Evangelium vitae DE 24


24 Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und für den Menschen mit allen ihren mannigfachen, verhängnisvollen Auswirkungen auf das Leben vollzieht sich im Innern des sittlichen Gewissens.Dabei geht es zunächst um das Gewissen jedes einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allein mit Gott ist. 18 Doch es geht in gewissem Sinne auch um das »sittliche Gewissen« der Gesellschaft: sie ist irgendwie verantwortlich, nicht nur weil sie gegen das Leben gerichtete Haltungen duldet oder unterstützt, sondern auch weil sie durch die Schaffung und Festigung regelrechter »Sündenstrukturen« gegen das Leben die »Kultur des Todes« fördert. Das sittliche Gewissen sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft ist heute auch wegen des aufdringlichen Einflusses vieler sozialer Kommunikationsmittel einer sehr ernsten und tödlichen Gefahr ausgesetzt: der Gefahr der Verwirrung zwischen Gut und Böse in bezug auf das fundamentale Recht auf Leben. Ein Großteil der heutigen Gesellschaft zeigt sich ähnlich jener Menschheit, die Paulus im Römerbrief beschreibt. Sie besteht aus »Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (Rm 1,18): nachdem sie von Gott abgefallen sind und glaubten, das irdische Gemeinwesen ohne Ihn aufbauen zu können, »verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert« (Rm 1,21); »sie behaupteten weise zu sein, und wurden zu Toren« (Rm 1,22); sie wurden zu Urhebern todesträchtiger Werke und »tun sie nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln« (Rm 1,32). Wenn das Gewissen, dieses leuchtende Auge der Seele (vgl. Mt 6,22-23), »das Gute böse und das Böse gut« nennt (Is 5,20), dann ist es auf dem Weg besorgniserregender Entartung und finsterster moralischer Blindheit.

Doch sämtlichen Konditionierungen und Anstrengungen, das Schweigen durchzusetzen, gelingt es nicht, die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen läßt: von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe, der Annahme und des Dienstes für das menschliche Leben seinen Ausgang nehmen.

18) Vgl. ebd., Nr. GS 16.



»Ihr seid hingetreten zum Blut der Besprengung«

25 (vgl. He 12,22 He 12,24):

Zeichen der Hoffnung und Einladung zum Engagement


»Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden!« (Gn 4,10). Nicht nur das Blut Abels, des ersten unschuldig getöteten Menschen, schreit zu Gott, Quelle und Verteidiger des Lebens. Auch das Blut jedes anderen ermordeten Menschen nach Abel schreit zum Herrn. In absolut einmaliger Weise schreit zu Gott das Blut Christi, dessen prophetische Gestalt Abel in seiner Unschuld ist, wie der Verfasser des Hebräerbriefes ausführt: »Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes..., zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels« (He 12,22 He 12,24).

Es ist das Blut der Besprengung. Symbol und Vorauszeichen dafür war das Blut der Opfer des Alten Bundes gewesen, durch die Gott seinen Willen kundtat, den Menschen sein Leben durch ihre Reinigung und Heiligung mitzuteilen (vgl. Ex Ex 24,8 Lv 17,11). Das alles erfüllt und bewahrheitet sich nun in Christus: sein Blut ist das Blut der Besprengung, das erlöst, reinigt und rettet; das Blut des Mittlers des Neuen Bundes, »das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden« (Mt 26,28). Dieses Blut, das am Kreuz aus der durchbohrten Seite Christi fließt (vgl. Jn 19,34), »ruft mächtiger« als das Blut Abels; es bringt in der Tat eine tiefere »Gerechtigkeit« zum Ausdruck und verlangt sie, doch vor allem erfleht es Barmherzigkeit, 19 es tritt beim Vater für die Brüder ein (vgl. He 7,25), es ist Quelle vollkommener Erlösung und Geschenk neuen Lebens.

