Ecclesia de Eucharistia DE 56


56 Nicht nur auf Golgota, sondern während ihres ganzen Lebens an der Seite Christi machte sich Maria den Opfercharakter der Eucharistie zu eigen. Als sie das Jesuskind nach Jerusalem in den Tempel brachte, »um es dem Herrn zu weihen« (Lc 2,22), hörte sie die Ankündigung des greisen Simeon, daß dieses Kind »ein Zeichen des Widerspruchs« sein und »ein Schwert« auch ihre Seele durchdringen werde (vgl. Lc 2,34-35). So wurde das Drama des gekreuzigten Sohnes bereits angekündigt und in gewisser Weise das »Stabat Mater« der Jungfrau zu Füßen des Kreuzes vorweggenommen. Indem sich Maria Tag für Tag auf Golgota vorbereitete, lebte sie eine Art »vorweggenommener Eucharistie«, man könnte sagen, eine »geistliche Kommunion« der Sehnsucht und der Hingabe, die in der Vereinigung mit dem Sohn im Leiden ihre Vollendung fand und dann, in der Zeit nach Ostern, in ihrer Teilnahme an der Eucharistie, die von den Aposteln zum »Gedächtnis« des Leidens gefeiert wurde, zum Ausdruck kam.

Was muß Maria empfunden haben, als sie aus dem Mund von Petrus, Johannes, Jakobus und der anderen Aposteln die Worte des Letzten Abendmahls vernahm: »Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird« (Lc 22,19)? Dieser Leib, der als Opfer dargebracht und unter sakramentalen Zeichen erneut gegenwärtig wurde, war ja derselbe Leib, den sie in ihrem Schoß empfangen hatte! Der Empfang der Eucharistie mußte für Maria gleichsam bedeuten, jenes Herz wieder in ihrem Schoß aufzunehmen, das im Gleichklang mit ihrem Herzen geschlagen hatte, und das von neuem zu erleben, was sie selbst unter dem Kreuz erfahren hatte.


57 »Tut dies zu meinem Gedächtnis!« (Lc 22,19). Beim »Gedächtnis« von Golgota ist all das gegenwärtig, was Christus in seinem Leiden und in seinem Tod vollbracht hat. Daher fehlt auch das nicht, was Christus für uns an seiner Mutter vollbracht hat. Ihr vertraut er den Lieblingsjünger an, und in ihm vertraut er ihr auch jeden von uns an: »Siehe, dein Sohn!«. Ebenso sagt er auch zu jedem von uns: »Siehe, deine Mutter!« (vgl. Jn 19,26-27).

Das Gedächtnis des Todes Christi in der Eucharistie zu leben, schließt auch ein, fortwährend dieses Geschenk zu empfangen. Das bedeutet, daß wir diejenige, die uns jedesmal als Mutter gegeben wird, nach dem Beispiel des Johannes zu uns nehmen. Es bedeutet, daß wir zugleich die Mühe auf uns nehmen, Christus gleichförmig zu werden, indem wir uns in die Schule der Mutter begeben und uns von ihr begleiten lassen. Mit der Kirche und als Mutter der Kirche ist Maria in jeder unserer Eucharistiefeiern anwesend. Wenn die Kirche und die Eucharistie untrennbar miteinander verbunden sind, muß dasselbe auch von Maria und der Eucharistie gesagt werden. Auch deshalb wurde bei der Eucharistiefeier in den Kirchen des Westens und des Ostens seit dem Altertum immer das Gedenken Mariens gehalten.


58 In der Eucharistie vereint sich die Kirche ganz mit Christus und seinem Opfer und macht sich den Geist Mariens zu eigen. Diese Wahrheit kann man vertiefen, wenn man das Magnificat in eucharistischer Sicht liest. Wie der Gesang Mariens ist die Eucharistie vor allem Lob und Danksagung. Wenn Maria ausruft: »Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter«, trägt sie Jesus in ihrem Schoß. Sie lobt den Vater »wegen« Jesus, aber sie lobt ihn auch »in« Jesus und »mit« Jesus. Genau dies ist die wahre »eucharistische Haltung«.

Zugleich gedenkt Maria der Wundertaten Gottes in der Heilsgeschichte gemäß der Verheißung, die an die Väter ergangen ist (vgl.
Lc 1,55), und verkündet jenes Wunder, das alle anderen überragt: die erlösende Menschwerdung. Das Magnificat enthält schließlich auch die eschatologische Spannung der Eucharistie. Jedesmal, wenn sich der Sohn Gottes in der »Armut« der sakramentalen Zeichen von Brot und Wein uns zeigt, wird der Keim jener neuen Geschichte in die Welt gelegt, in der die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen erhöht werden (vgl. Lc 1,52). Maria besingt diesen »neuen Himmel« und diese »neue Erde«, die in der Eucharistie ihre Vorwegnahme und in einem gewissen Sinn ihr programmatisches »Bild« finden. Das Magnificat bringt die Spiritualität Mariens zum Ausdruck; nichts kann uns mehr helfen, das eucharistische Mysterium zu leben, als diese Spiritualität. Die Eucharistie ist uns gegeben, damit unser Leben, so wie das Leben Marias, ganz und gar ein Magnificat sei!


