Evangelii nuntiandi DE 27


UNTER DEM ZEICHEN DER HOFFNUNG


28 Die Evangelisierung muß folglich die prophetische Verkündigung eines Jenseits enthalten, das eine tiefe, endgültige Berufung des Menschen ist, die zugleich eine Fortsetzung und ein völliges Übersteigen des jetzigen Zustandes darstellt: jenseits der Zeit und der Geschichte, jenseits der Wirklichkeit dieser Welt, deren Gestalt vergeht, und der Dinge dieser Welt, deren verborgene Dimension eines Tages offenbar werden wird; jenseits des Menschen selbst, dessen wahres Geschick sich nicht in seiner zeitlichen Gestalt erschöpft, sondern erst offenbar werden wird im ewigen Leben (58). Die Evangelisierung enthält somit auch die Verkündigung einer Hoffnung auf die Verheißungen, die von Gott im Neuen Bund in Jesus Christus gegeben worden sind; die Verkündigung der Liebe Gottes zu uns und unsere Liebe zu Gott; die Verkündigung der Bruderliebe zu allen Menschen – der Fähigkeit zur Hingabe und zum Verzeihen, zum Verzicht und zur Hilfe des Bruders –, die aus der Liebe Gottes entspringt und den Kern des Evangeliums bildet; die Verkündigung des Geheimnisses des Bösen und des Strebens nach dem Guten. Gleichermaßen – und das ist stets vordringlich die Verkündigung von der Suche nach Gott selbst durch das Gebet, vor allem durch Anbetung und Danksagung, aber auch durch die Gemeinschaft mit jenem sichtbaren Zeichen der Begegnung mit Gott, das die Kirche Jesu Christi ist. Diese Gemeinschaft findet dann ihrerseits ihren Ausdruck im Vollzug der anderen Zeichen des in der Kirche lebenden und wirkenden Christus, nämlich der Sakramente. Die Sakramente so zu leben, daß in ihrer Feier ihre ganze Fülle zum Ausdruck kommt, bedeutet nicht, wie einige behaupten, ein Hindernis aufzurichten oder einen Irrweg der Evangelisierung hinzunehmen, sondern ihr ihre ganzheitliche Vollendung zu geben. Denn die Evangelisierung besteht in ihrer Gesamtheit über die Verkündigung einer Botschaft hinaus darin, die Kirche einzupflanzen, die es aber ohne dieses sakramentale Leben nicht gibt, welches seinen Höhepunkt in der Eucharistie hat (59).

BOTSCHAFT, DIE DAS GANZE LEBEN ERFASST


29 Doch wäre die Evangelisierung nicht vollkommen, würde sie nicht dem Umstand Rechnung tragen, daß Evangelium und konkretes Leben des Menschen als Einzelperson und als Mitglied einer Gemeinschaft einander ständig beeinflussen. Darum fordert die Evangelisierung eine klar formulierte Botschaft, die den verschiedenen Situationen jeweils angepaßt und stets aktuell ist, und zwar über die Rechte und Pflichten jeder menschlichen Person, über das Familienleben, ohne das kaum eine persönliche Entfaltung möglich ist (60), über das Zusammenleben in der Gesellschaft, über das internationale Leben, den Frieden, die Gerechtigkeit, die Entwicklung; eine Botschaft über die Befreiung, die in unseren Tagen besonders eindringlich ist.

EINE BOTSCHAFT DER BEFREIUNG


30 Es ist bekannt, mit welchen Worten auf der letzten Synode zahlreiche Bischöfe aus allen Kontinenten, vor allem die Bischöfe der Dritten Welt, mit einem pastoralen Akzent gerade über die Botschaft der Befreiung gesprochen haben, wobei die Stimme von Millionen von Söhnen und Töchtern der Kirche, die jene Völker bilden, miterklungen ist. Völker, wie Wir wissen, die sich mit all ihren Kräften dafür einsetzen und kämpfen, daß all das überwunden wird, was sie dazu verurteilt, am Rande des Lebens zu bleiben: Hunger, chronische Krankheiten, Analphabetismus, Armut, Ungerechtigkeiten in den internationalen Beziehungen und besonders im Handel, Situationen eines wirtschaftlichen und kulturellen Neokolonialismus, der mitunter ebenso grausam ist wie der alte politische Kolonialismus. Die Kirche hat, wie die Bischöfe erneut bekräftigt haben, die Pflicht, die Befreiung von Millionen Menschen zu verkünden, von denen viele ihr selbst angehören; die Pflicht zu helfen, daß diese Befreiung Wirklichkeit wird, für sie Zeugnis zu geben und mitzuwirken, damit sie ganzheitlich erfolgt. Dies steht durchaus im Einklang mit der Evangelisierung.

