Benedikt XVI Predigten 258

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BESUCH IM RÖMISCHEN PRIESTERSEMINAR

ANLÄSSLICH DES FESTES DER "MUTTERGOTTES VOM VERTRAUEN"


Freitag, 20. Februar 2009




Herr Kardinal, liebe Freunde!

Es ist mir immer eine große Freude, in meinem Seminar zu sein, die zukünftigen Priester meiner Diözese zu sehen, bei euch zu sein im Zeichen der Muttergottes vom Vertrauen. Mit ihr, die uns hilft und uns begleitet, die uns wirklich die Gewißheit gibt, immer von der göttlichen Gnade gestützt zu sein, gehen wir voran!

Jetzt wollen wir sehen, was der hl. Paulus uns mit diesem Text sagt: »Ihr seid zur Freiheit berufen. « Die Freiheit war zu allen Zeiten der große Traum der Menschheit – von Anfang an, aber besonders in der Moderne. Wir wissen, daß Luther sich von diesem Text des Briefes an die Galater inspirieren ließ und zu dem Schluß kam, daß die Ordensregel, die Hierarchie, das Lehramt ihm als ein Joch der Knechtschaft erschienen, von dem man sich befreien müsse. Später war die Zeit der Aufklärung vollkommen durchdrungen von diesem Wunsch nach Freiheit, die man endlich erlangt zu haben meinte. Aber auch der Marxismus behauptete von sich, ein Weg zur Freiheit zu sein.

Wir fragen uns heute abend: Was ist Freiheit? Wie können wir frei sein? Der hl. Paulus hilft uns, die komplizierte Wirklichkeit der Freiheit zu verstehen, indem er dieses Konzept in einen Kontext grundlegender anthropologischer und theologischer Einsichten stellt. Er sagt: »Nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe.« Der Rektor hat bereits gesagt, daß »Fleisch« nicht der Leib ist. Vielmehr ist »Fleisch« – im Sprachgebrauch des hl. Paulus – Ausdruck der Absolutsetzung des Ichs, des Ichs, das alles sein will und alles für sich nehmen will. Das absolute Ich, das von nichts und niemandem abhängig ist, scheint letztendlich wirklich die Freiheit zu besitzen. Ich bin frei, wenn ich von niemandem abhängig bin, wenn ich alles tun kann, was ich will. Aber gerade diese Absolutsetzung des Ichs ist »Fleisch«. Sie ist also eine Herabwürdigung des Menschen und nicht die Eroberung der Freiheit. Der Libertinismus ist nicht Freiheit; er ist vielmehr das Scheitern der Freiheit.

Und Paulus wagt es, ein starkes Paradox vorzulegen: »Dient (auf griechisch: ›douleúete‹) einander in Liebe.« Das heißt, daß die Freiheit paradoxerweise im Dienen verwirklicht wird; wir werden frei, wenn einer der Diener des anderen wird. Und so stellt Paulus das ganze Problem der Freiheit in das Licht der Wahrheit vom Menschen. Wenn man sich auf das Fleisch reduziert und sich so scheinbar zur Gottheit erhebt – »nur ich bin der Mensch« –, dann führt das zur Lüge. Denn in Wirklichkeit ist es nicht so: Der Mensch ist kein Absolutum, gleichsam als könne das Ich sich abkapseln und nur dem eigenen Willen gemäß handeln. Das ist gegen die Wahrheit unseres Seins. Unsere Wahrheit ist, daß wir in erster Linie Geschöpfe Gottes sind und in der Beziehung zum Schöpfer leben. Wir sind beziehungsorientierte Wesen. Und nur wenn wir unsere Beziehungsorientiertheit annehmen, treten wir in die Wahrheit ein – wenn nicht, fallen wir der Lüge anheim und zerstören uns am Ende in ihr.

Wir sind Geschöpfe, hängen also vom Schöpfer ab. Zur Zeit der Aufklärung erschien das besonders dem Atheismus als eine Abhängigkeit, von der man sich befreien müsse. Eine fatale Abhängigkeit wäre es jedoch nur dann, wenn dieser Schöpfergott ein Tyrann und kein gutes Wesen wäre, wenn er so wäre wie die menschlichen Tyrannen. Wenn dieser Schöpfer uns jedoch liebt und unsere Abhängigkeit darin besteht, im Raum seiner Liebe zu stehen, dann ist gerade die Abhängigkeit Freiheit. Auf diese Weise stehen wir nämlich in der Liebe des Schöpfers, sind wir mit ihm, mit seiner ganzen Wirklichkeit, mit seiner ganzen Macht vereint. Das ist also der erste Punkt: Geschöpf zu sein bedeutet, vom Schöpfer geliebt zu sein, in der Liebesbeziehung zu stehen, die er uns schenkt, mit der er uns zuvorkommt. Vor allem darauf beruht unsere Wahrheit, die gleichzeitig Berufung zur Liebe ist.

Gott zu sehen, sich auf Gott auszurichten, Gott kennenzulernen, den Willen Gottes kennenzulernen, sich in den Willen Gottes zu fügen, also in die Liebe Gottes, bedeutet also, immer mehr in den Raum der Wahrheit einzutreten. Und dieser Weg der Erkenntnis Gottes, der Liebesbeziehung zu Gott, ist das außerordentliche Abenteuer unseres christlichen Lebens, denn wir kennen in Christus das Antlitz Gottes – das Antlitz Gottes, der uns liebt bis zum Kreuz, bis zur Selbsthingabe.

Aber die kreatürliche Beziehungsorientiertheit bringt auch eine zweite Art der Beziehung mit sich: Wir stehen in Beziehung zu Gott, aber gemeinsam, als Menschheitsfamilie, stehen wir auch in Beziehung zueinander. Mit anderen Worten: die menschliche Freiheit bedeutet einerseits, in der Freude und im weiten Raum der Liebe Gottes zu stehen, aber sie setzt auch voraus, daß wir eins sind mit dem anderen und für den anderen. Es gibt keine Freiheit gegen den anderen. Wenn ich mich verabsolutiere, werde ich zum Feind des anderen. Dann können wir nicht mehr zusammenleben, und das ganze Leben wird Grausamkeit, wird zum Scheitern verurteilt. Nur eine gemeinsame Freiheit ist eine menschliche Freiheit; im Zusammensein können wir in die Symphonie der Freiheit eintreten.

Und das ist daher ein weiterer sehr wichtiger Punkt: Nur wenn ich den anderen annehme, wenn ich auch die Grenze annehme, die die Achtung der Freiheit des anderen meiner eigenen Freiheit zu setzen scheint, nur wenn ich mich in das Netz der Abhängigkeiten hineinbegebe, das uns am Ende zu einer einzigen Familie macht, dann bin ich auf dem Weg zur gemeinsamen Befreiung.

Hier taucht ein sehr wichtiges Element auf: In welchem Maß müssen wir die Freiheit miteinander teilen? Wir sehen, daß der Mensch Ordnung und Recht braucht, um so seine Freiheit, die eine gemeinsam gelebte Freiheit ist, verwirklichen zu können. Und wie können wir die rechte Ordnung finden, in der niemand unterdrückt wird, sondern jeder seinen Beitrag dazu leisten kann, dieses Konzert der Freiheiten entstehen zu lassen? Wenn es keine gemeinsame Wahrheit des Menschen gibt, wie sie in Gottes Augen erscheint, dann bleibt nur der Positivismus, und man hat den Eindruck, daß etwas – auch gewaltsam – aufgezwungen wird. Daher kommt die Auflehnung gegen die Ordnung und das Recht, so als handle es sich um eine Versklavung.

Aber wenn wir die Ordnung des Schöpfers in unserer Natur finden können, die Ordnung der Wahrheit, die jedem seinen Platz gibt, dann können Ordnung und Recht Mittel sein, die zur Freiheit gegen die Knechtschaft des Egoismus führen. Einander zu dienen wird zum Mittel der Freiheit. Hier könnten wir eine ganze politische Philosophie gemäß der Soziallehre der Kirche einfügen. Sie hilft uns, die gemeinsame Ordnung zu finden, die jedem seinen Platz im gemeinsamen Leben der Menschheit gibt. Die erste Wirklichkeit, die es zu achten gilt, ist also die Wahrheit: Freiheit gegen die Wahrheit ist keine Freiheit. Einander zu dienen schafft den gemeinsamen Raum der Freiheit.

Und dann fährt Paulus fort: »Das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Hinter diesen Worten wird das Geheimnis des menschgewordenen Gottes sichtbar, das Geheimnis Christi, der in seinem Leben, in seinem Tod, in seiner Auferstehung zum lebendigen Gesetz wird. Die ersten Worte unserer Lesung – »Ihr seid zur Freiheit berufen« – spielen unmittelbar auf dieses Geheimnis an. Wir sind vom Evangelium berufen worden, wir sind wirklich berufen worden in der Taufe, in der Teilhabe am Tod und an der Auferstehung Christi, und auf diese Weise sind wir vom »Fleisch«, vom Egoismus übergegangen zur Gemeinschaft mit Christus. Und so stehen wir in der Fülle des Gesetzes.

Ihr kennt wahrscheinlich alle die schönen Worte des hl. Augustinus: »Dilige et fac quod vis – Liebe und tue, was du willst.« Was Augustinus sagt, ist die Wahrheit, wenn wir das Wort »Liebe« richtig verstanden haben. »Liebe und tue, was du willst«, aber wir müssen wirklich in die Gemeinschaft mit Christus eingedrungen sein, uns mit seinem Tod und mit seiner Auferstehung identifiziert haben, mit ihm in der Gemeinschaft seines Leibes vereint sein. In der Teilnahme an den Sakramenten, im Hören des Wortes Gottes tritt der göttliche Wille, das göttliche Gesetz wirklich in unseren Willen ein, stimmt unser Wille mit seinem Willen überein, werden sie zu einem einzigen Willen. Und so sind wir wirklich frei, können wir wirklich das tun, was wir wollen, weil wir mit Christus wollen, in der Wahrheit und mit der Wahrheit wollen.

Bitten wir also den Herrn, uns auf diesem Weg zu helfen, der mit der Taufe begonnen hat, einem Weg der Identifizierung mit Christus, der in der Eucharistie stets aufs neue wirklich wird. Im Dritten Eucharistischen Hochgebet sprechen wir: »Damit wir ein Leib und ein Geist werden in Christus«. In diesem Augenblick werden wir durch die Eucharistie und durch unsere wahre Teilhabe am Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi ein Geist mit ihm, stehen wir in dieser Willensgleichheit und gelangen so wirklich zur Freiheit.

Hinter diesem Wort – das Gesetz ist erfüllt –, hinter diesem einen Wort, das in der Gemeinschaft mit Christus Wirklichkeit wird, werden hinter dem Herrn alle Gestalten der Heiligen sichtbar, die in diese Gemeinschaft mit Christus eingetreten sind, in diese Einheit des Seins, in diese Einheit mit seinem Willen. Sichtbar wird vor allem die Muttergottes, in ihrer Demut, in ihrer Güte, in ihrer Liebe. Die Muttergottes schenkt uns dieses Vertrauen, sie nimmt uns an der Hand, sie führt uns, sie hilft uns auf diesem Weg, eins zu sein mit dem Willen Gottes – so wie sie selbst es vom ersten Augenblick an war. Durch ihr »Fiat« hat sie diese Vereinigung zum Ausdruck gebracht.

Und nach diesen schönen Dingen findet sich im selben Brief schließlich ein Hinweis auf die etwas traurige Situation der Gemeinde der Galater. Paulus sagt: »Wenn ihr einander beißt und verschlingt, dann gebt acht, daß ihr euch nicht gegenseitig umbringt … Laßt euch vom Geist leiten. « Mir scheint, daß es in dieser Gemeinde – die sich nicht mehr auf dem Weg der Gemeinschaft mit Christus befand, sondern auf dem des äußeren Gesetzes des »Fleisches« – natürlich auch zu Polemiken kommt, und Paulus sagt: Ihr werdet wie die Tiere, einer beißt den anderen. Er spielt damit auf die Polemiken an, die dort entstehen, wo der Glaube zum Intellektualismus verkommt und an die Stelle der Demut die Anmaßung tritt, besser zu sein als der andere.

Wir sehen sehr wohl, daß es auch heute Ähnliches gibt – dort, wo jeder, statt sich in die Gemeinschaft mit Christus, in den Leib Christi, die Kirche, einzugliedern, dem anderen überlegen sein will und mit intellektueller Anmaßung glauben machen will, daß er besser sei. Und so entstehen Polemiken, die zersetzend sind; so entsteht eine Karikatur von Kirche, die ein Herz und eine Seele sein sollte.

