Caritas in veritate DE 58


58 Das Prinzip der Subsidiarität muß in enger Verbindung mit dem Prinzip der Solidarität gewahrt werden und umgekehrt. Denn wenn die Subsidiarität ohne die Solidarität in einen sozialen Partikularismus abrutscht, so ist ebenfalls wahr, daß die Solidarität ohne die Subsidiarität in ein Sozialsystem abrutscht, das den Bedürftigen erniedrigt. Diese Regel allgemeiner Art muß ebenso sehr beachtet werden, wenn Fragen bezüglich internationaler Entwicklungshilfen angegangen werden. Diese können jenseits der Absichten der Geber mitunter ein Volk in einer Lage der Abhängigkeit halten oder sogar Situationen von lokaler Herrschaft und Ausbeutung innerhalb des Hilfeempfängerlandes begünstigen. Damit die Wirtschaftshilfen auch wirklich solche sind, dürfen sie keine Hintergedanken verfolgen. Sie müssen unter Miteinbeziehung nicht nur der Regierungen der betroffenen Länder geleistet werden, sondern auch der örtlichen Wirtschaftstreibenden und der Kulturträger der Zivilgesellschaft, einschließlich der örtlichen Kirchen. Die Hilfsprogramme müssen in immer größerem Ausmaß die Merkmale von Programmen annehmen, die Ergänzung und Partizipation von unten einbeziehen. Es ist nämlich wahr, daß in den Ländern, die Entwicklungshilfe empfangen, die größte hervorzuhebende Ressource der Reichtum an Menschen ist: Das ist das echte Kapital, das wachsen muß, um den ärmsten Ländern eine wahre autonome Zukunft zu sichern. Es ist auch daran zu erinnern, daß auf wirtschaftlichem Gebiet die Haupthilfe, derer die Entwicklungsländer bedürfen, darin besteht, die schrittweise Eingliederung ihrer Produkte auf den Weltmärkten zu erlauben und zu fördern und so ihre volle Teilnahme am internationalen Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Zu oft haben in der Vergangenheit die Hilfen dazu genützt, nur Nebenmärkte für die Produkte dieser Länder zu schaffen. Dies ist oft vom Fehlen einer echten Nachfrage nach diesen Produkten bedingt: Daher ist es notwendig, diesen Ländern zu helfen, ihre Produkte zu verbessern und sie besser der Nachfrage anzupassen. Überdies haben einige oft die Konkurrenz der Einfuhr von – normalerweise landwirtschaftlichen – Produkten aus den wirtschaftlich ärmeren Ländern gefürchtet. Dennoch muß daran erinnert werden, daß für diese Länder die Möglichkeit zur Vermarktung solcher Produkte sehr oft bedeutet, ihr Überleben auf kurze und lange Zeit zu sichern. Ein gerechter und ausgeglichener Welthandel im Agrarbereich kann für alle Vorteile bringen, sowohl auf Seiten des Angebots wie der Nachfrage. Aus diesem Grund ist es nicht nur notwendig, diese Produktionen kommerziell auszurichten, sondern Welthandelsregeln festzulegen, die sie unterstützen, und die Finanzierungen für die Entwicklung zu verstärken, um diese Wirtschaften produktiver zu machen.


59 Die Entwicklungszusammenarbeit darf nicht die wirtschaftliche Dimension allein betreffen; sie muß eine gute Gelegenheit zur kulturellen und menschlichen Begegnung werden. Wenn die Träger der Kooperation in den wirtschaftlich entwickelten Ländern nicht der eigenen und der fremden kulturellen und auf menschlichen Werten gründenden Identität Rechnung tragen, wie es mitunter geschieht, können sie keinen tiefen Dialog mit den Bürgern der armen Ländern aufnehmen. Wenn letztere ihrerseits sich gleichgültig und unterschiedslos jedem kulturellen Angebot öffnen, sind sie nicht in der Lage, die Verantwortung für ihre echte Entwicklung zu übernehmen.[139] Die technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften dürfen die eigene technologische Entwicklung nicht mit einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit verwechseln, sondern müssen bei sich selber zuweilen vergessene Tugenden wiederentdecken, die ihnen eine Blüte in der Geschichte gebracht haben. Die aufstrebenden Gesellschaften müssen dem treu bleiben, was in ihren Traditionen an echt Menschlichem vorhanden ist, indem sie eine automatische Überlagerung mit den Mechanismen der globalisierten technologischen Zivilisation vermeiden. In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird.[140] Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit. In allen Kulturen gibt es Beschwerliches, von dem man sich befreien, und Schatten, denen man sich entziehen muß. Der christliche Glaube, der in den Kulturen Gestalt annimmt und sie dabei transzendiert, kann ihnen helfen, in universaler Gemeinschaft und Solidarität zum Vorteil der gemeinsamen weltweiten Entwicklung zu wachsen.