Während das Blut Christi die Größe der Liebe des Vaters enthüllt, macht es offenbar, wie kostbar der Mensch in den Augen Gottes ist und welch unschätzbaren Wert sein Leben besitzt. Daran erinnert uns der Apostel Petrus: »Ihr wißt, daß ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel« (1P 1,18-19). Beim Betrachten des kostbaren Blutes Christi, Zeichen seiner Hingabe aus Liebe (vgl. Joh Jn 13,1), lernt der Gläubige die gleichsam göttliche Würde jedes Menschen kennen und schätzen und kann mit immer neuem und dankbarem Staunen ausrufen: »Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn "er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben" (Exultet der Osternacht), wenn "Gott seinen Sohn hingegeben hat", damit er, der Mensch, "nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat" (vgl. Joh Jn 3,16)!«. 20

Zudem offenbart das Blut Christi dem Menschen, daß seine Größe und damit seine Berufung in der aufrichtigen Selbsthingabe besteht. Da es als Geschenk des Lebens vergossen wird, ist das Blut Christi nicht mehr Zeichen des Todes, der endgültigen Trennung von den Brüdern, sondern Werkzeug einer Verbundenheit, die für alle Fülle des Lebens bedeutet. Wer im Sakrament der Eucharistie dieses Blut trinkt und in Jesus bleibt (vgl. Joh Jn 6,56), wird mithineingenommen in seinen Dynamismus der Liebe und der Hingabe des Lebens, um die ursprüngliche Berufung zur Liebe zu erfüllen, die zu jedem Menschen gehört (vgl. Gn 1,27 Gn 2,18-24).

Noch immer ist es das Blut Christi, aus dem alle Menschen die Kraft schöpfen, um sich für das Leben einzusetzen. Dieses Blut ist der stärkste Grund der Hoffnung, ja das Fundament der absoluten Gewißheit, daß nach Gottes Plan das Leben siegen wird. »Der Tod wird nicht mehr sein«, ruft die laute Stimme, die vom Thron Gottes im himmlischen Jerusalem erschallt (Ap 21,4). Und der hl. Paulus versichert uns, daß der zeitliche Sieg über die Sünde Zeichen und Vorwegnahme des endgültigen Sieges über den Tod ist, wenn »sich das Wort der Schrift erfüllen wird: Ver- schlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?« (1Co 15,54-55).

19) Vgl. Hl. Gregor der Grosse, Moralia in Job, 13, 23: CCL 143 A, 683.
20) Johannes Paul II., Enzyklika Redemptor Hominis (4. März 1979), Nr. RH 10: AAS 71 (1979), 274.


26 In der Tat fehlt es nicht an Vorzeichen dieses Sieges in unseren Gesellschaften und Kulturen, obwohl sie so stark von der »Kultur des Todes« gezeichnet sind. Man würde daher ein einseitiges Bild entwerfen, das zu fruchtloser Entmutigung verleiten könnte, wenn man zu der Brandmarkung der Bedrohungen des Lebens nicht die Darstellung der positiven Zeichen hinzufügte, die in der gegenwärtigen Situation der Menschheit wirksam sind.

Leider fällt es diesen positiven Zeichen oft schwer, sich darzustellen und erkannt zu werden, vielleicht auch deshalb, weil sie in den Massenmedien keine entsprechende Aufmerksamkeit finden. Aber wie viele Initiativen zur Hilfe und Unterstützung für die schwächsten und schutzlosesten Menschen sind in der christlichen Gemeinschaft und in der bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene von einzelnen, von Gruppen, Bewegungen und verschiedenartigen Organisationen ergriffen worden und werden weiterhin in die Wege geleitet!

Noch immer gibt es zahlreiche Eheleute, die mit tiefer Verantwortung die Kinder als »die kostbarste Gabe der Ehe« 21 annehmen. Und es fehlt auch nicht an Familien, die über ihren täglichen Dienst am Leben hinaus die Offenheit besitzen, sich verlassener Kleinkinder, in Notlagen befindlicher Kinder und Jugendlicher, behinderter Personen und allein gebliebener alter Menschen anzunehmen. Nicht wenige Zentren für Lebenshilfe oder ähnliche Einrichtungen werden von Personen und Gruppen gefördert, die mit bewundernswerter Hingabe und Aufopferung Müttern in schwieriger Lage, die versucht sind, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, moralische und materielle Hilfe anbieten. Auch entstehen und verbreiten sich engagierte Freiwilligengruppen, die Menschen Gastfreundschaft gewähren, die keine Familie haben, die sich in einer besonders mißlichen Lage befinden oder eines erzieherischen Milieus bedürfen, das ihnen hilft, zerstörerische Gewohnheiten zu überwinden und den Sinn des Lebens zurückzugewinnen.

