Deus caritas est 30

Die vielfältigen Strukturen des Liebesdienstes im heutigen sozialen Umfeld

30 Bevor ich versuche, das spezifische Profil der kirchlichen Aktivitäten im Dienst des Menschen zu definieren, möchte ich nun einen Blick auf die allgemeine Lage im Ringen um Gerechtigkeit und Liebe in der heutigen Welt werfen.
a) Die Massenkommunikationsmittel haben heute unseren Planeten kleiner werden lassen, indem sie unterschiedlichste Menschen und Kulturen schnell einander erheblich näher gebracht haben. Wenngleich dieses ,,Zusammenleben'' gelegentlich zu Unverständnis und Spannungen führt, so stellt doch die Tatsache, daß man nun die Nöte der Menschen viel direkter erfährt, vor allem einen Aufruf zur Anteilnahme an ihrer Situation und an ihren Schwierigkeiten dar. Täglich wird uns bewußt, wie viel Leid es aufgrund vielgestaltiger materieller wie auch geistiger Not in der Welt gibt, und das trotz der großen Fortschritte auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet. Folglich ist in dieser unserer Zeit eine neue Bereitschaft gefragt, dem notleidenden Nächsten zu helfen. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat das mit sehr deutlichen Worten hervorgehoben: ,,Heute, da die Kommunikationsmittel immer vollkommener arbeiten, die Entfernungen unter den Menschen sozusagen überwunden sind [...] kann und muß das karitative Tun alle Menschen und Nöte umfassen''.
24 par Andererseits - und das ist ein herausfordernder und zugleich ermutigender Aspekt der Globalisierung - stehen uns heute unzählige Mittel zur Verfügung, um den notleidenden Brüdern und Schwestern humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, nicht zuletzt die modernen Systeme zur Verteilung von Nahrung und Kleidung sowie zur Bereitstellung von Aufnahme- und Unterbringungsmöglichkeiten. So überwindet die Sorge für den Nächsten die Grenzen nationaler Gemeinschaften und ist bestrebt, ihre Horizonte auf die gesamte Welt auszuweiten. Zu Recht hat das Zweite Vatikanische Konzil hervorgehoben: ,,Unter den charakteristischen Zeichen unserer Zeit verdient der wachsende und unwiderstehliche Sinn für die Solidarität aller Völker besondere Beachtung''. 25 Die staatlichen Einrichtungen und die humanitären Vereinigungen unterstützen diesbezügliche Initiativen, die einen durch Beihilfen oder Steuererleichterungen, die anderen indem sie beträchtliche Geldmittel zur Verfügung stellen. Auf diese Weise übertrifft die von der menschlichen Gemeinschaft ausgedrückte Solidarität die der Einzelnen erheblich.
b) In dieser Situation sind zahlreiche Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen entstanden und gewachsen, die sich als fruchtbar erwiesen haben. Die kirchlichen Instanzen können mit der Transparenz ihres Wirkens und der treuen Erfüllung ihrer Pflicht, die Liebe zu bezeugen, auch die zivilen Instanzen mit christlichem Geist befruchten und eine wechselseitige Abstimmung fördern, die zweifellos der Wirksamkeit des karitativen Dienstes nützlich sein wird. 26 Ebenso haben sich in diesem Kontext vielfältige Organisationen mit karitativen oder philantropischen Zielen gebildet, die sich dafür einsetzen, angesichts der bestehenden politischen und sozialen Probleme unter dem humanitären Aspekt zufriedenstellende Lösungen zu erreichen. Ein wichtiges Phänomen unserer Zeit ist das Entstehen und die Ausbreitung verschiedener Formen des Volontariats, die eine Vielfalt von Dienstleistungen übernehmen. 27 An alle, die sich in unterschiedlicher Form an diesen Aktivitäten beteiligen, möchte ich ein besonderes Wort der Anerkennung und der Dankbarkeit richten. Dieser verbreitete Einsatz ist für die Jugendlichen eine Schule für das Leben, die zur Solidarität und zu der Bereitschaft erzieht, nicht einfach etwas, sondern sich selbst zu geben. Der Anti-Kultur des Todes, die sich zum Beispiel in der Droge ausdrückt, tritt damit die Liebe entgegen, die nicht sich selber sucht, sondern gerade in der Bereitschaft des Sich-Verlierens für den anderen (vgl. Lc 17,33 par.) sich als eine Kultur des Lebens erweist.
Auch in der katholischen Kirche und in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sind neue Formen karitativen Wirkens entstanden und haben sich alte mit neuer Kraft entfaltet - Formen, in denen häufig eine glückliche Verbindung von Evangelisierung und Liebeswerk gelingt. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigen, was mein großer Vorgänger Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis 28 geschrieben hat, als er die Bereitschaft der katholischen Kirche zur Zusammenarbeit mit den karitativen Organisationen dieser Kirchen und Gemeinschaften erklärte, da wir ja alle von der gleichen Grundmotivation ausgehend handeln und so das gleiche Ziel vor Augen haben: einen wahren Humanismus, der im Menschen das Ebenbild Gottes erkennt und ihm helfen will, ein Leben gemäß dieser seiner Würde zu verwirklichen. Die Enzyklika Ut unum sint hat dann noch einmal betont, daß für eine Entwicklung der Welt zum Besseren hin die gemeinsame Stimme der Christen und ihr Einsatz nötig ist, damit ,,der Achtung der Rechte und der Bedürfnisse aller, besonders der Armen, der Gedemütigten und der Schutzlosen zum Sieg verholfen wird''. 29 Ich möchte an dieser Stelle meine Freude darüber ausdrücken, daß dieser Wunsch in der ganzen Welt in zahlreichen Initiativen ein breites Echo gefunden hat.