[139] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio,
PP 10 PP 41; a.a.O., 262.277-278.
[140] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der Internationalen Theologenkommission (5. Oktober 2007): Insegnamenti, III, 2 (2007), 418-421; ders., Ansprache an die Teilnehmer am von der Päpstlichen Lateranuniversität veranstalteten Internationalen Kongreß über das »natürliche Sittengesetz« (12. Februar 2007): Insegnamenti, III, 1 (2007), 209-212.


60 Bei der Suche nach Lösungen in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise muß die Entwicklungshilfe für die armen Länder als ein echtes Mittel zur Vermögensschaffung für alle angesehen werden. Welches andere Hilfsprojekt kann eine selbst für die Weltwirtschaft so bedeutende Wertsteigerung in Aussicht stellen wie die Unterstützung von Völkern, die sich noch in einer Anfangsphase oder wenig fortgeschrittenen Phase ihres wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses befinden? Aus diesem Blickwinkel werden die wirtschaftlich mehr entwickelten Länder das Mögliche tun, um höhere Sätze ihres Bruttoinlandprodukts für die Entwicklungshilfe bereitzustellen, wobei natürlich die auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft übernommenen Verpflichtungen einzuhalten sind. Sie können dies unter anderem durch eine Revision der Politik der Fürsorge und sozialen Solidarität in ihrem Inneren tun, indem sie das Prinzip der Subsidiarität anwenden und besser integrierte Systeme sozialer Vorsorge mit aktiver Teilnahme der Privatpersonen und der Zivilgesellschaft schaffen. Auf diese Weise ist es sogar möglich, die Sozial- und Fürsorgeleistungen zu verbessern und gleichzeitig Geldmittel zu sparen – auch unter Beseitigung von Verschwendungen und mißbräuchlichen Bezügen –, die für die internationale Solidarität zu bestimmen sind. Ein System sozialer Solidarität, das eine größere Beteiligung kennt und organischer aufgebaut ist, das weniger bürokratisch, aber nicht weniger koordiniert ist, würde es erlauben, viele heute schlummernde Energien auch zum Nutzen der Solidarität unter den Völkern zur Geltung zu bringen.

Eine Möglichkeit der Entwicklungshilfe könnte auf der wirksamen Anwendung der sogenannten steuerlichen Subsidiarität beruhen, die es den Bürgern gestatten würde, über den Bestimmungszweck von Anteilen ihrer dem Staat erbrachten Steuern zu entscheiden. Wenn partikularistische Ausartungen vermieden werden, kann dies dazu verhelfen, Formen sozialer Solidarität von unten zu fördern, wobei offensichtliche Vorteile auch auf Seiten der Solidarität für die Entwicklung bestehen.


61 Eine auf internationaler Ebene breitere Solidarität drückt sich vor allem in der weiteren Förderung – selbst unter den Verhältnissen einer Wirtschaftskrise – eines größeren Zugangs zur Bildung aus, die andererseits eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit selber ist. Der Begriff „Bildung“ bezieht sich nicht allein auf Unterricht und Ausbildung zum Beruf, die beide wichtige Gründe für die Entwicklung sind, sondern auf die umfassende Formung der Person. Diesbezüglich ist ein problematischer Aspekt hervorzuheben: Bei der Erziehung muß man wissen, was die menschliche Person ist, und ihre Natur kennen. Die Behauptung einer relativistischen Sicht dieser Natur stellt die Erziehung, vor allem die moralische Erziehung, vor ernste Probleme, indem sie ihre erweiterte Bedeutung auf universaler Ebene beeinträchtigt. Wenn man einem solchen Relativismus nachgibt, werden alle ärmer, was negative Auswirkungen auch auf die Wirksamkeit der Hilfe für die notleidenden Völker hat, die nicht nur der wirtschaftlichen und technischen Mittel bedürfen, sondern auch pädagogische Möglichkeiten und Mittel brauchen, die die Personen in ihrer vollen menschlichen Verwirklichung unterstützen.