IN NOTWENDIGER VERBINDUNG MIT DER ENTFALTUNG DES MENSCHEN


31 Zwischen Evangelisierung und menschlicher Entfaltung – Entwicklung und Befreiung – bestehen in der Tat enge Verbindungen: Verbindungen anthropologischer Natur, denn der Mensch, dem die Evangelisierung gilt, ist kein abstraktes Wesen, sondern sozialen und wirtschaftlichen Problemen unterworfen; Verbindungen theologischer Natur, da man ja den Schöpfungsplan nicht vom Erlösungsplan trennen kann, der hineinreicht bis in die ganz konkreten Situationen des Unrechts, das es zu bekämpfen, und der Gerechtigkeit, die es wiederherzustellen gilt. Verbindungen schließlich jener ausgesprochen biblischen Ordnung, nämlich der der Liebe: Wie könnte man in der Tat das neue Gebot verkünden, ohne in der Gerechtigkeit und im wahren Frieden das echte Wachstum des Menschen zu fördern? Wir haben es für nützlich erachtet, das selbst hervorzuheben, indem Wir daran erinnert haben, daß es unmöglich hinzunehmen ist, „daß das Werk der Evangelisierung die äußerst schwierigen und heute so stark erörterten Fragen vernachlässigen kann und darf, die die Gerechtigkeit, die Befreiung, die Entwicklung und den Frieden in der Welt betreffen. Wenn das eintreten würde, so hieße das, die Lehre des Evangeliums von der Liebe zum leidenden und bedürftigen Nächsten vergessen“ (61). Dieselben Stimmen, die während der genannten Synode mit Eifer, Klugheit und Mut dieses brennende Thema berührt haben, haben zu unserer großen Freude auch die klärenden Prinzipien aufgezeigt, um die Bedeutung und den tiefen Sinn der Befreiung richtig zu verstehen, so wie sie Jesus von Nazaret verkündet und verwirklicht hat und sie die Kirche lehrt.

WEDER EINSCHRÄNKUNG NOCH ZWEIDEUTIGKEIT


32 Wir dürfen uns in der Tat nicht verheimlichen, daß viele hochherzige Christen, die für die dramatischen Fragen aufgeschlossen sind, die sich mit dem Problem der Befreiung stellen, in der Absicht, die Kirche am Einsatz für die Befreiung zu beteiligen, oft versucht sind, ihre Sendung auf die Dimensionen eines rein diesseitigen Programmes zu beschränken: ihre Ziele auf eine anthropozentrische Betrachtungsweise; das Heil, dessen Bote und Sakrament sie ist, auf einen materiellen Wohlstand; ihre Tätigkeit, unter Vernachlässigung ihrer ganzen geistlichen und religiösen Sorge, auf Initiativen im politischen und sozialen Bereich. Wenn es aber so wäre, würde die Kirche ihre grundlegende Bedeutung verlieren. Ihre Botschaft der Befreiung hätte keine Originalität mehr und würde leicht von ideologischen Systemen und politischen Parteien in Beschlag genommen und manipuliert.
Sie hätte keine Autorität mehr, gleichsam von Gott her die Befreiung zu verkünden. Darum haben Wir in derselben Ansprache zur Eröffnung der dritten Generalversammlung der Synode unterstreichen wollen, „daß es notwendig ist, die spezifisch religiöse Zielsetzung der Evangelisierung erneut klar herauszustellen. Diese würde ihre Existenzberechtigung verlieren, wenn sie sich von der religiösen Zielsetzung entfernen würde, die sie bestimmt: das Reich Gottes vor allen anderen Dingen in seinem vollen theologischen Sinn“ (62).

DIE BEFREIUNG DURCH DAS EVANGELIUM


33 Von der Befreiung, die die Evangelisierung verkündet und zu verwirklichen sucht, muß vielmehr folgendes gesagt werden:
– Sie kann sich nicht einfach auf die begrenzte wirtschaftliche, politische, soziale oder kulturelle Dimension beschränken, sondern muß den ganzen Menschen in allen seinen Dimensionen sehen, einschließlich seiner Öffnung auf das Absolute, das Gott ist.
– Sie ist deshalb an ein bestimmtes Menschenbild gebunden, an eine Lehre vom Menschen, die sie niemals den Erfordernissen irgend einer Strategie, einer Praxis oder eines kurzfristigen Erfolges wegen opfern kann.