Das spezifische Profil der kirchlichen Liebestätigkeit

31 Das Zunehmen vielfältiger Organisationen, die sich um den Menschen in seinen verschiedenen Nöten mühen, erklärt sich letztlich daraus, daß der Imperativ der Nächstenliebe vom Schöpfer in die Natur des Menschen selbst eingeschrieben ist. Es ist aber auch ein Ergebnis der Gegenwart des Christentums in der Welt, die diesen in der Geschichte oft tief verdunkelten Imperativ immer wieder weckt und zur Wirkung bringt: Das Reformheidentum von Kaiser Julian dem Apostaten ist für diese Wirkung nur ein frühes Beispiel. In diesem Sinn reicht die Kraft des Christentums weit über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus. Um so wichtiger ist es, daß das kirchliche Liebeshandeln seine volle Leuchtkraft behält und nicht einfach als eine Variante im allgemeinen Wohlfahrtswesen aufgeht. Was sind nun die konstitutiven Elemente, die das Wesen christlicher und kirchlicher Liebestätigkeit bilden?par a) Nach dem Vorbild, das das Gleichnis vom barmherzigen Samariter uns vor Augen stellt, ist christliche Liebestätigkeit zunächst einfach die Antwort auf das, was in einer konkreten Situation unmittelbar not tut: Die Hungrigen müssen gespeist, die Nackten gekleidet, die Kranken auf Heilung hin behandelt, die Gefangenen besucht werden usw. Die karitativen Organisationen der Kirche - angefangen bei denen der (diözesanen, nationalen und internationalen) ,,Caritas'' - müssen das ihnen Mögliche tun, damit die Mittel dafür und vor allem die Menschen bereitstehen, die solche Aufgaben übernehmen. Was nun den Dienst der Menschen an den Leidenden betrifft, so ist zunächst berufliche Kompetenz nötig: Die Helfer müssen so ausgebildet sein, daß sie das Rechte auf rechte Weise tun und dann für die weitere Betreuung Sorge tragen können. Berufliche Kompetenz ist eine erste, grundlegende Notwendigkeit, aber sie allein genügt nicht. Es geht ja um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens. Für alle, die in den karitativen Organisationen der Kirche tätig sind, muß es kennzeichnend sein, daß sie nicht bloß auf gekonnte Weise das jetzt Anstehende tun, sondern sich dem andern mit dem Herzen zuwenden, so daß dieser ihre menschliche Güte zu spüren bekommt. Deswegen brauchen diese Helfer neben und mit der beruflichen Bildung vor allem Herzensbildung: Sie müssen zu jener Begegnung mit Gott in Christus geführt werden, die in ihnen die Liebe weckt und ihnen das Herz für den Nächsten öffnet, so daß Nächstenliebe für sie nicht mehr ein sozusagen von außen auferlegtes Gebot ist, sondern Folge ihres Glaubens, der in der Liebe wirksam wird (vgl. Ga 5,6).
b) Das christliche Liebeshandeln muß unabhängig sein von Parteien und Ideologien. Es ist nicht ein Mittel ideologisch gesteuerter Weltveränderung und steht nicht im Dienst weltlicher Strategien, sondern ist hier und jetzt Vergegenwärtigung der Liebe, deren der Mensch immer bedarf. Die Neuzeit ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert beherrscht von verschiedenen Variationen einer Philosophie des Fortschritts, deren radikalste Form der Marxismus darstellt. Zur marxistischen Strategie gehört die Verelendungstheorie. Sie behauptet, wer in einer Situation ungerechter Herrschaft dem Menschen karitativ helfe, stelle sich faktisch in den Dienst des bestehenden Unrechtssystems, indem er es scheinbar, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, erträglich mache. So werde das revolutionäre Potential gehemmt und damit der Umbruch zur besseren Welt aufgehalten. Deswegen wird karitativer Einsatz als systemstabilisierend denunziert und angegriffen. In Wirklichkeit ist dies eine Philosophie der Unmenschlichkeit. Der jetzt lebende Mensch wird dem Moloch Zukunft geopfert, einer Zukunft, deren wirkliches Heraufkommen zumindest zweifelhaft bleibt. In Wahrheit kann die Menschlichkeit der Welt nicht dadurch gefördert werden, daß man sie einstweilen stillegt. Zu einer besseren Welt trägt man nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut, mit aller Leidenschaft und wo immer die Möglichkeit besteht, unabhängig von Parteistrategien und -programmen. Das Programm des Christen - das Programm des barmherzigen Samariters, das Programm Jesu - ist das ,,sehende Herz''. Dieses Herz sieht, wo Liebe not tut und handelt danach. Wenn die karitative Aktivität von der Kirche als gemeinschaftliche Initiative ausgeübt wird, sind über die Spontaneität des einzelnen hinaus selbstverständlich auch Planung, Vorsorge und Zusammenarbeit mit anderen ähnlichen Einrichtungen notwendig.
c) Außerdem darf praktizierte Nächstenliebe nicht Mittel für das sein, was man heute als Proselytismus bezeichnet. Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um damit andere Ziele zu erreichen. 30 Das bedeutet aber nicht, daß das karitative Wirken sozusagen Gott und Christus beiseite lassen müßte. Es ist ja immer der ganze Mensch im Spiel. Oft ist gerade die Abwesenheit Gottes der tiefste Grund des Leidens. Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kirche aufzudrängen versuchen. Er weiß, daß die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt. Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen. Er weiß, daß Gott Liebe ist (vgl. 1Jn 4,8) und gerade dann gegenwärtig wird, wenn nichts als Liebe getan wird. Er weiß - um auf die vorhin gestellten Fragen zurückzukommen - , daß die Verächtlichmachung der Liebe eine Verächtlichmachung Gottes und des Menschen ist - der Versuch, ohne Gott auszukommen. Daher besteht die beste Verteidigung Gottes und des Menschen eben in der Liebe. Aufgabe der karitativen Organisationen der Kirche ist es, dieses Bewußtsein in ihren Vertretern zu kräftigen, so daß sie durch ihr Tun wie durch ihr Reden, ihr Schweigen, ihr Beispiel glaubwürdige Zeugen Christi werden.