SCHLUSS



59 »Ave, verum corpus natum de Maria Virgine!«. Vor wenigen Jahren habe ich den fünfzigsten Jahrestag meines Priesterweihe gefeiert. Ich empfinde es als eine Gnade, der Kirche heute diese Enzyklika über die Eucharistie zu schenken, am Gründonnerstag, der in das fünfundzwanzigste Jahr meines Petrusdienstes fällt. Ich tue dies mit einem Herzen voller Dankbarkeit. Seit mehr als einem halben Jahrhundert - seit dem 2. November 1946, an dem ich meine Primiz in der Krypta des heiligen Leonhard in der Kathedrale auf dem Wawel in Krakau gefeiert habe - sind meine Augen jeden Tag auf die Hostie und den Kelch gerichtet, in denen Zeit und Raum in gewisser Weise »konzentiert« sind und das Drama von Golgota lebendig gegenwärtig wird und sich seine geheimnisvolle »Gleichzeitigkeit« enthüllt. Jeden Tag hat mein Glaube im konsekrierten Brot und im konsekrierten Wein den göttlichen Wegbegleiter erkennen können, der sich eines Tages an die Seite der beiden Emmausjünger gesellte, um ihnen die Augen für das Licht und das Herz für die Hoffnung zu öffnen (vgl. Lc 24,13-35).

Erlaubt mir, meine lieben Brüder und Schwestern, daß ich mein Zeugnis des Glaubens an die heiligste Eucharistie mit inniger Begeisterung ablege, um euch im Glauben zu begleiten und zu stärken. »Ave, verum corpus natum de Maria Virgine, vere passum, immolatum, in cruce pro homine!«. Hier ist der Schatz der Kirche, das Herz der Welt, das Unterpfand des Ziels, nach dem sich jeder Mensch, und sei es auch unbewußt, sehnt; ein großes Geheimnis, das uns überragt und die Fähigkeit unseres Geistes gewiß auf die harte Probe stellt, über den Augenschein hinauszugehen. Hier täuschen sich unsere Sinne – »visus, tactus, gustus in te fallitur«, heißt es im Hymnus Adoro te devote – , doch der Glaube allein genügt uns, der verwurzelt ist im Wort Christi, das uns von den Aposteln überliefert wurde. Erlaubt mir, daß ich – wie Petrus am Ende der eucharistischen Rede im Johannesevangelium – im Namen der ganzen Kirche und im Namen eines jeden von euch zu Christus sage: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens« (Jn 6,68).


60 Am Beginn dieses dritten Jahrtausends sind wir alle als Kinder der Kirche aufgerufen, mit neuem Schwung im christlichen Leben voranzuschreiten. Im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte habe ich geschrieben: »Es geht nicht darum, ein "neues Programm" zu erfinden. Das Programm liegt schon vor: Seit jeher besteht es, zusammengestellt vom Evangelium und von der lebendigen Tradition. Es findet letztlich in Christus selbst seine Mitte. Ihn gilt es kennenzulernen, zu lieben und nachzuahmen, um in ihm das Leben des dreifaltigen Gottes zu leben und mit ihm der Geschichte eine neue Gestalt zu geben, bis sie sich im himmlischen Jerusalem erfüllt«.103 Die Umsetzung dieses Programms für einen neuen Schwung im christlichen Leben geht über die Eucharistie.

Jedes Bemühen um Heiligkeit, jede Tat, die auf die Verwirklichung der Sendung der Kirche ausgerichtet ist, jede Umsetzung pastoraler Pläne muß die notwendige Kraft aus dem eucharistischen Mysterium beziehen und auf dieses Mysterium als ihren Höhepunkt hingeordnet sein. In der Eucharistie haben wir Jesus, haben wir sein Erlösungsopfer, haben wir seine Auferstehung, haben wir die Gabe des Heiligen Geistes, haben wir die Anbetung, den Gehorsam und die Liebe zum Vater. Würden wir die Eucharistie vernachlässigen, wie könnten wir unserer Armut abhelfen?

103 Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte (6. Januar 2001),
NM 29:AAS 93 (2001), 285.


61 Das eucharistische Mysterium – Opfer, Gegenwart, Mahl – darf nicht verkürzt und nicht verzweckt werden. Man muß es in seiner Fülle leben: während der Feier selbst, beim innigen Zwiegespräch mit Jesus nach dem Empfang der Kommunion, in der Zeit der eucharistischen Anbetung außerhalb der Messe. Dann wird die Kirche unerschütterlich auferbaut und es drückt sich das aus, was sie wahrhaft ist: die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche; Volk, Heiligtum und Familie Gottes; Leib und Braut Christi, beseelt durch den Heiligen Geist; allumfassendes Heilssakrament und hierarchisch gegliederte Gemeinschaft.