AUSRICHTUNG AUF DAS REICH GOTTES


34 Das ist der Grund, warum in der Verkündigung der Befreiung und in der Solidarität mit denen, die sich für sie einsetzen und für sie leiden, die Kirche es nicht hinnimmt, daß ihre Sendung nur auf den Bereich des Religiösen beschränkt wird, indem sie sich für die zeitlichen Probleme des Menschen nicht interessiert; sie bekräftigt jedoch den Vorrang ihrer geistlichen Sendung; sie weigert sich, die Verkündigung des Reiches Gottes durch die Verkündigung der menschlichen Befreiungen zu ersetzen, und behauptet, daß auch ihr Beitrag zur Befreiung unvollkommen wäre, wenn sie es vernachlässigte, das Heil in Jesus Christus zu verkünden.

NACH EINER BIBLISCHEN SICHT DES MENSCHEN


35 Die Kirche verbindet die menschliche Befreiung und das Heil in Jesus Christus eng miteinander, ohne sie jedoch jemals gleichzusetzen, denn sie weiß aufgrund der Offenbarung, der geschichtlichen Erfahrung und durch theologische Reflexion, daß nicht jeder Begriff von Befreiung zwingend schlüssig und vereinbar ist mit einer biblischen Sicht des Menschen, der Dinge und Ereignisse; daß es für die Ankunft des Reiches Gottes nicht genügt, die Befreiung herbeizuführen sowie Wohlstand und Fortschritt zu verwirklichen.
Die Kirche ist vielmehr der festen Überzeugung, daß jede zeitliche Befreiung, jede politische Befreiung – selbst wenn sie sich bemüht, ihre Rechtfertigung auf dieser oder jener Seite des Alten oder Neuen Testamentes zu finden; selbst wenn sie sich für ihre ideologischen Forderungen und ihre Verhaltensregeln auf die Autorität theologischer Gegebenheiten und Schlußfolgerungen beruft; selbst wenn sie beansprucht, die Theologie für heute zu sein – den Keim ihrer eigenen Negation und des Verfalls des von ihr vorgestellten Ideals bereits in sich selbst trägt, sofern ihre tieferen Beweggründe nicht die der Gerechtigkeit in der Liebe sind, der Elan, der sie beseelt, keine wirklich geistige Dimension besitzt und ihr Endziel nicht das Heil und die Glückseligkeit in Gott ist.

NOTWENDIGKEIT EINER BEKEHRUNG


36 Die Kirche erachtet es gewiß als bedeutend und dringlich, Strukturen zu schaffen, die menschlicher und gerechter sind, die Rechte der Person mehr achten, weniger beengend und unterdrückend sind; sie ist sich aber dessen bewußt, daß die besten Strukturen, die idealsten Systeme schnell unmenschlich werden, wenn nicht die unmenschlichen Neigungen im Herzen des Menschen geläutert werden, wenn nicht bei jenen, die in diesen Strukturen leben oder sie bestimmen, eine Bekehrung des Herzens und des Geistes erfolgt.

AUSSCHLUSS VON GEWALTTÄTIGKEIT


37 Die Kirche kann nicht die Gewalttätigkeit, vor allem nicht die Waffengewalt – die unkontrollierbar ist, wenn sie entfesselt wird –, und auch nicht den Tod von irgend jemandem als Weg zur Befreiung akzeptieren, denn sie weiß, daß die Gewalttätigkeit immer Gewalt hervorruft und unwiderstehlich neue Formen der Unterdrückung und der Sklaverei erzeugt, die oft noch drückender sind als jene, von denen sie zu befreien vorgibt. Wir sagten es bereits deutlich während Unserer Reise nach Kolumbien: „Wir ermahnen euch, euer Vertrauen weder auf die Gewalttätigkeit noch auf die Revolution zu setzen; eine solche Haltung widerspricht dem christlichen Geist und kann den sozialen Fortschritt, nach dem ihr euch berechtigterweise sehnt, auch eher verzögern als fördern“ (63) „Wir müssen feststellen und erneut bekräftigen, daß die Gewalttätigkeit nicht christlich ist noch dem Geist des Evangeliums entspricht, daß die plötzlichen oder gewaltsamen Veränderungen der Strukturen eine Täuschung und in sich unwirksam wären und ganz gewiß nicht mit der Würde des Volkes in Einklang stünden“ (64).