Die Träger des karitativen Handelns der Kirche

32 Schließlich müssen wir uns noch den bereits erwähnten Trägern des karitativen Handelns der Kirche zuwenden. In den bisherigen Überlegungen ist schon klar geworden, daß das eigentliche Subjekt der verschiedenen katholischen Organisationen, die einen karitativen Dienst leisten, die Kirche selber ist, und zwar auf allen Ebenen, angefangen von den Pfarreien über die Teilkirchen bis zur Universalkirche. Deshalb war es durchaus angebracht, daß mein verehrter Vorgänger Paul VI. den ,,Päpstlichen Rat Cor unum'' als eine für die Orientierung und Koordination der von der Kirche geförderten karitativen Organisationen und Aktivitäten verantwortliche Instanz des Heiligen Stuhls eingerichtet hat. Der bischöflichen Struktur der Kirche entspricht es, daß dann in den Teilkirchen die Bischöfe als Nachfolger der Apostel die erste Verantwortung dafür tragen, daß das Programm der Apostelgeschichte (vgl. ) auch heute realisiert wird: Kirche als Familie Gottes muß heute wie gestern ein Ort der gegenseitigen Hilfe sein und zugleich ein Ort der Dienstbereitschaft für alle der Hilfe Bedürftigen, auch wenn diese nicht zur Kirche gehören. Bei der Bischofsweihe gehen dem eigentlichen Weiheakt Fragen an den Kandidaten voraus, in denen die wesentlichen Elemente seines Dienstes angesprochen und ihm die Pflichten seines zukünftigen Amtes vorgestellt werden. In diesem Zusammenhang verspricht der zu Weihende ausdrücklich, ,,um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein''. 31 Der Kodex des Kanonischen Rechts () behandelt in den Canones über das Bischofsamt die karitative Aktivität nicht ausdrücklich als eigenen Sektor des bischöflichen Wirkens, sondern spricht nur ganz allgemein von dem Auftrag des Bischofs, die verschiedenen apostolischen Werke unter Wahrung ihres je eigenen Charakters zu koordinieren. 32 Kürzlich hat jedoch das Direktorium für den pastoralen Dienst der Bischöfe die Pflicht zu karitativem Tun als Wesensauftrag der Kirche im ganzen und des Bischofs in seiner Diözese konkreter entfaltet 33 und hervorgehoben, daß der Liebesdienst ein Akt der Kirche als solcher ist und daß er ebenso wie der Dienst am Wort und an den Sakramenten einen Wesensteil ihres grundlegenden Auftrags darstellt. 34
33 Was die Mitarbeiter betrifft, die praktisch das Werk der Nächstenliebe in der Kirche tun., so ist das Wesentliche schon gesagt worden: Sie dürfen sich nicht nach den Ideologien der Weltverbesserung richten, sondern müssen sich von dem Glauben führen lassen, der in der Liebe wirksam wird (vgl. Ga 5,6). Sie müssen daher zuallererst Menschen sein, die von der Liebe Christi berührt sind, deren Herz Christus mit seiner Liebe gewonnen und darin die Liebe zum Nächsten geweckt hat. Ihr Leitwort sollte der Satz aus dem Zweiten Korintherbrief sein: ,,Die Liebe Christi drängt uns'' (2Co 5,14). Die Erkenntnis, daß in ihm Gott selbst sich für uns verschenkt hat bis in den Tod hinein, muß uns dazu bringen, nicht mehr für uns selber zu leben, sondern für ihn und mit ihm für die anderen. Wer Christus liebt, liebt die Kirche und will, daß sie immer mehr Ausdruck und Organ seiner Liebe sei. Der Mitarbeiter jeder katholischen karitativen Organisation will mit der Kirche und daher mit dem Bischof dafür arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt ausbreitet. Er will durch sein Teilnehmen am Liebestun der Kirche Zeuge Gottes und Christi sein und gerade darum absichtslos den Menschen Gutes tun.
