Dives in misericordia 6

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6. Die Betonung der menschlichen Würde

Dieses klar gezeichnete Bild von der inneren Verfassung des verlorenen Sohnes erlaubt es uns, genau zu erfassen, worin das göttliche Erbarmen besteht. Zweifellos enthüllt uns die Gestalt des Vaters in dieser einfachen, aber eindringlichen Analogie Gott als Vater. Das Verhalten des Vaters im Gleichnis, seine ganze Handlungsweise, in der seine innere Haltung sichtbar wird, läßt uns die einzelnen Linien der alttestamentlichen Sicht des Erbarmens in einer völlig neuen, ganz einfachen und tiefen Synthese wiederfinden. Der Vater des verlorenen Sohnes ist seiner Vaterschaft treu, ist der Liebe treu, mit der er seit jeher seinen Sohn beschenkt hat. Diese Treue kommt im Gleichnis nicht nur in der sofortigen Bereitschaft zum Ausdruck, mit der er den heimkehrenden Sohn, der das Vermögen verschleudert hat, aufnimmt; sie kommt noch mehr in der überströmenden, großzügigen Freude über den heimgekehrten Verschwender zum Ausdruck, deren Ausmaß sogar den Widerspruch und Neid des älteren Bruders hervorruft, der sich nie vom Vater abgewendet und sein Haus nicht verlassen hatte.

Die Treue des Vaters zu sich selbst - ein von dem alttestamentlichen Ausdruck »hesed« her bereits bekannter Wesenszug - wird in ergreifender Wärme beschrieben: »Der Vater sah ihn schon von weitem kommen, und er hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn«.64 Dieses Tun ist sicher von einer tiefen Zuneigung bestimmt, die auch seine dem Sohn erwiesene Großzügigkeit erklärt, über die der ältere dann so in Zorn gerät. Die Gründe für diesen bewegten Empfang liegen jedoch tiefer: der Vater weiß sehr wohl, daß ein grundlegendes Gut gerettet ist - das Mensch-sein seines Sohnes. Mag dieser auch das Vermögen verschleudert haben, sein Mensch-sein ist heil geblieben. Ja, es wurde sozusagen wiedergefunden.Das bezeugen die Worte des Vaters an den älteren Sohn: »Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern, denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden«.65 Im selben 15. Kapitel des Lukasevangeliums lesen wir das Gleichnis vom verlorenen Schaf66 und anschließend von der verlorenen Drachme.67 Jedesmal wird die gleiche Freude hervorgehoben, die wir beim verlorenen Sohn finden. Die Treue des Vaters zu sich selbst ist voll und ganz auf das Mensch - sein, auf die Würde des verlorenen Sohnes ausgerichtet. So erklärt sich vor allem seine bewegte Freude im Augenblick der Heimkehr.

Man kann also sagen, daß die Liebe zum Sohn, die Liebe, die aus dem Wesen der Vaterschaft fließt, den Vater in einem bestimmten Sinn dazu verpflichtet, sich um die Würde des Sohnes zu sorgen. Diese Sorge ist der Maßstab seiner Liebe, wie der heilige Paulus schreibt: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig... Sie sucht nicht ihren Vorteil, läßt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach... Sie freut sich an der Wahrheit. ... Sie hofft alles, hält allem stand« und »hört niemals auf«.68 Das Erbarmen - wie es Christus im Gleichnis vom verlorenen Sohn darstellt - hat die innere Form jener Liebe, die im Neuen Testament agápe genannt wird. Solche Liebe ist fähig, sich über jeden verlorenen Sohn zu beugen, über jedes menschliche Elend, vor allem über das moralische Elend: die Sünde. Wenn das geschieht, fühlt sich der, dem das Erbarmen zuteil wird, nicht gedemütigt, sondern gleichsam wiedergefunden und »aufgewertet«. Der Vater läßt ihn in erster Linie spüren, wie groß seine Freude ist, daß er »wiedergefunden wurde« und »wieder lebt«. Diese Freude weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht, wenn er sich von ihm trennt; sie weist darüber hinaus auf ein wiedergefundenes Gut hin: im Fall des verlorenen Sohnes die Rückkehr zur Wahrheit über sich selbst.