SPEZIFISCHER BEITRAG DER KIRCHE


38 Nach diesen Überlegungen geben Wir Unserer Freude darüber Ausdruck, daß die Kirche ein immer lebendigeres Bewußtsein von ihrer eigenen, grundlegend biblischen Weise erwirbt, in der sie zur Befreiung der Menschen beitragen kann. Und was tut sie? Sie sucht immer mehr Christen heranzubilden, die sich für die Befreiung der anderen einsetzen. Sie gibt diesen Christen, die als „Befreier“ tätig werden, eine vom Glauben geprägte Einstellung, eine Motivation zur Bruderliebe und eine Soziallehre, die ein echter Christ nicht außer acht lassen kann, sondern die er als Grundlage für seine Überlegungen und seine Erfahrung nehmen muß, um sie in die Tat umzusetzen im eigenen Handeln, im Zusammenwirken mit anderen und dadurch, daß man dafür eintritt. Das alles muß, ohne daß es mit taktischem Verhalten noch mit Unterordnung unter ein politisches System verwechselt werden darf, den Eifer des engagierten Christen kennzeichnen. Die Kirche bemüht sich, den christlichen Einsatz für die Befreiung stets in den umfassenden Heilsplan einzuordnen, den sie selbst verkündet.
Was Wir hier in Erinnerung gebracht haben, ist in den Beratungen der Synode des öfteren zur Sprache gekommen. Darüber hinaus wünschten Wir schon in der Ansprache, die Wir am Ende der Versammlung an die Väter gerichtet haben, diesem Thema einige klärende Worte zu widmen (65).
Alle diese Überlegungen sollen, wie man hoffen darf, helfen, die Mißverständnisse zu vermeiden, denen das Wort „Befreiung“ sehr oft in den Ideologien, Systemen oder politischen Gruppen ausgesetzt ist. Die Befreiung, die die Evangelisierung verkündet und vorbereitet, ist jene, die Christus selbst dem Menschen durch sein Opfer verkündet und geschenkt hat.

DIE RELIGIONSFREIHEIT


39 In dieser echten Befreiung, die mit der Evangelisierung verbunden ist und sich um die Verwirklichung von Strukturen bemüht, die die menschliche Freiheit schützen, muß die Gewährleistung aller Grundrechte des Menschen mit eingeschlossen sein, unter denen der Religionsfreiheit eine erstrangige Bedeutung zukomMt Wir haben erst kürzlich von der Aktualität dieser Frage gesprochen, als Wir darauf hingewiesen haben, „wie viele Christen noch heute, nur weil sie Christen, weil sie Katholiken sind, mit Gewalt systematisch unterdrückt werden! Das Drama der Treue zu Christus und der Freiheit der Religion setzt sich noch weiter fort, wenn es auch oft durch allgemeine Erklärungen zugunsten der menschlichen Person und Gesellschaft verschleiert wird“ (66).

IV. Die Wege der Evangelisierung

AUF DER SUCHE NACH GEEIGNETEN WEGEN


40 Die offenkundige Bedeutung des Inhalts der Evangelisierung darf jedoch nicht die Bedeutung ihrer Wege und Mittel verdecken.
Auch diese Frage bleibt stets aktuell, denn die Weisen der Evangelisierung sind verschieden, je nach den unterschiedlichen Umständen der Zeit, des Ortes und der Kultur. Diese Unterschiede sind eine ganz bestimmte Herausforderung an unsere Entdeckungs- und Anpassungsfähigkeit.
Insbesondere uns, den Hirten in der Kirche, ist die Sorge aufgetragen, kühn und umsichtig und zugleich in unbedingter Treue zum Inhalt die geeignetsten und wirksamsten Weisen zur Mitteilung der Botschaft des Evangeliums an die Menschen unserer Zeit neu zu entdecken und in die Tat umzusetzen. Bei diesen Überlegungen hier soll es uns genügen, auf einige Wege aufmerksam zu machen, die aus dem einen oder anderen Grund von entscheidender Bedeutung sind.

DAS ZEUGNIS DES LEBENS


41 Ohne alles zu wiederholen, was Wir schon vorher gesagt haben, ist es doch gut, folgendes hervorzuheben. Für die Kirche ist das Zeugnis eines echt christlichen Lebens mit seiner Hingabe an Gott in einer Gemeinschaft, die durch nichts zerstört werden darf, und gleichzeitig mit einer Hingabe an den Nächsten in grenzenloser Einsatzbereitschaft der erste Weg der Evangelisierung, „Der heutige Mensch“, so sagten wir kürzlich zu einer Gruppe von Laien, „hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind“ (67). Als der hl. Petrus das Bild eines reinen und ehrbaren Lebens zeichnete, brachte er das deutlich zum Ausdruck: „Ohne zu reden, gewannen sie diejenigen, welche sich weigerten, an das Wort zu glauben“ (68). Die Evangelisierung der Welt geschieht also vor allem durch das Verhalten, durch das Leben der Kirche, das heißt durch das gelebte Zeugnis der Treue zu Jesus, dem Herrn, durch das gelebte Zeugnis der Armut und inneren Loslösung und der Freiheit gegenüber den Mächten dieser Welt, kurz, der Heiligkeit.