34 Das innere Offensein für die katholische Dimension der Kirche wird in dem Mitarbeiter zwangsläufig die Bereitschaft fördern, sich mit den anderen Organisationen im Dienst an den verschiedenen Formen der Bedürftigkeit abzustimmen; das muß jedoch unter Berücksichtigung des spezifischen Profils des Dienstes geschehen, den Christus von seinen Jüngern erwartet. In seinem Hymnus auf die Liebe lehrt uns der heilige Paulus (1Co 13), daß Liebe immer mehr ist als bloße Aktion: ,,Wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts'' (V. 3). Dieser Hymnus muß die Magna Charta allen kirchlichen Dienens sein; in ihm sind alle Überlegungen zusammengefaßt, die ich im Laufe dieses Schreibens über die Liebe entwickelt habe. Die praktische Aktion bleibt zu wenig, wenn in ihr nicht die Liebe zum Menschen selbst spürbar wird, die sich von der Begegnung mit Christus nährt. Das persönliche, innere Teilnehmen an der Not und am Leid des anderen wird so Teilgabe meiner selbst für ihn: Ich muß dem anderen, damit die Gabe ihn nicht erniedrigt, nicht nur etwas von mir, sondern mich selbst geben, als Person darin anwesend sein.
35 Dieses rechte Dienen macht den Helfer demütig. Er setzt sich nicht in eine höhere Position dem andern gegenüber, wie armselig dessen Situation im Augenblick auch sein mag. Christus hat den letzten Platz in der Welt - das Kreuz - eingenommen, und gerade mit dieser radikalen Demut hat er uns erlöst und hilft uns fortwährend. Wer in der Lage ist zu helfen, erkennt, daß gerade so auch ihm selber geholfen wird und daß es nicht sein Verdienst und seine Größe ist, helfen zu können. Dieser Auftrag ist Gnade. Je mehr einer für die anderen wirkt, desto mehr wird er das Wort Christi verstehen und sich zueignen: ,,Unnütze Knechte sind wir'' (Lc 17,10). Denn er erkennt, daß er nicht aufgrund eigener Größe oder Leistung handelt, sondern weil der Herr es ihm gibt. Manchmal kann ihm das Übermaß der Not und die Grenze seines eigenen Tuns Versuchung zur Mutlosigkeit werden. Aber gerade dann wird ihm helfen zu wissen, daß er letzten Endes nur Werkzeug in der Hand des Herrn ist, er wird sich von dem Hochmut befreien, selbst und aus Eigenem die nötige Verbesserung der Welt zustande bringen zu müssen. Er wird in Demut das tun, was ihm möglich ist und in Demut das andere dem Herrn überlassen. Gott regiert die Welt, nicht wir. Wir dienen ihm nur, soweit wir können und er uns die Kraft dazu gibt. Mit dieser Kraft freilich alles zu tun, was wir vermögen, ist der Auftrag, der den rechten Diener Jesu Christi gleichsam immerfort in Bewegung hält: ,,Die Liebe Christi drängt uns'' (2Co 5,14).
36 Die Erfahrung der Endlosigkeit der Not kann uns einerseits in die Ideologie treiben, die vorgibt, nun das zu tun, was Gottes Weltregierung allem Anschein nach nicht ausrichtet - die universale Lösung des Ganzen. Sie kann andererseits Versuchung zur Trägheit werden, weil es scheint, da wäre ja doch nichts zu erreichen. In dieser Situation ist der lebendige Kontakt mit Christus die entscheidende Hilfe, um auf dem rechten Weg zu bleiben: weder in menschenverachtenden Hochmut zu verfallen, der nicht wirklich aufbaut, sondern vielmehr zerstört, noch sich der Resignation anheimzugeben, die verhindern würde, sich von der Liebe führen zu lassen und so dem Menschen zu dienen. Das Gebet als die Weise, immer neu von Christus her Kraft zu holen, wird hier zu einer ganz praktischen Dringlichkeit. Wer betet, vertut nicht seine Zeit, selbst wenn die Situation alle Anzeichen der Dringlichkeit besitzt und einzig zum Handeln zu treiben scheint. Die Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen die Armut oder sogar das Elend des Nächsten. Die selige Theresa von Kalkutta ist ein sehr offenkundiges Beispiel dafür, daß die Gott im Gebet gewidmete Zeit dem tatsächlichen Wirken der Nächstenliebe nicht nur nicht schadet, sondern in Wirklichkeit dessen unerschöpfliche Quelle ist. In ihrem Brief zur Fastenzeit 1996 schrieb die Selige an ihre Mitarbeiter im Laienstand: ,,Wir brauchen diese innige Verbindung zu Gott in unserem Alltagsleben. Und wie können wir sie erhalten? Durch das Gebet''.
