrum depositum« [das der Kirche anvertraute Glaubensgut] stützt, dessen erster Hüter und Verteidiger der Nachfolger Petri ist (vgl. Apostol. Konstitution Pastor bonus, 1). Ich danke Herrn Kardinal William Levada für die Grußworte, die er im Namen aller an mich gerichtet hat, und für die Erwähnung der Themen, die in den letzten Jahren Gegenstand einiger Dokumente eures Dikasteriums gewesen sind, und der Themenkreise, mit deren Untersuchung sich das Dikasterium derzeit befaßt.

Die Kongregation für die Glaubenslehre hat im vergangenen Jahr insbesondere zwei wichtige Dokumente veröffentlicht, die einige lehrmäßige Klarstellungen zu wesentlichen Aspekten der Lehre über die Kirche und über die Evangelisierung geboten haben. Es handelt sich um Klarstellungen, die für die korrekte Durchführung des ökumenischen Dialogs und des Dialogs mit den Religionen und Kulturen der Welt notwendig sind. Das erste Dokument trägt den Titel »Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche« und vermittelt auch in den Formulierungen und in der Sprache die Lehre des II. Vatikanischen Konzils in voller Kontinuität mit der Lehre der katholischen Tradition. So wird bekräftigt, daß die eine und einzige Kirche Christi ihre Subsistenz, Permanenz und Stabilität in der katholischen Kirche hat und daß daher die Einheit, Unteilbarkeit und Unzerstörbarkeit der Kirche Christi durch die Trennungen und Spaltungen der Christen nicht zunichte gemacht werden. Neben dieser grundlegenden lehrmäßigen Klarstellung bietet das Dokument den korrekten Sprachgebrauch gewisser ekklesiologischer Ausdrücke, die Gefahr laufen, mißverstanden zu werden, und weist zu diesem Zweck auf den Unterschied hin, der bezüglich des Verständnisses des Kircheseins im eigentlich theologischen Sinn zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen weiterhin bestehen bleibt. Das soll keine Behinderung des echten ökumenischen Engagements, sondern vielmehr ein Ansporn dafür sein, daß die Auseinandersetzung über die Lehrfragen immer mit Realismus und im vollen Bewußtsein der Aspekte stattfindet, die die christlichen Konfessionen noch trennen, aber zudem auch in froher Anerkennung der gemeinsam bekannten Glaubenswahrheiten und der Notwendigkeit, unablässig für einen entschlosseneren Weg zu einer tieferen und schließlich vollen Einheit der Christen zu beten. Eine theologische Sichtweise zu pflegen, die die Einheit und Identität der Kirche als ihre »in Christus verborgenen« Gaben betrachtet – mit der Folge, daß die Kirche geschichtlich de facto in vielfältigen kirchlichen Ausprägungen existieren würde, die sich nur in eschatologischer Hinsicht versöhnen lassen –, könnte nur eine Verlangsamung und letzten Endes die Lähmung des Ökumenismus selbst hervorrufen.

Die Aussage des II. Vatikanischen Konzils, daß die wahre Kirche Christi »in der katholischen Kirche verwirklicht ist« (Dogmatische Konstitution Lumen gentium LG 8), betrifft nicht nur die Beziehung zu den christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, sondern gilt auch für die Bestimmung des Verhältnisses zu den Religionen und Kulturen der Welt. In der Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae schreibt das II. Vatikanische Konzil, daß »diese einzige wahre Religion in der katholischen Kirche verwirklicht ist, die von Jesus dem Herrn den Auftrag erhalten hat, sie unter allen Menschen zu verbreiten« (Nr. 1). Das zweite von eurer Kongregation im Dezember 2007 veröffentlichte Dokument »Lehrmäßige Note zu einigen Aspekten der Evangelisierung« bekräftigt angesichts der Gefahr eines anhaltenden religiösen und kulturellen Relativismus, daß sich in der Zeit des Dialogs zwischen den Religionen und Kulturen der Welt die Kirche der Notwendigkeit der Evangelisierung und Missionstätigkeit bei den Völkern nicht entziehen und nicht aufhören darf, die Menschen zu bitten, das allen Völkern angebotene Heil anzunehmen. Die Anerkennung von Elementen der Wahrheit und des Guten in den Weltreligionen und der Ernsthaftigkeit ihrer religiösen Bemühungen, ebenso das Gespräch und der Geist der Zusammenarbeit mit ihnen zur Verteidigung und Förderung der Würde des Menschen und der allgemeingültigen sittlichen Werte dürfen nicht als eine Beschränkung der missionarischen Aufgabe der Kirche verstanden werden, die sie dazu verpflichtet, unablässig Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben zu verkünden (vgl. Joh Jn 14,6).

