Ecclesia in Europa DE 22

II. KAPITEL


DAS EVANGELIUM DER HOFFNUNG


DER KIRCHE


DES NEUEN JAHRTAUSENDS


ANVERTRAUT


»Werde wach und stärke, was noch übrig ist,

was schon im Sterben lag« (Ap 3,2)

I. Der Herr ruft zur Umkehr


Jesus wendet sich heute an unsere Kirchen


23 »So spricht Er, der die sieben Sterne in seiner Rechten hält und mitten unter den sieben goldenen Leuchtern einhergeht [...], der Erste und der Letzte, der tot war und wieder lebendig wurde [...], der Sohn Gottes« (Ap 2,1 Ap 2,8 Ap 2,18). Es ist Jesus selbst, der zu seiner Kirche spricht. Seine Botschaft ist an alle einzelnen Teilkirchen gerichtet und betrifft ihr inneres Leben, das manchmal gekennzeichnet ist durch das Vorhandensein von Auffassungen und Gesinnungen, die mit der Überlieferung des Evangeliums unvereinbar sind, oft von verschiedenen Formen der Verfolgung heimgesucht wird und – was noch gefährlicher ist – durch besorgniserregende Symptome der Verweltlichung, des Verlustes des ursprünglichen Glaubens und des Kompromisses mit dem Denken der Welt gefährdet ist. Nicht selten haben die Gemeinden nicht mehr die frühere Liebe (vgl. Offb Ap 2,4).

Es ist zu beobachten, wie sich unsere kirchlichen Gemeinschaften mit Schwächen, Mühseligkeiten und Widersprüchen herumschlagen. Auch sie haben es nötig, die Stimme des Bräutigams wiederzuhören, der sie zur Umkehr einlädt, sie anspornt, Neues zu wagen, und sie aufruft, sich für das große Werk der »Neuevangelisierung« einzusetzen. Die Kirche muß sich ständig dem Urteil des Wortes Christi unterordnen und ihre menschliche Dimension in einem Zustand der Läuterung leben, um immer mehr und immer besser die Braut ohne Flecken und Falten zu sein, gekleidet in strahlend reines Leinen (vgl. Eph Ep 5,27 Ap 19,7-8).

Auf diese Weise ruft Jesus Christus unsere Kirchen in Europa zur Umkehr, und mit ihrem Herrn und durch seine Gegenwart werden sie zu Boten der Hoffnung für die Menschheit.



Die Wirkung des Evangeliums im Lauf der Geschichte


24 Europa ist weitläufig und tiefgreifend vom Christentum durchdrungen worden. »In der Gesamtgeschichte Europas stellt das Christentum zweifellos ein zentrales und charakteristisches Element dar, gefestigt auf dem starken Fundament des klassischen Erbes und der vielfältigen Beiträge, die von den im Laufe der Jahrhunderte aufeinanderfolgenden unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Strömungen eingebracht wurden. Der christliche Glaube hat die Kultur des Kontinents geformt und sich mit seiner Geschichte so unlösbar verflochten, daß diese gar nicht verständlich wäre, würde man nicht auf die Ereignisse verweisen, die zunächst die große Zeit der Evangelisierung und dann die langen Jahrhunderte geprägt haben, in denen sich das Christentum – wenn auch in der schmerzlichen Spaltung zwischen Ost und West – als die Religion der Europäer durchgesetzt hat. Auch in Neuzeit und Gegenwart, wo die religiöse Einheit sowohl infolge weiterer Spaltungen unter den Christen als auch wegen der Loslösungsprozesse der Kultur vom Horizont des Glaubens mehr und mehr zerbröckelt ist, kommt der Rolle des Glaubens immer noch eine wichtige Bedeutung zu« .45


25 Das Interesse, das die Kirche für Europa hegt, erwächst aus ihrer eigenen Natur und Sendung. Jahrhunderte lang hatte die Kirche nämlich sehr enge Bindungen zu unserem Kontinent, so daß das geistige Antlitz Europas dank der Mühen großer Missionare, durch das Zeugnis der Heiligen und der Märtyrer und durch das beharrliche Wirken von Mönchen, Ordensleuten und Seelsorgern geformt worden ist. Aus der biblischen Auffassung vom Menschen hat Europa das Beste seiner humanistischen Kultur entnommen, Inspirationen für seine geistigen und künstlerischen Schöpfungen gewonnen, Rechtsnormen erarbeitet und nicht zuletzt die Würde der Person als Quelle unveräußerlicher Rechte gefördert.46 Auf diese Weise hat die Kirche als Hüterin des Evangeliums zur Verbreitung und Konsolidierung jener Werte beigetragen, die die europäische Kultur zu einer Weltkultur gemacht haben.

All dessen eingedenk, verspürt die Kirche heute mit neuer Verantwortung die Dringlichkeit, dieses kostbare Erbe nicht zu vergeuden und Europa durch die Wiederbelebung der christlichen Wurzeln, in denen es seinen Ursprung hat, bei seinem Aufbau zu helfen.47



Ein wahres Gesicht der Kirche verwirklichen


26 Möge die gesamte Kirche in Europa spüren, daß das Gebot und die Einladung des Herrn: Gehe in dich, bekehre dich, »werde wach und stärke, was noch übrig ist, was schon im Sterben lag!« (Ap 3,2), an sie gerichtet ist. Diese Erfordernis ergibt sich auch aus der Betrachtung der heutigen Zeit: »Die ernste Situation der religiösen Gleichgültigkeit so vieler Europäer; die Anwesenheit so vieler Menschen auch auf unserem Kontinent, die Jesus Christus und seine Kirche noch nicht kennen und die noch nicht getauft sind; die Säkularisierung, die breite Schichten von Christen ansteckt, die so denken, entscheiden und leben, ,,als ob Christus nicht existierte'': Das alles löscht unsere Hoffnung nicht aus, sondern macht sie demütiger und befähigt sie besser, allein auf Gott zu vertrauen. Von seinem Erbarmen empfangen wir die Gnade und die Bereitschaft zur Umkehr« .48


27 Obwohl es, wie in der im Evangelium erzählten Episode vom Sturm auf dem See (vgl. Mk Mc 4,35-41 Lk Lc 8,22-25), manchmal den Anschein haben mag, daß Christus schlafe und sein Boot der Gewalt der Wellen preisgebe, ist die Kirche in Europa aufgerufen, die innere Gewißheit zu pflegen, daß der Herr durch die Gabe seines Geistes immer in ihr und in der Geschichte der Menschheit gegenwärtig und wirksam ist. Er setzt seine Sendung in die Zeit hinein fort, indem er die Kirche zu einem Strom neuen Lebens macht, der im Leben der Menschheit als Hoffnungszeichen für alle fließt.

In einem Kontext, in dem es auch auf pastoraler Ebene leicht zur Versuchung des Aktivismus kommen kann, sind die Christen in Europa aufgefordert, weiterhin durch ein Leben in inniger Gemeinschaft mit dem Auferstandenen eine wahre Transparenz seiner Gegenwart zu sein. Es muß Gemeinschaften geben, die in der Betrachtung und Nachahmung der Jungfrau Maria als Gestalt und Vorbild der Kirche im Glauben und in der Heiligkeit 49 den Sinngehalt des liturgischen Lebens und der Spiritualität bewahren. Sie sollen vor allem den Herrn loben, zu ihm beten, ihn anbeten und sein Wort hören. Nur so können sie sein Geheimnis in sich aufnehmen, indem sie als Glieder seiner treuen Braut völlig auf ihn bezogen leben.


28 Angesichts der immer wiederkehrenden Anlässe zu Spaltung und Gegensätzen müssen die verschiedenen Teilkirchen in Europa, gestärkt auch durch ihre Bindung an den Nachfolger Petri, sich bemühen, wirklich Ort und Werkzeug der Gemeinschaft des ganzen Gottesvolkes im Glauben und in der Liebe zu sein.50 Sie sollen daher ein Klima brüderlicher Hingabe pflegen, die mit der Radikalität des Evangeliums im Namen Jesu und in seiner Liebe gelebt wird, und so ein Zusammenspiel freundschaftlicher Beziehungen entwickeln in Kommunikation, Mitverantwortung, Anteilnahme, missionarischem Bewußtsein, Aufmerksamkeit und Dienst. Gegenseitige Achtung und Annahme und die Bereitschaft zur Korrektur soll allem Verhalten zugrunde liegen (vgl. Röm Rm 12,10 Rm 15,7-14). Außerdem sollen sie einander dienen und unterstützen (vgl. Gal Ga 5,13 Ga 6,2), einander vergeben (vgl. Kol Col 3,13) und sich gegenseitig aufrichten (vgl. 1Th 5,11). Die Teilkirchen sollen sich um die Verwirklichung einer Pastoral bemühen, die unter fruchtbringender Berücksichtigung aller berechtigten Verschiedenheiten auch eine herzliche Zusammenarbeit zwischen allen Gläubigen und ihren Zusammenschlüssen fördert; die Mitwirkungs- Gremien sollen sie als wertvolle gemeinschaftsbildende Instrumente für eine einvernehmliche missionarische Tätigkeit wieder einführen und für entsprechend vorbereitete und qualifizierte pastorale Mitarbeiter sorgen. In dieser Weise werden die Kirchen – beseelt von der Gemeinschaft, die Ausdruck der Liebe Gottes sowie Fundament und Grund der Hoffnung ist, die nicht enttäuscht (vgl. Röm Rm 5,5) – selbst der strahlendste Widerschein der Dreifaltigkeit sein und ein Zeichen, das zum Glauben drängt und einlädt (vgl. Joh Jn 17,21).