Der Weg der Kirche in diesen ersten Jahren des dritten Jahrtausends ist auch der Weg eines erneuerten ökumenischen Einsatzes. Die letzten Jahrzehnte des zweiten Jahrtausends, die im Großen Jubiläum gipfelten, haben uns in diese Richtung gedrängt und alle Getauften angespornt, sich das Gebet Jesu »ut unum sint« (
Jn 17,11) zu eigen zu machen. Es ist ein langer Weg, auf dem es viele Hindernisse gibt, die das menschliche Vermögen übersteigen; aber wir haben die Eucharistie und vor ihr können wir jene Worte, die der Prophet Elija hörte, in der Tiefe des Herzens vernehmen, so als ob sie an uns gerichtet wären: »Steh auf und iß, sonst ist der Weg zu weit für dich« (1R 19,7). Der Schatz der Eucharistie, den uns der Herr anvertraut hat, sport uns an, nach dem Ziel der vollen eucharistischen Gemeinschaft mit allen Brüdern und Schwestern zu streben, mit denen uns die gemeinsame Taufe verbindet. Um einen solchen Schatz nicht zu vergeuden, müssen allerdings die Anforderungen beachtet werden, die sich von seiner Natur als Sakrament der Gemeinschaft im Glauben und in der apostolischen Sukzession ableiten.

Indem wir der Eucharistie die volle Bedeutung beimessen, die ihr zukommt, und mit aller Sorgfalt darauf bedacht sind, daß keine ihrer Dimensionen oder Ansprüche abgeschwächt werden, sind wir uns wirklich bewußt, wie groß diese Gabe ist. Dazu lädt uns eine ununterbrochene Überlieferung ein, die zeigt, daß die christliche Gemeinschaft seit den ersten Jahrhunderten diesen »Schatz« wachsam gehütet hat. Von der Liebe gedrängt, sorgt sich die Kirche darum, den Glauben und die Lehre über das eucharistische Mysterium den nachfolgenden christlichen Generationen weiterzugeben, ohne irgendeinen Aspekt aufzugeben. In der Sorge um dieses Geheimnis kann man nicht übertreiben, weil »in diesem Sakrament das ganze Mysterium unseres Heiles zusammengefaßt ist«.104

104 Hl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, III 83,4 c.


62 Begeben wir uns, meine lieben Brüder und Schwestern, in die Schule der Heiligen, der großen Interpreten der wahren eucharistischen Frömmigkeit. In ihnen erlangt die Theologie der Eucharistie den vollen Glanz gelebter Wirklichkeit, sie »steckt uns an«, sie »entflammt« uns gewissermaßen. Hören wir vor allem auf die selige Jungfrau Maria, in der das eucharistische Mysterium mehr als in jedem anderen Menschen als Geheimnis des Lichtes offenbar wird. Im Blick auf sie erkennen wir die verwandelnde Kraft, die der Eucharistie innewohnt. In ihr sehen wir die Welt, die in der Liebe erneuert ist. Wenn wir Maria betrachten, die mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen ist, sehen wir ein Stück des »neuen Himmels« und der »neuen Erde«, die sich bei der zweiten Ankunft Christi vor unseren Augen öffnen werden. Die Eucharistie ist hier auf Erden ihr Unterpfand und in gewisser Weise ihre Vorwegnahme: »Veni, Domine Iesu!« (Ap 22,20).

Im demütigen Zeichen von Brot und Wein, die in seinen Leib und in sein Blut wesensverwandelt werden, geht Christus mit uns; er ist unsere Kraft und unsere Wegzehrung, er macht uns für alle zu Zeugen der Hoffnung. Wenn vor diesem Mysterium der Verstand seine Grenzen erfährt, so erahnt doch das Herz, das von der Gnade des Heiligen Geistes erleuchtet ist, wie man sich davor verhalten und in Anbetung und grenzenloser Liebe darin versenken soll.

Machen wir uns die Gesinnung des heiligen Thomas von Aquin zu eigen, dieses vortrefflichen Theologen, der den eucharistischen Christus auch mit leidenschaftlicher Glut besungen hat. Möge unser Geist sich öffnen in der Hoffnung auf die Betrachtung des Zieles, nach dem sich unsere Herzen sehnen, die nach Freude und Frieden dürsten:

»Bone pastor, panis vere,
Iesu, nostri miserere...«.

»Guter Hirt, du wahre Speise,
Jesus, gnädig dich erweise!
Nähre uns auf deinen Auen,
laß uns deine Wonnen schauen
in des Lebens ewigem Reich!

Du der alles weiß und leitet,
uns im Tal des Todes weidet,
laß an deinem Tisch uns weilen,
deine Herrlichkeit uns teilen.
Deinen Seligen mach uns gleich!« .

Gegeben in Rom, bei Sankt Peter, am 17. April 2003, Gründonnerstag, im 25. Jahr meines Pontifikats, im Jahr des Rosenkranzes.

IOANNES PAULUS II



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