Außerdem, liebe Freunde, fordere ich euch dazu auf, mit besonderer Aufmerksamkeit die schwierigen und komplexen Probleme der Bioethik zu verfolgen. Die neuen biomedizinischen Technologien interessieren nicht nur einige Ärzte und darauf spezialisierte Forscher, sondern werden durch die modernen Medien verbreitet und rufen in immer weiteren Kreisen der Gesellschaft Erwartungen und Fragen hervor. Das Lehramt der Kirche kann und darf gewiß nicht bei jeder Neuheit der Wissenschaft eingreifen, es hat aber die Aufgabe, die auf dem Spiel stehenden hohen Werte herauszustellen und den Gläubigen und allen Menschen guten Willens ethisch-moralische Prinzipien und Orientierungen für die neuen wichtigen Fragen anzubieten. Die beiden fundamentalen Kriterien für die moralische Unterscheidung in diesem Bereich sind a) die unbedingte Achtung des Menschen als Person von seiner Empfängnis bis zum natürlichen Tod, b) die Achtung der Eigentümlichkeit der Weitergabe des menschlichen Lebens durch die den Eheleuten eigenen Akte. Nach der Veröffentlichung der Instruktion Donum vitae im Jahr 1987, die diese Kriterien formuliert hatte, haben viele das Lehramt der Kirche kritisiert und es angeprangert, als wäre es ein Hindernis für die Wissenschaft und für den wahren Fortschritt der Menschheit. Doch die neuen Probleme, die zum Beispiel mit dem Einfrieren von menschlichen Embryonen, mit der Embryonen-Selektion, mit der Präimplantationsdiagnostik, mit der embryonalen Stammzellenforschung und mit den Klon- Versuchen von Menschen verbunden sind, zeigen deutlich, wie mit der künstlichen Befruchtung außerhalb des menschlichen Körpers die zum Schutz der menschlichen Würde errichtete Barriere niedergerissen worden ist. Wenn menschliche Wesen im schwächsten und wehrlosesten Zustand ihrer Existenz selektiert, aufgegeben, getötet oder gar als »biologisches Material« verwendet werden, wie ließe sich dann leugnen, daß sie nicht mehr als ein »Jemand«, sondern als ein »Etwas« behandelt werden, wodurch der Begriff der Menschenwürde selbst in Frage gestellt wird?

Gewiß schätzt und ermutigt die Kirche den Fortschritt der biomedizinischen Wissenschaften, die bislang unbekannte therapeutische Perspektiven eröffnen, zum Beispiel durch die Verwendung der somatischen Stammzellen oder durch die Therapien zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit oder zur Behandlung genetischer Krankheiten. Gleichzeitig aber fühlt sie sich verpflichtet, die Gewissen aller zu erleuchten, damit der wissenschaftliche Fortschritt wirklich jedes menschliche Wesen respektiere, dem die Würde der Person zuerkannt werden muß, da es nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Die eingehende Untersuchung dieser Themenbereiche, die eure Vollversammlung in diesen Tagen in besonderer Weise beschäftigt hat, wird sicher zur Förderung der Gewissensbildung vieler unserer Brüder beitragen, entsprechend der Aussage des II. Vatikanischen Konzils in der Erklärung Dignitatis humanae: »Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen« (Nr. 14).

Während ich euch ermutige, eure anspruchsvolle und wichtige Arbeit fortzusetzen, drücke ich euch auch bei diesem Anlaß meine geistliche Nähe aus und erteile euch allen als Unterpfand der Liebe und Dankbarkeit von Herzen den Apostolischen Segen.



Februar 2008




AN DIE GRIECHISCH-KATHOLISCHEN BISCHÖFE DER UKRAINE ANLÄSSLICH IHRES "AD-LIMINA"-BESUCHES Freitag, 1. Februar 2008



Seligkeit,
verehrte Mitbrüder im Bischofsamt!