In dieser Mahnung des hl. Paulus müssen wir auch heute einen Grund zur Gewissenserforschung finden. Wir dürfen nicht meinen, daß wir dem anderen überlegen sind, sondern wir müssen in der Demut Christi, in der Demut der Muttergottes stehen, in den Glaubensgehorsam eintreten. So öffnet sich auch für uns wirklich der große Raum der Wahrheit und der Freiheit in der Liebe.

Zum Abschluß wollen wir Gott danken, daß er uns in Christus sein Antlitz gezeigt hat, daß er uns die Muttergottes geschenkt hat, daß er uns die Heiligen geschenkt und uns berufen hat, ein Leib und ein Geist zu sein in ihm. Und wir wollen beten, daß er uns helfen möge, in diese Gemeinschaft mit seinem Willen immer mehr eingefügt zu sein, um so mit der Freiheit die Liebe und die Freude zu finden.

Nachdem Papst Benedikt XVI. mit der Gemeinschaft des Römischen Priesterseminars in familiärer Atmosphäre im Refektorium zu Abend gegessen hatte, richtete er folgende Worte an die Seminaristen.

Man sagt mir, daß man noch einige Worte von mir erwartet. Vielleicht habe ich bereits zu viel geredet, aber ich möchte meiner Dankbarkeit und meiner Freude Ausdruck verleihen, hier bei euch zu sein. Im Gespräch bei Tisch habe ich noch mehr über die Geschichte des Laterans gelernt, angefangen bei Konstantin, Sixtus V., Benedikt XIV., Papst Lambertini. So habe ich alle Probleme der Geschichte gesehen und die immer neue Wiedergeburt der Kirche in Rom. Und ich habe verstanden, daß es in der Diskontinuität der äußeren Ereignisse die große Kontinuität der Einheit der Kirche in allen Zeiten gibt. Und auch im Hinblick auf die Zusammensetzung des Seminars habe ich verstanden, daß sie Ausdruck der Katholizität unserer Kirche ist. Aus allen Kontinenten bilden wir die eine Kirche, und wir haben eine gemeinsame Zukunft. Hoffen wir nur, daß die Zahl der Berufungen noch größer wird, denn wir brauchen – wie der Rektor gesagt hat – Arbeiter im Weinberg des Herrn. Danke euch allen!



AN DIE TEILNEHMER DER VOLLVERSAMMLUNG DER

PÄPSTLICHEN AKADEMIE FÜR DAS LEBEN


Samstag, 21. Februar 2009




Exzellenzen,
verehrte Mitbrüder im bischöflichen und im priesterlichen Dienst,
geschätzte Mitglieder der Akademie,
sehr geehrte Damen und Herren!

Mit besonderer Freude empfange ich euch aus Anlaß der XV. Ordentlichen Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben. Mein verehrter Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat sie 1994 unter dem Vorsitz eines Wissenschaftlers, Prof. Jerôme Lejeune, errichtet und mit Weitblick die schwierige Aufgabe erkannt, die sie im Lauf der Jahre erfüllen sollte. Ich danke dem Präsidenten, Erzbischof Rino Fisichella, für seine einführenden Worte, mit denen er den großen Einsatz der Akademie für die Förderung und den Schutz des menschlichen Lebens bekräftigt hat.

Seit der Augustinerprior Gregor Mendel Mitte des 19. Jahrhunderts die Vererbungsgesetze bestimmter Merkmale entdeckt hat und somit als Begründer der Genetik gilt, hat diese Wissenschaft wirklich außerordentliche Fortschritte gemacht im Verständnis jener Sprache, welche die Grundlage der biologischen Information ist und die Entwicklung eines Lebewesens bestimmt. Aus diesem Grund nimmt die moderne Genetik einen herausragenden Platz innerhalb der biologischen Disziplinen ein, die beigetragen haben zur erstaunlichen Entwicklung der Kenntnisse über die unsichtbare Architektur des menschlichen Leibes und die zellulären und molekularen Prozesse, die seine vielfältigen Aktivitäten lenken. Die Wissenschaft ist heute so weit, daß sie verschiedene verborgene Mechanismen der menschlichen Physiologie und auch die Prozesse aufgedeckt hat, die mit dem Auftreten einiger erblicher Gendefekte zusammenhängen, sowie die Prozesse, durch die manche Menschen einem größeren Risiko ausgesetzt sind, sich eine bestimmte Krankheit zuzuziehen. Dieses Wissen – Ergebnis der Intelligenz und der Mühe unzähliger Wissenschaftler – erlaubt nicht nur die leichtere, wirksamere und frühere Diagnose genetischer Krankheiten, sondern auch die Entwicklung von Therapien, die dazu bestimmt sind, die Leiden der Kranken zu lindern und in einigen Fällen ihnen sogar die Hoffnung auf Gesundung wiederzugeben. Seitdem des weiteren die Sequenz des gesamten menschlichen Genoms bekannt ist, sind auch Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen und verschiedenen Bevölkerungsgruppen Gegenstand genetischer Untersuchungen geworden, welche die Möglichkeit neuer Erkenntnisse erahnen lassen.

Das Forschungsspektrum ist auch heute sehr offen und täglich eröffnen sich neue Horizonte, die noch weitgehend unerforscht sind. Die Anstrengungen der Wissenschaftler in diesen so rätselhaften und wertvollen Bereichen erfordern besondere Unterstützung; deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Wissenschaften eine Hilfe, die nie fehlen darf, um zu Ergebnissen zu gelangen, die zugleich wirksam sind und einen echten Fortschritt für die gesamte Menschheit mit sich bringen. Diese Komplementarität hilft, das Risiko eines verbreiteten genetischen Reduktionismus zu vermeiden, der dazu neigt, die menschliche Person ausschließlich mit Bezug auf die genetische Information und ihre Interaktion mit der Umgebung zu identifizieren. Es muß betont werden, daß der Mensch immer größer sein wird als all das, was seinen Körper ausmacht; denn er trägt in sich die Kraft des Denkens, das immer nach der Wahrheit über sich selbst und die Welt strebt. Das erinnert an die bedeutungsschweren Worte eines großen Denkers, der auch ein ausgezeichneter Wissenschaftler war, Blaise Pascal: »Der Mensch ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr. Das ganze Weltall braucht sich nicht zu waffnen, um ihn zu zermalmen; ein Dampf, ein Wassertropfen genügen, um ihn zu töten. Doch wenn das Weltall ihn zermalmte, so wäre der Mensch nur noch viel edler als das, was ihn tötet, denn er weiß ja, daß er stirbt und welche Überlegenheit ihm gegenüber das Weltall hat. Das Weltall weiß davon nichts« (Pensées, 347).

Jeder Mensch ist also sehr viel mehr als eine einmalige Kombination von genetischen Informationen, die von seinen Eltern weitergegeben werden. Die Zeugung des Menschen kann nie auf die einfache Reproduktion eines neuen Individuums der menschlichen Spezies reduziert werden, wie dies bei irgendeinem Tier geschieht. Jedes Auf-die-Welt-Kommen eines Menschen ist immer eine neue Schöpfung. Daran erinnern mit tiefer Weisheit die Worte des Psalms: »Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter… Als ich geformt wurde im Dunkeln, … waren meine Glieder dir nicht verborgen« (139,13.15). Wenn man in das Geheimnis des menschlichen Lebens eindringen will, ist es also notwendig, daß keine wissenschaftliche Disziplin sich isoliert, indem sie vorgibt das letzte Wort zu haben. Man muß dagegen die gemeinsame Berufung teilen, um auch in der Unterschiedlichkeit der Methoden und der jeder Wissenschaft eigenen Inhalte zur Wahrheit zu gelangen.

Euer Kongreß analysiert aber nicht nur die großen Herausforderungen, denen sich die Genetik stellen muß, sondern er erstreckt sich auch auf die Risiken der Eugenik, eine gewiß nicht neue Praxis, die in der Vergangenheit zu unerhörten Formen von echter Diskriminierung und Gewalt geführt hat. Die Mißbilligung der Eugenik – von einem Regime gewaltsam angewendet oder auch Folge des Hasses gegen ein Volk oder einen Bevölkerungsteil – ist so tief in den Gewissen verankert, daß sie bindenden Ausdruck in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden hat. Trotzdem tauchen noch in unseren Tagen besorgniserregende Zeugnisse dieser verwerflichen Praxis auf, die sich unter verschiedenen Aspekten zeigt. Sicherlich treten nicht die eugenischen und rassistischen Ideologien auf, die den Menschen in der Vergangenheit gedemütigt und furchtbare Leiden verursacht haben, aber es schleicht sich eine neue Mentalität ein, die dazu neigt, eine andere Auffassung des Lebens und der Menschenwürde zu rechtfertigen, die auf den eigenen Wunsch und das individuelle Recht gegründet ist. Man tendiert also dazu, die Handlungsfähigkeit, Effizienz, Vollkommenheit und physische Schönheit auf Kosten von anderen, als unwürdig betrachteten Dimensionen des Lebens zu bevorzugen. Auf diese Weise wird der Respekt geschwächt, der jedem Menschen gebührt, auch bei Vorhandensein eines Fehlers in seiner Entwicklung oder einer genetischen Krankheit, die im Lauf seines Lebens ausbrechen könnte, und jene Kinder, deren Leben als nicht lebenswert betrachtet wird, werden vom Augenblick ihrer Empfängnis an benachteiligt.

Man muß bekräftigen, daß die durch jedwede Macht begangenen Diskriminierungen von Personen, Völkern oder Ethnien aufgrund der Unterschiede, die auf tatsächliche oder angenommene genetische Faktoren zurückgeführt werden, einen Angriff auf die gesamte Menschheit darstellen. Man muß mit Nachdruck die gleiche Würde jedes Menschen betonen, die sich aus der Tatsache ergibt, daß er ins Dasein getreten ist. Die biologische, psychische, kulturelle Entwicklung oder der Gesundheitszustand dürfen nie zu einem diskriminierenden Element werden. Es ist im Gegenteil notwendig, die Kultur der Annahme und der Liebe zu festigen, die konkretes Zeugnis geben von der Solidarität mit denen, die leiden, und die die Barrieren beseitigt, welche die Gesellschaft oft durch die Diskriminierung derjenigen errichtet, die behindert und krank sind, oder schlimmer noch, indem sie im Namen eines abstrakten Ideals von Gesundheit und physischer Vollkommenheit bis zur Selektion oder zur Zurückweisung des Lebens geht. Wenn der Mensch von seinen frühesten Entwicklungsphasen an auf ein Objekt experimenteller Manipulation reduziert wird, bedeutet das, daß sich die biomedizinischen Technologien der Willkür des Stärkeren ergeben haben. Das Vertrauen in die Wissenschaft darf nicht den Primat der Ethik vergessen lassen, wenn das menschliche Leben auf dem Spiel steht.

Ich vertraue darauf, daß eure Forschungen auf diesem Sektor weitergehen können mit dem erforderlichen wissenschaftlichen Einsatz und der Aufmerksamkeit, den die ethische Instanz erfordert in bezug auf die Problematiken, die für die ganzheitliche Entwicklung der menschlichen Existenz so wichtig und entscheidend sind. Mit diesem Wunsch möchte ich unsere heutige Begegnung abschließen. Ich rufe auf eure Arbeit reiches himmlisches Licht herab und erteile euch allen von Herzen einen besonderen Apostolischen Segen.
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BEGEGNUNG MIT DEM KLERUS DER DIÖZESE ROM

Donnerstag, 26. Februar 2009
1) Don Gianpiero Palmieri, Pfarrer der Pfarrgemeinde »San Frumenzio« im Stadtviertel Prati Fiscali


Ich möchte eine Frage stellen zum Evangelisierungsauftrag der christlichen Gemeinschaft und insbesondere zur Rolle und Ausbildung von uns Priestern in diesem Evangelisierungsauftrag.