Was sich im Verhältnis des Vaters zum Sohn im Gleichnis Christi ereignet, läßt sich nicht »von außen her« werten. Unsere Vorurteile in bezug auf das Erbarmen sind größtenteils das Ergebnis einer rein äußerlichen Wertung. Entsprechend einer solchen Wertung sehen wir manchmal im Erbarmen vor allem ein Verhältnis der Ungleichheit zwischen dem, der es schenkt, und dem, der es empfängt. Infolgedessen sind wir bereit, den Schluß zu ziehen, das Erbarmen demütige den, der es empfängt, es verletze die Würde des Menschen. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn beweist uns, daß es in Wirklichkeit anders ist: die Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde. Diese gemeinsame Erfahrung führt dazu, daß der verlorene Sohn sich und seine Taten in der vollen Wahrheit zu sehen beginnt (dieses Sehen in Wahrheit ist echte Demut) und seinem Vater gerade dadurch besonderers lieb wird, der in so leuchtender Klarheit das Gute sieht, das dank einer geheimnisvollen Ausstrahlung der Wahrheit und der Liebe geschehen ist, daß er alle Schandtaten des Sohnes gleichsam vergißt.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn bringt auf einfache, aber tiefe Weise die Wirklichkeit der Bekehrung zum Ausdruck. Sie ist das konkreteste Zeugnis für das Wirken der Liebe und die Gegenwart des Erbarmens in der Welt des Menschen. Die wahre und eigentliche Bedeutung von Erbarmen beschränkt sich nicht auf den - noch so tiefgehenden und mitfühlenden - Blick auf das moralische, physische oder materielle Übel: das Erbarmen zeigt sich wahrhaft und eigentlich, wenn es wieder aufwertet, fördert und aus allen Formen des Übels in der Welt und im Menschen das Gute zieht. So betrachtet, stellt es den Grundinhalt der messianischen Botschaft Christi dar und den eigentlichen Impuls seiner Mission. So wurde es auch von seinen Jüngern und Anhängern verstanden und geübt. In ihren Herzen und in ihrem Wirken offenbarte es sich unaufhörlich als ein besonders schöpferischer Erweis der Liebe, die »sich vom Bösen nicht besiegen läßt, sondern das Böse durch das Gute besiegt«.69 Das wahre Antlitz des Erbarmens muß sich immer neu enthüllen. Unsere Zeit bedarf seiner, trotz vielfacher Vorurteile, ganz besonders.

V. DAS PASCHAMYSTERIUM


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7. Das Erbarmen wird in Kreuz und Auferstehung offenbar

Die messianische Verkündigung Christi und sein Wirken unter den Menschen finden ihren Abschluß in Kreuz und Auferstehung. Wir müssen tief in dieses letzte Geschehen eindringen - das vor allem in der Sprache des Konzils das Paschamysterium genannt wird - , wenn wir der Wahrheit vom Erbarmen, wie sie in der Geschichte unseres Heils geoffenbart wurde, entsprechen wollen. An diesem Punkt unserer Überlegungen ist es angebracht, uns noch eingehender dem Inhalt der Enzyklika Redemptor Hominis zuzuwenden. Denn wenn auch die Wirklichkeit der Erlösung in ihrer menschlichen Dimension die unerhörte Größe des Menschen enthüllt, qui talem ac tantum meruit habere Redemptorem,70 so erlaubt uns doch die göttliche Dimension der Erlösung, auf eine sozusagen unüberbietbar empirische und »historische« Weise zugleich die Tiefe jener Liebe zu enthüllen, die nicht einmal vor dem außerordentlichen Opfer des Sohnes zurückweicht, um der Treue des Schöpfers und Vaters zu den Menschen gerecht zu werden, die nach seinem Bild geschaffen und vom »Anfang« an in diesem Sohn zur Gnade und Herrlichkeit berufen sind.

Die Ereignisse des Karfreitags und noch vorher das Gebet in Getsemani stellen im Verlauf der Offenbarung der Liebe und des Erbarmens in der messianischen Sendung Christi einen radikalen Umschwung dar. Er, der »umherzog, Gutes zu tun«71 und »alle Krankheiten und Leiden zu heilen«,72 scheint jetzt selbst das größte Erbarmen zu verdienen und das Erbarmen anzurufen, während er gefangengenommen, beschimpft, verurteilt, gegeißelt, mit Dornen gekrönt und ans Kreuz genagelt wird, wo er unter unbeschreiblichen Qualen seinen Geist aufgibt.73 Gerade in diesen Stunden würde er ganz besonders das Erbarmen der Menschen, denen er Gutes erwiesen hat, verdienen, und es wird ihm nicht zuteil. Nicht einmal jenen, die ihm am nächsten sind, gelingt es, ihn zu beschützen und den Händen seiner Verfolger zu entreißen. In diesem letzten Abschnitt seines messianischen Dienstes erfüllen sich an Christus die Worte der Propheten, vor allem die Weissagungen Jesajas über den Gottesknecht: »Durch seine Wunden sind wir geheilt«74