Ein Beispiel für die Bedeutung dieses Problems bietet uns das Phänomen des internationalen Tourismus,[141] der einen beträchtlichen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung und das kulturelle Wachstum darstellen kann, sich aber auch in eine Gelegenheit zu Ausbeutung und moralischem Verfall verwandeln kann. Die gegenwärtige Situation bietet außergewöhnliche Möglichkeiten, denn die wirtschaftlichen Aspekte der Entwicklung, das heißt die Geldflüsse und der Anfang bedeutender unternehmerischer Erfahrungen vor Ort, können sich mit den kulturellen Aspekten, in erster Linie mit jenem der Bildung, verbinden. In vielen Fällen geschieht dies, aber in vielen anderen ist der internationale Tourismus ein in erzieherischer Hinsicht verderbliches Ereignis sowohl für den Touristen als auch für die örtliche Bevölkerung. Letztere wird oft mit unmoralischem oder sogar perversem Verhalten konfrontiert, wie es beim sogenannten Sextourismus der Fall ist, dem viele Menschen, selbst in jugendlichem Alter, zum Opfer fallen. Es ist schmerzlich festzustellen, daß dies sich oft mit Zustimmung der örtlichen Regierungen, mit dem Schweigen der Regierungen der Herkunftsländer der Touristen und in Komplizenschaft vieler, die in der Branche tätig sind, abspielt. Auch wenn es nicht zu solchen Auswüchsen kommt, wird der internationale Tourismus nicht selten als Konsum und in hedonistischer Form gelebt, als Flucht und unter den für die Herkunftsländer typischen Bedingungen organisiert, so daß eine echte Begegnung mit den Menschen und der Kultur nicht begünstigt wird. Man muß daher an einen anderen Tourismus denken, der in der Lage ist, ein echtes gegenseitiges Kennenlernen zu fördern, ohne der Erholung und dem gesunden Vergnügen Raum wegzunehmen: Ein Tourismus dieser Art muß – auch dank einer engeren Verbindung der Erfahrung von internationaler Zusammenarbeit und zugunsten der Entwicklung – gefördert werden.

[141] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Bischöfe der Thailändischen Bischofskonferenz beim Ad-limina-Besuch (16. Mai 2008): Insegnamenti , IV, 1 (2008), 798-801.


62 Ein anderer Aspekt, der in bezug auf die ganzheitliche menschliche Entwicklung Beachtung verdient, ist das Phänomen der Migrationen. Dieses Phänomen erschüttert einen wegen der Menge der betroffenen Personen, wegen der sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Probleme, die es aufwirft, wegen der dramatischen Herausforderungen, vor die es die Nationen und die internationale Gemeinschaft stellt. Wir können sagen, daß wir vor einem sozialen Phänomen epochaler Art stehen, das eine starke und weitblickende Politik der internationalen Kooperation verlangt, um es in angemessener Weise anzugehen. Eine solche Politik muß ausgehend von einer engen Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern der Migranten entwickelt werden; sie muß mit angemessenen internationalen Bestimmungen einhergehen, die imstande sind, die verschiedenen gesetzgeberischen Ordnungen in Einklang zu bringen in der Aussicht, die Bedürfnisse und Rechte der ausgewanderten Personen und Familien sowie zugleich der Zielgesellschaften der Emigranten selbst zu schützen. Kein Land kann sich allein dazu imstande sehen, den Migrationsproblemen unserer Zeit zu begegnen. Wir alle sind Zeugen der Last an Leid, Entbehrung und Hoffnung, die mit den Migrationsströmen einhergeht. Das Phänomen zu steuern ist bekanntermaßen komplex; dennoch steht fest, daß die Fremdarbeiter trotz der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit ihrer Integration durch ihre Arbeit einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Gastlandes leisten und darüber hinaus dank der Geldsendungen auch einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer erbringen. Offensichtlich können diese Arbeitnehmer nicht als Ware oder reine Arbeitskraft angesehen werden. Sie dürfen folglich nicht wie irgendein anderer Produktionsfaktor behandelt werden. Jeder Migrant ist eine menschliche Person, die als solche unveräußerliche Grundrechte besitzt, die von allen und in jeder Situation respektiert werden müssen.[142]

[142] Vgl. Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und die Menschen unterwegs, Instruktion Erga migrantes caritas Christi (3. Mai 2004): AAS 96 (2004), 762-822.