Um zu erklären, worum es mir geht, beginne ich mit einer Episode aus meinem eigenen Leben. Als ich als junger Kaplan meinen pastoralen Dienst in der Pfarrei und in der Schule begonnen habe, fühlte ich mich durch meine Studien und die erhaltene Ausbildung gestärkt, gut verwurzelt in der Welt meiner Überzeugungen, meiner Denksysteme. Eine gläubige und weise Frau, die mich in Aktion sah, schüttelte lächelnd den Kopf und sagte zu mir: Don Gianpiero, wann ziehst du dir die langen Hosen an, wann wirst du endlich ein Mann? Eine Episode, die sich mir tief im Herzen festgesetzt hat. Jene weise Frau versuchte mir zu erklären, daß das Leben, die reale Welt, Gott selbst viel größer und überraschender sind als die von uns erarbeiteten Konzepte. Sie lud mich ein, auf das Menschliche zu hören, um verstehen und begreifen zu versuchen, ohne voreilig zu urteilen. Sie forderte mich auf, den Bezug zur Wirklichkeit zu lernen, ohne Angst, denn in der Wirklichkeit wohnt Christus selbst, der in seinem Geist geheimnisvoll handelt. Gegenüber dem Evangelisierungsauftrag in der heutigen Zeit fühlen wir Priester uns unzulänglich vorbereitet, als trügen wir noch immer kurze Hosen. Und das in kultureller Hinsicht – es fehlt uns die sorgfältige Kenntnis der großen Leitlinien des modernen Denkens in seinen positiven Aspekten und in seinen Grenzen – und vor allem in menschlicher Hinsicht. Wir laufen immer Gefahr, allzu starr zu sein, unfähig, das Herz der heutigen Menschen mit Weisheit zu begreifen. Ist die Verkündigung des Heils in Jesus nicht auch die Verkündigung des neuen Menschen Jesus, des Gottessohnes, in dem auch unser armes Menschsein von Gott erlöst, wahrhaftig gemacht, verwandelt wird? Nun meine Frage: Teilen Sie diese knappen Gedanken? In unsere christlichen Gemeinden kommen so viele Menschen, die vom Leben verletzt sind. Welche Orte und Möglichkeiten können wir uns ausdenken, um in der Begegnung mit Jesus dem Menschsein der anderen zu helfen? Und wie können wir auch in uns Priestern eine schöne und fruchtbare Menschlichkeit aufbauen? Danke, Eure Heiligkeit!

Papst Benedikt XVI.: Danke! Liebe Mitbrüder, zunächst möchte ich meiner großen Freude über das Treffen mit euch, den Pfarrern von Rom – meinen Pfarrern, denn wir sind ja gleichsam eine Familie – Ausdruck verleihen. Es ist, wie der Kardinalvikar treffend gesagt hat, ein Augenblick geistlicher Erholung. Und in diesem Sinn bin ich auch dankbar dafür, daß ich die Fastenzeit mit einem Augenblick geistlicher Erholung, geistlichen Atemholens, im Kontakt mit euch beginnen kann. Und er hat auch gesagt: Wir sind zusammen, damit ihr mir eure Erfahrungen, eure Leiden, aber auch eure Erfolge und Freuden erzählen könnt. Ich würde also nicht sagen, daß hier ein Orakel spricht, an das ihr eure Fragen richtet. Wir befinden uns hingegen in einem vertraulichen Austausch, wo es für mich auch sehr wichtig ist, durch euch das Leben in den Pfarreien, eure Erfahrungen mit dem Wort Gottes im Umfeld unserer heutigen Welt kennenzulernen. Und so möchte auch ich lernen, der Wirklichkeit näherkommen, von der man hier im Apostolischen Palast manchmal etwas weit entfernt ist. Und darin liegt auch die Begrenztheit meiner Antworten. Ihr lebt Tag für Tag im direkten Kontakt mit der heutigen Welt; und auch ich lebe in unterschiedlichen Kontakten, die sehr nützlich sind. So hatte ich zum Beispiel gerade die Bischöfe von Nigeria zu ihrem »Ad-limina«-Besuch hier. Und so habe ich durch diese Menschen das Leben der Kirche in einem wichtigen Land Afrikas – dem größten Land Afrikas, mit 140 Millionen Einwohnern, eine große Zahl davon Katholiken – sehen und die Freuden, aber auch die Leiden der Kirche dort gleichsam berühren können. Aber für mich ist das offensichtlich eine geistliche Erholung, weil es eine Kirche ist, wie wir sie aus der Apostelgeschichte kennen. Eine Kirche, wo es die frische Freude darüber gibt, Christus gefunden zu haben, den Messias Gottes gefunden zu haben. Eine lebendige Kirche, die jeden Tag wächst. Die Menschen freuen sich darüber, Christus gefunden zu haben. Sie haben Berufungen und können daher für verschiedene Länder der Welt »Fidei donum« Priester bereitstellen. Wir sehen auch, daß es nicht nur eine müde Kirche gibt, wie wir sie häufig in Europa finden, sondern eine junge Kirche, erfüllt von der Freude des Heiligen Geistes, und dies ist sicherlich eine geistliche Erfrischung. Aber mit all diesen weltweiten Erfahrungen ist es für mich auch wichtig, meine Diözese, die Probleme und die Verhältnisse insgesamt in dieser Diözese zu sehen.

In diesem Sinn stimme ich Ihnen im wesentlichen zu: Das im Theologiestudium erworbene wertvolle Rüstzeug reicht nicht aus, um in Verkündigung und Seelsorge die Menschen von heute zu erreichen. Dieses Rüstzeug ist wichtig und grundlegend, es muß aber personalisiert werden: Die akademische Erkenntnis, die wir uns im Studium erworben und auch reflektiert haben, muß in meine persönliche Lebensanschauung umgesetzt werden, um andere Menschen zu erreichen. In diesem Sinn möchte ich sagen, daß es auf der einen Seite wichtig ist, in der Begegnung mit unseren Pfarrgemeindemitgliedern das große Wort des Glaubens durch unsere persönliche Glaubenserfahrung zu konkretisieren, ohne dabei aber seine Einfachheit verloren gehen zu lassen. Natürlich sind von der Tradition weitergegebene große und wichtige Begriffe – wie Sühneopfer, Erlösung durch das Opfer Christi, Erbsünde – heute als solche unverständlich. Wir können nicht einfach mit großen, wenngleich wahren Formeln arbeiten, die aber nicht mehr in den Kontext der heutigen Welt eingebettet sind. Wir müssen mit Hilfe des Studiums und all dessen, was uns die Theologieprofessoren und unsere persönliche Gotteserfahrung sagen, diese großen Worte so konkretisieren bzw. übersetzen, daß sie in die Verkündigung Gottes gegenüber dem Menschen von heute Eingang finden können.

Und andererseits würde ich sagen, daß wir die Einfachheit des Wortes Gottes nicht mit allzu schwerfälligen Einschätzungen aus rein menschlicher Sicht überfrachten sollten. Ich erinnere mich an einen Freund, der – nachdem er Predigten mit langen anthropologischen Darlegungen, die als Heranführung an das Evangelium gedacht waren, gehört hatte – dann zu mir sagte: Aber diese Heranführungen interessieren mich nicht, ich möchte verstehen, was das Evangelium sagt! Und mir scheint, statt langer umständlicher Annäherungswege wäre es – wie ich es getan habe, als ich mich noch im normalen Leben befand – oft besser zu sagen: Dieses Evangelium gefällt uns nicht, wir sind gegen das, was der Herr sagt! Aber was will es sagen? Wenn ich ehrlich sage, daß ich auf den ersten Blick nicht einverstanden bin, ist bereits die Aufmerksamkeit gegeben. Es wird klar: Ich als Mensch von heute möchte verstehen, was der Herr sagt. Auf diese Weise können wir ohne lange Umwege zum entscheidenden Kern des Wortes vordringen. Und wir sollen auch ohne falsche Vereinfachungen berücksichtigen, daß die zwölf Apostel Fischer, Handwerker in dieser Provinz Galiläa waren, daß sie keine besondere Vorbereitung, keine Kenntnis von der großen griechischen und lateinischen Welt hatten. Trotzdem sind sie in alle Teile des Römisches Reiches, ja über dessen Grenzen hinaus bis nach Indien gezogen und haben in aller Einfachheit, mit der Kraft der Einfachheit der Wahrheit Christus verkündet. Und wichtig erscheint mir auch folgendes: Lassen wir die Einfachheit der Wahrheit nicht verlorengehen! Gott existiert, Gott ist kein hypothetisches, fernes Wesen; Gott ist nahe, er hat zu uns gesprochen, er hat zu mir gesprochen. Und so sagen wir einfach das, was wir für objektiv gegeben ansehen und wie man es natürlich erklären und entfalten kann und soll. Aber verlieren wir nicht die Tatsache aus den Augen, daß wir keine Gedankengebäude, keine Philosophie anbieten, sondern die einfache Botschaft Gottes, der gehandelt hat. Und der auch an mir gehandelt hat.

Und zur kulturellen Kontextualisierung im Hinblick auf das römische Umfeld – die absolut notwendig ist – möchte ich sagen, daß das erste Hilfsmittel dafür unsere persönliche Erfahrung ist. Wir leben nicht hinter dem Mond. Ich bin ein Mensch dieser Zeit, wenn ich in der Kultur von heute – mit ihren modernen Massenmedien, mit den Dialogen und den wirtschaftlichen Realitäten – meinen Glauben aufrichtig lebe, wenn ich selber meine Erfahrung ernst nehme und diese Wirklichkeit in mir zu personalisieren versuche. So sind wir auf dem richtigen Weg, um uns anderen gegenüber verständlich zu machen. Der hl. Bernhard von Clairvaux sagt in seinem Werk De consideratione zu seinem Schüler Papst Eugen III.: Strebe danach, aus deiner eigenen Quelle zu trinken, das heißt aus deiner eigenen Menschlichkeit! Wenn du ehrlich mit dir bist und mit deiner menschlichen Erfahrung zu diesem Zeitpunkt, wenn du also aus deinem Brunnen trinkst, an dir zu erkennen beginnst, was der Glaube ist, wirst du, wie der hl. Bernhard sagt, auch den anderen sagen können, was man sagen soll. Und in diesem Sinn erscheint es mir wichtig, der heutigen Welt wirkliche Aufmerksamkeit zu schenken, aber auch in mir selbst auf den Herrn zu achten: Es geht darum, ein Mensch dieser Zeit zu sein und zugleich einer, der an Christus glaubt, der in sich die ewige Botschaft in eine aktuelle Botschaft verwandelt.

Und wer kennt die Menschen besser als der Pfarrer? Das Pfarrhaus befindet sich nicht in der Welt, es befindet sich jedoch in der Pfarrgemeinde. Und hierher, zum Pfarrer, kommen die Menschen oft und normalerweise ohne Maske, nicht unter anderen Vorwänden, sondern in der Situation des Leidens, der Krankheit, des Todes, der Probleme in der Familie. Sie kommen ohne Maske in den Beichtstuhl, mit ihrem eigentlichen Sein. Kein anderer Beruf bietet, wie mir scheint, diese Möglichkeit, den Menschen kennenzulernen, wie er in seiner Menschlichkeit ist und nicht in der Rolle, die er in der Gesellschaft hat. In diesem Sinn können wir tatsächlich den Menschen in seiner Tiefe, außerhalb seiner verschiedenen Rollen, kennenlernen und wir können auch selbst, immer in der Schule Christi, die Menschlichkeit lernen. So würde ich sagen, daß es von größter Bedeutung und absolut notwendig ist, den Menschen, den heutigen Menschen, in uns und bei den anderen kennenzulernen, aber immer, indem ich aufmerksam auf den Herrn höre und das Samenkorn des Wortes in mich aufnehme, damit es sich in mir in besten Weizen verwandelt und sich den anderen mitteilen läßt.