37 Es ist Zeit, angesichts des Aktivismus und des drohenden Säkularismus vieler in der karitativen Arbeit beschäftigter Christen die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen. Der betende Christ bildet sich selbstverständlich nicht ein, Gottes Pläne zu ändern, oder zu verbessern, was Gott vorgesehen hat. Er sucht vielmehr die Begegnung mit dem Vater Jesu Christi und bittet, daß er mit dem Trost seines Geistes in ihm und in seinem Wirken gegenwärtig sei. Die Vertrautheit mit dem persönlichen Gott und die Hingabe an seinen Willen verhindern, daß der Mensch Schaden nimmt, und bewahren ihn vor den Fängen fanatischer und terroristischer Lehren. Eine echt religiöse Grundhaltung vermeidet, daß der Mensch sich zum Richter Gottes erhebt und ihn anklagt, das Elend zuzulassen, ohne Mitleid mit seinen Geschöpfen zu verspüren. Wer sich aber anmaßt, unter Berufung auf die Interessen des Menschen gegen Gott zu kämpfen - auf wen soll er sich verlassen, wenn das menschliche Handeln sich als machtlos erweist?
38 Natürlich kann Ijob sich bei Gott beklagen über das unbegreifliche und augenscheinlich nicht zu rechtfertigende Leiden, das in der Welt existiert. So sagt er in seinem Schmerz: ,,Wüßte ich doch, wie ich ihn finden könnte, gelangen könnte zu seiner Stätte! ... Wissen möchte ich die Worte, die er mir entgegnet, erfahren, was er zu mir sagt. Würde er in der Fülle der Macht mit mir streiten? ... Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht; denk' ich daran, gerate ich in Angst vor ihm. Gott macht mein Herz verzagt, der Allmächtige versetzt mich in Schrecken'' (Jb 23,3 Jb 23,5-6 Jb 23,15-16). Oft ist es uns nicht gegeben, den Grund zu kennen, warum Gott seinen Arm zurückhält, anstatt einzugreifen. Im Übrigen verbietet er uns nicht einmal, wie Jesus am Kreuz zu schreien: ,,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?'' (Mt 27,46). In betendem Dialog sollten wir mit dieser Frage vor seinem Angesicht ausharren: ,,Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger?'' (Ap 6,10). Augustinus gibt auf dieses unser Leiden die Antwort aus dem Glauben: ,,Si comprehendis, non est Deus - Wenn du ihn verstehst, dann ist er nicht Gott''. 35 Unser Protest will Gott nicht herausfordern, noch ihm Irrtum, Schwäche oder Gleichgültigkeit unterstellen. Dem Glaubenden ist es unmöglich zu denken, Gott sei machtlos, oder aber er ,,schlafe'' (vgl. 1R 18,27). Vielmehr trifft zu, daß sogar unser Schreien, wie das Jesu am Kreuz, die äußerste und tiefste Bestätigung unseres Glaubens an seine Souveränität ist. Christen glauben nämlich trotz aller Unbegreiflichkeiten und Wirrnisse ihrer Umwelt weiterhin an die ,,Güte und Menschenliebe Gottes'' (Tt 3,4). Obwohl sie wie alle anderen Menschen eingetaucht sind in die dramatische Komplexität der Ereignisse der Geschichte, bleiben sie gefestigt in der Hoffnung, daß Gott ein Vater ist und uns liebt, auch wenn uns sein Schweigen unverständlich bleibt.
39 Glaube, Hoffnung und Liebe gehören zusammen. Die Hoffnung artikuliert sich praktisch in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht nachläßt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im Dunklen traut. Der Glaube zeigt uns den Gott, der seinen Sohn für uns hingegeben hat, und gibt uns so die überwältigende Gewißheit, daß es wahr ist: Gott ist Liebe! Auf diese Weise verwandelt er unsere Ungeduld und unsere Zweifel in Hoffnungsgewißheit, daß Gott die Welt in Händen hält und daß er trotz allen Dunkels siegt, wie es in ihren erschütternden Bildern zuletzt strahlend die Geheime Offenbarung zeigt. Der Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht - letztlich das einzige - , das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen - dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.