63 Bei der Betrachtung der Probleme der Entwicklung kann man nicht anders, als den direkten Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit hervorzuheben. In vielen Fällen sind die Armen das Ergebnis der Verletzung der Würde der menschlichen Arbeit, da sowohl ihre Möglichkeiten beschränkt werden (Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung) als auch »die Rechte, die sich aus ihr ergeben, vor allem das Recht auf angemessene Entlohnung und auf die Sicherheit der Person des Arbeitnehmers und seiner Familie, entleert werden«.[143] Deswegen hat mein Vorgänger seligen Angedenkens Johannes Paul II. schon am 1. Mai 2000 anläßlich des Jubiläums der Arbeiter zu einer »weltweiten Koalition für würdige Arbeit«[144] aufgerufen und dabei die Strategie der Internationalen Arbeitsorganisation gefördert. Auf diese Weise hat er diesem Ziel als Bestrebung der Familien in allen Ländern der Welt eine starke moralische Bestätigung verliehen. Was bedeutet das Wort „Würde“ auf die Arbeit angewandt? Es bedeutet eine Arbeit, die in jeder Gesellschaft Ausdruck der wesenseigenen Würde jedes Mannes und jeder Frau ist: eine frei gewählte Arbeit, die die Arbeitnehmer, Männer und Frauen, wirksam an der Entwicklung ihrer Gemeinschaft teilhaben läßt; eine Arbeit, die auf diese Weise den Arbeitern erlaubt, ohne jede Diskriminierung geachtet zu werden; eine Arbeit, die es gestattet, die Bedürfnisse der Familie zu befriedigen und die Kinder zur Schule zu schicken, ohne daß diese selber gezwungen sind zu arbeiten; eine Arbeit, die den Arbeitnehmern erlaubt, sich frei zu organisieren und ihre Stimme zu Gehör zu bringen; eine Arbeit, die genügend Raum läßt, um die eigenen persönlichen, familiären und spirituellen Wurzeln wiederzufinden; eine Arbeit, die den in die Rente eingetretenen Arbeitnehmern würdige Verhältnisse sichert.

[143] Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens,
LE 8: a.a.O., 594-598.
[144] Ansprache am Ende der Eucharistiefeier anläßlich des Jubiläums der Arbeiter (1. Mai 2000): Insegamenti XXIII, 1 (2000), 720.


64 Beim Nachdenken über das Thema Arbeit ist auch ein Hinweis auf den dringenden Bedarf angebracht, daß die Gewerkschaftsorganisationen der Arbeitnehmer, die von der Kirche stets gefördert und unterstützt wurden, sich den neuen Perspektiven öffnen, die im Bereich der Arbeit auftauchen. In Überwindung der eigenen Grenzen der kategorialen Gewerkschaften sind die Gewerkschaftsorganisationen dazu aufgerufen, sich um die neuen Probleme unserer Gesellschaft zu kümmern: Ich beziehe mich zum Beispiel auf die Gesamtheit der Fragen, die die Sozialwissenschaftler im Konflikt zwischen Arbeitnehmer und Konsument ermitteln. Ohne notwendigerweise die These eines erfolgten Übergangs von der zentralen Rolle des Arbeiters zu der des Konsumenten vertreten zu müssen, scheint es jedenfalls, daß auch das ein Gebiet für innovative Gewerkschaftserfahrungen ist. Der globale Rahmen, in dem die Arbeit ausgeübt wird, verlangt auch, daß die nationalen Gewerkschaftsorganisationen, die sich vorwiegend auf die Verteidigung der Interessen der eigenen Mitglieder beschränken, den Blick ebenso auf die Nichtmitglieder richten und insbesondere auf die Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern, wo die Sozialrechte oft verletzt werden. Die Verteidigung dieser Erwerbstätigen, die auch durch geeignete Initiativen gegenüber ihren Herkunftsländern gefördert wird, erlaubt den Gewerkschaftsorganisationen, die echten ethischen und kulturellen Gründe hervorzuheben, die es ihnen unter anderen sozialen und Arbeitszusammenhängen gestattet haben, ein entscheidender Faktor für die Entwicklung zu sein. Stets bleibt die traditionelle Lehre der Kirche gültig, die eine Rollen- und Aufgabenunterscheidung von Gewerkschaft und Politik vorschlägt. Diese Unterscheidung erlaubt den Gewerkschaftsorganisationen, in der Zivilgesellschaft jenen Bereich herauszufinden, der am meisten ihrer Tätigkeit entspricht, für die notwendige Verteidigung und Förderung der Arbeitswelt vor allem zugunsten der ausgebeuteten und nicht vertretenen Arbeitnehmer Sorge zu tragen, deren bittere Lage dem zerstreuten Blick der Gesellschaft oft entgeht.