Christus wendet sich als Mensch, der im Ölgarten und auf Golgota wirklich und auf entsetzliche Art leidet, an den Vater, an jenen Vater, dessen Liebe er den Menschen verkündet und dessen Erbarmen er mit all seinem Tun bezeugt hat. Gerade ihm bleibt jedoch das furchtbare Erleiden des Todes am Kreuz nicht erspart: »Den, der keine Sünde kannte, hat (Gott) für uns zur Sünde gemacht«,75 wird später der heilige Paulus schreiben und so die ganze Tiefe des Kreuzesgeheimnisses und die göttliche Dimension der Erlösungswirklichkeit in wenigen Worten zusammenfassen. Gerade diese Erlösung ist die letzte und endgültige Offenbarung der Heiligkeit Gottes, der die absolute Fülle der Vollkommenheit ist: Fülle der Gerechtigkeit und der Liebe, weil die Gerechtigkeit auf der Liebe gründet, von ihr ausgeht und ihr zustrebt. Im Leiden und Tod Christi - in der Tatsache, daß der Vater seinen Sohn nicht verschonte, sondern ihn »für uns zur Sünde gemacht hat«76 - kommt die absolute Gerechtigkeit zum Ausdruck, insofern wegen der Sünden der Menschheit Christus Leiden und Kreuz erduldet. Das ist geradezu ein »Übermaß« der Gerechtigkeit, denn die Sünde des Menschen wird »aufgewogen« durch das Opfer des Gott - Menschen. Diese Gerechtigkeit wahrhaft göttlichen »Maßes« entspringt ganz der Liebe, der Liebe des Vaters und des Sohnes, und bringt von ihrem Wesen her Früchte in der Liebe. Diese göttliche Gerechtigkeit, wie sie das Kreuz Christi offenbart, ist eben insofern »nach dem Maße« Gottes, als sie Ursprung und Erfüllung in der Liebe hat und Früchte des Heils hervorbringt. Die göttliche Dimension der Ertösung beschränkt sich nicht auf das Gericht über die Sünde, sondern sie erneuert in der Liebe jene schöpferische Kraft im Menschen, die ihm wieder die von Gott kommende Fülle des Lebens und der Heiligkeit zugänglich macht. Auf diese Weise beinhaltet die Erlösung die Offenbarung des Erbarmens in seiner Vollendung.

Das Paschamysterium ist der Gipfelpunkt der Offenbarung und Verwirklichung des Erbarmens, das den Menschen zu rechtfertigen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen vermag im Sinne der Heilsordnung, die Gott vom Anbeginn her im Menschen und durch ihn in der Welt wollte. Der leidende Christus spricht den Menschen, und nicht nur den Gläubigen, besonders an. Auch der Ungläubige kann in ihm die überzeugende Solidarität mit dem Schicksal des Menschen sowie die harmonische Vollendung einer selbstlosen Hingabe an die Sache des Menschen, an die Wahrheit und Liebe entdecken. Die göttliche Dimension des Paschageheimnisses reicht jedoch noch tiefer. Das auf Golgota errichtete Kreuz, an dem Christus sein letztes Zwiegespräch mit dem Vater führt, erwächst aus dem innersten Kern jener Liebe, die dem nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen gemäß dem ewigen Plan Gottes geschenkt worden ist. Gott, wie Christus ihn geoffenbart hat, bleibt nicht nur als Schöpfer und letzter Seinsgrund in enger Verbindung mit der Welt. Er ist auch Vater: mit dem Menschen, den er in der sichtbaren Welt ins Dasein gerufen hat, verbinden ihn Bande, welche die des Erschaffens an Tiefe übertreffen. Es sind dies die Bande der Liebe, die nicht nur das Gute hervorbringt, sondern am Leben Gottes selbst, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, teilhaben läßt. Wer liebt, den drängt es ja, sich selbst zum Geschenk zu machen.

Das Kreuz Christi auf Golgota steht am Weg jenes admirabile commercium, jener wunderbaren Selbstmitteilung Gottes an den Menschen, die zugleich die Einladung an den Menschen in sich schließt, sich und mit sich die ganze sichtbare Welt Gott hinzugeben und so an seinem Leben teilzuhaben; als angenommener Sohn der Wahrheit und Liebe in Gott und aus Gott teilhaft zu werden. Am Weg der ewigen Erwählung des Menschen zur Würde eines angenommenen Sohnes Gottes steht in der Geschichte das Kreuz Christi, des eingeborenen Sohnes, der als »Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott«77 gekommen ist, um ein letztes Zeugnis abzulegen für den wunderbaren Bund Gottes mit der Menschheit, Gottes mit dem Menschen - mit jedem Menschen. Dieser Bund, der so alt ist wie der Mensch und auf das Geheimnis der Erschaffung selbst zurückgeht, der mehrmals mit dem einen auserwählten Volk erneuert wurde, ist gleichermaßen der neue und endgültige Bund, der auf Golgota geschlossen wurde und nicht auf ein einziges Volk, auf Israel, beschränkt ist, sondern allen und einem jeden offensteht.

Was sagt uns also das Kreuz Christi, welches in einem bestimmten Sinn das letzte Wort seiner Botschaft und Mission als Messias ist? Und doch ist es nicht das letzte Wort des Bundes - Gottes dieses wird im Morgengrauen jenes Tages gesprochen, an dem zunächst die Frauen und dann die Apostel zum Grab des gekreuzigten Herrn kommen, es leer vorfinden und zum ersten Mal vernehmen: »Er ist auferstanden!«. Sie werden es weitersagen und Zeugen des Auferstandenen sein. Dennoch ist auch in dieser Verherrlichung des Sohnes Gottes das Kreuz weiterhin gegenwärtig, welches - durch das gesamte messianische Zeugnis des Menschen-Sohnes, der an ihm den Tod erlitten hat - unaufhörlich vom göttlichen Vater spricht, der seiner ewigen Liebe zum Menschen unverbrüchlich treu bleibt, der »die Welt so sehr geliebt hat« - und somit den Menschen in ihr - , »daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat«.78 An den gekreuzigten Sohn glauben, heißt »den Vater sehen«,79 heißt glauben, daß die Liebe in der Welt gegenwärtig ist und daß sie mächtiger ist als jedwedes Übel, in das der Mensch, die Menschheit, die Welt verstrickt sind. An diese Liebe glauben, heißt, an das Erbarmen glauben. Dieses ist ja die unerläßliche Dimension der Liebe, ist sozusagen ihr zweiter Name und zugleich die spezifische Art, wie sie sich zeigt und vollzieht angesichts der Wirklichkeit des Übels in der Welt, das den Menschen trifft und bedrängt, sich auch in sein Herz einschleicht und ihn »ins Verderben der Hölle stürzen kann«.80