29 Damit die Gemeinschaft in der Kirche vollkommener gelebt werden kann, gilt es, die Vielfalt der Charismen und Berufungen zur Geltung zu bringen, die immer mehr auf die Einheit zustreben und sie bereichern können (vgl. 1Co 12). Aus dieser Sicht ist es auch notwendig, daß die neuen Bewegungen und neuen kirchlichen Gemeinschaften, »indem sie jede Versuchung, Erstgeburtsrechte geltend zu machen, und jedes gegenseitige Unverständnis überwinden« , auf dem Weg einer glaubwürdigeren Gemeinschaft untereinander und mit den anderen kirchlichen Bereichen fortschreiten und »mit Liebe in vollem Gehorsam gegenüber den Bischöfen leben« . Andererseits ist es ebenso notwendig, daß die Bischöfe, »indem sie ihnen die den Hirten eigene Väterlichkeit und Liebe zeigen« ,51 ihre Charismen und ihre Präsenz zum Aufbau der einen Kirche zu erkennen, auszuwerten und zu koordinieren wissen.

Dank einer wachsenden Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen kirchlichen Vereinigungen unter der liebevollen Leitung der Bischöfe wird in der Tat die ganze Kirche allen ein schöneres und glaubwürdigeres Gesicht bieten, ein klarerer Widerschein des Antlitzes des Herrn sein und so dazu beitragen können, wieder Hoffnung und Trost sowohl denen zu geben, die sie suchen, als auch denen, die sie zwar nicht suchen, sie aber doch nötig haben.

Um dem Aufruf des Evangeliums zur Umkehr nachkommen zu können, »ist es notwendig, daß wir alle zusammen demütig und mutig unser Gewissen erforschen, um unsere Ängste und Irrtümer zu erkennen und aufrichtig unsere Schwerfälligkeit, unsere Unterlassungen, unsere Untreue und Schuld zu bekennen« .52 Weit davon entfernt, entmutigende Verzichtshaltungen zu begünstigen, wird die Anerkennung der eigenen Schuld im Sinne des Evangeliums mit Sicherheit in der Gemeinde dieselbe Erfahrung hervorrufen, die auch der einzelne Getaufte macht: die Freude einer tiefgreifenden Befreiung und die Gnade eines Neuanfangs, die es ermöglicht, mit noch größerer Kraft den Weg der Evangelisierung fortzusetzen.



Voranschreiten in Richtung auf die Einheit der Christen


30 Das Evangelium der Hoffnung ist nicht zuletzt Kraft und Aufruf zur Umkehr auch im ökumenischen Bereich. Die Einheit der Christen entspricht dem Gebot des Herrn, »daß alle eins seien« (vgl. Joh Jn 17,11), und erweist sich heute als notwendig für eine größere Glaubwürdigkeit bei der Evangelisierung und als Beitrag zur Einheit Europas: Aus dieser Gewißheit heraus ist es notwendig, allen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften »zu helfen und sie einzuladen, den ökumenischen Weg zu verstehen als ein ,,gemeinsames Zugehen'' auf Christus« 53 und auf die von ihm gewollte sichtbare Einheit, so daß die Einheit in der Verschiedenheit als Gabe des Heiligen Geistes, des Stifters von Gemeinschaft, in der Kirche erstrahlt.

Um das zu verwirklichen, braucht es von seiten aller einen geduldigen, stetigen Einsatz, der von echter Hoffnung und zugleich von einem nüchternen Realismus beseelt ist und der auf »die Hervorhebung dessen, was uns bereits eint, die aufrichtige gegenseitige Wertschätzung, die Beseitigung der Vorurteile, das wechselseitige Kennenlernen und die gegenseitige Liebe« 54ausgerichtet ist. Auf dieser Linie muß das Bemühen um die Einheit, wenn es sich denn auf solide Grundlagen stützen will, unbedingt die leidenschaftliche Suche nach der Wahrheit einschließen, und zwar durch einen Dialog und eine Gegenüberstellung, die, während sie die bisher erreichten Ergebnisse anerkennen, diese auszuwerten wissen als Ansporn für einen weiteren Weg in der Überwindung der Unstimmigkeiten, welche die Christenheit noch spalten.


31 Der Dialog muß mit Entschlossenheit weitergeführt werden, ohne vor Schwierigkeiten und Mühen zu kapitulieren: Er soll »unter verschiedenen (sowohl doktrinellen als auch spirituellen und praktischen) Gesichtspunkten« geführt werden, »indem man der Logik vom Austausch der Gaben, die der Geist in jeder Kirche hervorbringt, folgt und die Gemeinden und die einzelnen Gläubigen, vor allem die Jugend, dazu erzieht, Gelegenheiten der Begegnung wahrzunehmen und den richtig verstandenen Ökumenismus zu einer normalen Dimension des kirchlichen Lebens und Wirkens zu machen« .55

Dieser Dialog stellt eine der Hauptsorgen der Kirche dar, vor allem in diesem Europa, das im vergangenen Jahrtausend zu viele Spaltungen unter den Christen hat entstehen sehen und das sich heute auf dem Weg zu seiner größeren Einheit befindet. Wir können auf diesem Weg nicht stehenbleiben und wir können auch nicht mehr zurück! Wir müssen ihn fortsetzen und vertrauensvoll durchhalten, denn es ist unmöglich, daß die gegenseitige Wertschätzung, die Suche nach der Wahrheit, die Zusammenarbeit in der Liebe und vor allem der Ökumenismus der Heiligkeit mit Gottes Hilfe nicht auch ihre Früchte bringen.


32 Trotz der unvermeidlichen Schwierigkeiten lade ich alle ein, in Liebe und Brüderlichkeit den Beitrag anzuerkennen und zur Geltung zu bringen, den die katholischen Ostkirchen durch ihr Dasein selbst, durch den Reichtum ihrer Überlieferung, durch das Zeugnis ihrer »Einheit in der Verschiedenheit« , durch die von ihnen bei der Verkündigung des Evangeliums umgesetzte Inkulturation und durch die Vielfalt ihrer Riten für einen realeren Aufbau der Einheit leisten können.56 Gleichzeitig möchte ich die Bischöfe und die Brüder und Schwestern der orthodoxen Kirchen erneut dessen versichern, daß – unter Beibehaltung der Pflicht zur Achtung der Wahrheit, der Freiheit und der Würde jedes Menschen – die Neuevangelisierung in keiner Weise mit Proselytismus zu verwechseln ist.


II. Die ganze Kirche

wird in die Mission entsandt



33 Dem Evangelium der Hoffnung durch eine evangelisierende Liebe zu dienen, ist verpflichtende Aufgabe und Verantwortung aller. Denn welches Charisma und Amt ein jeder auch haben mag, die Liebe ist der Hauptweg, der allen angezeigt ist und den alle gehen können: Die ganze kirchliche Gemeinschaft ist aufgerufen, diesen Weg auf den Spuren ihres Meisters zurückzulegen.



Die Aufgabe der Geistlichen


34 Die Priester sind kraft ihres Amtes berufen, das Evangelium der Hoffnung zu feiern, zu lehren und ihm auf eine besondere Weise zu dienen. Aufgrund des Weihesakramentes, das sie Christus, dem Haupt und Hirten, gleichgestaltet, müssen die Bischöfe und die Priester ihr ganzes Leben und Tun Jesus angleichen. Durch die Verkündigung des Wortes, die Feier der Sakramente und die Leitung der christlichen Gemeinde vergegenwärtigen sie das Mysterium Christi und haben die Aufgabe, durch die Ausübung ihres Amtes »die Gegenwart Christi, des einen Hohenpriesters, dadurch fortzusetzen, daß sie seinen Lebensstil nachleben und inmitten der ihnen anvertrauten Herde gleichsam an sich selbst transparent werden lassen«.57

Da sie ,,in der'' Welt, aber nicht ,,von der'' Welt sind (vgl. Joh
Jn 15-16), sind sie in der aktuellen kulturellen und geistigen Situation des europäischen Kontinents aufgerufen, Zeichen des Widerspruchs und der Hoffnung für eine Gesellschaft zu sein, die an einer einseitig horizontalen Sichtweise krankt und es nötig hat, sich dem Transzendenten zu öffnen.