65 Ferner bedarf das Finanzwesen als solches einer notwendigen Erneuerung der Strukturen und Bestimmungen seiner Funktionsweisen, deren schlechte Anwendung die Realwirtschaft zuvor geschädigt hat. Auf diese Weise kann es dann wieder ein auf die bessere Vermögensschaffung und auf die Entwicklung zielgerichtetes Instrument werden. Die ganze Wirtschaft und das ganze Finanzwesen – nicht nur einige ihrer Bereiche – müssen nach ethischen Maßstäben als Werkzeuge gebraucht werden, so daß sie angemessene Bedingungen für die Entwicklung des Menschen und der Völker schaffen. Es ist gewiß nützlich und unter manchen Umständen unerläßlich, Finanzinitiativen ins Leben zu rufen, bei denen die humanitäre Dimension vorherrscht. Dies darf aber nicht vergessen lassen, daß das Finanzsystem insgesamt auf die Unterstützung einer echten Entwicklung zielgerichtet sein muß. Vor allem darf die Absicht, Gutes zu tun, nicht der Intention nach der tatsächlichen Güterproduktionskapazität gegenübergestellt werden. Die Finanzmakler müssen die eigentlich ethische Grundlage ihrer Tätigkeit wieder entdecken, um nicht jene hoch entwickelten Instrumente zu mißbrauchen, die dazu dienen können, die Sparer zu betrügen. Redliche Absicht, Transparenz und die Suche nach guten Ergebnissen sind miteinander vereinbar und dürfen nie voneinander gelöst werden. Wenn die Liebe klug ist, kann sie auch die Mittel finden, um gemäß einer weitblickenden und gerechten Wirtschaftlichkeit zu handeln, wie viele Erfahrungen auf dem Gebiet der Kreditgenossenschaften deutlich unterstreichen.

Sowohl eine Regulierung des Bereichs, welche die schwächeren Subjekte absichert und skandalöse Spekulationen verhindert, als auch der Versuch neuer Finanzformen, die zur Förderung von Entwicklungsprojekten bestimmt sind, bedeuten positive Erfahrungen, die vertieft und gefördert werden müssen und zugleich an die Eigenverantwortung des Sparers appellieren. Auch die Erfahrung des Mikrofinanzwesens, das seine eigenen Wurzeln in den Überlegungen und Werken der bürgerlichen Humanisten hat – ich denke vor allem an das Entstehen der Leihhäuser –, muß bestärkt und ausgearbeitet werden, besonders in diesen Momenten, in denen die Finanzprobleme für viele verwundbarere Teile der Bevölkerung, die vor den Risiken von Wucher oder vor der Hoffnungslosigkeit geschützt werden müssen, dramatisch werden können. Die schwächeren Subjekte müssen angeleitet werden, sich vor dem Wucher zu verteidigen. Ebenso sind die armen Völker darin zu schulen, realen Nutzen aus dem Mikrokredit zu ziehen. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten von Ausbeutung in diesen zwei Bereichen gebremst. Da es auch in den reichen Ländern neue Formen von Armut gibt, kann das Mikrofinanzwesen Hilfen geben, neue Initiativen und Bereiche zugunsten der schwachen Gesellschaftsschichten selbst in Phasen einer möglichen Verarmung der Gesellschaft zu schaffen.