2) Don Fabio Rosini, Pfarrer an »Santa Francesca Romana« im Viertel Ardeatino

In Anbetracht des gegenwärtigen Säkularisierungsprozesses und seiner offenkundigen sozialen und existentiellen Auswirkungen haben wir von Ihrem Lehramt mehrmals in äußerst angemessener Weise und in wunderbarer Kontinuität mit dem Lehramt Ihres verehrten Vorgängers die mahnende Aufforderung zur dringend notwendigen Erstverkündigung, zum pastoralen Eifer für die Evangelisierung bzw. Neuevangelisierung, zur Annahme einer missionarischen Gesinnung erhalten. Wir haben verstanden, wie wichtig die Umgestaltung der normalen Seelsorgearbeit ist, bei der wir nicht mehr den Glauben der Masse voraussetzen und uns damit zufrieden geben können, uns um jenen Teil der Gläubigen zu kümmern, der Gott sei Dank im christlichen Leben ausharrt, sondern uns entschiedener und planmäßiger der vielen verlorenen oder zumindest orientierungslosen Schafe anzunehmen. In großer Zahl und mit verschiedenen Ansätzen haben wir römischen Priester auf diese objektive Dringlichkeit, den Glauben wieder zu begründen oder oft überhaupt erst zu begründen, zu antworten versucht. Die Erfahrungen mit der Erstverkündigung vervielfachen sich, und es fehlt auch nicht an sehr ermutigenden Ergebnissen. Persönlich kann ich feststellen, daß das Evangelium, wenn es mit Freude und Offenheit verkündet wird, das Herz der Männer und Frauen dieser Stadt durchaus zu gewinnen vermag, eben weil es die Wahrheit ist und dem entspricht, was der Mensch zutiefst braucht. Die Schönheit des Evangeliums und des Glaubens wird, wenn diese mit liebevoller Glaubwürdigkeit dargeboten werden, von selbst offenkundig. Aber der manchmal überraschend hohe zahlenmäßige Vergleich ist nicht an und für sich die Gewähr dafür, daß es sich um eine gute Initiative handelt. In der Kirchengeschichte, auch in jüngster Zeit, fehlt es nicht an Beispielen. Paradoxerweise kann ein pastoraler Erfolg einen Irrtum verschleiern, einen verkehrten Ansatz, der vielleicht nicht unmittelbar zutage tritt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Welche unverzichtbaren Kriterien muß es für diese dringende Evangelisierungsarbeit geben? Welche Elemente garantieren Ihrer Meinung nach, daß man die pastorale Mühe der Verkündigung an diese heutige Generation nicht vergebens auf sich nimmt? Ich bitte Sie demütig, uns mit Ihrem umsichtigen Unterscheidungsvermögen die Kriterien zu empfehlen, die eingehalten und zur Geltung gebracht werden müssen, um behaupten zu können, man vollbringe eine authentisch katholische Evangelisierungsarbeit, die in der Kirche Früchte trägt. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihr erleuchtetes Lehramt. Bitte segnen Sie uns!

Papst Benedikt XVI.: Ich bin froh zu hören, daß tatsächlich diese Erstverkündigung stattfindet, daß man sich über die Grenzen der Gemeinschaft der Gläubigen, der Pfarrei hinaus auf die Suche nach den sogenannten zerstreuten Schafen begibt; daß man versucht, auf den Menschen von heute, der ohne Christus lebt, der Christus vergessen hat, zuzugehen, um ihm das Evangelium zu verkünden. Und ich bin glücklich zu hören, daß man das nicht nur tut, sondern daß sich daraus auch zahlenmäßig ermutigende Erfolge ergeben. Ich sehe also, daß ihr die Fähigkeit besitzt, jene Menschen anzusprechen, in denen man den Glauben wieder begründen oder überhaupt ganz neu begründen muß.

Für diese konkrete Arbeit kann ich keine fertigen Rezepte geben, weil die Wege, die je nach den Personen, den Berufen, den verschiedenen Situationen eingeschlagen werden müssen, sehr verschieden sind. Der Katechismus gibt das Wesentliche dessen an, was verkündet werden soll. Aber derjenige, der die Situationen kennt, muß die Hinweise anwenden, eine Methode finden, um die Herzen zu öffnen, und dazu einladen, sich mit dem Herrn und mit der Kirche auf den Weg zu machen.

Sie sprechen von den Unterscheidungskriterien, damit nicht alles Bemühen vergeblich bleibt. Ich möchte zunächst sagen, daß beide Seiten wichtig sind. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist etwas Wertvolles, und wir dürfen – auch wenn wir auf die vielen Fernstehenden blicken – nicht die positive und schöne Wirklichkeit unterschätzen, die diese Gläubigen darstellen, die zum Herrn in der Kirche »Ja« sagen, die den Glauben zu leben, in den Spuren des Herrn zu gehen versuchen. Diesen Gläubigen müssen wir – wie ich schon vorhin in meiner Antwort auf die erste Frage gesagt habe – helfen, die Gegenwart des Glaubens zu sehen, zu verstehen, daß er nicht eine Sache der Vergangenheit ist, sondern uns heute den Weg zeigt, uns lehrt, als Menschen zu leben. Es ist von großer Bedeutung, daß sie in ihrem Pfarrer wirklich den Hirten finden, der sie liebt und ihnen hilft, das Wort Gottes heute zu hören; zu verstehen, daß es ein Wort an sie und nicht an Personen der Vergangenheit oder der Zukunft ist; der ihnen zudem im sakramentalen Leben, in der Gebetserfahrung, im Hören des Gotteswortes und im Leben der Gerechtigkeit und der Liebe hilft, denn in unserer heutigen Gesellschaft mit ihren vielen Problemen und Gefahren und auch der bestehenden Korruption sollten die Christen Sauerteig sein.

Auf diese Weise, so glaube ich, können sie auch eine missionarische Aufgabe »ohne Worte« ausüben, da es sich um Personen handelt, die wirklich ein gerechtes Leben leben. So geben sie Zeugnis davon, wie es möglich ist, auf den vom Herrn angegebenen Wegen richtig zu leben. Unsere Gesellschaft braucht gerade jene Gemeinschaften, die imstande sind, die Gerechtigkeit heute nicht nur für sich selbst, sondern auch für den anderen zu leben. Menschen, die – wie wir heute in der ersten Lesung gehört haben – das Leben zu leben wissen. Am Beginn dieser Lesung heißt es: »Wähle das Leben«: Dazu Ja zu sagen, fällt leicht. Aber dann heißt es weiter: »Gott ist dein Leben« (vgl. Dtn Dt 30,19). Das Leben wählen, heißt also, die Option für das Leben und damit die Option für Gott wählen. Wenn es Personen oder Gemeinden gibt, die diese vollkommene Wahl des Lebens treffen und sichtbar machen, daß das von ihnen gewählte Leben wirklich Leben ist, geben sie ein Zeugnis von allerhöchstem Wert.

Ich komme zu einer zweiten Überlegung. Für die Verkündigung benötigen wir zwei Elemente: das Wort und das Zeugnis. Wie wir vom Herrn selbst wissen, muß das Wort, das alles sagt, was er uns gesagt hat, die Wahrheit Gottes, die Gegenwart Gottes in Christus, den Weg, der sich vor uns öffnet, erscheinen lassen. Es handelt sich also, wie Sie gesagt haben, um eine Verkündigung in der Gegenwart, die die Worte der Vergangenheit in unsere Erfahrungswelt überträgt. Es ist absolut unerläßlich und grundlegend, diesem Wort durch das Zeugnis Glaubwürdigkeit zu verleihen, damit es nicht bloß als eine schöne Philosophie oder eine schöne Utopie, sondern vielmehr als Wirklichkeit erscheint. Eine Wirklichkeit, mit der man leben kann, aber nicht nur das: Eine Wirklichkeit, die einen leben läßt. In diesem Sinn scheint mir das Zeugnis der gläubigen Gemeinde als Hintergrund des Wortes, der Verkündigung von allergrößter Bedeutung zu sein. Mit dem Wort können wir all jenen, die Gott suchen, Orte der Glaubenserfahrung erschließen. So hat es die frühchristliche Kirche durch den Katechumenat gemacht, der nicht bloß eine Katechese, eine lehrmäßige Angelegenheit war, sondern ein Ort fortschreitender Erfahrung des Glaubenslebens, in der sich dann auch das Wort erschließt, das nur dann verständlich wird, wenn es vom Leben ausgelegt, vom Leben verwirklicht wird.

Daher erscheint es mir wichtig, daß es zusammen mit dem Wort auch einen Ort der Gastfreundschaft für den Glauben gibt, einen Ort, an dem man eine fortschreitende Glaubenserfahrung macht. Und hier sehe ich auch eine der Aufgaben der Pfarrei: Gastfreundschaft für jene, die dieses Leben, wie es für die Pfarrgemeinde typisch ist, nicht kennen. Wir dürfen uns nicht selber in einem geschlossenen Kreis verschließen. Wir haben unsere Gewohnheiten, aber wir müssen uns auf jeden Fall öffnen und versuchen, auch Begegnungsräume zu schaffen. Jemand, der von weit draußen kommt, kann nicht sofort in das gestaltete Leben einer Pfarrei eintreten, die bereits ihre festen Gepflogenheiten hat. Für ihn ist in dem Augenblick alles sehr überraschend, weit weg von seinem bisherigen Leben. Deshalb müssen wir versuchen, mit Hilfe des Wortes das zu schaffen, was die frühe Kirche mit den Katechumenaten geschaffen hat: Räume, in denen man beginnt, das Wort zu leben, dem Wort zu folgen, es verständlich und wirklichkeitsnah, Formen realer Erfahrung angemessen zu machen. In diesem Sinn erscheint mir sehr wichtig, worauf Sie hingewiesen haben, nämlich die Notwendigkeit, das Wort mit dem Zeugnis eines gerechten Lebens zu verbinden: dazusein für die anderen, sich den Armen, den Bedürftigen zu öffnen, aber auch den Reichen, die es nötig haben, daß ihnen das Herz geöffnet wird, daß sie das Anklopfen an ihrem Herzen hören. Es handelt sich also je nach der Situation um verschiedene Räume.

Dazu kann man, wie mir scheint, theoretisch wenig sagen, aber die konkrete Erfahrung wird die Wege aufzeigen, die befolgt werden sollen. Und natürlich – ein Kriterium, das immer einzuhalten ist – muß diese Initiative immer in der großen Gemeinschaft der Kirche erfolgen, wenn auch vielleicht in einem noch etwas fernen Raum, das heißt in Gemeinschaft mit dem Bischof, mit dem Papst, also in Gemeinschaft mit der großen Vergangenheit und mit der großen Zukunft der Kirche. Denn zur katholischen Kirche zu gehören, bedeutet nicht nur, unterwegs zu sein auf einem Weg, der uns vorausgeht, sondern es bedeutet auch, daß wir uns in der Perspektive einer großen Öffnung für die Zukunft befinden. Eine Zukunft, die sich nur auf diese Weise öffnet. Man könnte vielleicht noch weiter über die Inhalte sprechen, aber dazu können wir eine andere Gelegenheit finden.

3) Don Giuseppe Forlai, Pfarrvikar in der Pfarrei »San Giovanni Crisostomo« im nördlichen Teil der Diözese Rom

Der Notstand im Erziehungsbereich, von dem Eure Heiligkeit maßgeblich gesprochen hat, ist auch, wie wir alle wissen, eine Notlage der Erzieher – und dies, so glaube ich, vor allem unter zwei Aspekten. Zuallererst ist es notwendig, stärker auf die Kontinuität der Präsenz des Priesters, der als Erzieher arbeitet, zu achten. Ein Jugendlicher schließt mit einem, der nach zwei oder drei Jahren wieder geht, kein »Bündnis«, das sein inneres Wachstum betrifft; dies auch deshalb, weil er bereits emotional gefordert ist, die Beziehungen zu Elternteilen, die die Familie verlassen, zu neuen Partnern von Mutter oder Vater, zu nicht fest angestellten Lehrern, die jedes Jahr wechseln, zu bewältigen. Um zu erziehen, bedarf es der längeren Präsenz am selben Ort. Die erste Notwendigkeit, die ich sehe, ist daher eine gewisse Stabilität am Einsatzort des Priesters als Erzieher. Ein zweiter Aspekt: Ich glaube, daß die entscheidende Partie der Jugendseelsorge auf dem Spielfeld der Kultur ausgetragen werden soll. Kultur verstanden als emotionale und beziehungsmäßige Fähigkeit und als Beherrschung der Worte, die die Ideen enthalten. Ein Jugendlicher ohne diese Kultur kann zum Armen von morgen werden, zu einem Menschen, der in Gefahr ist, gefühlsmäßig zu scheitern, und zu einem Schiffbrüchigen in der Arbeitswelt. Ein Jugendlicher ohne diese Kultur läuft Gefahr, ein Nichtglaubender zu bleiben oder, noch schlimmer, ein praktizierender Katholik ohne Glauben, weil die Unzulänglichkeit in den Beziehungen die Beziehung zu Gott entstellt und die Unkenntnis der Worte das Verstehen der herausragenden Bedeutung des Wortes des Evangeliums blockiert. Es genügt nicht, daß die Jugendlichen den Raum unserer Jugendzentren physisch ausfüllen, um ein wenig Freizeit zu verbringen. Ich möchte, daß das Jugendzentrum ein Ort ist, wo man lernt, Beziehungsfähigkeiten zu entwickeln, und wo man Gehör findet und schulische Unterstützung. Ein Ort, der nicht ständige Zuflucht für jene sein soll, die weder studieren noch sich engagieren wollen, sondern eine Gemeinschaft von Personen, die jene richtigen Fragen erarbeiten sollen, die offen machen für das religiöse Bewußtsein und wo die große Liebe zur Hilfe beim Denken wird. Und hier sollte auch ein ernsthaftes Nachdenken über die Zusammenarbeit zwischen Jugendzentren und Religionslehrern einsetzen. Heiligkeit, sagen Sie uns noch ein maßgebendes Wort über diese beiden Aspekte des Erziehungsnotstandes: die notwendige Stabilität der Mitarbeiter und den dringenden Bedarf an kulturell kompetenten Priestern als Erzieher. Danke.