35 In diesem Zusammenhang gewinnt auch der priesterliche Zölibat Bedeutung, als Zeichen einer vollkommen auf den Herrn gesetzten Hoffnung. Er ist nicht eine von der Autorität auferlegte reine kirchliche Disziplin; im Gegenteil, er ist vor allem Gnade, unschätzbare Gabe Gottes an die Kirche, von prophetischem Wert für die heutige Welt, Quelle intensiven geistlichen Lebens und pastoraler Fruchtbarkeit, Zeugnis für das eschatologische Reich, Zeichen der Liebe Gottes für diese Welt sowie der ungeteilten Liebe des Priesters zu Gott und zu seinem Volk.58 Wenn der Zölibat als Antwort auf die Gabe Gottes und als Überwinden der Versuchungen einer hedonistischen Gesellschaft gelebt wird, fördert er nicht nur die menschliche Verwirklichung desjenigen, der dazu berufen ist, sondern erweist sich als ein Faktor der Reifung auch für die anderen.

Der Zölibat, der in der ganzen Kirche als die dem Priestertum angemessene Lebensform geschätzt ist,59 von der lateinischen Kirche verpflichtend vorgeschrieben wird 60 und bei den Ostkirchen hochangesehen ist,61 erscheint im Kontext der jetzigen Kultur wie ein aussagekräftiges Zeichen, das als kostbares Gut für die Kirche bewahrt werden muß. Eine diesbezügliche Revision der derzeitigen Disziplin würde keine Lösung der in vielen Teilen Europas herrschenden Krise der Priesterberufungen herbeiführen.62 Eine Verpflichtung zum Dienst am Evangelium der Hoffnung verlangt auch, daß in der Kirche der Zölibat in seinem vollen biblischen, theologischen und spirituellen Reichtum vorgestellt werden muß.


36 Wir können nicht übersehen, daß heute die Ausübung des geistlichen Amtes auf nicht wenige Schwierigkeiten stößt, die sowohl durch die herrschende Kultur als auch durch die zahlenmässige Verringerung der Priester mit einer gesteigerten pastoralen Belastung und einer damit verbundenen Ermüdung bedingt sind. Daher verdienen die Priester, die mit bewundernswerter Hingabe und Treue den Dienst leben, der ihnen anvertraut worden ist, Hochschätzung, Dankbarkeit und Nähe.63

Ihnen möchte auch ich, indem ich die von den Synodenvätern geschriebenen Worte aufnehme, mit Vertrauen und Dankbarkeit meine Ermutigung aussprechen: »Verliert nicht den Mut und laßt euch nicht von Müdigkeit überwältigen; setzt eure kostbare und unverzichtbare Arbeit fort in voller Gemeinschaft mit uns Bischöfen, in freudiger brüderlicher Verbundenheit mit den anderen Priestern, in herzlicher Mitverantwortlichkeit mit denen, die ein gottgeweihtes Leben führen, und mit allen Laien!«.64

Zusammen mit den Priestern möchte ich auch die Diakone erwähnen, die, wenn auch in anderem Grad, an demselben Weihesakrament teilhaben. Entsandt zum Dienst an der Kirchengemeinde, erfüllen sie unter der Leitung des Bischofs und gemeinsam mit seinem Presbyterium die ,,Diakonia'' der Liturgie, des Wortes und der Nächstenliebe.65 Auf diese ihnen eigene Weisestehen sie im Dienst am Evangelium der Hoffnung.



Das Zeugnis der Personen gottgeweihten Lebens


37 Von besonderer Aussagekraft ist das Zeugnis der Personen gottgeweihten Lebens. In diesem Zusammenhang muß vor allem die fundamentale Rolle anerkannt werden, die das Mönchtum und das gottgeweihte Leben bei der Evangelisierung Europas und beim Aufbau seiner christlichen Identität gespielt hat.66 Diese Rolle darf heute nicht vernachlässigt werden, in einer Zeit, in der eine »Neuevangelisierung« des Kontinents dringend notwendig ist und der Aufbau komplexerer Strukturen und Bindungen ihn an einen heiklen Wendepunkt stellen. Europa braucht immer die Heiligkeit, die Prophetie, die Evangelisierungstätigkeit und den Dienst der Ordensleute. Hervorgehoben werden muß auch der spezifische Beitrag, den die Säkularinstitute und die Gesellschaften apostolischen Lebens anbieten durch ihr Bestreben, die Welt durch die Kraft der Seligpreisungen von innen heraus umzugestalten.


38 Der spezifische Beitrag, den die Personen gottgeweihten Lebens für das Evangelium der Hoffnung leisten können, geht von einigen Aspekten aus, die das derzeitige kulturelle und gesellschaftliche Gesicht Europas kennzeichnen.67 So soll die Frage nach neuen Formen der Spiritualität, die heute aus der Gesellschaft emporsteigt, eine Antwort finden in der Anerkennung des absoluten Vorranges Gottes, wie er von den gottgeweihten Personen durch die vollkommene Selbsthingabe und durch die ständige Umkehr einer als wahrer Gottesdienst dargebotenen Existenz gelebt wird. In einem vom Säkularismus verseuchten und dem Konsumismus unterjochten Umfeld wird das gottgeweihte Leben – Geschenk des Geistes an die Kirche und für die Kirche – zunehmend zum Zeichen der Hoffnung, und zwar in dem Maße, in dem es die transzendente Dimension des Daseins bezeugt. Auf der anderen Seite wird in der heutigen multikulturellen und multireligiösen Situation nach dem Zeugnis evangeliumsgemäßerBrüderlichkeit verlangt, die das gottgeweihte Leben kennzeichnet und es durch die Überwindung der Gegensätze zu einem Ansporn zur Läuterung und zur Einbeziehung unterschiedlicher Werte macht. Das Auftreten neuer Formen von Armut und Ausgrenzung muß bei der Sorge um die Bedürftigsten die Kreativität wecken, die so viele Gründer von Ordensinstituten ausgezeichnet hat. Schließlich verlangt der Trend des Sich-Zurückziehens auf sich selbst nach einem Gegenmittel: Es besteht in der Verfügbarkeit der gottgeweihten Personen, trotz der zahlenmäßigen Verringerung in manchen Instituten das Werk der Evangelisierung in anderen Kontinenten fortzusetzen.



Die Pflege der Berufungen


39 Angesichts der Tatsache, daß dem Einsatz der Priester und Ordensleute entscheidende Bedeutung zukommt, kann man den beunruhigenden Mangel an Seminaristen und Anwärtern auf das Ordensleben vor allem in Westeuropa nicht verschweigen. Diese Situation erfordert den Einsatz aller für eine angemessene Pastoral der Berufungen. Nur »wenn man den jungen Menschen die Person Jesu Christi in ihrer ganzen Fülle vorstellt, wird in ihnen eine Hoffnung entzündet, die sie dazu antreibt, alles zu verlassen und ihm zu folgen, um auf seinen Ruf zu antworten und vor ihren Altersgenossen von ihm Zeugnis zu geben« .68 Die Pflege der Berufungen ist also eine für die Zukunft des christlichen Glaubens in Europa und, indirekt, für den geistigen Fortschritt der europäischen Völker lebenswichtige Frage; sie ist der einzig mögliche Weg für eine Kirche, die das Evangelium der Hoffnung verkünden, feiern und ihm dienen will.69


40 Um eine notwendige Berufungspastoral zu entwickeln, ist es angebracht, den Gläubigen den Glauben der Kirche bezüglich Wesen und Würde des Amtspriestertums zu erklären, die Familien zu einem Leben als echte »Hauskirchen« zu ermutigen, damit in ihnen die verschiedenen Berufungen wahrgenommen, angenommen und begleitet werden können, und eine Pastoraltätigkeit zu entfalten, die vor allem den jungen Menschen hilft, Entscheidungen für ein Leben zu treffen, das in Christus verwurzelt und vollständig der Kirche gewidmet ist.70

In der Gewißheit, daß der Heilige Geist auch heute am Werk ist und daß es an Zeichen für diese Gegenwart nicht fehlt, geht es vor allem darum, die Berufungsverkündigung auf die Bahn der ordentlichen Pastoral zu bringen. Es ist deshalb notwendig, »vor allem in den jungen Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Gott anzufachen und auf diese Weise ein günstiges Umfeld zu schaffen für die Entstehung großherziger Antworten auf Berufungen« . Es ist dringlich, daß eine große Gebetsbewegung die Kirchengemeinden des europäischen Kontinents durchzieht, weil »die veränderten historischen und kulturellen Bedingungen es erfordern, daß die Berufungspastoral als eines der Hauptziele der ganzen christlichen Gemeinschaft angesehen wird« .71 Und es ist unerläßlich, daß die Priester selbst völlig kohärent zu ihrer wahren sakramentalen Identität leben und arbeiten. Wenn sie nämlich von sich selbst ein mattes und glanzloses Bild abgeben, wie könnten sie dann die jungen Menschen dazu bringen, sie nachzuahmen?