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8. Die Liebe ist stärker als Tod und Sünde

Das Kreuz Christi auf Golgota bezeugt auch die Kraft des Bösen dem Sohn Gottes gegenüber, also dem gegenüber, der als einziger unter den Menschenkindern von Natur aus absolut unschuldig und frei von Sünde war und auf dessen Kommen in die Welt nicht der Ungehorsam Adams und die Erbschuld lasteten. Und gerade in diesem Christus wird nun um den Preis seines Opfers, seines Gehorsams »bis zum Tod«81 die Sünde gerichtet. Er, der ohne Sünde war, wurde »für uns zur Sünde gemacht«.82 Gerichtet wird auch der Tod, der sich seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte mit der Sünde verbündet hat. Er wird gerichtet im Tod dessen, der ohne Sünde war und als einziger - durch seinen Tod - dem Tod den Todesstreich versetzen konnte.83 Auf diese Weise ist das Kreuz Christi, an welchem der dem Vater wesensgleiche Sohn Gott die gerechte Sühne darbringt, auch eine radikale Offenbarung des Erbarmens, das heißt der Liebe, die gegen die Wurzel allen Übels in der Geschichte des Menschen angeht - gegen Sünde und Tod.

Im Kreuz neigt sich Gott am tiefsten zum Menschen herab und zu allem, was der Mensch insbesondere in schwierigen und schmerzlichen Augenblicken als sein unglückliches Schicksal bezeichnet. Im Kreuz werden gleichsam von einem heilenden Hauch der ewigen Liebe die schmerzlichsten Wunden der irdischen Existenz des Menschen berührt; es ist die letzte Vollendung des messianischen Programmes, das Christus einst in der Synagoge von Nazaret formulierte84 und dann vor den Abgesandten Johannes' des Täufers wiederholte.85 Dieses Programm bestand - wie von Jesaja prophezeit86 - in der Offenbarung der barmherzigen Liebe zu den Armen, den Leidenden und Gefangenen, zu den Blinden, den Unterdrückten und den Sündern. Im Paschageheimnis wird die Schranke des vielfachen Übels, in das der Mensch in seiner irdischen Existenz verstrickt ist, überschritten: das Kreuz Christi läßt uns die tiefsten Wurzeln des Übels verstehen, die in die Sünde und den Tod hinabreichen, und wird so auch zu einem eschatologischen Zeichen. Erst in der endzeitlichen Erfüllung und in der endgültigen Erneuerung der Welt wird die Liebe in allen Auserwählten die tiefsten Quellen des Übels besiegen und als vollreife Frucht das Reich des Lebens, der Heiligkeit und der seligen Unsterblichkeit hervorbringen. Das Fundament dieser endzeitlichen Vollendung ist bereits im Kreuz Christi und in seinem Tod gelegt. Die Tatsache, daß »Christus am dritten Tag auferweckt worden ist«,87 stellt das endgültige Zeichen der messianischen Mission dar, die Krönung der ganzen Offenbarung der erbarmenden Liebe in einer vom Übel geprägten Welt. Sie ist auch ein Zeichen, das »einen neuen Himmel und eine neue Erde«88 ankündigt, wo Gott »alle Tränen von ihren Augen abwischen wird; der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn das, was früher war, ist vergangen«.89

In der endzeitlichen Vollendung wird sich das Erbarmen als Liebe offenbaren; in der Zeitlichkeit, in der menschlichen Geschichte, einer Geschichte von Sünde und Tod, muß sich die Liebe vor allem als Erbarmen offenbaren und vollziehen. Das messianische Programm Christi, sein Programm des Erbarmens, wird zum Programm seines Volkes, der Kirche. Im Mittelpunkt dieses Programms steht immer das Kreuz; denn in ihm erreicht die Offenbarung der erbarmenden Liebe ihren Höhepunkt. Solange »das Frühere« nicht vergangen sein wird,90 wird das Kreuz der »Ort« bleiben, auf den sich die folgenden Worte der Offenbarung des Johannes beziehen lassen: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir«.91 Eine besondere Offenbarung seines Erbarmens ist es, wenn Gott seinen gekreuzigten Sohn dem Erbarmen des Menschen anempfiehlt.

