Centesimus annus 56


56 Am hundertsten Jahrestag dieser Enzyklika möchte ich allen jenen danken, die sich für das Studium, die Vertiefung und die Verbreitung der christlichen Soziallehre eingesetzt haben. Dazu ist die Mitarbeit der Lokalkirchen unerläßlich, und es ist mein Wunsch, daß das Jubiläum Anlaß für einen neuen Auftrieb zu ihrem Studium, ihrer Verbreitung und Anwendung in den vielfältigen Bereichen sein möge.

Ganz besonders wünsche ich, daß sie in den verschiedenen Ländern bekannt gemacht und in die Tat umgesetzt wird, wo sich nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus eine ernste Desorientierung beim Werk des Neuaufbaus zeigt. Die westlichen Länder laufen ihrerseits Gefahr, in diesem Scheitern den einseitigen Sieg ihres Wirtschaftssystems zu sehen, und kümmern sich daher nicht darum, an ihrem System die gebotenen Korrekturen vorzunehmen. Die Länder der Dritten Welt befinden sich mehr denn je in der dramatischen Situation der Unterentwicklung, die mit jedem Tag ernster wird.

Nachdem Leo XIII. die Prinzipien und Richtlinien für die Lösung der Arbeiterfrage dargelegt hatte, schrieb er am Ende der Enzyklika einen entscheidenden Satz: "Möge jeder Berufene Hand anlegen und ohne Verzug, damit die Heilung des bereits gewaltig angewachsenen Übels nicht durch Säumnis noch schwieriger werde". Dann fügte er hinzu: "Was aber die Kirche angeht, so wird diese keinen Augenblick ihre allseitige Hilfe vermissen lassen" (113).

(113) Enzyklika Rerum novarum, Nr. 45: a.a.O., 143.


57 Für die Kirche darf die soziale Botschaft des Evangeliums nicht als eine Theorie, sondern vor allem als eine Grundlage und eine Motivierung zum Handeln angesehen werden. Unter dem Einfluß dieser Botschaft verteilten einige der ersten Christen ihren Besitz an die Armen und gaben Zeugnis davon, daß trotz der unterschiedlichen sozialen Herkunft ein friedliches und solidarisches Zusammenleben möglich war. Aus der Kraft des Evangeliums bebauten im Laufe der Jahrhunderte die Mönche die Erde, die Ordensmänner und Ordensfrauen gründeten Spitäler und Asyle für die Armen, die Bruderschaften sowie Männer und Frauen aller Schichten sorgten sich um die Bedürftigen und um die Randgruppen. Sie waren überzeugt, daß die Worte Christi: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40) kein frommer Wunsch bleiben durften, sondern zu einer konkreten Lebensverpflichtung werden mußten.

Die Kirche ist sich heute mehr denn je dessen bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer inneren Folgerichtigkeit und Logik Glaubwürdigkeit finden wird. Auch aus diesem Bewußtsein stammt ihre vorrangige Option für die Armen, die nie andere Gruppen ausschließt oder diskriminiert. Es handelt sich um eine Option, die nicht nur für die materielle Armut gilt, da bekanntlich besonders in der modernen Gesellschaft viele Formen nicht bloß wirtschaftlicher, sondern auch kultureller und religiöser Armut anzutreffen sind. Ihre Liebe zu den Armen, die entscheidend ist und zu ihrer festen Tradition gehört, läßt die Kirche sich der Welt zuwenden, in der trotz des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts die Armut gigantische Formen anzunehmen droht. In den westlichen Ländern haben wir die vielfältige Armut der Randgruppen, der Alten und Kranken, der Opfer des Konsumismus und zudem noch das Elend der zahlreichen Flüchtlinge und Emigranten. In den Entwicklungsländern zeichnen sich am Horizont dramatische Krisen ab, wenn nicht rechtzeitig international aufeinander abgestimmte Maßnahmen ergriffen werden.