SCHLUSS

40 Schauen wir zuletzt hin auf die Heiligen, auf die, welche die Liebe in beispielhafter Weise verwirklicht haben. Im besonderen denken wir dabei an Martin von Tours († 397), den Soldaten, der später Mönch und Bischof wurde: Wie eine Ikone verdeutlicht er den unersetzlichen Wert des individuellen Liebes-Zeugnisses. Vor den Toren von Amiens teilt Martin seinen Mantel mit einem Armen. In der folgenden Nacht erscheint ihm, mit diesem Mantel bekleidet, Jesus selbst im Traum, um die ewige Gültigkeit der Worte aus dem Evangelium zu bestätigen: ,,Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben ... Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan (Mt 25,36 Mt 25,40). 36 Doch wie viele weitere Zeugnisse der Liebe könnte man aus der Geschichte der Kirche noch anführen! Einen besonderen Ausdruck findet sie in dem beachtlichen Dienst praktizierter Nächstenliebe, den die gesamte monastische Bewegung von ihren Anfängen mit dem hl. Abt Antonius († 356) an verwirklicht. In der Begegnung ,,von Angesicht zu Angesicht'' mit dem Gott, der die Liebe ist, spürt der Mönch den dringenden Anspruch, sein ganzes Leben in Dienst zu verwandeln - in Dienst an Gott und Dienst am Nächsten. So sind die großen Hospize, Kranken- und Armenhäuser zu erklären, die neben den Klöstern entstanden sind. Und so erklären sich auch die großen Initiativen für den menschlichen Fortschritt und die christliche Erziehung, die vor allem den Ärmsten zugedacht sind; ihrer haben sich zuerst die monastischen Orden und die Bettelorden angenommen und dann, die ganze Geschichte der Kirche hindurch, die verschiedenen männlichen und weiblichen Ordensinstitute. Heiligengestalten wie Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, Johannes von Gott, Kamillus von Lellis, Vinzenz von Paul, Louise de Marillac, Giuseppe B. Cottolengo, Johannes Bosco, Luigi Orione und Theresa von Kalkutta - um nur einige zu nennen - sind berühmte Vorbilder sozialer Liebestätigkeit für alle Menschen guten Willens. Die Heiligen sind die wahren Lichtträger der Geschichte, weil sie Menschen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sind.
41 Herausragend unter den Heiligen ist Maria, die Mutter des Herrn, Spiegel aller Heiligkeit. Im Lukasevangelium sehen wir sie in einem Liebesdienst an ihrer Kusine Elisabeth, bei der sie ,,etwa drei Monate'' bleibt (Lc 1,56), um ihr in der Endphase ihrer Schwangerschaft beizustehen. ,,Magnificat anima mea Dominum'', sagt sie bei diesem Besuch - ,,Meine Seele macht den Herrn groß'' - (Lc 1,46) und drückt damit das ganze Programm ihres Lebens aus: nicht sich in den Mittelpunkt stellen, sondern Raum schaffen für Gott, dem sie sowohl im Gebet als auch im Dienst am Nächsten begegnet - nur dann wird die Welt gut. Maria ist groß eben deshalb, weil sie nicht sich, sondern Gott groß machen will. Sie ist demütig: Sie will nichts anderes sein als Dienerin des Herrn (vgl. Lc 1,38 Lc 1,48). Sie weiß, daß sie nur dadurch zum Heil der Welt beiträgt, daß sie nicht ihr eigenes Werk vollbringen will, sondern sich dem Wirken Gottes ganz zur Verfügung stellt. Sie ist eine Hoffende: Nur weil sie den Verheißungen Gottes glaubt und auf das Heil Israels wartet, kann der Engel zu ihr kommen und sie für den entscheidenden Dienst an diesen Verheißungen berufen. Sie ist eine Glaubende: ,,Selig bist du, weil du geglaubt hast'', sagt