Christus ist als Gekreuzigter das Wort, das nicht vergeht,92 derjenige, der an der Tür steht und an das Herz jedes Menschen klopft,93 der dabei nicht über dessen Freiheit verfügt, sondern die Freiheit zur Liebe zu wecken sucht - nicht nur im Sinne einer Solidarität mit dem leidenden Menschensohn, sondern in bestimmtem Sinn auch als »Erbarmen«, das wir ihm ganz persönlich bezeugen. Konnte im Rahmen des messianischen Programmes Christi, im Lauf der Offenbarung des Erbarmens durch das Kreuz die Würde des Menschen mehr geachtet und erhoben werden als dadurch, daß er, der Erbarmen findet, zugleich »Erbarmen schenken« darf?

Nimmt nicht Christus letzten Endes dem Menschen gegenüber diese Haltung ein, wenn er sagt: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«?94 Sind nicht die Worte der Bergpredigt: »Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden«,95 in gewissem Sinn eine Synthese der ganzen Frohbotschaft, des ganzen »wunderbaren Austausches« (admirabile commercium), den sie in sich schließt und der als einfaches, kraftvolles und zugleich »sanftes« Gesetz die Heilsordnung selber prägt? Offenbaren diese Worte der Bergpredigt, die zunächst auf die Möglichkeiten des »Menschenherzens« hinweisen (nämlich »barmherzig« zu sein), nicht in derselben Richtung zugleich das tiefe Geheimnis Gottes, jene unauslotbare Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist, in der die Liebe, der Gerechtigkeit Einhalt gebietend, dem Erbarmen Raum gibt, das seinerseits die Gerechtigkeit in ihrer Vollendung offenbar macht?

Das Paschageheimnis ist Christus am Höhepunkt der Offenbarung des unerforschlichen Geheimnisses Gottes. Gerade hier bewahrheiten sich voll und ganz die im Abendmahlssaal gesprochenen Worte: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen«.96 Denn Christus, den der Vater zugunsten des Menschen »nicht verschonte«97 und dem in seinem Leiden und in der Qual des Kreuzes menschliches Erbarmen nicht zuteil wurde, hat in seiner Auferstehung die Fülle der Liebe des Vaters zu ihm und in ihm zu allen Menschen geoffenbart. »Er ist doch nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden«.98 In seiner Auferstehung hat Christus gerade insofern den Gott der erbarmenden Liebe geoffenbart, als er das Kreuz als Weg zur Auferstehung auf sich genommen hat.Deshalb konzentrieren sich, wenn wir des Kreuzes Christi, seines Leidens und seines Todes gedenken, unser Glaube und unsere Hoffnung auf den Auferstandenen - der »am Abend dieses ersten Tages der Woche« im Abendmahlssaal, wo die Jünger versammelt waren, »in ihre Mitte trat... sie anhauchte und zu ihnen sprach: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert«.99

So hat also der Sohn Gottes in seiner Auferstehung in radikaler Weise selbst das Erbarmen erfahren, das heißt die Liebe des Vaters, die stärker ist als der Tod. Derselbe Gottessohn offenbart am Ende - in gewisser Hinsicht schon jenseits des Endes - seiner messianischen Mission sich selbst als unerschöpfliche Quelle des Erbarmens, derselben Liebe, die in der weiteren Perspektive der Heilsgeschichte in der Kirche sich ständig stärker als die Sünde erweisen wird. Der österliche Christus ist die endgültige Inkarnation des Erbarmens, dessen lebendiges, heilsgeschichtliches und zugleich endzeitliches Zeichen. In diesem Geist legt uns die Liturgie der Osterzeit den Psalmvers auf die Lippen: »Die Erbarmungen des Herrn will ich ewig besingen«.100

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9. Die Mutter des Erbarmens

In diesen österlichen Worten der Kirche klingen - in der Fülle ihres prophetischen Gehaltes - die Worte Marias nach, die sie bei der Begegnung mit Elisabet, der Frau des Zacharias, gesprochen hatte: »Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht«.101 Sie eröffnen schon beim Morgenrot der Menschwerdung eine neue Perspektive der Heilsgeschichte. Nach der Auferstehung Christi wird diese Perspektive - geschichtlich und endzeitlich gesehen - neu lebendig. Seither lösen in immer größeren Dimensionen immer neue Geschlechter der riesigen Menschheitsfamilie einander ab; und auch im Volk Gottes folgen einander neue Geschlechter, welche die Male des Kreuzes und der Auferstehung tragen, das »Siegel«102 des Paschageheimnisses Christi, der absoluten Offenbarung jenes Erbarmens, das Maria auf der Schwelle des Hauses ihrer Verwandten pries: »Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht«.103