EINE LEBENDIGE PREDIGT


42 Sodann ist es nicht überflüssig, auf die Bedeutung und Notwendigkeit der Verkündigung hinzuweisen. „Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet?. . . So gründet der Glaube in der Botschaft, die Botschaft im Wort Christi“ (69). Dieses Gesetz, einst vom Apostel Paulus aufgestellt, behält auch heute noch seine ganze Kraft.
Ja, die Verkündigung, diese mündliche Proklamation einer Botschaft, ist nach wie vor unverzichtbar. Wir wissen sehr wohl, daß der Mensch angesichts der Wortflut in unserer Zeit oft des Hörens müde wird und, schlimmer noch, dem Wort gegenüber abstumpft. Wir kennen auch die Gedanken zahlreicher Psychologen und Soziologen, die behaupten, der moderne Mensch habe die Zivilisation des Wortes, die nun unwirksam und „überflüssig“ geworden sei, hinter sich gelassen und lebe nun in einer Zivilisation des Bildes. Das müßte uns gewiß anspornen, die von dieser Zivilisation hervorgebrachten modernen Mittel für die Vermittlung der Botschaft des Evangeliums einzusetzen. Übrigens sind in dieser Richtung schon beachtliche Anstrengungen unternommen worden. Wir können das nur loben und dazu ermutigen, diese Bemühungen noch weiter zu verstärken und zu entfalten. Die Müdigkeit, die sich heute angesichts einer solchen Flut leerer Worte und der Aktualität ganz anderer Kommunikationsformen einstellt, darf indes die bleibende Kraft des Wortes nicht schwächen oder das Vertrauen zum Wort verlorengehen lassen. Das Wort bleibt immer aktuell, zumal wenn es die Macht Gottes in sich trägt (70). Darum bleibt auch heute der Grundsatz des hl. Paulus gültig: „Der Glaube gründet in der Botschaft“ (71). Es ist also das vernommene Wort, das zum Glauben führt.

WORTLITURGIE


43 Diese Verkündigung, die Evangelisierung ist, nimmt, vom Eifer angetrieben, fast unbegrenzt vielfältige Formen an. In der Tat: unzählbar sind die Ereignisse des Lebens und die menschlichen Situationen, die Gelegenheit bieten, still und doch sehr wirksam vernehmbar zu machen, was der Herr uns in der jeweiligen konkreten Situation zu sagen hat. Es genügt echte innere Wachsamkeit, um die Botschaft Gottes aus den Ereignissen herauszulesen. Da die vom Konzil erneuerte Liturgie großen Wert auf die „Liturgie des Wortes“ legt, wäre es ein Irrtum, die Homilie nicht mehr als ein gültiges und durchaus geeignetes Mittel zur Evangelisierung zu betrachten. Die Bedingungen und Möglichkeiten der Homilie muß man gut kennen und tief ausschöpfen, damit sie ihre ganze pastorale Wirksamkeit erlangen. Von allem muß man jedoch von ihrer Bedeutung überzeugt sein und sich ihr mit Liebe widmen. Diese Verkündigung, die in besonderer Weise in die eucharistische Feier eingefügt ist – von der sie selbst verstärkte Macht und Kraft erhält –, nimmt in der Evangelisierung ganz sicher einen vorrangigen Platz ein, und zwar insoweit als sie den tiefen Glauben des Priesters selbst zum Ausdruck bringt und von Liebe durchdrungen ist. Damit die versammelte Gemeinde der Gläubigen eine österliche Kirche sei, welche das Fest des mitten unter ihnen anwesenden Herrn feiert, erwartet und empfängt sie sehr viel von dieser Predigt: sie soll einfach sein, klar, direkt, auf die Menschen bezogen, tief in den Lehren des Evangeliums verwurzelt und treu dem Lehramt der Kirche, beseelt von einem gesunden apostolischen Eifer, der aus ihrem besonderen Charakter erwächst, voller Hoffnung, den Glauben stärkend, Frieden und Einheit stiftend. Viele pfarrlichen und andere Gemeinschaften leben und festigen sich dank der Predigt an jedem Sonntag, weil sie diese Eigenschaft aufweist. Fügen wir noch hinzu, daß dank der liturgischen Erneuerung die Feier der Eucharistie nicht der einzige geeignete Ort für die Homilie ist. Sie gehört auch – und das sollte nicht vernachlässigt werden in die Feier aller Sakramente, ferner in die Wortgottesdienste, zu denen sich die Gläubigen versammeln. Immer wird die Homilie eine bevorzugte Gelegenheit sein, das Wort des Herrn anderen mitzuteilen.