Die Sendung der Laien


41 Unverzichtbar ist der Beitrag der gläubigen Laien zum kirchlichen Leben: Ihr Platz in der Verkündigung des Evangeliums der Hoffnung und ihr Dienst an ihm ist in der Tat unersetzlich, denn »durch sie wird die Kirche Christi in den verschiedensten Bereichen der Welt als Zeichen und Quelle der Hoffnung und der Liebe präsent« .72 Da sie an der Sendung der Kirche in der Welt vollkommen teilhaben, sind sie aufgerufen zu bezeugen, wie der christliche Glaube die einzige vollständige Antwort auf die Fragen darstellt, die das Leben jedem Menschen und jeder Gesellschaft stellt. Sie können die Werte des Reiches Gottes, die Verheißung und Gewähr einer Hoffnung sind, die nicht enttäuscht, in die Welt einbringen.

Europa hat heute wie gestern bedeutsame Erscheinungen und leuchtende Beispiele solcher Laiengestalten vorzuweisen. Wie die Synodenväter betont haben, muß unter anderen jener Männer und Frauen mit Dankbarkeit gedacht werden, die Christus und sein Evangelium durch ihren Dienst am öffentlichen Leben und an den Verantwortlichkeiten, die es mit sich bringt, bezeugt haben. Es ist von grundlegender Bedeutung, »spezifische Berufungen zu wecken und zu fördern, die dem Gemeinwohl dienen: Menschen, die nach dem Beispiel und dem Stil der sogenannten ,,Väter Europas'' fähig sind, Baumeister der europäischen Gesellschaft von morgen zu sein, und sie auf die soliden Fundamente des Geistes gründen« .73

Die gleiche Wertschätzung gilt der Arbeit, die von christlichen Laien, Männern und Frauen, oft in der Verborgenheit des gewöhnlichen Lebens durch demütige Dienste geleistet wird, die geeignet sind, den in Armut Lebenden die Barmherzigkeit Gottes zu verkünden. Wir müssen ihnen dankbar sein für ihr kühnes Zeugnis der Liebe und Vergebung: Werte, welche die weiten Bereiche der Politik, der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Wirtschaft, der Kultur, der Ökologie, des internationalen Lebens, der Familie, der Erziehung, der Berufswelt, der Arbeit und des Leidens evangelisieren.74 Dazu dienen Ausbildungsgänge, die gläubige Laien befähigen, ihren Glauben an den weltlichen Gegebenheiten tauglich zu machen. Solche Kurse, die sich auf eine ernsthafte praktische Ausbildung im kirchlichen Leben, besonders auf das Studium der Soziallehre, stützen, müssen imstande sein, ihnen nicht nur Lehre und Anregungen zu liefern, sondern auch entsprechende spirituelle Leitlinien, die den gelebten Einsatz als authentischen Weg der Heiligkeit beseelen.



Die Rolle der Frau


42 Die Kirche ist sich des spezifischen Beitrags der Frau im Dienst am Evangelium der Hoffnung bewußt. Die Geschichte der christlichen Gemeinschaft belegt, wie die Frauen in der Bezeugung des Evangeliums immer einen bedeutenden Platz gehabt haben. Es muß daran erinnert werden, wieviel sie oft stillschweigend und im Verborgenen mit dem Empfang und der Übermittlung der Gabe Gottes geleistet haben, sei es durch die leibliche und geistige Mutterschaft, die Erziehungsarbeit, die Katechese, die Verwirklichung großer Werke der Nächstenliebe, sei es durch ein Leben des Gebetes und der Kontemplation sowie durch mystische Erfahrungen und durch die Abfassung von Schriften, die reich sind an evangelischer Weisheit.75

Im Licht der überreichen Zeugnisse aus der Vergangenheit drückt die Kirche ihre Zuversicht im Hinblick auf all das aus, was die Frauen heute auf allen Ebenen für das Wachsen der Hoffnung tun können. Es gibt Aspekte der heutigen europäischen Gesellschaft, die eine Herausforderung sind für die Fähigkeit der Frauen zu liebevollem, beharrlichem und unbedingtem Annehmen, Teilen und Gestalten. Man denke zum Beispiel an die verbreitete wissenschaftlich-technische Geisteshaltung, welche die emotionale Dimension und die Funktion der Gefühle in den Schatten stellt, an den Mangel an Großherzigkeit, an die verbreitete Furcht davor, neuen Geschöpfen das Leben zu schenken und an die Schwierigkeit, sich mit dem anderen auf Gegenseitigkeit zu stellen und jemanden anzunehmen, der von einem selbst verschieden ist. In diesem Zusammenhang erwartet sich die Kirche von den Frauen den belebenden Beitrag einer neuen Welle der Hoffnung.


43 Damit das verwirklicht werden kann, ist es jedoch notwendig, daß vor allem in der Kirche die Würde der Frau gefördert wird, da die Würde von Frau und Mann identisch ist, beide nach Gottes Abbild und Gleichnis geschaffen (vgl. Gen Gn 1,27) und reichlich mit je eigenen, spezifischen Gaben ausgestattet sind.

Um die volle Teilnahme der Frau am Leben und an der Sendung der Kirche zu fördern, ist zu wünschen – wie bei der Synode unterstrichen wurde –, daß ihre Gaben auch durch die Übernahme der kirchlichen Funktionen, die nach dem Recht den Laien vorbehalten sind, stärker zur Geltung gebracht werden. Entsprechend aufgewertet werden muß auch die Sendung der Frau als Gattin und Mutter und ihre Hingabe an das Familienleben.76

Die Kirche versäumt nicht, ihre Stimme zu erheben und die gegen die Frauen verübten Ungerechtigkeiten und Gewalttätigkeiten anzuklagen, wo und unter welchen Umständen auch immer sie geschehen. Sie fordert, daß die Gesetze zum Schutz der Frau tatsächlich zur Anwendung kommen und daß gegen die erniedrigende Verwendung von Frauendarstellungen in der kommerziellen Werbung und gegen die Geißel der Prostitution wirksame Maßnahmen ergriffen werden; sie wünscht, daß der von der Mutter, ebenso wie der vom Vater im häuslichen Leben geleistete Dienst auch in Form einer finanziellen Anerkennung als Beitrag zum Gemeinwohl angesehen wird.



III. KAPITEL


DAS EVANGELIUM


DER HOFFNUNG VERKÜNDIGEN


»Nimm das [...] aufgeschlagene Buch [...]

und iß es« (Ap 10,8 Ap 10,9)

I. Das Geheimnis Christi verkündigen


Die Offenbarung verleiht der Geschichte Sinn


44 Die Vision der Geheimen Offenbarung spricht von »einer Buchrolle, die innen und außen beschrieben und mit sieben Siegeln versiegelt war« , die sich »in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß« befand (Ap 5,1). Dieser Text enthält den Schöpfungs- und Heilsplan Gottes, seinen detaillierten Entwurf für die ganze Wirklichkeit, für die Menschen, für die Dinge, für die Ereignisse. Kein geschaffenes Wesen, weder im Himmel noch auf der Erde, ist imstande, »das Buch zu öffnen und es zu lesen« (Ap 5,3), das heißt seinen Inhalt zu verstehen. In der Verworrenheit der menschlichen Wechselfälle vermag niemand die Richtung und den letzten Sinn der Dinge zu benennen.

Allein Jesus Christus gelangt in den Besitz des versiegelten Buches (vgl. Offb Ap 5,6-7); allein er ist »würdig, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen« (Ap 5,9). Denn allein Jesus vermag den darin enthaltenen Plan Gottes zu enthüllen und zu verwirklichen. Der sich selbst überlassene Mensch, mag er sich noch so anstrengen, ist nicht imstande, der Geschichte und ihren Ereignissen einen Sinn zu geben: Das Leben bleibt ohne Hoffnung. Allein der Sohn Gottes ist in der Lage, die Finsternis zu vertreiben und den Weg zu zeigen.