Papst Benedikt XVI.: Beginnen wir mit dem zweiten Punkt. Er ist nämlich umfassender und in gewissem Sinn auch leichter zu beantworten. Gewiß, ein Jugendzentrum, in das man nur geht, um zu spielen oder etwas zu trinken, wäre absolut überflüssig. Der Sinn eines Jugendzentrums muß wirklich die kulturelle, menschliche und christliche Bildung einer Persönlichkeit sein, die zu einer reifen Persönlichkeit werden soll. Darüber sind wir uns absolut einig, und, wie mir scheint, gibt es gerade heutzutage eine kulturelle Armut: Man weiß zwar so viele Dinge, aber es ist ein Wissen ohne Herz, ohne inneren Zusammenhang, weil eine gemeinsame Sicht der Welt fehlt. Und deshalb ist eine kulturelle Lösung, die inspiriert ist vom Glauben der Kirche, von der Kenntnis Gottes, der sie uns geschenkt hat, absolut notwendig. Ich würde sogar sagen, genau darin besteht die Aufgabe eines Jugendzentrums, nämlich daß man dort nicht nur Freizeitmöglichkeiten findet, sondern vor allem eine umfassende menschliche Formung, die die Persönlichkeit vollkommener macht.

Und daher muß der Priester als Erzieher natürlich selbst umfassend gebildet sein und sich in der heutigen Kultur gut auskennen, um dann auch den Jugendlichen dabei zu helfen, zu einer vom Glauben inspirierten Kultur Zugang zu finden. Ich würde natürlich hinzufügen, daß letztendlich der Orientierungspunkt jeder Kultur Gott ist, der in Christus gegenwärtige Gott. Wir sehen, daß es heute Menschen gibt, die über so viele Kenntnisse verfügen, aber ohne jede innere Orientierung sind. So kann die Wissenschaft für den Menschen auch gefährlich werden, weil sie ohne tiefere ethische Leitlinien den Menschen der Willkür ausliefert und ihn damit ohne die Leitlinien läßt, die notwendig sind, um wirklich ein Mensch zu werden. In diesem Sinn muß das Herzstück jeder kulturellen Bildung, die so notwendig ist, zweifellos der Glaube sein: Das heißt, das Antlitz Gottes, das sich in Christus gezeigt hat, zu kennen und damit den Orientierungspunkt für die gesamte übrige Kultur zu haben, die andernfalls orientierungslos und desorientierend wird. Eine Kultur ohne persönliche Gotteskenntnis und ohne Kenntnis des Antlitzes Gottes in Christus ist eine Kultur, die auch zerstörerisch sein könnte, weil sie die notwendigen ethischen Leitlinien nicht kennt. Hier haben wir, scheint mir, wirklich einen Auftrag zu kultureller und menschlicher Bildung mit Tiefgang, die für den ganzen Reichtum der Kultur unserer Zeit offen ist, die aber auch das Kriterium, das Unterscheidungsvermögen bietet, um zu beweisen, was echte Kultur ist und was zur Gegenkultur werden könnte.

Sehr viel schwieriger ist für mich die erste Frage – die Frage geht auch an Seine Eminenz –, nämlich das längere Verbleiben des jungen Priesters an einem Ort, um den Jugendlichen Orientierung zu geben. Eine persönliche Beziehung zum Erzieher ist zweifellos wichtig, und es muß auch die Möglichkeit einer gewissen Dauer geben, um sich aufeinander einzustellen. Und insofern kann ich mit Ihnen darin übereinstimmen, daß der Priester als Orientierungspunkt für die Jugendlichen nicht täglich wechseln kann, weil er dann gerade diese Orientierung verliert. Andererseits muß der junge Priester auch verschiedene Erfahrungen in ganz unterschiedlichen kulturellen Umfeldern machen, um sich schließlich gerade das erforderliche kulturelle Rüstzeug anzueignen, um später als Pfarrer für die Pfarrgemeinde lange Zeit Bezugspunkt zu sein. Und ich würde sagen, im Leben des Jugendlichen sind die Zeitdimensionen andere als im Leben eines Erwachsenen. Die drei Jahre zwischen dem sechzehnten und dem achtzehnten Lebensjahr sind mindestens so lang und wichtig wie die Jahre zwischen dem vierzigsten und dem fünfzigsten Lebensjahr. Gerade hier bildet sich nämlich die Persönlichkeit heraus: Es ist ein Weg von großer Bedeutung, von großer existentieller Spannweite. In diesem Sinn würde ich sagen, daß für einen Pfarrvikar drei Jahre eine schöne Zeit sind, um eine Generation von Jugendlichen zu formen; so kann er andererseits auch andere Umfelder kennenlernen, in anderen Pfarrgemeinden andere Situationen erleben, sein menschliches Rüstzeug bereichern. Das ist stets eine nicht zu kurze Zeit für eine gewisse Kontinuität, ein erzieherischer Weg der gemeinsamen Erfahrung, ein Weg, auf dem das Menschsein gelernt wird. Im übrigen sind, wie schon gesagt, im Jugendalter drei Jahre eine entscheidende und sehr lange Zeit, weil sich wirklich die künftige Persönlichkeit herausbildet. Mir scheint daher, daß sich die beiden Anliegen miteinander vereinbaren ließen: einerseits, daß der junge Priester die Möglichkeit zu verschiedenen Erfahrungen haben soll, um sein Rüstzeug menschlicher Erfahrung zu bereichern; andererseits die Notwendigkeit, eine gewisse Zeitlang mit den Jugendlichen zusammenzusein, um sie wirklich in das Leben einzuführen, sie das Menschsein zu lehren. In diesem Sinn denke ich an eine Vereinbarkeit der beiden Aspekte: Verschiedene Erfahrungen für einen jungen Priester, Kontinuität der Begleitung der Jugendlichen, um sie in das Leben zu geleiten. Aber ich weiß nicht, was uns dazu der Kardinalvikar wird sagen können.

Kardinalvikar: Heiliger Vater, natürlich teile ich diese beiden Forderungen, den Zusammenhang zwischen den beiden Forderungen. Aufgrund des Wenigen, das ich kennenlernen konnte, scheint mir, daß man in Rom – von Ausnahmen abgesehen – so gut es geht, an einer gewissen Stabilität der jungen Priester bei den Pfarrgemeinden für wenigstens einige Jahre festhält. Ausnahmen kann es immer geben. Aber das tatsächliche Problem entsteht manchmal aus schweren Anforderungen oder konkreten Situationen, vor allem in den Beziehungen zwischen Pfarrer und Pfarrvikar – und hier rühre ich an einen offenen Nerv – und sodann auch aus dem Mangel an jungen Priestern. Wie ich Ihnen sagen konnte, als Sie mich in Audienz empfangen haben, ist eines der ernsten Probleme unserer Diözese die Zahl der Priesterberufungen. Ich bin persönlich davon überzeugt, daß der Herr ruft, daß er weiter ruft. Vielleicht müßten auch wir mehr tun. Rom kann Berufungen bereitstellen, und es wird sie bereitstellen, davon bin ich überzeugt. Aber in dieses ganze komplexe Thema mischen sich mitunter viele Aspekte ein. Sicherlich wurde, so glaube ich, eine gewisse Stabilität gewährleistet, und auch ich werde mich, wo ich kann, an die Linien halten, die uns der Heilige Vater empfohlen hat.

4) Don Giampiero Ialongo, Pfarrer in Torre Angela, einem Stadtrandviertel von Rom

Eure Heiligkeit, ich bin einer der vielen Pfarrer, der seinen Dienst am Stadtrand von Rom, genauer gesagt in Torre Angela, ausübt, das an Tor Bella Monaca, Borghesiana, Borgata Finocchio und Colle Prenestino grenzt. Stadtrandviertel, die wie viele andere von den Institutionen häufig vergessen und übergangen werden. Ich bin glücklich, daß uns der Bezirkspräsident heute nachmittag zusammengerufen hat: Wir werden sehen, was bei dieser Begegnung mit dem Bezirksgemeinderat herauskommen wird. Unsere Randgebiete spüren vielleicht noch mehr als andere Gegenden unserer Stadt wirklich massiv die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise, die inzwischen die konkreten Lebensbedingungen zahlreicher Familien schwer belastet. Als Caritas der Pfarrgemeinde, aber vor allem auch als diözesane Caritas bringen wir viele Initiativen voran, die zuallererst auf das Zuhören ausgerichtet sind, die aber dann auch eine konkrete materielle Hilfe für all jene vorsehen – ohne Unterscheidung nach Rasse, Kultur oder Religion –, die sich an uns wenden. Trotzdem werden wir uns zunehmend bewußt, daß wir vor einer regelrechten Notlage stehen. Mir scheint, daß viele, zu viele Menschen – und zwar nicht nur Rentner, sondern auch Personen mit einer regulären Beschäftigung, mit einem festen Arbeitsverhältnis – große Schwierigkeiten haben, ihren Lebensunterhalt in der Familie zu bestreiten. Unsere Lebensmittelpakete, etwas zum Anziehen, mitunter konkrete finanzielle Hilfen zum Bezahlen der Stromrechnung und der Miete können wohl eine Hilfe, aber, wie ich glaube, keine Lösung sein. Ich bin überzeugt, daß wir uns als Kirche nachdrücklicher fragen müßten, was wir machen können, aber noch mehr nach den Gründen, die zu dieser weltweiten Krisensituation geführt haben. Wir sollten den Mut haben, ein in seinen Wurzeln ungerechtes Wirtschafts- und Finanzsystem anzuklagen. Und ich glaube nicht, daß angesichts der von diesem System eingeführten Mißverhältnisse ein wenig Optimismus genügt. Es braucht ein maßgebendes Wort, ein freies Wort, das den Christen helfen soll – wie Sie, Heiliger Vater, schon andeutungsweise gesagt haben –, die Güter, die Gott den Menschen geschenkt hat, geschenkt für alle und nicht nur für einige wenige, mit evangeliumsgetreuer Weisheit und Verantwortung zu verwalten. Ich wünsche mir sehr, Ihr Wort zu dieser Problematik – wie wir es schon bei anderen Gelegenheiten gehört haben – von Ihnen noch einmal in diesem Zusammenhang zu hören. Danke, Eure Heiligkeit!

Papst Benedikt XVI.: Zunächst möchte ich dem Kardinalvikar für seine zuversichtlichen Worte danken: Rom kann mehr Kandidaten für die Ernte des Herrn bereitstellen. Wir müssen vor allem den Herrn der Ernte darum bitten, aber auch unseren Teil beitragen, um die jungen Menschen zu ermutigen, »Ja« zu sagen zum Herrn. Und natürlich sind gerade die jungen Priester aufgerufen, der heutigen Jugend das Beispiel dafür zu geben, daß es gut ist, für den Herrn zu arbeiten. In diesem Sinn sind wir voller Hoffnung. Bitten wir den Herrn und tun wir das Unsere dazu.

Nun zu Ihrer Frage, die an den Nerv der Probleme unserer Zeit rührt. Ich würde zwei Ebenen unterscheiden. Die erste ist die Ebene der Makroökonomie, die dann verwirklicht wird und bis zum letzten Bürger reicht, der die Folgen einer falschen Struktur zu spüren bekommt. Dagegen die anklagende Stimme zu erheben, ist eine Pflicht der Kirche. Wie ihr wißt, bereiten wir schon seit längerem eine Enzyklika darüber vor. Und auf diesem langen Weg sehe ich, wie schwierig es ist, mit entsprechender Kompetenz darüber zu sprechen, denn wenn man sich mit einer bestimmten wirtschaftlichen Realität nicht mit Kompetenz auseinandersetzt, kann man nicht glaubwürdig sein. Und andererseits ist es auch notwendig, mit einem großen ethischen Bewußtsein zu sprechen, das von einem durch das Evangelium geprägten Gewissen hervorgebracht und geweckt worden ist. Wir müssen also diese grundlegenden Irrtümer anklagen, die jetzt beim Zusammenbruch der großen amerikanischen Banken zutage getreten sind. Schließlich ist die menschliche Habgier eine Sünde oder – wie es im Brief an die Kolosser heißt – Götzendienst. Wir müssen diesen Götzendienst, der dem wahren Gott entgegensteht, und die Verfälschung des Gottesbildes durch einen anderen Gott, nämlich den Mammon, anklagen. Wir müssen das mutig, aber auch sehr konkret tun. Denn große Moralpredigten helfen wenig, wenn sie nicht jeweils durch die Kenntnis der Realität untermauert sind, die auch hilft zu verstehen, was man konkret tun kann, um die Lage allmählich zu verändern. Und um das tun zu können, ist natürlich die Kenntnis dieser Wahrheit und der gute Wille aller notwendig.