Die von den Forschern und Fachleuten des Berufs mit großem Einsatz geförderte Medizin setzt ihre Anstrengungen fort, immer wirksamere Mittel für die Heilung und Pflege in Krankheiten zu finden: für das entstehende Leben, für leidende Menschen und für die Kranken in akutem Zustand oder in der Endphase werden heute Ergebnisse erzielt, die einst ganz unvorstellbar waren und vielversprechende Perspektiven eröffnen. Verschiedene Einrichtungen und Organisationen setzen sich in Bewegung, um auch den am schwersten von Elend und von endemischen Krankheiten betroffenen Ländern die Vorzüge der neuesten Medizin zu bringen. So werden auch nationale und internationale Ärztevereinigungen tätig, um den von Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriegen heimgesuchten Bevölkerungen rechtzeitig Hilfe zu leisten. Warum sollte man nicht, auch wenn eine tatsächliche internationale Gerechtigkeit bei der Verteilung der medizinischen Ressourcen von ihrer vollen Verwirklichung noch weit entfernt ist, in den bisher durchgeführten Schritten das Zeichen einer wachsenden Solidarität unter den Völkern, einer wertvollen menschlichen und moralischen Sensibilität und einer größeren Achtung vor dem Leben erkennen?

21) II. Vatikanischs Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr.
GS 50.


27 Angesichts von Gesetzgebungen zur Freigabe der Abtreibung und da und dort erfolgreichen Versuchen, die Euthanasie zu legalisieren, sind in der ganzen Welt Bewegungen und Initiativen zur sozialen Sensibilisierung für das Leben entstanden. Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne Anwendung von Gewalt handeln, fördern sie damit eine breitere Bewußtmachung des Wertes des Lebens. Außerdem regen sie einen entschiedeneren Einsatz zu seiner Verteidigung an und setzen ihn in die Praxis um.

Muß man nicht auch an alle jene täglichen Gesten von Annahme, Opfer, selbstloser Sorgeerinnern, die eine unübersehbare Anzahl von Personen voll Liebe in den Familien, in den Krankenhäusern, in den Waisenhäusern, in den Altersheimen und in anderen Zentren oder Gemeinschaften zum Schutz des Lebens vollbringt? Die Kirche, die sich vom Beispiel Jesu vom »barmherzigen Samariter« (vgl. Lk
Lc 10,29-37) leiten läßt und von seiner Kraft gestärkt wird, ist an diesen Fronten der Nächstenliebe immer in vorderster Linie gestanden: viele ihrer Töchter und Söhne, besonders Ordensleute, weihten und weihen auch heute noch in alten und immer neuen Formen ihr Leben Gott, indem sie es aus Liebe zum schwächsten und bedürftigsten Nächsten hingeben.

Diese Gesten bauen von innen her jene »Zivilisation der Liebe und des Lebens« auf, ohne die die Existenz der Menschen und der Gesellschaft ihre im wahrsten Sinne menschliche Bedeutung verliert. Auch wenn sie von niemandem bemerkt und den meisten verborgen bleiben würden, versichert der Glaube, daß der Vater, »der auch das Verborgene sieht« (Mt 6,4), sie nicht nur dereinst belohnen wird, sondern sie schon jetzt mit bleibenden Früchten für alle ausstattet.

Zu den Hoffnungszeichen muß auch eine in breiten Schichten der öffentlichen Meinung zunehmende neue Sensibilität gezählt werden, die immer mehr gegen den Krieg als Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen den Völkern gerichtet ist und nach wirksamen, aber »gewaltlosen« Mitteln sucht, um den bewaffneten Angreifer zu blockieren. In dasselbe Blickfeld gehört auch die immer weiter verbreitete Abneigung der öffentlichen Meinung gegen die Todesstrafe selbst als Mittel sozialer »Notwehr«, in Anbetracht der Möglichkeiten, über die eine moderne Gesellschaft verfügt, um das Verbrechen wirksam mit Methoden zu unterdrücken, die zwar den, der es begangen hat, unschädlich machen, ihm aber nicht endgültig die Möglichkeit nehmen, wieder zu Ehren zu kommen.