Das geöffnete Buch wird Johannes übergeben und durch ihn der ganzen Kirche.Johannes wird aufgefordert, das Buch zu nehmen und es zu essen: »Geh, nimm das Buch, das der Engel, der auf dem Meer und auf dem Land steht, aufgeschlagen in der Hand hält [...]. Nimm und iß es!« (Ap 10,8-9). Erst nachdem er es tief in sich aufgenommen hat, wird er es in angemessener Weise den anderen mitteilen können, zu denen er mit der Weisung gesandt wird, »noch einmal zu weissagen über viele Völker und Nationen mit ihren Sprachen und Königen« (Ap 10,11).



Notwendigkeit und Dringlichkeit der Verkündigung


45 Das der Kirche anvertraute und von ihr aufgenommene Evangelium der Hoffnung verlangt, jeden Tag verkündet und bezeugt zu werden. Das ist die der Kirche eigene Berufung zu allen Zeiten und an allen Orten. Das ist auch die Sendung der Kirche im heutigen Europa. »Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität. Sie ist da, um zu evangelisieren, das heißt zu predigen und zu unterweisen, Mittlerin des Geschenkes der Gnade zu sein, die Sünder mit Gott zu versöhnen, das Opfer Christi in der heiligen Messe immer gegenwärtig zu setzen, die die Gedächtnisfeier seines Todes und seiner glorreichen Auferstehung ist« .77

Kirche in Europa, die »Neuevangelisierung« ist die Aufgabe, die auf dich wartet! Sieh zu, die Begeisterung für die Verkündigung wiederzuentdecken! Fühle dich jetzt zu Beginn des dritten Jahrtausends durch die flehentliche Bitte angesprochen, die bereits in den Anfängen des ersten Jahrtausends erklungen ist, als dem Paulus in einer Vision ein Mazedonier erschien und ihn bat: »Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!« (
Ac 16,9). Wenn auch unausgesprochen oder sogar unterdrückt, so ist dieser Hilferuf doch der tiefste und wahrhaftigste, der aus dem Herzen der heutigen Europäer kommt, die nach einer Hoffnung dürsten, die nicht enttäuscht. Dir ist diese Hoffnung geschenkt worden, damit du sie zu jeder Zeit und an jedem Ort voll Freude weitergibst.Die Verkündigung Jesu, die das Evangelium der Hoffnung ist, möge also dein Ruhm und deine Daseinsberechtigung sein. Fahre fort mit neuem Eifer in demselben missionarischen Geist, der – angefangen mit der Verkündigung der Apostel Petrus und Paulus – in diesen zweitausend Jahren seither so viele heilige Männer und Frauen, authentische Verkünder des Evangeliums auf dem europäischen Kontinent, beseelt hat!



Erstverkündigung und erneute Verkündigung


46 In verschiedenen Teilen Europas bedarf es einer Erstverkündigung des Evangeliums; die Zahl der Nichtgetauften nimmt zu, sei es aufgrund der beträchtlichen Anwesenheit von Einwanderern, die anderen Religionen angehören, sei es deshalb, weil auch Kinder aus traditionell christlichen Familien entweder wegen der kommunistischen Herrschaft oder wegen einer weitverbreiteten religiösen Gleichgültigkeit die Taufe nicht empfangen haben.78 Tatsächlich ist Europa inzwischen zu jenen traditionell christlichen Gebieten zu rechnen, in denen außer einer Neuevangelisierung in bestimmten Fällen eine Erstevangelisierung nötig erscheint.

Die Kirche kann sich der Pflicht einer mutigen Diagnose nicht entziehen, welche die Einleitung geeigneter Therapien gestattet. Auch im »alten » Kontinent gibt es breite soziale und kulturelle Schichten, in denen eine regelrechte Mission ad gentes notwendig wird.79


47 Überall aber ist – auch für die bereits Getauften – eine erneute Verkündigung nötig. Viele europäische Zeitgenossen meinen zu wissen, was das Christentum ist, kennen es jedoch nicht wirklich. Häufig sind sogar die wesentlichen Elemente und Grundbegriffe des Glaubens nicht mehr bekannt. Viele Getaufte leben so, als ob Christus nicht existierte: Man wiederholt, insbesondere durch die kirchlichen Bräuche, die Gesten und Zeichen des Glaubens, aber es entspricht ihnen keine tatsächliche Annahme des Glaubensinhalts und kein Festhalten an der Person Jesu. An die Stelle der großen Gewißheiten des Glaubens ist bei vielen ein vages und wenig verbindliches religiöses Gefühl getreten. Es verbreiten sich verschiedene Formen von Agnostizismus und praktischem Atheismus, die zur Verschärfung der Kluft zwischen Glaube und Leben beitragen. Viele haben sich vom Geist eines innerweltlichen Humanismus anstecken lassen, der ihren Glauben geschwächt und sie leider oft dazu geführt hat, ihn ganz aufzugeben. Wir erleben eine Art säkularistischer Auslegung des christlichen Glaubens, die ihn aushöhlt und mit der eine tiefe Krise des Gewissens und der christlichen Moralpraxis einhergeht.80 Die großen Werte, die die europäische Kultur weitreichend inspiriert haben, sind vom Evangelium abgetrennt worden und haben so ihr tiefstes Wesen verloren und Raum gelassen für nicht wenige Verirrungen.

»Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde noch Glauben vorfinden?« (
Lc 18,8). Wird er ihn auf dieser Erde unseres Europas alter christlicher Tradition noch finden? Das ist eine offene Frage, die mit aller Klarheit auf die Tiefgründigkeit und Dramatik einer der ernstesten Herausforderungen hinweist, mit denen sich unsere Kirchen auseinandersetzen müssen. Man kann sagen – wie es bei der Synode unterstrichen wurde –, daß diese Herausforderung oft nicht so sehr darin besteht, die Neubekehrten zu taufen, sondern die Getauften dahin zu bringen, sich zu Christus und seinem

Evangelium zu bekehren: 81 In unseren Gemeinden muß man sich ernsthaft darum bemühen, das Evangelium der Hoffnung allen zu bringen, die dem Glauben fernstehen oder sich von der christlichen Praxis entfernt haben.



Treue zu der einzigen Botschaft


48 Um das Evangelium der Hoffnung verkündigen zu können, ist eine feste Treue zum Evangelium selbst notwendig. Die Verkündigung der Kirche in allen ihren Formen muß daher immer mehr die Person Jesu in den Mittelpunkt stellen und sie muß immer mehr auf ihn hinlenken. Es gilt darüber zu wachen, daß er in seiner Ganzheit vorgestellt wird: nicht nur als sittliches Vorbild, sondern vor allem als der Sohn Gottes, der einzige und notwendige Retter aller, der in seiner Kirche lebt und wirkt. Damit die Hoffnung wahr und unzerstörbar sei, sollte in der Pastoraltätigkeit in den kommenden Jahren »die unverkürzte, klare und erneuerte Verkündigung des auferstandenen Jesus Christus, der Auferstehung und des ewigen Lebens« 82 an erster Stelle stehen.

Auch wenn das zu verkündende Evangelium zu allen Zeiten dasselbe ist, so gibt es doch verschiedene Formen der Verkündigung. Jeder ist demnach eingeladen, Jesus und den Glauben an ihn bei allen Gelegenheiten zu ,,verkünden'', anderen den Glauben ,,anziehend'' erscheinen zu lassen durch die Art persönlichen, familiären, beruflichen und gemeinschaftlichen Lebens, die das Evangelium widerspiegelt; um sich herum Freude, Liebe und Hoffnung ,,auszustrahlen'', damit viele, wenn sie unsere guten Werke sehen, den Vater im Himmel preisen (vgl. Mt
Mt 5,16), so daß sie ,,angesteckt'' und gewonnen werden; ,,Sauerteig'' zu werden, der von innen her jede kulturelle Ausdrucksform umwandelt und belebt.83



Durch das Zeugnis des Lebens


49 Europa bedarf glaubwürdiger Glaubensboten, in deren Leben in Gemeinschaft mit dem Kreuz und der Auferstehung Christi die Schönheit des Evangeliums erstrahlt.84 Solche Glaubensboten müssen entsprechend ausgebildet werden.85 Notwendiger denn je ist heute einmissionarisches Bewußtsein in jedem Christen, angefangen bei den Bischöfen, Priestern, Diakonen, gottgeweihten Personen, Katecheten und Religionslehrern: »Jeder Getaufte muß sich als Zeuge Christi die seinem Stand entsprechende Bildung aneignen, nicht nur um zu vermeiden, daß der Glaube in einem feindlichen weltlichen Umfeld aus Mangel an Pflege verdorrt, sondern auch um das Zeugnis der Evangelisierung zu stützen und anzuregen« .86

Der heutige Mensch »hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind« .87 Entscheidend sind daher das Vorhandensein und die Zeichen von Heiligkeit: Sie ist die wesentliche Vorbedingung für eine authentische Evangelisierung, die wieder Hoffnung zu geben vermag. Es muß starke, persönliche und gemeinschaftliche Zeugnisse für ein neues Leben in Christus geben. Es genügt nämlich nicht, daß die Wahrheit und die Gnade durch die Verkündigung des Wortes und die Feier der Sakramente angeboten werden; sie müssen angenommen und in jeder konkreten Situation, in der Verhaltensweise der Christen und der kirchlichen Gemeinschaften gelebt werden. Das ist eines der größten Unterfangen, welche die Kirche in Europa am Anfang des neuen Jahrtausends erwarten.