66 Die weltweite Vernetzung hat eine neue politische Macht aufsteigen lassen, und zwar jene der Konsumenten und ihrer Verbände. Es handelt sich um ein Phänomen, das eingehend zu studieren ist, weil es positive Elemente enthält, die gefördert werden müssen, wie auch Übertreibungen, die zu vermeiden sind. Es ist gut, daß sich die Menschen bewußt werden, daß das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist. Die Konsumenten haben daher eine klare soziale Verantwortung, die mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens einhergeht. Sie müssen ständig zu der Rolle erzogen werden,[145] die sie täglich ausüben und die sie in der Achtung vor den moralischen Grundsätzen ausführen können, ohne die eigene wirtschaftliche Vernünftigkeit des Kaufakts herabzusetzen. Gerade in Zeiten wie denen, die wir erleben, in denen die Kaufkraft sich verringern könnte und man sich beim Konsum mäßigen sollte, ist es auch im Bereich des Erwerbs notwendig, andere Wege zu beschreiten, wie zum Beispiel die Formen von Einkaufskooperativen wie die Konsumgenossenschaften, die seit dem neunzehnten Jahrhundert auch dank der Initiative von Katholiken tätig sind. Ferner ist es nützlich, neue Formen der Vermarktung von Produkten, die aus unterdrückten Gebieten der Erde stammen, zu fördern, um den Erzeugern einen annehmbaren Lohn zu sichern unter der Bedingung, daß es sich wirklich um einen transparenten Markt handelt, daß die Erzeuger nicht nur eine höhere Gewinnspanne, sondern auch eine bessere Ausbildung, Professionalität und Technologie erhalten und daß sich schließlich mit solchen Wirtschaftserfahrungen für die Entwicklung nicht parteiideologische Ansichten verbinden. Eine wirksamere Rolle der Verbraucher, wenn diese selbst nicht von Verbänden manipuliert werden, die sie nicht wirklich vertreten, ist als Faktor einer wirtschaftlichen Demokratie wünschenswert.

[145] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus,
CA 36: a.a.O., 838-840.


67 Gegenüber der unaufhaltsamen Zunahme weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit wird gerade auch bei einer ebenso weltweit anzutreffenden Rezession stark die Dringlichkeit einer Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung empfunden, damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkrete Form gegeben werden kann. Desgleichen wird als dringlich gesehen, innovative Formen zu finden, um das Prinzip der Schutzverantwortung[146] anzuwenden und um auch den ärmeren Nationen eine wirksame Stimme in den gemeinschaftlichen Entscheidungen zuzuerkennen. Dies scheint gerade im Hinblick auf eine politische, rechtliche und wirtschaftliche Ordnung notwendig, die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin fördert und ausrichtet. Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, sowie Ernährungssicherheit und Frieden zu verwirklichen, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität, wie sie schon von meinem Vorgänger, dem seligen Papst Johannes XXIII., angesprochen wurde, dringend nötig. Eine solche Autorität muß sich dem Recht unterordnen, sich auf konsequente Weise an die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität halten, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hingeordnet sein,[147] sich für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, die sich von den Werten der Liebe in der Wahrheit inspirieren läßt. Darüber hinaus muß diese Autorität von allen anerkannt sein, über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten.[148] Offensichtlich muß sie die Befugnis besitzen, gegenüber den Parteien den eigenen Entscheidungen wie auch den in den verschiedenen internationalen Foren getroffenen abgestimmten Maßnahmen Beachtung zu verschaffen. In Ermangelung dessen würde nämlich das internationale Recht trotz der großen Fortschritte, die auf den verschiedenen Gebieten erzielt worden sind, Gefahr laufen, vom Kräftegleichgewicht der Stärkeren bestimmt zu werden. Die ganzheitliche Entwicklung der Völker und die internationale Zusammenarbeit erfordern, daß eine übergeordnete Stufe internationaler Ordnung von subsidiärer Art für die Steuerung der Globalisierung errichtet wird[149] und daß eine der moralischen Ordnung entsprechende Sozialordnung sowie jene Verbindung zwischen moralischem und sozialem Bereich, zwischen Politik und wirtschaftlichem und zivilem Bereich, die schon in den Statuten der Vereinten Nationen dargelegt wurde, endlich verwirklicht werden.

[146] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der UN-Vollversammlung (18. April 2008): a.a.O., 618-626.
[147] Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: a.a.O.,
PT 293; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 441.
[148] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, GS 82.
[149] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, SRS 43: a.a.O., 574-575.