Wohlwollend zu begrüben ist auch die erhöhte Aufmerksamkeit für die Qualität des Lebens unddie Umwelt, die vor allem in den hochentwickelten Gesellschaften festzustellen ist, in denen sich die Erwartungen der Menschen nicht mehr so sehr auf die Probleme des Überlebens, als vielmehr auf die Suche nach einer globalen Verbesserung der Lebensbedingungen konzentrieren. Besonders bedeutsam ist das Erwachen bzw. Wiederaufleben einer ethischen Reflexion über das Leben: durch das Aufkommen der Bioethik und ihre immer mehr intensivierte Entwicklung und Ausweitung werden — unter Gläubigen und Nichtgläubigen wie auch zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen — die Reflexion und der Dialog über grundlegende ethische Probleme gefördert, die das Leben des Menschen betreffen.



28 Dieser Horizont von Licht und Schatten muß uns allen voll bewußt machen, daß wir einer ungeheuren und dramatischen Auseinandersetzung zwischen Bösem und Gutem, Tod und Leben, der »Kultur des Todes« und der »Kultur des Lebens« gegenüberstehen. Wir stehen diesem Konflikt nicht nur »gegenüber«, sondern befinden uns notgedrungen »mitten drin«: wir sind alle durch die unausweichliche Verantwortlichkeit in die bedingungslose Entscheidung für das Lebeninvolviert und daran beteiligt.

Auch an uns ergeht klar und nachdrücklich die Einladung des Mose: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor...; Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen« (
Dt 30,15 Dt 30,19). Es ist eine Einladung, die wohl auch für uns gilt, die wir uns jeden Tag zwischen der »Kultur des Lebens« und der »Kultur des Todes« entscheiden müssen. Doch der Appell des Buches Deuteronomium ist noch tiefgründiger, weil er uns zu einer im eigentlichen Sinn religiösen und moralischen Entscheidung anhält. Es geht darum, dem eigenen Dasein eine grundsätzliche Orientierung zu geben und in Treue und Übereinstimmung mit dem Gesetz des Herrn zu leben: »... die Gebote des Herrn deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, ... indem du den Herrn deinen Gott liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest ... Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens« (30, 16. 19-20).

Die Fülle ihrer religiösen und moralischen Bedeutung erreicht die bedingungslose Entscheidung für das Leben dann, wenn sie aus dem Glauben an Christus erwächst, von ihm geformt und gefördert wird. Bei einer positiven Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Tod und Leben, in dem wir stecken, hilft uns nichts so sehr wie der Glaube an den Sohn Gottes, der Mensch geworden und zu den Menschen gekommen ist, »damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10): es ist der Glaube an den Auferstandenen, der den Tod besiegt hat; es ist der Glaube an das Blut Christi, »das mächtiger ruft als das Blut Abels« (He 12,24).

Durch das Licht und die Kraft dieses Glaubens wird sich die Kirche angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Situation stärker der ihr vom Herrn aufgetragenen Gnade und Verantwortung bewußt, das Evangelium vom Leben zu verkünden, zu feiern und ihm zu dienen.




II. KAPITEL - ICH BIN GEKOMMEN, DAMIT SIE DAS LEBEN HABEN - DIE CHRISTLICHE BOTSCHAFT ÜBER DAS LEBEN

29

»Das Leben wurde offenbart, wir haben es gesehen«

(1Jn 1,2):

der Blick ist auf Christus, »das Wort des Lebens« gerichtet


Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der modernen Welt könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht übermannt werden: das Gute wird nie die Kraft haben können, das Böse zu überwinden!