Heranbilden zu einem reifen Glauben


50 »Die heutige kulturelle und religiöse Situation Europas erfordert die Präsenz im Glauben gereifter Katholiken und missionarischer christlicher Gemeinschaften, die allen Menschen Zeugnis geben von der Liebe Gottes« .88 Die Verkündigung des Evangeliums der Hoffnung macht es daher notwendig, den Übergang von einem durch gesellschaftliche Gewohnheit gestützten, freilich auch schätzenswerten Glauben zu einem persönlicheren und reiferen, reflektierten und überzeugten Glauben zu fördern.

Die Christen sind also aufgerufen, einen Glauben zu kultivieren, der ihnen erlaubt, sich kritisch mit der gegenwärtigen Kultur auseinanderzusetzen und ihren Verführungen zu widerstehen; die Bereiche von Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik wirksam zu beeinflussen; deutlich zu machen, daß die Gemeinschaft der Mitglieder der katholischen Kirche untereinander und mit den anderen Christen stärker ist als jedes ethnische Band; den Glauben voll Freude an die jungen Generationen weiterzugeben; eine christliche Kultur aufzubauen, die in der Lage ist, die vielschichtige Kultur, in der wir leben, zu evangelisieren.89


51 Die christlichen Gemeinden müssen sich nicht nur darum bemühen, daß der Dienst am Wort Gottes, die Feier der Liturgie und die Übung der Nächstenliebe auf den Aufbau und die Stützung eines reifen, persönlichen Glaubens ausgerichtet sind, sondern sich auch für das Angebot einer Katechese einsetzen, die den unterschiedlichen geistlichen Wegen der Gläubigen in den verschiedenen Altersstufen und Lebenssituationen angepaßt ist. Dabei sollen sie auch geeignete Formen geistlicher Begleitung und der Wiederentdeckung der eigenen Taufe in Betracht ziehen.90Grundlegender Anhaltspunkt für dieses Unterfangen sollte natürlich der Katechismus der katholischen Kirche sein.

Wenn man dem Dienst der Katechese in der Pastoraltätigkeit eine unleugbare Priorität zuerkennt, ist es besonders notwendig, diesen Dienst als Erziehung und Entwicklung des Glaubens jedes Menschen zu pflegen und – gegebenenfalls – wieder einzuführen, auf daß der vom Heiligen Geist gelegte und durch die Taufe übertragene Same wachse und zur Reife gelange. In ständigem Bezug zum Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift bewahrt, in der Liturgie verkündet und von der Überlieferung der Kirche ausgelegt wird, stellt eine organische und systematische Katechese ganz zweifellos ein wesentliches und vorrangiges Instrument dar, um die Christen zu einem reifen Glauben heranzubilden.91


52 Unterstrichen werden muß in diesem Zusammenhang auch die bedeutende Aufgabe der Theologie. Zwischen der Evangelisierung und der theologischen Reflexion besteht nämlich eine innere und untrennbare Verbindung, da letztere als Wissenschaft mit einem eigenen Statut und einer eigenen Methodologie vom Glauben der Kirche lebt und im Dienst an ihrer Sendung steht.92Sie geht aus dem Glauben hervor und ist dazu berufen, ihn zu interpretieren, wobei sie zugleich ihre unverzichtbare Bindung an die christliche Gemeinschaft in allen ihren Ausprägungen zu wahren hat. Im Dienst am geistlichen Wachstum aller Gläubigen 93 führt sie diese in ein vertieftes Verständnis der Botschaft Christi ein.

Bei der Durchführung des Verkündigungsauftrages des Evangeliums der Hoffnung weiß die Kirche in Europa die Berufung der Theologen dankbar zu schätzen, bringt ihre Arbeit zur Geltung und fördert sie.94 An die Theologen richte ich voll Achtung und Liebe den Aufruf, in dem Dienst, den sie leisten, fortzufahren und dabei immer die wissenschaftliche Forschung mit dem Gebet zu verbinden, sich auf einen aufmerksamen Dialog mit der zeitgenössischen Kultur einzulassen, treu zum Lehramt zu stehen und mit ihm im Geist der Gemeinschaft in der Wahrheit und in der Liebe zusammenzuarbeiten, sich am sensus fidei des Gottesvolkes zu inspirieren und ihn durch ihren Beitrag zu nähren.


II. Zeugnis geben in der Einheit

und im Dialog


Die Gemeinschaft zwischen den Teilkirchen


53 Die Kraft der Verkündigung des Evangeliums der Hoffnung wird am wirksamsten sein, wenn sie mit dem Zeugnis einer tiefen Einheit und Gemeinschaft in der Kirche verbunden ist. Die einzelnen Teilkirchen können sich nicht jede für sich allein mit den Herausforderungen, die sie erwarten, auseinandersetzen. Es bedarf einer echten Zusammenarbeit zwischen allen Teilkirchen des Kontinents, die Ausdruck ihrer wesentlichen Gemeinschaft sein soll – einer Zusammenarbeit, die auch von der neuen europäischen Wirklichkeit gefordert wird.95 In diesen Rahmen gehört der Beitrag der kirchlichen Organe auf dem Kontinent, angefangen beim Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, der ein wirksames Werkzeug bei der gemeinsamen Suche nach geeigneten Wegen zur Evangelisierung Europas ist.96 Durch den »Austausch der Gaben« zwischen den verschiedenen Teilkirchen werden die Erfahrungen und Überlegungen West- und Osteuropas, Nord- und Südeuropas allgemein verfügbar gemacht und in gemeinsamen pastoralen Richtlinien genutzt. Somit stellt dieser Austausch immer mehr einen bedeutenden Ausdruck des Kollegialitätsgefühls zwischen den Bischöfen des Kontinents dar, um miteinander mutig und treu den Namen Jesu Christi als einzige Quelle der Hoffnung für alle Menschen in Europa zu verkünden.



Zusammen mit allen Christen


54 Zugleich erscheint die Verpflichtung zu einer brüderlichen und überzeugten ökumenischen Zusammenarbeit als ein unverzichtbares Gebot. Das Schicksal der Evangelisierung ist eng mit dem Zeugnis der Einheit verbunden, das alle Jünger Christi geben sollen: »Alle Christen sind aufgerufen, sich entsprechend ihrer Berufung dieser Aufgabe zu stellen. Der Auftrag der Evangelisierung schließt das Zueinandergehen und das Miteinandergehen der Christen von innen her mit ein; Evangelisierung und Einheit, Evangelisierung und Ökumene sind unlösbar aufeinander bezogen« .97 Ich mache mir deshalb neuerlich die Worte zu eigen, die Paul VI. an den Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. geschrieben hat: »Möge uns der Heilige Geist auf dem Weg der Versöhnung leiten, damit die Einheit unserer Kirchen zu einem immer leuchtenderen Zeichen der Hoffnung und des Trostes für die ganze Menschheit werde« .98



Im Dialog mit den anderen Religionen


55 Wie für die gesamte Aufgabe der »Neuevangelisierung« , so ist es auch im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums der Hoffnung notwendig, einen vertieften und intelligenteninterreligiösen Dialog, insbesondere mit dem Judentum und mit dem Islam, zu eröffnen. »Wenn er als Methode und Mittel zur wechselseitigen Kenntnis und Bereicherung verstanden wird, steht er nicht in Gegensatz zur Mission ad gentes, sondern hat vielmehr eine besondere Bindung zu ihr und ist sogar Ausdruck davon« .99 Beim Sich- Einüben in diesen Dialog geht es nicht darum, sich von einer »Denkweise der Gleichgültigkeit« einfangen zu lassen, »die leider auch unter Christen weit verbreitet ist und die ihre Wurzeln oft in theologisch nicht richtigen Vorstellungen hat und von einem religiösen Relativismus geprägt ist, der zur Annahme führt, daß ,,eine Religion gleich viel gilt wie die andere'' ».100


56 Es geht vielmehr darum, sich der Beziehung, die die Kirche mit dem jüdischen Volk verbindet, und der einzigartigen Rolle Israels in der Heilsgeschichte klarer bewußt zu werden. Wie bereits bei der Ersten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa deutlich geworden war und auch bei der letzten Synode bekräftigt wurde, gilt es, die gemeinsamen Wurzeln anzuerkennen, die zwischen dem Christentum und dem jüdischen Volk bestehen, das von Gott zu einem Bund berufen wurde, der nicht widerrufen werden kann (vgl. Röm Rm 11,29),101 nachdem er in Christus die endgültige Erfüllung erlangt hat.