Hier sind wir an einem schwerwiegenden Punkt: Gibt es die Erbsünde wirklich? Gäbe es sie nicht, könnten wir ja mit Argumenten, die für jeden verständlich und unanfechtbar sind, an die klare Vernunft und an den bei allen vorhandenen guten Willen appellieren. So könnten wir gut vorankommen und die Menschheit reformieren. Aber dem ist nicht so: Der Verstand – auch unser Verstand – ist verdunkelt, das sehen wir jeden Tag. Denn der Egoismus, die Wurzel der Habgier, besteht darin, daß ich vor allem mich selbst und die Welt für mich haben will. Er ist in uns allen vorhanden. Das ist die Verdunkelung des Verstandes: Er kann hochgelehrt, mit den schönsten wissenschaftlichen Argumenten ausgestattet sein und ist dennoch durch falsche Vorgaben verdunkelt. So geht er mit hoher Intelligenz und großen Schritten auf dem falschen Weg weiter. Auch der Wille ist, wie die Kirchenväter sagen, gebeugt: Er ist nicht einfach bereit, das Gute zu tun, sondern sucht vor allem sich selbst oder das Wohl der eigenen Gruppe. Also tatsächlich den Weg der Vernunft, der wahren Vernunft zu finden, ist schon keine leichte Sache und entwickelt sich schwerlich in einem Dialog. Ohne das Licht des Glaubens, das in die Finsternis der Erbsünde eindringt, kann die Vernunft nicht vorankommen. Aber ausgerechnet der Glaube stößt dann auf den Widerstand unseres Willens. Dieser will den Weg nicht sehen, der auch ein Weg des Selbstverzichts und einer Korrektur des eigenen Willens zugunsten des anderen und nicht für sich selbst wäre.

Daher ist die vernünftige und angemessene Anklage der Irrtümer notwendig, nicht mit großen Moralpredigten, sondern mit konkreten Gründen, die in der heutigen Wirtschaftswelt verstehbar werden. Diese Anklage ist wichtig, sie ist seit jeher ein Auftrag für die Kirche. Wir wissen, daß in der neuen Situation, die durch die industrialisierte Welt entstanden ist, die Soziallehre der Kirche seit Leo XIII. versucht, diese Anklagen – und nicht nur die Anklagen, die nicht ausreichend sind – zu erheben, aber zugleich auch die schwierigen Wege aufzuzeigen, auf denen man Schritt für Schritt die Zustimmung der Vernunft und die Zustimmung des Willens zur Berichtigung meines Gewissens und zugleich zu der Bereitschaft fordert, daß ich in gewissem Sinn auf mich selber verzichte, um an dem mitwirken zu können, was das wahre Ziel des menschlichen Lebens, des Menschseins ist.

Die Kirche hat, wie schon gesagt, immer die Aufgabe, wachsam zu sein, selber mit den besten Kräften, über die sie verfügt, die Argumente der Wirtschaftswelt zu hinterfragen, in diese Argumentation einzutreten und sie durch den Glauben zu erleuchten, der uns vom Egoismus der Erbsünde befreit. Es ist die Aufgabe der Kirche, sich auf diese Unterscheidung, auf diese Argumentation einzulassen, sich auch auf den verschiedenen nationalen und internationalen Ebenen bemerkbar zu machen, um zu helfen und zu korrigieren. Und das ist keine leichte Arbeit, weil sich so viele persönliche und nationale Gruppeninteressen einer radikalen Korrektur widersetzen. Vielleicht ist dies pessimistisch, aber mir erscheint es realistisch: Solange es die Erbsünde gibt, werden wir niemals zu einer radikalen und vollkommenen Korrektur gelangen. Wir müssen jedoch zumindest das in unserer Macht Stehende tun im Hinblick auf vorläufige Verbesserungen, die ausreichen, um die Menschlichkeit leben zu lassen und der Herrschaft des Egoismus entgegenzutreten, die unter dem Vorwand nationaler und internationaler Wissenschaft und Wirtschaft auftritt.

Das ist die erste Ebene. Die andere besteht darin, realistisch zu sein und zu sehen, daß sich ohne die Umkehr der Herzen diese großen Ziele der Makrowissenschaft in der Mikrowissenschaft nicht erfüllen – dasselbe gilt für die Makro- und Mikroökonomie. Wenn es keine Gerechten gibt, gibt es auch keine Gerechtigkeit. Das müssen wir akzeptieren. Darum ist die Erziehung zur Gerechtigkeit ein vorrangiges Ziel, ja wir könnten auch sagen: die Priorität. Da der hl. Paulus sagt, daß die Rechtfertigung die Wirkung des Heilswerkes Christi ist, ist sie kein abstrakter Begriff, der Sünden betrifft, die uns heute nicht interessieren, sondern sie bezieht sich auf die ganzheitliche Gerechtigkeit. Gott allein kann sie uns gewähren, aber er tut das mit unserer Mitarbeit auf verschiedenen Ebenen, auf allen möglichen Ebenen.

Die Gerechtigkeit in der Welt kann man nicht allein mit guten Wirtschaftsmodellen schaffen, die sicherlich notwendig sind. Die Gerechtigkeit erfüllt sich nur, wenn es die Gerechten gibt. Die Gerechten gibt es aber nur, wenn die tägliche demütige Arbeit der Bekehrung der Herzen stattfindet. Und wenn in den Herzen Gerechtigkeit erzeugt wird. Nur so verbreitet sich auch die korrigierende Gerechtigkeit. Deshalb ist die Arbeit der Pfarrer nicht nur für die Pfarrgemeinde, sondern für die ganze Menschheit von so fundamentaler Bedeutung. Denn wenn es keine Gerechten gibt, bleibt, wie ich gesagt habe, die Gerechtigkeit ein abstraktes Anliegen. Und die guten Strukturen lassen sich nicht verwirklichen, wenn sich der Egoismus auch fachkundiger Personen dem widersetzt.

Diese unsere tagtägliche demütige Arbeit ist grundlegend, um die großen Ziele der Menschheit zu erreichen. Und wir müssen auf allen Ebenen gemeinsam arbeiten. Die Weltkirche muß anklagen, aber sie muß auch sagen, was man tun kann und wie man es tun kann. Die Bischofskonferenzen und die Bischöfe müssen handeln. Aber wir alle müssen zur Gerechtigkeit erziehen. Mir scheint, daß der Dialog Abrahams mit Gott (Gen 18,22–33) noch heute wahr und realistisch ist, wenn Abraham fragt: Willst du die Stadt wirklich vernichten? Vielleicht finden sich dort fünfzig Gerechte, vielleicht nur zehn Gerechte. Und zehn Gerechte genügen, um die Stadt überleben zu lassen. Darum müssen wir das Nötige tun, um wenigstens zehn Gerechte zu erziehen und zu verbürgen, aber wenn möglich viele mehr. Gerade mit unserer Verkündigung sorgen wir dafür, daß es viele Gerechte geben, daß die Gerechtigkeit in der Welt wirklich präsent sein soll.

Daraus ergibt sich: Die beiden Ebenen lassen sich nicht trennen. Wenn wir einerseits die Gerechtigkeit im Großen nicht verkünden, wächst die Gerechtigkeit im Kleinen nicht. Wenn wir aber andererseits die sehr demütige Arbeit der Mikrogerechtigkeit nicht vollbringen, wächst auch die Makrogerechtigkeit nicht. Und wie ich in meiner ersten Enzyklika gesagt habe, bleibt für alle Systeme, die in der Welt wachsen können, außer der Gerechtigkeit, die wir suchen, immer die Liebe notwendig. Die Herzen für die Gerechtigkeit und die Liebe zu öffnen, ist Erziehen zum Glauben, ist Hinführen zu Gott.

5) Don Marco Valentini, Vikar an der Kirche »Sant’Ambrogio« in der Innenstadt

Während meiner Ausbildung war ich mir der Bedeutung der Liturgie nicht so bewußt wie jetzt. Natürlich gab es die Gottesdienste, aber ich verstand nicht wirklich, daß die Liturgie »der Höhepunkt ist, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt« (Sacrosanctum Concilium SC 10). Ich sah in ihr eher eine Technik für das gute Gelingen einer Eucharistiefeier oder eine fromme Praxis und weniger eine Berührung mit dem Geheimnis, das uns rettet, ein Gleichförmigwerden mit Christus, um Licht der Welt zu sein, eine Quelle der Theologie, ein Mittel, um die so sehr gewünschte Integration zwischen dem, was man studiert, und dem geistlichen Leben zu verwirklichen. Andererseits dachte ich, daß die Liturgie nicht unbedingt notwendig sei, um Christ zu sein oder gerettet zu werden, und daß es genügen würde, sich um die praktische Erfüllung der Seligpreisungen zu bemühen. Nun frage ich mich, was wäre die Liebe ohne die Liturgie? Würde sich ohne sie unser Glaube nicht auf eine Moral, eine Idee, eine Lehre, ein Faktum der Vergangenheit reduzieren, und würden wir Priester dann nicht eher als Lehrer oder Berater denn als Mystagogen erscheinen, die die Menschen in das Geheimnis einführen. Das Wort Gottes selbst ist eine Botschaft, die sich in der Liturgie verwirklicht und die eine überraschende Beziehung zu ihr hat: Erwähnt sei an dieser Stelle Sacrosanctum Concilium, 6 und die Praenotanda des Lektionars, 4 und 10. Und denken wir auch an die Bibelstellen von den Emmausjüngern oder vom Kämmerer aus Äthiopien (Ac 8). Nun komme ich zu meiner Frage. Ohne an der menschlichen, philosophischen, psychologischen Ausbildung an den Universitäten und Priesterseminaren irgendwelche Abstriche zu machen, möchte ich ergründen, ob unsere besondere Rolle nicht eine intensivere liturgische Ausbildung erfordert oder ob die derzeitige Praxis und Struktur der Studien bereits die Forderung der Konstitution Sacrosanctum Concilium 16 hinreichend erfüllen, wo es heißt, das Lehrfach Liturgiewissenschaft sei zu den notwendigen und wichtigen Fächern, ja zu den Hauptfächern zu rechnen. Es ist sowohl unter theologischem und historischem wie auch unter geistlichem, seelsorglichem und rechtlichem Gesichtspunkt zu behandeln, und die Dozenten der anderen Fächer haben darauf zu achten, daß der Zusammenhang mit der Liturgie deutlich aufleuchtet. Ich habe diese Frage, zu der ich mich vom Vorwort zum Dekret Optatam totius anregen ließ, gestellt, weil mir scheint, daß die vielfältigen Aktionen der Kirche in der Welt und unsere pastorale Wirksamkeit sehr von der Erfahrung abhängen, die wir von dem unerschöpflichen Geheimnis haben, daß wir Getaufte, Gefirmte und Priester sind.

Papst Benedikt XVI.: Also, wenn ich richtig verstanden habe, geht es um die Frage, welchen Umfang und Stellenwert die liturgische Ausbildung und die konkrete Feier des göttlichen Geheimnisses in der Gesamtheit unserer vielfältigen pastoralen Arbeit mit ihren vielen Dimensionen haben soll. Darin enthalten ist, wie mir scheint, auch eine Frage bezüglich der Einheit zwischen unserer Verkündigung und unserer Seelsorgearbeit, die so viele Dimensionen hat. Wir müssen nach dem einigenden Punkt suchen, damit diese vielen Tätigkeiten, die wir ausführen, alle zusammen die Arbeit eines Hirten sind. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie der Meinung, daß der einigende Punkt, der die Synthese aller Dimensionen unserer Arbeit und unseres Glaubens herstellt, genau die Feier der heiligen Geheimnisse sein könnte. Und damit die Mystagogie, die uns das Zelebrieren lehrt.