Elisabeth zu ihr (vgl. Lc 1,45). Das Magnifikat - gleichsam ein Porträt ihrer Seele - ist ganz gewoben aus Fäden der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, daß sie im Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes her. So ist auch sichtbar, daß ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, daß ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wortes werden. Endlich: Maria ist eine Liebende. Wie könnte es anders sein? Als Glaubende und im Glauben mit Gottes Gedanken denkend, mit Gottes Willen wollend kann sie nur eine Liebende sein. Wir ahnen es an den leisen Gebärden, von denen uns die Kindheitsgeschichten aus dem Evangelium erzählen. Wir sehen es in der Diskretion, mit der sie in Kana die Not der Brautleute wahrnimmt und zu Jesus trägt. Wir sehen es in der Demut, mit der sie die Zurückstellung in der Zeit des öffentlichen Lebens annimmt - wissend, daß der Sohn nun eine neue Familie gründen muß und daß die Stunde der Mutter erst wieder sein wird im Augenblick des Kreuzes, der ja die wahre Stunde Jesu ist (vgl. Jn 2,4 Jn 13,1). Dann, wenn die Jünger geflohen sind, wird sie es sein, die unter dem Kreuz steht (vgl. Jn 19,25-27); und später, in der Stunde von Pfingsten, werden die Jünger sich um sie scharen in der Erwartung des Heiligen Geistes (vgl. Ac 1,14).
42 Zum Leben der Heiligen gehört nicht bloß ihre irdische Biographie, sondern ihr Leben und Wirken von Gott her nach ihrem Tod. In den Heiligen wird es sichtbar: Wer zu Gott geht, geht nicht weg von den Menschen, sondern wird ihnen erst wirklich nahe. Nirgends sehen wir das mehr als an Maria. Das Wort des Gekreuzigten an den Jünger, an Johannes und durch ihn hindurch an alle Jünger Jesu: ,,Siehe da, deine Mutter'' (Jn 19,27), wird durch alle Generationen hindurch immer neu wahr. Maria ist in der Tat zur Mutter aller Glaubenden geworden. Zu ihrer mütterlichen Güte wie zu ihrer jungfräulichen Reinheit und Schönheit kommen die Menschen aller Zeiten und aller Erdteile in ihren Nöten und ihren Hoffnungen, in ihren Freuden und Leiden, in ihren Einsamkeiten wie in der Gemeinschaft. Und immer erfahren sie das Geschenk ihrer Güte, erfahren sie die unerschöpfliche Liebe, die sie aus dem Grund ihres Herzens austeilt. Die Zeugnisse der Dankbarkeit, die ihr in allen Kontinenten und Kulturen erbracht werden, sind die Anerkennung jener reinen Liebe, die nicht sich selber sucht, sondern nur einfach das Gute will. Die Verehrung der Gläubigen zeigt zugleich das untrügliche Gespür dafür, wie solche Liebe möglich wird: durch die innerste Einung mit Gott, durch das Durchdrungensein von ihm, das denjenigen, der aus dem Brunnen von Gottes Liebe getrunken hat, selbst zum Quell werden läßt, ,,von dem Ströme lebendigen Wassers ausgehen'' (vgl. Jn 7,38). Maria, die Jungfrau, die Mutter, zeigt uns, was Liebe ist und von wo sie ihren Ursprung, ihre immer erneuerte Kraft nimmt. Ihr vertrauen wir die Kirche, ihre Sendung im Dienst der Liebe an:par Heilige Maria, Mutter Gottes,du hast der Weltdas wahre Licht geschenkt,Jesus, deinen Sohn - Gottes Sohn.Du hast dich ganzdem Ruf Gottes überantwortetund bist so zum Quell der Güte geworden,die aus ihm strömt.Zeige uns Jesus. Führe uns zu ihm.Lehre uns ihn kennen und ihn lieben,damit auch wir selbstwahrhaft Liebendeund Quelle lebendigen Wasserswerden könneninmitten einer dürstenden Welt.