Der Dialog mit dem Judentum muß deshalb im Wissen um seine fundamentale Bedeutung für das christliche Selbstbewußtsein und für die Überwindung der Spaltungen zwischen den Kirchen gefördert und so vorangetrieben werden, daß ein neuer Frühling in den wechselseitigen Beziehungen erblüht. Das schließt ein, daß sich jede kirchliche Gemeinschaft, soweit es die Umstände erlauben, in den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Gläubigen der jüdischen Religion einüben muß. Dieses Sich-Einüben in den Dialog führt unter anderem dazu, daß »man sich daran erinnert, welchen Anteil die Söhne der Kirche an der Entstehung und Verbreitung einer antisemitischen Haltung in der Geschichte haben mochten, und dafür Gott um Vergebung bittet und auf jede Weise Begegnungen der Versöhnung und Freundschaft mit den Söhnen und Töchtern Israels fördert« .102 Allerdings erscheint es in diesem Zusammenhang geboten, auch der nicht wenigen Christen zu gedenken, die vor allem in Zeiten der Verfolgung diesen ihren »älteren Brüdern » – oft unter Einsatz ihres eigenen Lebens – geholfen und sie gerettet haben.


57 Ebenso geht es darum, sich zu einer besseren Kenntnis der anderen Religionen anregen zu lassen, um ein brüderliches Gespräch mit den Menschen aufnehmen zu können, die diesen Religionen angehören und im heutigen Europa leben. Besonders wichtig ist eine korrekte Beziehung zum Islam. Dieser Dialog muß, wie es in den letzten Jahren im Bewußtsein der europäischen Bischöfe wiederholt zutage trat, »auf kluge Weise geführt werden, mit klaren Vorstellungen im Blick auf seine Möglichkeiten und Grenzen sowie mit Vertrauen in den Heilsratschluß Gottes für alle seine Kinder« .103 Unter anderem muß man sich des beträchtlichen Unterschiedes zwischen der europäischen Kultur, mit ihren tiefen christlichen Wurzeln, und dem muslimischen Denken bewußt sein.104

In diesem Zusammenhang ist es notwendig, die Christen, die in täglichem Kontakt mit den Muslimen leben, entsprechend darauf vorzubereiten, den Islam auf objektive Weise kennenzulernen und sich mit ihm auseinandersetzen zu können. Eine solche Vorbereitung soll im besonderen die Seminaristen, die Priester und alle pastoralen Mitarbeiter betreffen. Im übrigen ist es verständlich, daß die Kirche, während sie von den europäischen Institutionen die Förderung der Religionsfreiheit in Europa verlangt, auch darauf dringen kann, daß die Gegenseitigkeit bei der Zusicherung der Religionsfreiheit ebenso in Ländern anderer religiöser Tradition, wo die Christen in der Minderheit sind, eingehalten werde.105

In diesem Zusammenhang »versteht man das Befremden und das Gefühl der Frustration bei Christen, die zum Beispiel in Europa Gläubige anderer Religionen aufnehmen und ihnen die Möglichkeit zur Ausübung ihres Kultes geben und denen ihrerseits jede Ausübung ihrer christlichen Religion in den Ländern untersagt wird, in denen diese Gläubigen die Mehrheit besitzen und ihren Glauben zur Staatsreligion erklärt haben« .106 Die menschliche Person hat das Recht auf religiöse Freiheit, und alle Menschen, in jedem Teil der Welt, »müssen frei sein von jedem Zwang sowohl von seiten Einzelner, wie gesellschaftlicher Gruppen, wie jeglicher menschlichen Gewalt« .107


III. Das gesellschaftliche Leben

evangelisieren


Evangelisierung der Kultur und Inkulturation
des Evangeliums


58 Die Verkündigung Jesu Christi muß auch die gegenwärtige europäische Kultur erreichen. Die Evangelisierung der Kultur muß zeigen, daß es auch heute in diesem Europa möglich ist, das Evangelium in seiner Fülle als Wegweisung zu leben, die dem Dasein Sinn verleiht. Zu diesem Zweck muß die Pastoral die Aufgabe übernehmen, eine christliche Geisteshaltung im alltäglichen Leben zu formen: in der Familie, in der Schule, in der sozialen Kommunikation, in der Welt der Kultur, der Arbeit und der Wirtschaft, in der Politik, in der Freizeit, in Gesundheit und in Krankheit. Es ist eine ruhige kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen kulturellen Situation Europas nötig, welche die auftretenden Tendenzen und die bedeutendsten Ereignisse und Situationen unserer Zeit im Lichte der zentralen Stellung Christi und der christlichen Anthropologie bewertet.

Wenn man an die kulturelle Fruchtbarkeit des Christentums in der Geschichte Europas denkt, muß man auch heute auf den – theoretischen und praktischen – Zugang des Evangeliums zur Wirklichkeit und zum Menschen hinweisen. Bedenkt man darüber hinaus die große Bedeutung der Wissenschaften und der technologischen Umsetzungen in der Kultur und der Gesellschaft Europas, so ist die Kirche aufgerufen, sich mittels ihrer Strukturen zu theoretischer Vertiefung und zu praktischer Initiative auf konstruktive Weise mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihren Anwendungen auseinanderzusetzen. Dabei muß sie auf die Unzulänglichkeit und Unangemessenheit einer vom Szientismus inspirierten Auffassung hinweisen, die einzig und allein dem experimentellen Wissen objektive Gültigkeit zuerkennen will, und zudem die sittlichen Kriterien anbieten, die der Mensch als in seine Natur eingeschrieben besitzt.108


59 In den Evangelisierungsprozeß der Kultur fügt sich der wichtige Dienst ein, der von denkatholischen Schulen geleistet wird. Man wird auf die Anerkennung einer tatsächlichen Erziehungsfreiheit und der Gleichberechtigung zwischen den staatlichen und den nichtstaatlichen Schulen hinwirken müssen. Letztere sind manchmal das einzige Mittel, um die christliche Tradition denen, die ihr fernstehen, anbieten zu können. Ich ermahne die im Bereich der Schulebeschäftigten Gläubigen, beharrlich ihrem Auftrag gerecht zu werden und das Licht Christi, des Retters, in ihre spezifischen erzieherischen, wissenschaftlichen und akademischen Aktivitäten zu tragen.109 Besonders herausgestellt werden muß der Beitrag der Christen, die führend in der Forschung sind und an den Universitäten lehren: Durch ihren »Dienst des Denkens« geben sie die Werte eines durch zweitausend Jahre humanistischer und christlicher Erfahrung bereicherten kulturellen Erbes an die jungen Generationen weiter. Da ich von der Wichtigkeit der akademischen Einrichtungen überzeugt bin, bitte ich auch darum, in den verschiedenen Teilkirchen eine angemessene Hochschulpastoral zu fördern und auf diese Weise das voranzubringen, was den aktuellen kulturellen Bedürfnissen entspricht.110


60 Es darf auch der positive Beitrag nicht vergessen werden, der durch die Erschließung derKulturgüter der Kirche geleistet wird. Sie können nämlich einen besonderen Faktor in dem Bemühen darstellen, einen Humanismus christlicher Inspiration neu zu wecken. Dank ihrer angemessenen Erhaltung und klugen Nutzung können sie als lebendiges Zeugnis des jahrhundertelang verkündeten Glaubens ein gültiges Instrument für die Neuevangelisierung und die Katechese bilden und dazu einladen, den Sinn für das Mysterium wiederzuentdecken.

Gleichzeitig müssen durch einen andauernden Dialog mit der Welt der Kunst neue Ausdrucksformen des Glaubens gefördert werden.111 Die Kirche braucht nämlich die Kunst, die Literatur, die Musik, die Malerei, die Bildhauerei und die Architektur, weil »sie die Welt des Geistes, des Unsichtbaren, die Welt Gottes wahrnehmbar, ja, so weit als möglich, faszinierend machen soll« 112 und weil die künstlerische Schönheit, gleichsam als Widerschein des Geistes Gottes, Schlüssel zum Mysterium ist, Einladung, das in Jesus von Nazaret sichtbar gewordene Angesicht Gottes zu ergründen.