SECHSTES KAPITEL

DIE ENTWICKLUNG DER VÖLKER UND DIE TECHNIK


68 Das Thema der Entwicklung der Völker ist eng mit dem der Entwicklung jedes einzelnen Menschen verbunden. Der Mensch ist von seiner Natur aus in dynamischer Weise auf die eigene Entwicklung ausgerichtet. Dabei handelt es sich nicht um eine von natürlichen Mechanismen gewährleistete Entwicklung, denn jeder von uns weiß, daß er imstande ist, freie und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Es handelt sich auch nicht um eine Entwicklung, die unserer Willkür überlassen ist, da wir alle wissen, daß wir Geschenk sind und nicht Ergebnis einer Selbsterzeugung. Die Freiheit ist in uns ursprünglich von unserem Sein und dessen Grenzen bestimmt. Niemand formt eigenmächtig das eigene Bewußtsein, sondern alle bauen das eigene „Ich“ auf der Grundlage eines „Selbst“ auf, das uns gegeben ist. Wir können über andere Menschen und auch über uns selbst nicht verfügen. Die Entwicklung des Menschen verkommt, wenn er sich anmaßt, sein eigener und einziger Hervorbringer zu sein. Ähnlich gerät die Entwicklung der Völker aus den Bahnen, wenn die Menschheit meint, sich wiedererschaffen zu können, wenn sie sich der „Wunder“ der Technik bedient. So wie sich die wirtschaftliche Entwicklung als trügerisch und schädlich herausstellt, wenn sie sich den „Wundern“ der Finanzwelt anvertraut, um ein unnatürliches und konsumorientiertes Wachstum zu unterstützen. Gegenüber dieser prometheischen Anmaßung müssen wir die Liebe zu einer Freiheit stärken, die nicht willkürlich ist, sondern durch die Anerkennung des ihr vorausgehenden Guten menschlicher geworden ist. Dazu muß der Mensch wieder zu sich kommen, um die Grundnormen des natürlichen Sittengesetzes zu erkennen, das Gott ihm ins Herz geschrieben hat.


69 Das Problem der Entwicklung ist heute eng mit dem technologischen Fortschritt und mit dessen erstaunlichen Anwendungen im Bereich der Biologie verbunden. Die Technik – das sei hier unterstrichen – ist eine zutiefst menschliche Erscheinung, die an die Autonomie und Freiheit des Menschen geknüpft ist. In der Technik kommt zum Ausdruck und bestätigt sich die Herrschaft des Geistes über die Materie. »Der Geist des Menschen kann sich, von der Versklavung unter die Sachwelt befreit, ungehinderter zur Kontemplation und Anbetung des Schöpfers erheben«.[150] Die Technik gestattet es, die Materie zu beherrschen, die Risiken zu verringern, Mühe zu sparen, die Lebensbedingungen zu verbessern. Sie entspricht der eigentlichen Berufung der menschlichen Arbeit: In der Technik, die als Werk seines Geistes gesehen wird, erkennt der Mensch sich selbst und verwirklicht das eigene Menschsein. Die Technik ist der objektive Aspekt der menschlichen Arbeit,[151] deren Ursprung und Daseinsberechtigung im subjektiven Element liegt: dem arbeitenden Menschen. Darum ist die Technik niemals nur Technik. Sie zeigt den Menschen und sein Streben nach Entwicklung, sie ist Ausdruck der Spannung des menschlichen Geistes bei der schrittweisen Überwindung gewisser materieller Bedingtheiten. Die Technik fügt sich daher in den Auftrag ein, »die Erde zu bebauen und zu hüten« (vgl. Gn 2,15), den Gott dem Menschen erteilt hat, und muß darauf ausgerichtet sein, jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der Spiegel der schöpferischen Liebe Gottes sein soll.

[150] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, PP 41: a.a.O., 277-278; vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, GS 57.
[151] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, LE 5: a.a.O., 586-589.