Maria hat auch auf besondere und außerordentliche Weise - wie sonst niemand - das Erbarmen Gottes erfahren und ebenso auf außerordentliche Weise mit dem Opfer des Herzens ihr Teilnehmen an der Offenbarung des göttlichen Erbarmens möglich gemacht. Dieses Opfer lebt ganz aus der Kraft des Kreuzes, unter das sie als Mutter gestellt war; es ist eine einzigartige Teilnahme an der Selbstoffenbarung des Erbarmens, das heißt an der absoluten Treue Gottes zu seiner Liebe, zu seinem Bund mit dem Menschen, dem Volk und der Menschheit, den er von Ewigkeit her wollte und den er in der Zeit geschlossen hat; es ist die Teilnahme an jener Offenbarung, die im Kreuz ihren Höhepunkt gefunden hat. Niemand hat so wie die Mutter des Gekreuzigten das Geheimnis des Kreuzes erfahren, diese erschütternde Begegnung der transzendenten göttlichen Gerechtigkeit mit der Liebe, diesen »Kuß« zwischen Erbarmen und Gerechtigkeit.104 Niemand hat wie Maria dieses Geheimnis mit dem Herzen aufgenommen: die wahrhaft göttliche Dimension der Erlösung, die sich vollzog durch den Tod des Gottessohnes auf Golgota zusammen mit dem Herzensopfer seiner Mutter, zusammen mit ihrem endgültigen »Fiat«.

Maria also kennt am tiefsten das Geheimnis des göttlichen Erbarmens. Sie kennt seinen Preis und weiß, wie hoch er ist. In diesem Sinn nennen wir sie auch Mutter der Barmherzigkeit, Unsere Liebe Frau vom Erbarmen oder Mutter des göttlichen Erbarmens. Diese Namen haben einen tiefen theologischen Gehalt; denn Maria besaß die besondere Fähigkeit der Seele und der ganzen Persönlichkeit, in den verworrenen Ereignissen der Geschichte Israels und dann des Menschen und der ganzen Menschheit jenes Erbarmen wahrzunehmen, das uns nach dem ewigen Plan der heiligsten Dreifaltigkeit »von Geschlecht zu Geschlecht«105 geschenkt wird.

Vor allem aber meinen die genannten Namen Maria als die Mutter des Gekreuzigten und Auferstandenen; denn nachdem sie in außergewöhnlicher Weise das Erbarmen erfahren hatte, ist sie in gleicher Weise »erbarmenswürdig« geworden - während ihres ganzen irdischen Lebens und vor allem unter dem Kreuz ihres Sohnes; und sie wurde schließlich durch die verborgene und zugleich einzigartige Teilnahme an der messianischen Aufgabe ihres Sohnes ganz besonders dazu berufen, den Menschen die Liebe nahezubringen, die zu offenbaren er gekommen war und die am konkretesten den Leidenden, den Armen, den Unfreien, den Blinden, den Unterdrückten und den Sündern gegenüber sichtbar wird - wie sie Jesus mit der Prophezeiung Jesajas beschrieben hat, in der Synagoge von Nazaret zuerst106 und dann als Antwort auf die Frage der Abgesandten Johannes' des Täufers.107

Gerade an dieser »sich erbarmenden« Liebe, die vor allem bei der Begegnung mit dem moralischen und physischen Übel wirksam wird, hatte das Herz derer, die dem Gekreuzigten und Auferstandenen Mutter war, in außergewöhnlicher Weise Anteil. In ihr und durch sie offenbart sich die erbarmende Liebe weiterhin in der Geschichte der Kirche und der Menschheit. Diese Offenbarung ist deshalb besonders fruchtbar, weil sie sich in Maria auf das einzigartige Taktgefühl ihres mütterlichen Herzens gründet, auf ihre besondere Empfindsamkeit und die Fähigkeit, alle Menschen zu erreichen, welche die erbarmende Liebe leichter von seiten einer Mutter annehmen. Das ist eines der großen und lebenspendenden Geheimnisse des Christentums, dem Geheimnis der Menschwerdung innig verbunden.

»Diese Mutterschaft Mariens in der Gnadenökonomie dauert unaufhörlich an, von der Zustimmung, die sie bei der Verkündigung gläubig gab und unter dem Kreuz ohne Zögern festhielt, bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten. In den Himmel aufgenommen, hat sie diese heilbringende Aufgabe nicht niedergelegt, sondern fährt durch ihre vielfältige Fürbitte fort, uns die Gaben des ewigen Heils zu erwirken. In ihrer mütterlichen Liebe trägt sie Sorge für die Brüder ihres Sohnes, die noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen, bis sie zum seligen Vaterland gelangen«.108

VI. »ERBARMEN ... VON GESCHLECHT ZU GESCHLECHT«


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10. Das Bild »unseres Geschlechtes, unserer Generation«

Wir dürfen mit vollem Recht glauben, daß auch unsere Generation in den Worten der Gottesmutter inbegriffen war, als sie das Erbarmen pries, welches »von Geschlecht zu Geschlecht«, von Generation zu Generation jenen zuteil wird, die sich von der Gottesfurcht leiten lassen. Das Magnifikat Marias hat einen prophetischen Inhalt; dieser bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit Israels, sondern auch auf die ganze Zukunft des Gottesvolkes auf Erden. Wir alle, die heute auf dieser Erde leben, sind das »Geschlecht«, welches um das Herannahen des dritten Jahrtausends weiß und zutiefst die geschichtliche Wende fühlt, die im Gange ist.