58 Die Liebe zum Menschen und vor allem zum Armen, in dem die Kirche Christus sieht, nimmt in der Förderung der Gerechtigkeit ihre konkrete Gestalt an. Sie wird sich nur voll verwirklichen lassen, wenn die Menschen im Bedürftigen, der um eine Hilfe für sein Leben bittet, nicht einen ungelegenen Aufdringling oder eine Last sehen, sondern die Gelegenheit zum Guten an sich, die Möglichkeit zu einem größeren Reichtum. Erst dieses Bewußtsein wird ihnen den Mut geben, sich dem Risiko und dem Wandel zu stellen, die in jedem glaubwürdigen Versuch, dem anderen Menschen zu helfen, inbegriffen sind. Es geht ja nicht bloß darum, vom Überfluß abzugeben, sondern ganzen Völkern den Zugang in den Kreis der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung zu eröffnen, von dem sie ausgeschlossen oder ausgegrenzt sind. Dafür genügt es nicht, aus dem Überfluß zu geben, den unsere Welt reichlich produziert. Dazu müssen sich vor allem die Lebensweisen die Modelle von Produktion und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen ändern, die heute die Gesellschaften beherrschen. Es geht auch nicht darum, Instrumente der gesellschaftlichen Ordnung, die sich bewährt haben, zu zerstören, sondern sie auf ein richtig verstandenes Gemeinwohl für die ganze Menschheitsfamilie auszurichten. Heute stehen wir vor den Bestrebungen einer sogenannten "weltweiten Wirtschaft", ein Phänomen, das sicher nicht zu verwerfen ist, enthält es doch außerordentliche Möglichkeiten zu einem größeren Wohlstand. Immer spürbarer ist jedoch das Verlangen, daß dieser zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaft wirksame internationale Kontroll- und Leitungsorgane entsprechen, die die Wirtschaft auf das Gemeinwohl hinlenken. Dazu ist ein einzelner Staat, und wäre es auch der mächtigste der Erde, allein nicht in der Lage. Um zu einem solchen Ergebnis zu gelangen, muß das Übereinkommen zwischen den großen Ländern wachsen, und in den internationalen Organen müssen die Interessen der großen Menschheitsfamilie gerecht vertreten werden. Es ist auch notwendig, daß sie bei der Einschätzung der Folgen ihrer Entscheidungen stets jene Völker und Länder entsprechend berücksichtigen, die auf dem internationalen Markt kaum ins Gewicht fallen, sondern in denen sich die schlimmste und bitterste Not ansammelt und die größere Entwicklungshilfe nötig haben. Auf diesem Gebiet bleibt zweifellos noch viel zu tun.


59 Damit also die Gerechtigkeit verwirklicht wird und die Versuche der Menschen, zu ihrer Verwirklichung Erfolg haben, braucht es das Geschenk der Gnade, die von Gott kommt. Durch sie vollzieht sich im Zusammenwirken mit der Freiheit der Menschen jene geheimnisvolle Gegenwart Gottes in der Geschichte, die die Vorsehung ist.

Die in der Nachfolge Christi erlebte neue Erfahrung muß den anderen Menschen in der Konkretheit ihrer Schwierigkeiten, Auseinandersetzungen, Probleme und Herausforderungen mitgeteilt werden, damit sie vom Licht des Glaubens erleuchtet und menschlicher gemacht werden. Denn dieser hilft nicht nur, Lösungen zu finden, sondern macht es auch möglich, die Situationen des Leidens menschlich zu leben, auf daß sich in ihnen der Mensch nicht verliert und seine Würde und Berufung nicht vergißt.

Die Soziallehre enthält zudem eine wichtige interdisziplinäre Dimension. Um in verschiedenen und sich ständig verändernden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen die eine Wahrheit über den Menschen besser zur Geltung zu bringen, tritt diese Lehre mit den verschiedenen Disziplinen, die sich mit dem Menschen befassen, in einen Dialog ein, integriert ihre Beiträge und hilft ihnen, in einem breiteren Horizont sich dem Dienst am einzelnen, in seiner vollen Berufung erkannten und geliebten Menschen zu öffnen.

Neben der interdisziplinären Dimension muß sodann die praktische und in gewissem Sinne experimentelle Dimension dieser Lehre erwähnt werden. Sie liegt im Schnittpunkt des christlichen Lebens und Bewußtseins mit den Situationen der Welt und findet ihren Ausdruck in den Anstrengungen, die einzelne, Familien, im Kultur- und Sozialbereich Tätige, Politiker und Staatsmänner unternehmen, um dem christlichen Leben Gestalt und Anwendung in der Geschichte zu verleihen.


60 Als Leo XIII. die Grundsätze für die Lösung der Arbeiterfrage verkündete, schrieb er: "Allerdings ist in dieser wichtigen Frage auch die Tätigkeit und Anstrengung anderer Faktoren unentbehrlich" (114). Er war davon überzeugt, daß die schweren, von der Industriegesellschaft verursachten Probleme nur durch die Zusammenarbeit aller Kräfte gelöst werden konnten. Diese Feststellung ist zu einem bleibenden Element der Soziallehre der Kirche geworden. Das erklärt unter anderem, warum Johannes XXIII. seine Enzyklika über den Frieden auch an "alle Menschen guten Willens" richtete.

Papst Leo stellte freilich mit Schmerz fest, daß die Ideologien der damaligen Zeit, besonders der Liberalismus und der Marxismus, diese Zusammenarbeit ablehnten. Inzwischen hat sich vieles geändert, besonders in den letzten Jahren. Die Welt von heute ist sich immer mehr bewußt, daß die Lösung der ernsten nationalen und internationalen Probleme nicht nur eine Frage der Wirtschaft oder der Rechts- oder Gesellschaftsordnung ist, sondern klare sittlich-religiöse Werte sowie die Änderung der Gesinnung, des Verhaltens und der Strukturen erfordert. Diesen Beitrag anzubieten, fühlt sich die Kirche in besonderer Weise verantwortlich, und es besteht - wie ich in der Enzyklika Sollicitudo rei socialis geschrieben habe - die begründete Hoffnung, daß auch jene große Gruppe, die sich zu keiner Religion bekennt, dazu beitragen kann, der sozialen Frage das notwendige sittliche Fundament zu geben (115).