DIE KATECHESE


44 Ein Weg, der bei der Evangelisierung nicht vernachlässigt werden darf, ist der der katechetischen Unterweisung. Der menschliche Verstand, vor allem der der Kinder und Jugendlichen, muß durch eine systematische religiöse Unterweisung die fundamentalen Gegebenheiten und den lebensspendenden Inhalt der Wahrheit zu erfassen lernen, die Gott uns hat überliefern lassen und die die Kirche im Laufe ihrer langen Geschichte auf immer vielfältigere Art auszudrücken suchte. Daß diese Unterweisung dazu dienen soll, christliche Lebensgewohnheiten zu formen und nicht nur Sache des Verstandes zu bleiben, ist unbestritten. Sicherlich wird die Bemühung um die Evangelisierung großen Nutzen bringen im Bereich der der Kirche anvertrauten katechetischen Unterweisung, und zwar in den Schulen, wo dies möglich ist, und auf jeden Fall in den christlichen Familien, wenn die Katecheten über geeignetes Lehrmaterial verfügen, das mit Sachverstand und unter der verantwortlichen Leitung der Bischöfe den heutigen Erfordernissen angepaßt ist. Die Unterrichtsmethoden müssen dem Alter, der Kulturstufe und der Aufbaufähigkeit der einzelnen entsprechen, um stets die wesentlichen Wahrheiten dem Gedächtnis dem Verstand und dem Herzen einzuprägen versuchen, die unser ganzes Leben durchformen sollen. Es ist notwendig, gute Katecheten – Pfarrkatecheten, Lehrer und Eltern – heranzubilden, die sich um eine Vervollkommnung in dieser hohen und unerläßlich notwendigen Kunst der religiösen Unterweisung bemühen. Andererseits stellt man fest, daß unter den gegenwärtigen Umständen die katechetische Unterweisung in der Form eines Katechumenats immer dringlicher wird; denn zahlreiche Jugendliche und Erwachsene entdecken nach und nach, von der Gnade berührt, das Antlitz Christi und empfinden das Bedürfnis, sich ihm zu schenken. Dabei soll jedoch die religiöse Erziehung der Kinder nicht vernachlässigt werden.

BENUTZUNG DER MASSENMEDIEN


45 Wie Wir bereits gesagt haben, kann in unserer Zeit, die von den Massenmedien oder sozialen Kommunikationsmitteln geprägt ist, bei der ersten Bekanntmachung mit dem Glauben, bei der katechetischen Unterweisung und bei der weiteren Vertiefung des Glaubens auf diese Mittel nicht verzichtet werden.
In den Dienst des Evangeliums gestellt, vermögen diese Mittel den Bereich der Vernehmbarkeit des Wortes Gottes fast unbegrenzt auszuweiten; sie bringen die Frohbotschaft zu Millionen von Menschen. Die Kirche würde vor ihrem Herrn schuldig, wenn sie nicht diese machtvollen Mittel nützte, die der menschliche Verstand immer noch weiter vervollkommnet. Dank dieser Mittel verkündet die Kirche die ihr anvertraute Botschaft „von den Dächern“ (72). In ihnen findet sie eine moderne, wirksame Form der Kanzel. Durch sie vermag sie zur Masse des Volkes zu sprechen. Indes stellt die Nutzung der sozialen Kommunikationsmittel für die Evangelisierung heute eine Herausforderung dar. Die Botschaft des Evangeliums müßte über sie zu vielen gelangen, aber doch so, daß sie immer den einzelnen innerlich zu treffen vermag, sich in das Herz eines jeden einsenkt, als wäre er allein, in seiner ganzen persönlichen Einsamkeit, und ganz persönliche Zustimmung und Einsatzbereitschaft weckt.

UNERLÄSSLICHER PERSÖNLICHER KONTAKT


46 Darum bleibt neben dieser Verkündigung des Evangeliums in umfassendster Weise die andere Form seiner Vermittlung, nämlich von Person zu Person, weiterhin gültig und bedeutsam. Der Herr hat sich ihrer oft bedient – seine Gespräche mit Nikodemus, Zachäus, der Samariterin, Simon dem Pharisäer und anderen bezeugen es. Dasselbe sehen wir bei den Aposteln. Wird es im Grund je eine andere Form der Mitteilung des Evangeliums geben als die, in der man einem anderen seine eigene Glaubenserfahrung mitteilt? Die Dringlichkeit, die Frohbotschaft den vielen zu verkünden, darf nicht jene Form des Mitteilens übersehen lassen, in welcher das ganz persönliche Innere des Menschen angesprochen wird, berührt von einem ganz besonderen Wort, das er von einem anderen empfängt. Wir können nicht genug jene Priester loben, die sich im Sakrament der Buße oder im pastoralen Gespräch als Führer der Menschen auf den Wegen des Evangeliums erweisen, sie in ihrem Bemühen stärken, sie aufrichten, wenn sie gefallen sind, und ihnen immer mit Klugheit und steter Verfügbarkeit beistehen.