Die gegenwärtige Generation weiß sich bevorzugt; denn der Fortschritt bietet ihr so viele Möglichkeiten, wie man sie vor nur wenigen Jahrzehnten nicht ahnen konnte. Die schöpferische Tätigkeit des Menschen, seine Intelligenz und seine Arbeit haben tiefreichende Veränderungen sowohl auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik wie auch im sozialen und kulturellen Leben hervorgerufen. Der Mensch hat seine Macht über die Natur ausgedehnt; er hat eine vertiefte Kenntnis von den Gesetzen seines Sozialverhaltens bekommen. Er hat erlebt, wie die Hindernisse und Abstände, die Menschen und Nationen voneinander trennen, verschwanden oder kleiner wurden, und dies durch einen wachsenden Sinn für das Ganze, durch ein klareres Bewußtsein der Einheit des Menschengeschlechtes, durch die Bejahung der gegenseitigen Abhängigkeit bei echter Solidarität und schließlich durch das Verlangen - und die Möglichkeit - , mit den Brüdern und Schwestern jenseits der künstlichen Aufteilungen der Geographie oder der nationalen oder rassischen Grenzen in Verbindung zu treten. Vor allem die Jugend von heute weiß, daß der Fortschritt von Wissenschaft und Technik es möglich macht, nicht nur neue materielle Güter zu erlangen, sondern auch eine breitere Teilhabe am Wissen der Menschheit. Der Aufschwung der Informatik zum Beispiel vervielfacht die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen und eröffnet den Zugang zu den intellektuellen wie kulturellen Reichtümern anderer Völker. Die neuen Techniken der Kommunikation erleichtern eine stärkere Teilnahme am Weltgeschehen und einen wachsenden Austausch der Ideen. Die Errungenschaften der Biologie, Psychologie und der Sozialwissenschaft helfen dem Menschen, die Reichtümer seines eigenen Seins besser zu verstehen. Wenn es auch stimmt, daß ein solcher Fortschritt noch zu oft das Privileg der industrialisierten Länder bleibt, so läßt sich doch nicht leugnen, daß die Möglichkeit, alle Völker und alle Länder daran teilhaben zu lassen, nicht mehr länger eine schlichte Utopie ist, sofern ein echter politischer Wille hierfür besteht.

Aber neben all diesen Entwicklungen - oder besser gesagt, in ihnen - gibt es gleichzeitig jene Schwierigkeiten, die sich bei jedem Wachstum zeigen. Es gibt Sorgen und Schwächen, die eine grundlegende Antwort erfordern, die der Mensch, wie er wohl weiß, geben muß. Das Bild der heutigen Welt zeigt auch Schatten und nicht immer nur oberflächliche Störungen des Gleichgewichts. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikaniscken Konzils, Gaudium et Spes, ist sicher nicht das einzige Dokument, das vom Leben der heutigen Generation handelt, sie hat jedoch besondere Bedeutung. »In Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt leidet«, so lesen wir dort, »mit jener tieferen Störung des Gleichgewichts zusammen, welche im Herzen des Menschen liegt. Im Menschen selbst bekämpfen ja viele Elemente einander. Während er sich nämlich einerseits als Geschöpf vielfach begrenzt erfährt, fühlt er andererseits in seiner Sehnsucht, daß er zu einem grenzenlosen und höheren Leben berufen ist. Von mancherlei Seiten angefordert, muß er das eine wählen, auf das andere verzichten. Als schwacher, sündiger Mensch tut er oft das, was er nicht will, und was er will, das tut er nicht. So leidet er an einem inneren Zwiespalt, und daraus entstehen so viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft«.109

Gegen Ende der Einführung lesen wir: »Dennoch wächst angesichts der heutigen Weltentwicklung die Zahl derer mehr und mehr, die die Grundfragen erheben oder mit neuer Schärfe spüren: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen, des Todes - alles Dinge, die trotz allem Fortschritt noch immer weiterbestehen? Was bedeuten jene Siege, die mit solchem Preis erkauft sind?«.110

Ist in den eineinhalb Jahrzehnten seit der Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils dieses Bild typischer Spannungen und Bedrohungen, wie es unserer Zeit eigen ist, vielleicht weniger beunruhigend geworden? Offenbar nicht. Ganz im Gegenteil, die Spannungen und Bedrohungen, die sich im Konzilsdokument erst abzeichneten und damals die ganze Gefahr, welche sie in sich bargen, noch nicht voll erkennen ließen, sind im Lauf dieser Jahre weiter offenbar geworden, haben die Gefahr vielfach bestätigt und erlauben es nicht länger, sich den Illusionen von einst zu überlassen.