Ich freue mich sehr, euch heute zum Abschluß eures Besuches »ad limina Apostolorum« zu empfangen. Schwerwiegende und objektive Gründe haben euch daran gehindert, gemeinsam diese Pilgerfahrt zum Stuhl Petri zu unternehmen. Der letzte »Ad-limina«-Besuch der griechisch- katholischen Bischöfe geht auf das Jahr 1937 zurück. Jetzt, nachdem eure jeweiligen Kirchen die volle Freiheit wiedererlangt haben, seid ihr hier, um erneuerte und lebendige Gemeinschaften im Glauben vorzustellen, die nie aufgehört haben, sich in voller Gemeinschaft mit dem Nachfolger Petri zu fühlen. Seid willkommen, liebe Mitbrüder, in diesem Haus, in dem seit jeher intensiv und unablässig für die geliebte griechisch- katholische Kirche in der Ukraine gebetet wird. Durch den verehrten Kardinal Lubomyr Husar, Großerzbischof von Kyiv-Halyc – dem ich für die bewegenden Grußworte danke, die er in eurem Namen an mich gerichtet hat –, durch den Apostolischen Administrator der Eparchie Mukachevo des byzantinischen Ritus und durch euch alle grüße ich gerne eure Gemeinschaften, die unermüdlichen Priester, die geweihten Personen und alle, die das Hirtenamt im Dienst des Volkes Gottes hingebungsvoll ausüben.

Dem Bericht über die Lage eurer Eparchien und Exarchate konnte ich entnehmen, wie sehr ihr euch dafür einsetzt, die Einheit und Zusammenarbeit innerhalb eurer Gemeinschaften ständig zu fördern, zu festigen und zu prüfen, um gemeinsam den Herausforderungen zu begegnen, vor die ihr als Hirten gestellt seid und die Gegenstand eurer Sorgen und eurer Pastoralpläne sind. Ich bewundere deshalb das großherzige Werk und das unermüdliche Zeugnis, das ihr eurem Volk und der Kirche bietet. Bei diesem pastoralen und missionarischen Einsatz braucht ihr notwendigerweise die Hilfe der Priester, die der Gute Hirte euch als Mitarbeiter zur Seite gestellt hat. Ich nutze gern die Gelegenheit, um ihnen meine Wertschätzung für ihre tägliche apostolische Tätigkeit auszusprechen. Verehrte Mitbrüder, ermutigt sie bei den verschiedenen Initiativen der Erneuerung, damit sie nicht den Neuheiten der Welt folgen, sondern der Gesellschaft jene Antworten anbieten, die nur Christus auf die Erwartungen des Menschenherzens nach Gerechtigkeit und Frieden geben kann. Dazu ist eine angemessene intellektuelle und geistliche Vorbereitung nötig, die einen ständigen Bildungsweg voraussetzt, der in den Priesterseminaren beginnt, wo die Disziplin und das geistliche Leben immer gut zu pflegen sind, und der dann im Laufe der Jahre des Dienstes weiterzuführen ist. In den Pflanzstätten der Berufungen, das heißt in den Priesterseminaren, sind Lehrer und Ausbilder vonnöten, die im menschlichen, wissenschaftlichen, theologischen, asketischen und pastoralen Bereich qualifiziert und kompetent sind, damit sie den zukünftigen Priestern helfen, in ihrer persönlichen Beziehung zu Christus zu wachsen, dank einer fortschreitenden Identifizierung mit ihm. Nur so werden sie die pastoralen Verantwortlichkeiten, die ihnen der Bischof anvertrauen wird, im Geist eines echten kirchlichen Dienstes übernehmen.

Vor diesem Hintergrund rufe ich euch auf, für eure Priester die Kurse geistlicher Übungen, der Bildung und theologischen und pastoralen Erneuerung zu vermehren, wenn möglich auch unter Mitarbeit des lateinischen Episkopats, wobei jeder die jeweiligen Traditionen respektieren soll. Es ist nicht zu leugnen, daß eine solche Zusammenarbeit der beiden Riten zu einem tieferen Einklang der Herzen unter denen führen kann, die der einen Kirche dienen. Ich bin sicher, daß durch eine solche innere Bereitschaft bestehende Mißverständnisse leichter ausgeräumt werden können in dem Bewußtsein, daß beide Riten zur einen katholischen Gemeinschaft gehören und beide das volle und gleiche Bürgerrecht in dem einen ukrainischen Volk haben. In diesem Licht betrachtet, wäre es nützlich, verehrte Mitbrüder, daß ihr mit den lateinischen Bischöfen regelmäßig zusammenkommt, zum Beispiel einmal im Jahr.