In demselben Dokument habe ich auch einen Appell an die christlichen Kirchen und an alle großen Weltreligionen gerichtet und sie aufgefordert, einstimmig Zeugnis zu geben von den gemeinsamen Überzeugungen von der Würde des Menschen, der von Gott erschaffen ist (116). Ich bin nämlich überzeugt, daß den Religionen heute und morgen eine herausragende Rolle für die Bewahrung des Friedens und für den Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft zufallen wird.

Andererseits gilt die Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit für alle Menschen guten Willens und insbesondere für jene Personen und Gruppen, die sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine besondere Verantwortung auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet haben.

(114) Ebd., Nr. 13: a.a.O., 107.
(115) Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr.
SRS 38: a.a.O., 564-566.
(116) Vgl. ebd., Nr. SRS 47: a.a.O., 582.


61 Das "nahezu sklavische Joch" am Beginn der Industriegesellschaft nötigte meinen Vorgänger, zur Verteidigung des Menschen das Wort zu ergreifen. Dieser Verpflichtung ist die Kirche in diesen hundert Jahren treu geblieben! Sie hat in die stürmische Phase des Klassenkampfes nach dem Ersten Weltkrieg eingegriffen, um den Menschen vor der wirtschaftlichen Ausbeutung und vor der Tyrannei der totalitären Systeme zu verteidigen. Sie hat die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihrer sozialen Botschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt, als sie auf der universalen Bestimmung der materiellen Güter, auf einer Gesellschaftsordnung ohne Unterdrückung und gegründet auf den Geist der Zusammenarbeit und der Solidarität bestand. Sie hat stets betont, daß der Mensch und die Gesellschaft nicht allein diese Güter, sondern auch geistige und religiöse Werte brauchen. Während sie sich immer besser darüber klar wurde, daß zu viele Menschen nicht im Wohlstand der westlichen Welt, sondern im Elend der Entwicklungsländer leben und eine Situation ertragen, die noch immer jene des "nahezu sklavischen Jochs" ist, fühlte und fühlt sie sich verpflichtet, diese Tatsache mit aller Klarheit und Offenheit anzukreiden, auch wenn sie weiß, daß ihr Appell nicht immer von allen wohlwollend aufgenommen werden wird.

Hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Rerum novarum steht die Kirche wiederum vor "Neuem" und vor neuen Herausforderungen. Dieses Jubiläum soll daher alle Menschen guten Willens und insbesondere die Glaubenden in ihrem Bemühen bestärken.


62 Meine vorliegende Enzyklika hat in die Vergangenheit geblickt, sie ist aber vor allem auf die Zukunft ausgerichtet. Wie Rerum novarum steht sie gleichsam an der Schwelle des neuen Jahrhunderts und will dessen Kommen mit Gottes Hilfe vorbereiten.

Das wahre und ewig "Neue" kommt zu allen Zeiten aus der unendlichen Macht Gottes, der spricht: "Seht, ich mache alles neu"" (
Ap 21,5). Diese Worte beziehen sich auf die Vollendung der Geschichte, wenn Christus "seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt ..., damit Gott herrscht über alles und in allem" (1Co 15,24 1Co 15,28). Aber der Christ weiß, daß das Neue, das wir in seiner Fülle bei der Rückkehr des Herrn erwarten, schon gegenwärtig ist seit der Erschaffung der Welt, und zwar seitdem Gott in Jesus Christus Mensch geworden und mit ihm und durch ihn den Menschen zu einer "neuen Schöpfung"" gemacht hat (2Co 5,17 Ga 6,5).

Am Ende dieser Enzyklika danke ich dem allmächtigen Gott, der seiner Kirche das Licht und die Kraft geschenkt hat, den Menschen auf dem Erdenweg zu seiner ewigen Bestimmung zu begleiten. Auch im dritten Jahrtausend wird die Kirche treu den Weg des Menschen zu ihrem eigenen machen, im Bewußtsein, daß sie nicht allein unterwegs ist, sondern mit Christus, ihrem Herrn. Er hat den Weg des Menschen zu dem seinen gemacht und geht mit allen Menschen, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind.

Maria, die Mutter des Erlösers, die an der Seite Christi bleibt auf seinem Weg zu den Menschen und mit den Menschen und die der Kirche auf der Pilgerschaft des Glaubens vorangeht, begleite mit ihrer mütterlichen Fürsprache die Menschheit ins nächste Jahrtausend in Treue zu dem, der "derselbe ist, gestern, heute und in Ewigkeit" (vgl. He 13,8), Jesus Christus, unser Herr, in dessen Namen ich alle von Herzen segne.
Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 1 . Mai - Gedächtnis des hl. Josef des Arbeiters -1991, im dreizehnten Jahr meines Pontifikates.

Joannes Paulus PP. II




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