DIE ROLLE DER SAKRAMENTE


47 Man wird nicht nachdrücklich genug darauf hinweisen können, daß sich die Evangelisierung nicht in der Verkündigung und der Erklärung einer Lehre erschöpft. Denn die Evangelisierung muß das Leben erreichen – das natürliche Leben, dem sie vom Horizont des Evangeliums her, der sich in ihr eröffnet, einen neuen Sinn verleiht, und dann das übernatürliche Leben, welches nicht die Verneinung, sondern die Läuterung und Erhöhung des natürlichen Lebens ist. Dieses übernatürliche Leben kommt lebendig zum Ausdruck in den sieben Sakramenten und der ihnen eigenen wunderbaren Ausstrahlung der Gnade und Heiligkeit.
Die Evangelisierung kommt zu ihrer ganzen Fülle, wenn in ihr die innige Verbindung oder besser noch, eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen Wort und Sakramenten hergestellt wird. In einem bestimmten Sinn ist es irreführend, Verkündigung und Sakramente als Gegensätze zu sehen, wie es manchmal geschieht. Doch ist es durchaus wahr, daß ein Sakrament einen großen Teil seiner Wirkung verliert, wenn seiner Spendung nicht eine gründliche Unterweisung über die Sakramente und eine umfassende Katechese vorausgeht. Die Aufgabe der Evangelisierung besteht eben darin, den Glauben so zu lehren, daß jeder Christ dahin geführt wird, die Sakramente – statt sie passiv zu empfangen oder über sich ergehen zu lassen – als wahrhafte Gnadenmittel des Glaubens zu leben.

DIE VOLKSFRÖMMIGKEIT


48 Damit rühren wir auch an einen Gesichtspunkt in der Evangelisierung, den man nicht unbeachtet lassen kann. Wir möchten etwas sagen zu jener Wirklichkeit, die man heute oft als Volksfrömmigkeit bezeichnet. Sowohl in jenen Gebieten, in denen die Kirche seit Jahrhunderten eingewurzelt ist, als auch dort, wo sie im Begriff ist, Wurzel zu fassen, findet man beim Volk besondere Ausdrucksformen des Glaubens und der Suche nach Gott. Lange Zeit wurden sie für minderwertig gehalten und abfällig beurteilt, doch werden sie heute vielenorts neu entdeckt. Bei der letzten Synode haben die Bischöfe mit pastoralem Realismus und bemerkenswerter Eindringlichkeit deren tieferen Sinn deutlich gemacht.
Die Volksfrömmigkeit, so kann man sagen, hat gewiß ihre Grenzen. Oft ist sie dem Eindringen von so manchen religiösen Fehlformen ausgesetzt, auch dem Aberglauben. Häufig bleibt sie auf der Ebene kultischer Handlungen, ohne zu einem echten Akt des Glaubens zu führen.
Ist sie aber in der rechten Weise ausgerichtet, vor allem durch hinführende und begleitende Evangelisierung, dann birgt sie wertvolle Reichtümer in sich. In ihr kommt ein Hunger nach Gott zum Ausdruck, wie ihn nur die Einfachen und Armen kennen. Sie befähigt zur Großmut und zum Opfer, ja zum Heroismus, wenn es gilt, den Glauben zu bekunden. In ihr zeigt sich ein feines Gespür für tiefe Eigenschaften Gottes: seine Vaterschaft, seine Vorsehung, seine ständige, liebende Gegenwart. Sie führt zu inneren Haltungen, die man sonst kaum in diesem Maße findet: Geduld, das Wissen um die Notwendigkeit, das Kreuz im täglichen Leben zu tragen, Entsagung, Wohlwollen für andere, Respekt. Darum nennen Wir sie gern Volksfrömmigkeit, das heißt Religion des Volkes, anstatt Religiosität.
Allen, welche der Herr zu Leitern kirchlicher Gemeinschaft bestellt hat, muß die pastorale Liebe die Normen des Verhaltens gegenüber dieser Wirklichkeit eingeben, die reich und gefährdet zugleich ist. Vor allem muß man einfühlsam genug sein, ihre innere Vielfalt und ihre unleugbaren Werte erkennen zu können, und bereit sein, dabei zu helfen, daß drohendes Abweichen vom Weg vermieden wird. Gut ausgerichtet, kann die Volksfrömmigkeit mehr und mehr für die vielen im Volk zu einer echten Begegnung mit Gott in Jesus Christus werden.