Gegeben zu Rom, Sankt Peter, am 25. Dezember, dem Hochfest der Geburt des Herrn, im Jahr 2005, dem ersten des Pontifikats.

BENEDICTUS PP. XVI


1 Vgl. Jenseits von Gut und Böse, IV, 168.


2 X, 69.


3 Vgl. R. Descartes, OEuvres, hrsg. von V. Cousin, Bd. 12, Paris 1824, S. 95 ff.


4 II, 5: SCh 381, 196.


5 Ebd., 198.


6 Vgl. Metaphysik, XII, 7.


7 Vgl. Pseudo Dionysius Areopagit, der in seinem Werk Über die göttlichen Namen, IV, 12-14: PG 3, 709-713 Gott zugleich Eros und Agape nennt.


8 Vgl. Symposion, XIV-XV, 189c-192d.


9 Sallust, De coniuratione Catilinae, XX, 4.


10 Vgl. Augustinus, Confessiones, III, 6, 11: CCL 27, 32.


11 De Trinitate, VIII, 8, 12: CCL 50, 287.


12 Vgl. I Apologia, 67: PG 6, 429.


13 Vgl. Apologeticum 39, 7: PL 1, 468.


14 Ep. ad Rom., Inscr.: PG 5, 801.


15 Vgl. Ambrosius, De officiis ministrorum, II, 28, 140: PL 16, 141.


16 Vgl. Ep. 83: J. Bidez, L'Empereur Julien. OEuvres complètes, Paris 19602, t. I, 2a, S. 145.


17 Vgl. Kongregation für die Bischöfe, Direktorium für den pastoralen Dienst der Bischöfe, Apostolorum Successores (22. Februar 2004), 194, Vatikanstadt 2004, 2a, 205-206.


18 De Civitate Dei, IV, 4: CCL 47, 102.


19 Vgl. Past. Konst. über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, GS 36.



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