Mir kommt es wirklich darauf an, daß die Sakramente, die eucharistische Feier der Sakramente, nicht eine etwas seltsame Angelegenheit neben aktuelleren Tätigkeiten wie der moralischen Erziehung, der wirtschaftlichen Ausbildung ist – alles Dinge, die bereits gesagt wurden. Es kann leicht geschehen, daß das Sakrament in einem pragmatischeren Umfeld etwas isoliert ist und zu einer Wirklichkeit wird, die überhaupt nicht in die Gesamtheit unseres Menschseins einbezogen ist. Danke für die Frage, denn wir müssen tatsächlich das Menschsein lehren. Wir müssen diese große Kunst lehren: Wie man ein Mensch sein kann. Das verlangt von uns, wie wir gesehen haben, vielerlei: Von der großen Anklage der Erbsünde an den Wurzeln unserer Wirtschaft und in den vielen Bereichen unseres Lebens bis hin zu konkreten Anleitungen zur Gerechtigkeit und zur Verkündigung gegenüber den Nichtglaubenden. Aber die göttlichen Geheimnisse sind nichts Exotisches im Kosmos der eher praktischen Wirklichkeiten. Das Geheimnis ist das Herz, aus dem unsere Kraft kommt und zu dem wir zurückkehren, um dieses Zentrum zu finden. Und deshalb meine ich, daß die mystagogische Katechese wirklich wichtig ist. Mystagogisch heißt auch realistisch, auf das Leben von uns heutigen Menschen bezogen. Wenn es stimmt, daß der Mensch sein Maß – was recht ist und was nicht – nicht in sich hat, sondern sein Maß außerhalb von sich, in Gott, findet, ist es wichtig, daß dieser Gott nicht fern ist, sondern erkennbar, konkret, daß er in unser Leben eintritt und wirklich ein Freund ist, mit dem wir reden können und der mit uns redet. Wir müssen die Eucharistie feiern lernen, wir müssen Jesus Christus, den Gott mit dem menschlichen Antlitz, aus der Nähe kennenlernen, wirklich mit ihm in Kontakt treten, wir müssen lernen, ihn zu hören und ihn in uns hereinkommen zu lassen. Denn die heilige Kommunion ist genau diese gegenseitige Durchdringung zwischen zwei Personen. Ich nehme nicht ein Stück Brot oder Fleisch, ich nehme bzw. öffne mein Herz, damit der Auferstandene in den Bereich meines Seins eintritt, damit er in mir und nicht nur außerhalb von mir ist und so in mir spricht und mein Wesen verwandelt, mir den Gerechtigkeitssinn, die Dynamik der Gerechtigkeit, den Eifer für das Evangelium schenkt.

Diese Eucharistiefeier, in der sich Gott uns nicht nur nähert, sondern in das Gefüge unserer Existenz eintritt, ist wesentlich, damit wir wirklich Gott leben und für Gott leben und das Licht Gottes in diese Welt hineintragen können. Wir wollen jetzt nicht auf zu viele Details eingehen. Aber es ist stets wichtig, daß die sakramentale Katechese immer eine existentielle Katechese ist. Auch wenn sie dort, wo die Worte und Überlegungen enden, immer mehr den Aspekt des Mysteriums annimmt und lernt, ist sie natürlich vollkommen realistisch, weil sie mich zu Gott und Gott zu mir selbst führt. Sie führt mich zum anderen, weil der andere denselben Christus empfängt wie ich. Wenn also in ihm und in mir derselbe Christus ist, sind auch wir beide nicht mehr getrennte Individuen. Hier entsteht die Lehre vom Leib Christi, weil wir, wenn wir die Eucharistie empfangen, alle demselben Christus eingegliedert sind. Der Nächste ist somit wirklich Nächster: Wir sind nicht zwei getrennte »Ich«, sondern wir sind in demselben »Ich« Christi vereint. Mit anderen Worten, die eucharistische und sakramentale Katechese muß wirklich den Kern unserer Existenz erreichen, sie muß Erziehung sein, um mich der Stimme Gottes zu öffnen, mich öffnen zu lassen, damit diese Erbsünde des Egoismus zerbricht und eine tiefgreifende Öffnung meiner Existenz erfolgt, so daß ich wirklich ein Gerechter werden kann. In diesem Sinn will mir scheinen, daß wir alle die Liturgie immer besser lernen müssen – nicht als etwas Exotisches, sondern als das Herzstück unseres Christseins, das sich einem Fernstehenden nicht so leicht öffnet, aber andererseits gerade die Öffnung gegenüber dem anderen, gegenüber der Welt ist. Wir müssen alle zusammenarbeiten, um die Feier der Eucharistie immer mehr zu vertiefen: Nicht nur als Ritus, sondern als existentiellen Vorgang, der mich in meinem Innersten mehr als jede andere Sache berührt und mich verändert, mich verwandelt. Und dadurch, daß sie mich verwandelt, beginnt sie auch mit der Verwandlung der Welt, die der Herr wünscht und für die er uns zu seinen Werkzeugen machen will.

6) P. Lucio Maria Zappatore, Karmelit, Pfarrer der Pfarrgemeinde »Santa Maria Regina Mundi« im Stadtviertel Torre Spaccata

Heiliger Vater, um meinen Beitrag zu rechtfertigen, berufe ich mich auf das, was Sie am vergangenen Sonntag beim Angelusgebet über das Petrusamt gesagt haben. Sie sprachen von dem einzigartigen und besonderen Amt des Bischofs von Rom, der der gesamten Liebesgemeinschaft vorsteht. Ich bitte Sie, diese Betrachtung fortzusetzen und auf die Universalkirche auszuweiten: Was ist das einzigartige Charisma der Kirche von Rom, und welches sind die Merkmale, die sie durch ein geheimnisvolles Geschenk der Vorsehung einzigartig für die Welt machen? Was bringt es für ihre Sendung besonders heutzutage mit sich, den Papst der Universalkirche zum Bischof zu haben? Wir wollen nicht unsere Privilegien wissen: Früher sagte man: »Parochus in urbe, episcopus in orbe – Pfarrer in Rom, Bischof in der Welt«; aber wir wollen wissen, wie wir dieses Charisma leben sollen, dieses Geschenk, als Priester in Rom zu leben, und was Sie von uns römischen Pfarrern erwarten.

In wenigen Tagen werden Sie sich zum Kapitol begeben, um die zivilen Autoritäten Roms zu treffen, und Sie werden über die materiellen Probleme unserer Stadt sprechen: Heute bitten wir Sie, zu uns über die geistlichen Probleme Roms und seiner Kirche zu sprechen. Und im Hinblick auf Ihren Besuch auf dem Kapitol habe ich mir erlaubt, Ihnen ein im römischen Dialekt verfaßtes Sonett zu widmen und bitte Sie um die Freundlichkeit, es sich anzuhören.
[Pater Lucio Maria Zappatore trug daraufhin ein Gedicht im römischen Dialekt über den Besuch des Papstes auf dem Kapitol vor].

Papst Benedikt XVI.: Danke! Wir haben das römische Herz sprechen gehört, ein Herz voller Poesie. Es ist sehr schön, etwas im römischen Dialekt zu hören und zu spüren, daß die Poesie im römischen Herzen tief verwurzelt ist. Das ist vielleicht ein natürliches Privileg, das der Herr den Römern geschenkt hat. Es ist ein natürliches Charisma, das den kirchlichen Charismen vorausgeht.

Ihre Frage besteht, wenn ich Sie richtig verstanden habe, aus zwei Teilen. Zunächst: Worin besteht die konkrete Verantwortung des Bischofs von Rom heute. Aber dann weiten Sie richtigerweise das Privileg des Petrus auf die ganze Kirche von Rom aus – so wurde es auch in der frühen Kirche gesehen – und fragen, welche Verpflichtungen die Kirche von Rom habe, um dieser Berufung zu entsprechen.

Es ist nicht nötig, hier die Lehre vom Primat darzulegen, die ihr alle sehr gut kennt. Wichtig hingegen ist, bei der Tatsache zu verweilen, daß wirklich der Nachfolger des Petrus, der Dienst des Petrus die Universalität der Kirche, dieses Hinausgehen über Nationalismen und über andere in der heutigen Menschheit bestehende Grenzen, garantiert, um wirklich eine Kirche in der Verschiedenheit und im Reichtum so vieler Kulturen zu sein.

Wir sehen, daß auch die anderen kirchlichen Gemeinschaften, die anderen Kirchen das Bedürfnis nach einem einigenden Punkt spüren, um nicht in den Nationalismus, in die Identifikation mit einer bestimmten Kultur zu verfallen, um wirklich alle für alle offen zu sein, gleichsam dazu gedrängt, sich immer gegenüber allen anderen zu öffnen. Mir scheint, der grundlegende Dienst des Nachfolgers des Petrus ist es, diese Katholizität zu gewährleisten, die Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Reichtum von Kulturen, Respektierung der Verschiedenheiten beinhaltet und gleichzeitig Verabsolutierungen ausschließt und alle vereint und sie verpflichtet sich zu öffnen, aus der Verabsolutierung des eigenen Selbst herauszukommen, um sich in der Einheit der Familie Gottes zusammenzufinden, die der Herr gewollt hat und für die der Nachfolger des Petrus die Einheit in der Vielfalt garantiert.

Natürlich muß die Kirche des Nachfolgers Petri mit ihrem Bischof diese Last und diese Freude des Geschenks seiner Verantwortung tragen. Im Buch der Offenbarung erscheint der Bischof in der Tat als Engel seiner Kirche, das heißt fast als die Verkörperung seiner Kirche, der das Sein der Kirche selbst entsprechen muß. Die Kirche von Rom muß also zusammen mit dem Nachfolger des Petrus und als seine Teilkirche eben diese Universalität gewährleisten, diese Öffnung, diese Verantwortung für die Transzendenz der Liebe, diesen Vorsitz in der Liebe, der Partikularismen ausschließt. Sie muß auch die Treue zum Wort des Herrn gewährleisten, zum Geschenk des Glaubens, den nicht wir erfunden haben, sondern der wirklich die Gabe ist, die nur von Gott selbst kommen konnte. Das ist und wird immer die Pflicht, aber auch das Privileg der Kirche von Rom sein, gegen die Moden, gegen die Partikularismen, gegen die Verabsolutierung mancher Anschauungen, gegen Häresien, die immer Verabsolutierungen einer Anschauung sind. Es ist auch die Pflicht der Kirche von Rom, die Universalität und die Treue zur Unversehrtheit des Glaubens zu gewährleisten, zum Reichtum ihres Glaubens, ihres Weges in der Geschichte, die sich immer der Zukunft öffnet. Und zusammen mit diesem Zeugnis des Glaubens und der Universalität muß sie natürlich das Beispiel der Liebe geben.

So sagt es uns der hl. Ignatius, wenn er in diesem etwas rätselhaften Wort das Sakrament der Eucharistie, die Handlung, die anderen zu lieben, erkennt. Und das ist – um auf den vorigen Punkt zurückzukommen – von großer Bedeutung: Das heißt, diese Identifikation mit der Eucharistie, die Agape ist, ist Liebe, ist die Gegenwart der Liebe, die uns in Christus geschenkt wird. Es muß immer die Liebe, Zeichen und Grund der Liebe sein, wenn wir uns den anderen öffnen, Zeichen dieses Sich-Hingebens an die anderen, dieser Verantwortung gegenüber den Bedürftigen, den Armen, den Vergessenen. Das ist eine große Verantwortung.

Auf den Vorsitz bei der Eucharistie folgt der Vorsitz in der Liebe, von dem nur die Gemeinschaft selbst Zeugnis geben kann. Das erscheint mir als die große Aufgabe für die Kirche von Rom, als die große Bitte an sie: wirklich Vorbild und Ausgangspunkt der Liebe zu sein. In diesem Sinn ist sie Vorsitz der Liebe.

Im Klerus von Rom sind alle Kontinente, alle Rassen, alle Philosophien und alle Kulturen vertreten. Ich freue mich, daß gerade die Priester von Rom die Universalität, also in der Einheit der kleinen Ortskirche die Präsenz der Universalkirche zum Ausdruck bringen. Schwieriger und anspruchsvoller ist es, auch tatsächlich Träger des Zeugnisses, der Liebe zu sein und unter den anderen mit unserem Herrn zusammenzusein. Wir können nur den Herrn darum bitten, daß er uns in den einzelnen Pfarreien, in den einzelnen Gemeinden helfe und daß wir alle zusammen dieser Gabe, diesem Auftrag, den Vorsitz in der Liebe zu haben, wirklich treu sein können.