Große Bedeutung hat in den euch anvertrauten Eparchien und Exarchaten das geweihte Leben, und dafür möchte ich zusammen mit euch Gott danken. Ich habt mir aber berichtet, daß es einige Schwierigkeiten gibt, besonders im Bildungsbereich, im Bezug auf den verantwortlichen Gehorsam der Ordensleute und ihre Mitarbeit für die Bedürfnisse der Kirche. Mit der Großherzigkeit eines Hirten und der Geduld eines Vaters sollt ihr diese Brüder und Schwestern ermahnen, das »weltentsagende« Wesen ihrer besonderen Berufung zu schützen. Helft ihnen, den Geist der Seligpreisungen zu pflegen und die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams in Treue gegenüber dem Evangelium zu bewahren, damit sie in der Kirche jenes typische Zeugnis ablegen können, das von ihnen verlangt wird.

Ein weiteres Herzensanliegen ist für euch der ökumenische Einsatz. Man muß demütig anerkennen, daß auf diesem Gebiet konkrete und objektive Hindernisse bestehen. Aber man darf den Mut nicht verlieren angesichts der Schwierigkeiten, sondern wir müssen den eingeschlagenen Weg durch Gebet und geduldige Liebe fortsetzen. Anderseits versuchen Orthodoxe und Katholiken schon seit Jahrhunderten, einen täglichen, demütigen und friedvollen Dialog zu pflegen, der viele Lebensaspekte einbezieht. Die Mißerfolge, mit denen immer zu rechnen ist, dürfen den Enthusiasmus nicht verringern auf dem Weg zu dem vom Herrn gewollten Ziel: »Daß alle eins seien« (Jn 17,20). Vor einiger Zeit, als ich mit den Vätern der Vollversammlung des Dikasteriums für die Förderung der Einheit der Christen zusammentraf, merkte ich an: »Was aber vor allem gefördert werden muß, ist der Ökumenismus der Liebe, der direkt aus dem neuen Gebot entsteht, das Jesus seinen Jüngern hinterlassen hat. Die von den entsprechenden Taten begleitete Liebe schafft Vertrauen, öffnet die Herzen und die Augen. Der Dialog der Liebe fördert und erhellt von seinem Wesen her den Dialog der Wahrheit: Die endgültige Begegnung, zu der der Geist Christi führt, wird nämlich in der vollen Wahrheit stattfinden« (O.R. dt., Nr. 48, 1.12.2006, S. 11). Wertvolle Unterstützung in der ökumenischen Tätigkeit kann sicher die ukrainische katholische Universität geben.

Wichtig ist auch, immer mehr gläubige Laien in das Leben der Kirche einzubeziehen, damit sie ihren besonderen Beitrag zum Gemeinwohl der ukrainischen Gesellschaft leisten. Das erfordert von euch eine ständige Pflege ihrer Bildung durch Initiativen, die ihrer Berufung als Laien entsprechen. So werden sie an der Sendung der Kirche teilhaben und in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen »Sauerteig« des Evangeliums sein können.

Verehrte Mitbrüder, die heutige Begegnung, die nach siebzig Jahren stattfindet, erlaubt mir, Gott gemeinsam und bewegt Dank zu sagen für die Wiedergeburt eurer Kirche nach der traurigen Zeit der Verfolgung. Aus diesem Anlaß drängt es mich, euch zu versichern, daß der Papst euch alle in seinem Herzen bewahrt und euch in eurem nicht leichten Sendungsauftrag mit Liebe begleitet und stützt. Ich bitte euch, euren ersten Mitarbeitern, den Priestern, sowie den Ordensleuten und dem ganzen christlichen Volk meinen herzlichen Gruß zu überbringen, insbesondere den Kindern, den jungen Menschen, den Familien, den Kranken und allen, die in Not sind. Ich verspreche jedem ein Gedenken im Gebet, während ich auf alle den ständigen Schutz der himmlischen Gottesmutter und eurer heiligen Patrone herabrufe. Mit Liebe erteile ich euch, euren Gemeinschaften und der ganzen Bevölkerung in der Ukraine einen besonderen Apostolischen Segen.
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Benedikt XVI Predigten 170