Die Erziehung der jungen Menschen zum Glauben


61 Sodann ermutige ich die Kirche in Europa, der Erziehung der jungen Menschen zum Glauben vermehrte Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn wir den Blick in die Zukunft richten, können wir gar nicht anders, als ihnen unsere Gedanken zuzuwenden: Wir müssen ihrem Geist, ihrem Herzen und ihrem Charakter entgegenkommen, um den jungen Menschen eine solide menschliche und christliche Bildung bieten zu können.

Bei allen Anlässen, wo es eine hohe Beteiligung junger Menschen gibt, ist unschwer das Auftreten ganz unterschiedlicher Haltungen bei ihnen zu bemerken. Da stellt man den Wunsch fest, zusammenzuleben, um der Isolierung zu entgehen, den mehr oder weniger stark empfundenen Durst nach Absolutem; da erkennt man bei ihnen einen heimlichen Glauben, der danach verlangt, sich zu läutern und dem Herrn nachzufolgen; da nimmt man die Entscheidung wahr, den bereits eingeschlagenen Weg fortzusetzen, und das Bedürfnis, den Glauben mit anderen zu teilen.


62 Zu diesem Zweck ist es notwendig, die Jugendpastoral – nach Altersstufen gegliedert und den ganz unterschiedlichen Lebensumständen und Erfordernissen von Kindern, Heranwachsenden und Jugendlichen angepaßt – zu erneuern. Außerdem muß man ihr größere Einheitlichkeit und mehr Kohärenz verleihen, in geduldigem Hinhören auf die Fragen der Jugendlichen, um aus ihnen Protagonisten der Evangelisierung und des Aufbaus der Gesellschaft zu machen.

Auf diesem Weg gilt es, Gelegenheiten für Begegnungen zwischen den jungen Leuten zu fördern, um auf diese Weise ein Klima des gegenseitigen Zuhörens und des Gebets zu begünstigen. Man braucht sich nicht zu scheuen, im Hinblick auf ihr geistliches Wachstum ihnen gegenüber anspruchsvoll zu sein. Ihnen muß der Weg der Heiligkeit aufgezeigt werden, indem man sie dazu anspornt, – gestärkt durch ein beständiges Leben aus den Sakramenten – verpflichtende Entscheidungen in der Nachfolge Jesu zu treffen. Auf diese Weise werden sie den Verführungen einer Kultur widerstehen können, die oft nur vergängliche oder im Gegensatz zum Evangelium stehende Werte bietet, und selber fähig werden, in allen Lebensbereichen, auch bei Vergnügen und Unterhaltung, eine christliche Mentalität erkennen zu lassen.113

Ich habe noch lebhaft die fröhlichen Gesichter unzähliger Jugendlicher vor Augen – eine echte Hoffnung der Kirche und der Welt, ein beredtes Zeichen des Heiligen Geistes, der nicht müde wird, neue Kräfte zu wecken. Ihnen bin ich sowohl auf meinen Pilgerreisen in vielen Ländern als auch bei den unvergeßlichen Weltjugendtagen begegnet.114



Aufmerksamkeit für die Massenmedien


63 Angesichts der Bedeutung der sozialen Kommunikationsmittel muß die Kirche in Europa der vielgestaltigen Welt der Massenmedien besondere Aufmerksamkeit widmen. Dazu gehört unter anderem die angemessene Ausbildung der in den Medien tätigen Christen und der Nutzer dieser Instrumente im Hinblick auf eine gute Beherrschung der neuen Ausdrucksformen. Besondere Sorgfalt lasse man bei der Wahl ausgebildeter Personen für die Verkündigung der Botschaft durch die Medien walten. Sehr nützlich wird auch der Austausch von Informationen und Strategien zwischen den Kirchen über die verschiedenen Aspekte und Initiativen der Kommunikation sein. Ebenso wenig darf die Schaffung lokaler Kommunikationsmittel, auch auf der Ebene der Pfarrei, vernachlässigt werden.

Gleichzeitig geht es darum, sich in die Prozesse der sozialen Kommunikation einzuschalten, um sie zu größerer Respektierung der Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung und der Würde der menschlichen Person anzuhalten. In diesem Zusammenhang lade ich die Katholiken ein, sich an der Erarbeitung eines Pflichtkodex zu beteiligen, der für alle im Medienbereich tätigen Personen gelten soll; dabei sollen sie sich von den Kriterien leiten lassen, welche die zuständigen Organe des Heiligen Stuhls kürzlich angegeben 115 und die Bischöfe bei der Synode, wie folgt, aufgeführt haben: »Achtung vor der Würde der menschlichen Person und vor ihren Rechten, einschließlich des Rechts auf Schutz der Privatsphäre; Dienst an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit und an den menschlichen, kulturellen und geistigen Werten; Achtung der verschiedenen Kulturen, wobei verhindert werden muß, daß sie sich in der Masse verlieren; Schutz der Minderheitengruppen und der Schwächsten; Suche nach dem Gemeinwohl über die Sonderinter- essen bzw. das Überwiegen rein wirtschaftlicher Kriterien hinaus« .116



Die Mission ad gentes


64 Eine Verkündigung Jesu Christi und seines Evangeliums, die sich allein auf den europäischen Raum beschränkte, würde Symptome eines besorgniserregenden Mangels an Hoffnung erkennen lassen. Das Werk der Evangelisierung ist dann von wahrer christlicher Hoffnung beseelt, wenn es sich den universalen Horizonten öffnet, die dazu anregen, allen unentgeltlich zu geben, was man selbst als Geschenk empfangen hat. Auf diese Weise wird die Mission ad gentes zum Ausdruck einer vom Evangelium der Hoffnung geprägten Kirche, die sich ständig erneuert und verjüngt. Das war jahrhundertelang das Bewußtsein der Kirche in Europa: Unzählige Scharen von Missionaren und Missionarinnen gingen auf andere Völker und andere Kulturen zu und verkündeten den Völkern der ganzen Welt das Evangelium Jesu Christi.

Derselbe missionarische Eifer muß die Kirche im heutigen Europa beseelen. Der Rückgang an Priestern und Ordensleuten in bestimmten Ländern darf keine Teilkirche daran hindern, sich der Erfordernisse der Weltkirche anzunehmen. Eine jede soll die Vorbereitung auf die Mission ad gentes so zu fördern wissen, daß sie den noch immer vorgelegten Bitten vieler Völker und Nationen, die begierig darauf sind, das Evangelium kennenzulernen, großzügig entsprechen kann. Die Kirchen anderer Kontinente, besonders die Asiens und Afrikas, blicken nach wie vor auf die Kirchen in Europa und erwarten, daß sie ihre missionarische Berufung weiterhin erfüllen. Die Christen in Europa dürfen nicht mit ihrer Geschichte brechen.117



Das Evangelium: Buch für Europa heute und immer


65 Beim Durchschreiten der Heiligen Pforte zu Beginn des Großen Jubiläums des Jahres 2000 habe ich vor der Kirche und der Welt das Buch des Evangeliums in die Höhe gehoben. Diese Geste, die von jedem Bischof in den verschiedenen Kathedralen der Welt vorgenommen wurde, soll auf die Verpflichtung hinweisen, welche die Kirche auf unserem Kontinent heute und immer erwartet.

Kirche in Europa, tritt mit dem Buch des Evangeliums in das neue Jahrtausend ein! Möge von jedem Gläubigen die Mahnung des Konzils angenommen werden, »sich durch häufige Lesung der Heiligen Schrift die ,,alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi'' (
Ph 3,8) anzueignen. ,,Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen''« .118 Möge die Bibel weiterhin ein Schatz für die Kirche und für jeden Christen sein: Im sorgfältigen Studium des Wortes Gottes werden wir Nahrung und Kraft finden, um jeden Tag unsere Sendung zu erfüllen.

Nehmen wir dieses Buch in unsere Hände! Nehmen wir es an vom Herrn, der es uns durch seine Kirche beständig hinhält (vgl. Offb Ap 10,8). Essen wir es (vgl. Offb Ap 10,9), damit es zum Leben unseres Lebens werde. Kosten wir es aus bis zum Letzten: Es wird uns Mühen bereiten, doch es wird uns Freude schenken, weil es süß wie Honig ist (vgl. Offb Ap 10,9-10). Wir werden von Hoffnung überquellen und fähig sein, sie jedem mitzuteilen, dem wir auf unserem Weg begegnen.




Ecclesia in Europa DE 22