7) P. Guillermo M. Cassone, Mitglied der Schönstatt-Patres in Rom, Pfarrvikar an der Pfarrkirche der Schutzpatrone Italiens, des hl. Franziskus und der hl. Katherina, in Trastevere

Als ich nach der Bischofssynode, die das Wort Gottes zum Thema hatte, über die Propositio 55 »Maria Mater Dei et Mater fidei« (Maria, Mutter Gottes und Mutter des Glaubens) nachdachte, habe ich mich gefragt, wie sich die Beziehung zwischen dem Wort Gottes und der Marienfrömmigkeit sowohl im geistlichen Leben des Priesters als auch in der Seelsorgearbeit verbessern ließe. Zwei Bilder helfen mir: die Verkündigung für das Hören und die Heimsuchung Mariens für das Verkündigen. Eure Heiligkeit, ich möchte Sie bitten, uns mit Ihrer Lehre über dieses Thema aufzuklären. Ich danke Ihnen für dieses Geschenk.

Papst Benedikt XVI.: Sie haben uns, wie mir scheint, auch gleich die Antwort auf Ihre Frage gegeben. Maria ist wirklich die Frau des Hörens: Das sehen wir in der Begegnung mit dem Engel, und wir sehen es wieder in allen Szenen aus ihrem Leben, von der Hochzeit in Kana bis hin zum Kreuz und zum Pfingsttag, als sie sich inmitten der Apostel befand, um den Geist zu empfangen. Sie ist das Symbol der Offenheit, der Kirche, die das Kommen des Heiligen Geistes erwartet.

Im Augenblick der Verkündigung können wir schon die Haltung des Hörens erfassen – es ist ein echtes Hören, das verinnerlicht werden muß, das nicht einfach »Ja« sagt, sondern das Wort verarbeitet, es in sich aufnimmt – und darauf den wahren Gehorsam folgen lassen, als wäre es ein verinnerlichtes Wort, das in mir und für mich Wort, gleichsam Gestalt meines Lebens geworden ist. Das erscheint mir als etwas sehr Schönes: dieses aktive Hören wahrzunehmen, das heißt ein Hören, welches das Wort anzieht, so daß es bei mir eintritt und in mir zum Wort wird, während ich nachdenke und es bis ins Innerste des Herzens annehme.

Dasselbe sehen wir im Magnifikat. Wir wissen, daß es aus Worten des Alten Testaments gewirkt ist. Wir sehen, daß Maria wirklich eine Frau des Hörens ist, die die Schrift im Herzen kannte. Sie kannte nicht nur einige Texte, sondern sie identifiziert sich so mit dem Wort, daß in ihrem Herzen und auf ihren Lippen die Worte des Alten Testaments, zusammengefaßt, zu einem Hymnus werden. Wir sehen, daß ihr Leben wirklich vom Wort durchdrungen war; sie war in das Wort eingetreten, hatte es aufgenommen, und es war in ihr zum Leben geworden, um sich dann von neuem in das Wort des Lobpreises und der Verkündigung der Größe Gottes zu verwandeln.

Wie mir scheint, sagt der hl. Lukas mit Bezug auf Maria mindestens dreimal, vielleicht sogar viermal, daß sie die Worte in sich aufgenommen und in ihrem Herzen bewahrt hat. Sie war für die Kirchenväter das Modell der Kirche, das Modell des Glaubenden, der das Wort bewahrt, das Wort in sich trägt; es nicht nur liest und mit dem Verstand auslegt, um zu wissen, was damals geschehen ist, worin die philologischen Probleme bestehen. Das alles ist interessant und wichtig, aber wichtiger ist es, das Wort zu hören, das bewahrt werden muß und das in mir Wort, Leben und Gegenwart des Herrn wird. Deshalb scheint mir die Verbindung zwischen Mariologie und Theologie des Wortes so wichtig, von der auch die Synodenväter gesprochen haben und von der wir im Nachsynodalen Dokument sprechen werden.

Es ist offensichtlich: Maria ist Wort des Hörens, schweigendes Wort, aber auch Wort des Lobpreises, der Verkündigung, weil das Wort beim Hören wieder Fleisch wird und somit Gegenwart der Größe und Erhabenheit Gottes.

8) P. Pietro Riggi, Salesianer, Mitarbeiter im »Borgo Ragazzi Don Bosco« [Einrichtung für Kinder]

Heiliger Vater, ich wollte Sie fragen: Das Zweite Vatikanische Konzil hat so viele äußerst bedeutsame Neuheiten in der Kirche eingeführt, aber die Dinge, die es dort schon gab, nicht abgeschafft. Mir scheint, einige Priester oder Theologen würden gern etwas als Geist des Konzils hinstellen, was jedoch nichts mit dem Konzil selbst zu tun hat. Zum Beispiel der Ablaß. Es gibt das Handbuch der Ablässe der Apostolischen Pönitentiarie: durch den Ablaß schöpft man aus dem Schatz der Kirche und kann für das Heil der Seelen im Fegefeuer beten. Es gibt einen liturgischen Kalender, in dem steht, wann und wie ein vollständiger Ablaß erlangt werden kann, aber viele Priester reden nicht mehr davon und verhindern dadurch die so wichtigen Gebete für das Heil der Seelen im Fegefeuer. Des weiteren die Segnungen. Es gibt das Handbuch der Segnungen, in dem die Segnung von Personen, Räumen, Gegenständen und sogar von Speisen vorgesehen ist. Aber vielen Priestern sind diese Dinge unbekannt, andere halten sie für vorkonziliar und schicken daher jene Gläubigen weg, die etwas verlangen, das zu erhalten sie ein Recht hätten.

Die bekanntesten Frömmigkeitspraktiken. Die für den ersten Freitag des Monats vorgesehenen Frömmigkeitsübungen sind zwar vom Zweiten Vatikanischen Konzil nicht abgeschafft worden, aber viele Priester reden entweder gar nicht mehr davon oder geradezu verächtlich. Gegen all das besteht heute eine innere Abneigung, weil man diese Bräuche als alt und schädlich, als veraltet und vorkonziliar ansieht, während ich alle diese christlichen Gebete und Praktiken für höchst aktuell und sehr wichtig halte; sie müssen wieder aufgenommen und in der gesunden Ausgewogenheit und vollständigen Wahrheit des Zweiten Vatikanums dem Volk Gottes entsprechend erklärt werden.

Ich wollte Sie noch etwas fragen: Als Sie einmal von Fatima sprachen, haben Sie gesagt, daß es einen Zusammenhang zwischen Fatima und Akita, der weinenden Muttergottes in Japan, gibt. Sowohl Paul VI. wie Johannes Paul II. haben in Fatima eine feierliche Messe zelebriert und dieselbe Textstelle aus der Heiligen Schrift verwendet, Offenbarung 12: die Frau, mit der Sonne bekleidet, die einen entscheidenden Kampf gegen die alte Schlange, den Teufel oder Satan, kämpft. Besteht zwischen Fatima und Offenbarung 12 eine Ähnlichkeit?

Ich schließe: Vergangenes Jahr hat Ihnen ein Priester ein Gemälde geschenkt; ich kann nicht malen, wollte Ihnen aber auch ein Geschenk machen; so dachte ich, Ihnen drei Bücher zu schenken, die ich in letzter Zeit geschrieben habe und von denen ich hoffe, daß sie Ihnen gefallen.

Papst Benedikt XVI.: Es gibt Frömmigkeitsübungen, von denen das Konzil nicht gesprochen hat, die es aber als solche in der Kirche annimmt. Sie sind in der Kirche lebendig und entwickeln sich. Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick, auf das große Thema Ablaß einzugehen. Paul VI. hat das Ablaßwesen neu geordnet und gibt uns Richtlinien zum Verständnis dieses Themas vor. Ich würde sagen, es handelt sich schlicht und einfach um einen Austausch von Gaben, das heißt, alles, was es in der Kirche an Gutem gibt, ist für alle da. Mit diesem Schlüssel, dem Ablaß, können wir in diese Gemeinschaft der Güter der Kirche eintreten. Die Protestanten sind dagegen der Auffassung, daß Christus der einzige Schatz ist. Aber für mich ist das Wunderbare, daß Christus – der ja in seiner unendlichen Liebe, in seiner Gottheit und Menschheit wirklich mehr als ausreichend ist – zu allem, was er getan hat, auch unsere Armseligkeit hinzufügen wollte. Er sieht uns nicht nur als Objekte seines Erbarmens an, sondern macht uns zusammen mit ihm zu Subjekten der Barmherzigkeit und der Liebe, so als wollte er uns – zwar nicht quantitativ, aber wenigstens im Sinn des Mysteriums – dem großen Schatz des Leibes Christi hinzufügen. Er wollte zusammen mit dem Leib das Haupt sein. Er wollte, daß mit dem Leib das Geheimnis seiner Erlösung vervollständigt werde. Jesus wollte die Kirche als seinen Leib haben, in dem sich die ganze Fülle dessen, was er getan hat, verwirklicht. Aus diesem Geheimnis folgt, daß es einen »thesaurus ecclesiae«, einen Schatz der Kirche gibt, daß uns der Leib ebenso wie das Haupt viel schenkt und daß wir sowohl das eine wie das andere empfangen und beides schenken können.

Und dasselbe gilt auch für die anderen Dinge, zum Beispiel die Herz-Jesu-Verehrung, die etwas sehr Schönes in der Kirche ist. Es sind nicht unbedingt notwendige Dinge, die aber in dem Reichtum der Betrachtung des Geheimnisses gewachsen sind. Daher bietet uns der Herr in der Kirche diese Möglichkeiten an. Mir scheint jetzt nicht der Zeitpunkt zu sein, um auf alle Details einzugehen. Jeder kann mehr oder weniger verstehen, was größere oder kleinere Bedeutung hat; aber niemand sollte diesen Reichtum geringschätzen, der im Laufe der Jahrhunderte als Angebot und als Vermehrung des Lichts in der Kirche gewachsen ist. Einzigartig ist das Licht Christi. Es erscheint in allen seinen Farben und bietet uns die Erkenntnis des Reichtums seiner Gabe, die wechselseitige Beziehung zwischen Haupt und Leib, die wechselseitige Beziehung zwischen den Gliedern, so daß wir wirklich zusammen ein lebendiger Organismus sein können, in dem jeder allen den Herrn schenkt, der sich selbst uns ganz geschenkt hat.

AN DIE VEREINIGUNGEN "PRO PETRI SEDE"

UND "ETRENNES PONTIFICALES" Freitag, 27. Februar 2009



Liebe Freunde!

Es ist mir eine besondere Freude, euch im Rahmen eurer Pilgerfahrt zu empfangen, die euch alle zwei Jahre zu den Gräbern der Apostel führt, um vom Herrn die Stärkung eures Glaubens zu erbitten und auch die Anstrengungen zu segnen, die ihr unternehmt, um großherzig Zeugnis zu geben von seiner Liebe.

Das Paulusjahr bietet uns die Gelegenheit, durch die Betrachtung der Worte des Völkerapostels ein lebendigeres Bewußtsein von der Tatsache zu erlangen, daß die Kirche ein Leib ist, durch den ein einziges Leben fließt, nämlich das Leben Jesu. Daher ist jedes Glied des kirchlichen Leibes ganz tief mit allen anderen Gliedern verbunden und kann deren Bedürfnisse und Nöte nicht ignorieren.

Genährt von demselben eucharistischen Brot, können die Getauften nicht gleichgültig bleiben, wenn das Brot auf den Tischen der Menschen fehlt. Auch in diesem Jahr habt ihr den Appell gehört und angenommen, euer Herz weit zu machen für die Nöte der Armen, damit den vom Elend getroffenen Gliedern des Leibes Christi Erleichterung verschafft wird und sie so lebendiger und freier werden, um von der Frohen Botschaft Zeugnis zu geben.

Indem ihr die Frucht eurer Ersparnisse dem Nachfolger Petri anvertraut, ermöglicht ihr ihm, eine konkrete und aktive Nächstenliebe zu üben, die Zeichen seiner Sorge für alle Kirchen ist, für jeden Getauften und jeden Menschen. Dafür sei euch sehr herzlich gedankt im Namen all derer, die eure Großherzigkeit unterstützen wird im Kampf gegen die Übel, die ihre Würde beeinträchtigen.

Indem wir die Armut bekämpfen, geben wir dem Frieden mehr Chancen sich auszubreiten und in den Herzen zu verwurzeln.

Ich vertraue euch und alle, die ihr liebt, der Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria, Mutter der Barmherzigkeit, an und erteile euch wie auch den Mitgliedern eurer beiden Vereinigungen und ihren Familien von Herzen den Apostolischen Segen.



                                                               März 2009
260
Benedikt XVI Predigten 258