70 Die technologische Entwicklung kann zur Idee verleiten, daß sich die Technik selbst genügt, wenn der Mensch sich nur die Frage nach dem Wie stellt und die vielen Warum unbeachtet läßt, von denen er zum Handeln angespornt wird. Das ist der Grund dafür, daß die Technik ein zwiespältiges Gesicht annimmt. Da sie aus der menschlichen Kreativität als dem Werkzeug der Freiheit der Person hervorgegangen ist, kann die Technik als Element absoluter Freiheit verstanden werden, jener Freiheit, die von den Grenzen absehen will, die die Dinge in sich tragen. Der Globalisierungsprozeß könnte die Ideologien durch die Technik ersetzen,[152] die selbst zu einer ideologischen Macht geworden ist und die Menschheit der Gefahr aussetzt, sich in einem Apriori eingeschlossen zu finden, aus dem sie nicht ausbrechen kann, um dem Sein und der Wahrheit zu begegnen. In diesem Fall würden wir alle unsere Lebensumstände innerhalb eines technokratischen Kulturhorizonts, dem wir strukturell angehören würden, erkennen, einschätzen und bestimmen, ohne je einen Sinn finden zu können, den wir nicht selbst erzeugt haben. Diese Vorstellung macht heute die technizistische Mentalität so stark, daß sie das Wahre mit dem Machbaren zusammenfallen läßt. Wenn aber die Effizienz und der Nutzen das einzige Kriterium der Wahrheit sind, wird automatisch die Entwicklung geleugnet. Denn die echte Entwicklung besteht nicht in erster Linie im Tun. Schlüssel der Entwicklung ist ein Verstand, der in der Lage ist, die Technik zu durchdenken und den zutiefst menschlichen Sinn des Tuns des Menschen im Sinnhorizont der in der Gesamtheit ihres Seins genommenen Person zu erfassen. Auch wenn der Mensch durch einen Satelliten oder einen ferngesteuerten elektronischen Impuls tätig ist, bleibt sein Tun immer menschlich, Ausdruck verantwortlicher Freiheit. Die Technik wirkt auf den Menschen sehr anziehend, weil sie ihn den physischen Beschränkungen entreißt und seinen Horizont erweitert. Aber die menschliche Freiheit ist nur dann im eigentlichen Sinn sie selbst, wenn sie auf den Zauber der Technik mit Entscheidungen antwortet, die Frucht moralischer Verantwortung sind. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit einer Erziehung zur sittlichen Verantwortung im Umgang mit der Technik. Ausgehend von der Faszination, die die Technik auf den Menschen ausübt, muß man den wahren Sinn der Freiheit wiedergewinnen, die nicht in der Trunkenheit einer totalen Autonomie besteht, sondern in der Antwort auf den Aufruf des Seins, angefangen bei dem Sein, das wir selbst sind.

[152] Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, 29: a.a.O., 420.


71 Dieses mögliche Abweichen der technischen Denkweise von ihrem ursprünglichen humanistischen Lauf ist heute in den Phänomenen der Technisierung sowohl der Entwicklung wie des Friedens offenkundig. Häufig wird die Entwicklung der Völker als eine Frage der Finanzierungstechnik, der Öffnung der Märkte, der Zollsenkung, der Produktionsinvestitionen, der institutionellen Reformen – letztlich als eine rein technische Frage gesehen. Alle diese Bereiche sind äußerst wichtig, aber man muß sich fragen, warum die Entscheidungen technischer Art bis jetzt nur einigermaßen funktioniert haben. Der Grund dafür muß tiefer gesucht werden. Die Entwicklung wird niemals von gleichsam automatischen und unpersönlichen Kräften – seien es jene des Marktes oder jene der internationalen Politik – vollkommen garantiert werden. Ohne rechtschaffene Menschen, ohne Wirtschaftsfachleute und Politiker, die in ihrem Gewissen den Aufruf zum Gemeinwohl nachdrücklich leben, ist die Entwicklung nicht möglich. Sowohl die berufliche Vorbereitung wie die moralische Konsequenz sind vonnöten. Wenn sich die Verabsolutierung der Technik durchsetzt, kommt es zu einer Verwechslung von Zielen und Mitteln; der Unternehmer wird als einziges Kriterium für sein Handeln den höchsten Gewinn der Produktion ansehen; der Politiker die Festigung der Macht; der Wissenschaftler das Ergebnis seiner Entdeckungen. So geschieht es, daß oft unter dem Netz der Wirtschafts-, Finanz- oder politischen Beziehungen Unverständnis, Unbehagen und Ungerechtigkeiten weiterbestehen; die Ströme technischen Fachwissens vervielfachen sich, allerdings zum Vorteil ihrer Eigentümer, während die tatsächliche Situation der Völker, die jenseits und fast immer im Schatten dieser Ströme leben, weiter unverändert und ohne reale Emanzipationsmöglichkeiten bleibt.


Caritas in veritate DE 58