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11. Quellen der Unruhe

Unsere Welt fühlt sich also immer mehr bedroht. Die existentielle Angst nimmt zu, vor allem - wie ich bereits in der Enzyklika Redemptor Hominis erwähnte - im Hinblick auf die Möglichkeit eines Konflikts, der angesichts des heute vorhandenen Vorrats an Atomwaffen eine teilweise Selbstzerstörung der Menschheit bedeuten könnte. Die Bedrohung kommt jedoch nicht nur von dem, was die Menschen durch militärische Technik einander antun können; sie erwächst auch aus vielen anderen Folgen einer materialistischen Zivilisation, welche - trotz »humanistischer« Erklärungen - dem Vorrang der Sachen über die Person huldigt. Der zeitgenössische Mensch fürchtet also, daß durch die von dieser Zivilisation erfundenen Mittel die Einzelpersonen und auch die verschiedenen Lebensbereiche, die Gemeinschaften, die Gesellschaften und die Nationen Opfer der Willkür anderer Einzelpersonen, Lebensbereiche und Gesellschaften werden könnten. Die Geschichte unseres Jahrhunderts bietet dafür Beispiele zur Genüge. Trotz aller Erklärungen über die Rechte des Menschen in seiner Ganzheit, das heißt in seiner leiblichen und geistigen Existenz, können wir nicht sagen, daß diese Beispiele nur der Vergangenheit angehören.

Der Mensch fürchtet mit Recht, Opfer einer Unterdrückung zu werden, die ihn der inneren Freiheit und der Möglichkeit beraubt, die Wahrheit auszusprechen, von der er überzeugt ist; die ihm seinen Glauben nehmen möchte und die Möglichkeit, den rechten Weg zu gehen, den ihm die Stimme des Gewissens weist. Die technischen Mittel, über welche die heutige Zivilisation verfügt, bergen ja nicht nur die Möglichkeit einer Selbstvernichtung als Folge eines militärischen Koniflikts in sich, sondern auch die einer »friedlichen« Unterwerfung der Einzelpersonen, der Lebensbereiche, ganzer Gesellschaftsgruppen und Nationen, die aus irgendeinem Grund denen unbequem werden, die solche technische Mittel in der Hand haben und zu ihrem Einsatz bedenkenlos bereit sind. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Folter in der heutigen Welt als systematisch eingesetztes Herrschafts- und Unterdrückungsmittel der Machthaber, als unbestrafte Praxis der untergeordneten Stellen.

So wächst neben dem Wissen um die Bedrohung des physischen Lebens das Wissen um eine andere Bedrohung, um eine noch größere Gefahr für das, was wesentlich menschlich ist, was mit der Würde der Person und ihrem Recht auf Wahrheit und Freiheit in engem Zusammenhang steht.

All das vollzieht sich vor dem Hintergrund schwerster innerer Vorwürfe, deren Ursache darin liegt, daß es neben den Menschen und Gesellschaftsgruppen, die in Wohlstand, Sattheit und Überfluß leben und sich dem Konsumismus und der Genußsucht unterworfen haben, in der gleichen Menschheitsfamilie nicht an einzelnen noch an Gesellschaftsgruppen fehlt, die Hunger leiden. Es gibt Kinder, die vor den Augen ihrer Mütter den Hungertod sterben. Es gibt in verschiedenen Teilen der Welt, in verschiedenen sozio-ökonomischen Systemen ganze Zonen des Elends, der Not und der Unterentwicklung. Diese Tatsachen sind allgemein bekannt. Der Zustand der Ungleichheit unter Menschen und Völkern dauert nicht nur an, er nimmt zu. Noch immer finden wir neben begüterten Menschen, die im Überfluß leben, andere, bedürftige, die unter dem Elend leiden und oft sogar an Hunger sterben; ihre Zahl beläuft sich auf Dutzende, ja auf Hunderte von Millionen. Deshalb wird sich die moralische Unruhe zusehends vertiefen. Es ist unleugbar, daß die heutige Wirtschaftsordnung und die materialistische Zivilisation auf Grundlagen aufgebaut sind, die eine fundamentale Unzulänglichkeit oder vielmehr einen ganzen Komplex von Unzulänglichkeiten, ja, einen unzulänglich funktionierenden Mechanismus aufweisen; eine solche Wirtschaftsordnung und Zivilisation machen es der menschlichen Gesellschaft unmöglich, über so radikal ungerechte Situationen hinauszuwachsen.

Das Bild der Welt von heute, in der es so viel physisches und moralisches Übel gibt, daß sie sich in Widersprüche und Spannungen verstrickt und gleichzeitig die menschliche Freiheit, das Gewissen und die Religion bedroht, erklärt die Unruhe, unter der der zeitgenössische Mensch leidet. Diese Unruhe spüren nicht nur die Benachteiligten und die Unterdrückten, sondern auch jene, die das Privileg des Reichtums, des Fortschritts und der Macht genießen. Obwohl es nicht an Menschen fehlt, welche die Ursachen dieser Unruhe aufzudecken oder mit den Mitteln der Technik, des Reichtums oder der Macht provisorisch zu bekämpfen suchen, so läßt sich doch in der Tiefe des menschlichen Herzens die Unruhe durch diese Maßnahmen nicht beschwichtigen. Sie bezieht sich - wie die Untersuchungen des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Recht festgestellt haben - auf die fundamentalen Probleme der gesamten menschlichen Existenz; sie steht im Zusammenhang mit dem Sinn der Existenz des Menschen in der Welt überhaupt und sorgt sich um die Zukunft des Menschen und der ganzen Menschheit; sie fordert grundlegende Entscheidungen, welchen das Menschengeschlecht nun offenbar nicht mehr ausweichen kann.


Dives in misericordia 6