V. Die Adressaten der Evangelisierung


EINE WELTWEITE BESTIMMUNG


49 Die letzten Worte Jesu im Evangelium nach Markus geben der Evangelisierung, mit der der Herr die Apostel beauftragt, eine grenzenlose Universalität: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet der gesamten Schöpfung das Evangelium“ (73).
Die Zwölf und die erste Generation der Christen haben den Sinn dieser und ähnlicher Worte gut verstanden; sie machten sie zu einem Programm für ihr Handeln. Selbst die Verfolgung, durch welche die Apostel in die verschiedensten Richtungen zerstreut wurden, hat dazu beigetragen, das Wort Gottes auszusäen und die Kirche in immer entfernteren Gebieten einzupflanzen. Daß Paulus mit seinem Charisma, den nichtjüdischen Heiden die Ankunft Jesu Christi zu verkünden, in den Kreis der Apostel aufgenommen wurde, unterstreicht noch einmal mehr diesen Universalismus.

TROTZ ALLER HINDERNISSE


50 Im Laufe einer zweitausendjährigen Geschichte sahen sich die christlichen Generationen in einzelnen Epochen mit den verschiedensten Hindernissen gegen diese universale Mission konfrontiert. Auf der Seite der Träger der Evangelisierung gab es die Versuchung, unter den verschiedensten Vorwänden den Bereich des missionarischen Einsatzes einzuengen. Auf der Seite derer, an die sich die Evangelisierung richtete, gab es oft menschlich unüberwindbare Widerstände. Im übrigen müssen wir zu unserem Schmerz feststellen, daß das Bemühen der Kirche um Evangelisierung stark behindert, wenn nicht gar unmöglich gemacht wird durch öffentliche Mächte. Selbst heute noch kommt es vor, daß die Verkünder des Wortes ihrer Rechte beraubt sind, verfolgt, bedroht und ausgestoßen nur deswegen, weil sie Jesus Christus und sein Evangelium predigen. Aber wir haben Vertrauen, daß trotz dieser schmerzlichen Prüfungen das Wirken dieser Glaubensboten schließlich in keinem Gebiet der Welt fehlen wird.
Trotz dieser Hindernisse folgt die Kirche stets aufs neue ihrem tiefsten Antrieb, der unmittelbar von ihrem Meister stammt: in die ganze Welt . . . der ganzen Schöpfung . . . bis an die Grenzen der Erde. Bei der Synode hat sich die Kirche erneut dazu bekannt, daß man der Verkündigung des Evangeliums keine Fesseln anlegen und sie nicht einengen darf auf einen bestimmen Bereich der Menschheit, auf bestimmte Bevölkerungsschichten oder auf nur eine Kulturform. Einige Beispiele können das beleuchten.

ERSTE VERKÜNDIGUNG DER FERNSTEHENDEN


51 Jesus Christus und sein Evangelium denen zu verkünden, die ihn noch nicht kennen, ist seit dem ersten Pfingsttag das grundlegende Programm, welches die Kirche, als von ihrem Gründer empfangen, sich zu eigen gemacht hat. Das ganze Neue Testament, vor allem die Apostelgeschichte, bezeugt für jene besondere Zeit und irgendwie exemplarisch diese missionarische Anstrengung, die dann die ganze Geschichte der Kirche prägen sollte.
Diese erste Verkündigung Jesu Christi geschieht in vielfältiger und unterschiedlicher Weise, die man gelegentlich Prä-Evangelisierung nennt. Dabei handelt es sich indes schon um wirkliche Evangelisierung, wenn auch noch anfanghaft und sehr unvollkommen. Eine fast unbegrenzte Fülle von Mitteln, gewiß die direkte Predigt, aber auch die Kunst, die Wissenschaft, die philosophische Forschung und das berechtigte Ansprechen menschlicher Gefühle und Sehnsüchte können diesem Ziel dienlich sein.

ERNEUTE VERKÜNDIGUNG AN DIE ENTCHRISTLICHTE WELT


52 Wenn sich diese erste Verkündigung auch vornehmlich an jene richtet, die von der Frohbotschaft Jesu noch nichts gehört haben, oder an Kinder, so erweist sie sich in gleicher Weise immer notwendiger angesichts der heute häufig zu beobachtenden Entchristlichung, und zwar für sehr viele, die zwar getauft sind, aber gänzlich außerhalb eines christlichen Lebensraumes stehen, dann für einfache Menschen, die zwar einen gewissen Glauben haben, seine Grundlagen aber kaum kennen, ferner für Intellektuelle, die das Bedürfnis spüren, Jesus Christus in einem anderen Licht kennenzulernen als bei der Unterweisung in ihrer Kinderzeit, und schließlich für viele andere.

Evangelii nuntiandi DE 27