Das ist der Augenblick, in dem das Volk Gottes und in ihm jeder Gläubige aufgerufen ist, demütig und mutig seinen Glauben an Jesus Christus, »das Wort des Lebens« (1Jn 1,1), zu bekennen. Das Evangelium vom Leben ist nicht bloß eine, wenn auch originelle und tiefgründige Reflexion über das menschliche Leben; und es ist auch nicht nur ein Gebot, dazu bestimmt, das Gewissen zu sensibilisieren und gewichtige Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken; und noch weniger ist es eine illusorische Verheißung einer besseren Zukunft. Das Evangelium vom Leben ist eine konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person Jesu selberbesteht. Dem Apostel Thomas und in ihm jedem Menschen zeigt sich Jesus mit den Worten: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben« (Jn 14,6). Mit derselben Identität weist er sich Marta, der Schwester des Lazarus gegenüber aus: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben« (Jn 11,25-26). Jesus ist der Sohn, der von Ewigkeit her vom Vater das Leben empfängt (vgl. Joh Jn 5,26) und zu den Menschen gekommen ist, um sie an diesem Geschenk teilhaben zu lassen: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10).

Vom Wort, von der Tat, und selbst von der Person Jesu wird also dem Menschen die Möglichkeit gegeben, die ganze Wahrheit über den Wert des menschlichen Lebens zu »erkennen«; aus jener »Quelle« erwächst ihm insbesondere die Fähigkeit, vollkommen diese Wahrheit »zu tun« (vgl. Joh Jn 3,21), das heißt, die Verantwortung zur Liebe des menschlichen Lebens und zum Dienst an ihm, zu seiner Verteidigung und Förderung voll anzunehmen und zu verwirklichen. Denn in Christus wird jenes bereits in der Offenbarung des Alten Testamentes dargebotene und jedem Mann und jeder Frau sogar irgendwie ins Herz geschriebe Evangelium vom Leben endgültig verkündet und in seiner Fülle verschenkt; es erfüllt jedes sittliche Bewußtsein »von Anfang an», das heißt von der Erschaffung an, so daß es trotz der negativen Beeinflussungen durch die Sünde in seinen wesentlichen Zügen auch von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann. Christus ist es, wie das II. Vatikansche Konzil schreibt, »der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken«. 22

22) Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, Nr. DV 4.


30 Während wir den Blick auf den Herrn Jesus gerichtet haben, wollen wir also von ihm wieder »die Worte Gottes« (Jn 3,34) hören und neu nachdenken über das Evangelium vom Leben.Den tieferen und ursprünglichen Sinn dieser Meditation über die geoffenbarte Botschaft vom menschlichen Leben hat der Apostel Johannes erfaßt, als er in seinem ersten Brief einleitend schrieb: »Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefaßt haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Wort wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt« (1, 1-3).

In Jesus, dem »Wort des Lebens«, wird also das göttliche und ewige Leben verkündet und mitgeteilt. Durch diese Verkündigung und dieses Geschenk gewinnt das physische und geistige Leben des Menschen auch in seiner irdischen Phase vollen Wert und Bedeutung: das göttliche und ewige Leben ist in der Tat das Ziel, auf das hin der in dieser Welt lebende Mensch ausgerichtet und zu dem er berufen ist. Das Evangelium vom Leben schließt somit alles ein, was die menschliche Erfahrung und die Vernunft über den Wert des menschlichen Lebens sagen, nimmt es an, erhöht es und bringt es zur Vollendung.




»Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden«

(Ex 15,2):

das Leben ist immer ein Gut


31 Die evangelische Fülle der Botschaft über das Leben ist in Wirklichkeit schon im Alten Testament vorbereitet. Vor allem im Geschehen des Exodus, dem Kern der Glaubenserfahrung des Alten Testamentes, entdeckt Israel, wie kostbar sein Leben in Gottes Augen ist. Als es schon der Ausrottung preisgegeben zu sein scheint, weil alle seine männlichen Neugeborenen vom Tod bedroht sind (vgl. Ex Ex 1,15-22), offenbart sich ihm der Herr als Retter, der den Hoffnungslosen eine Zukunft sicherzustellen vermag. So wird in Israel ein klares Bewußtsein geboren: sein Lebenist nicht einem Pharao ausgeliefert, der sich seiner mit despotischer Willkür bedienen kann; es ist vielmehr das Objekt einer zärtlichen und starken Liebe Gottes.

Die Befreiung aus der Knechtschaft ist das Geschenk einer Identität, die Anerkennung einer unauslöschlichen Würde und der Beginn einer neuen Geschichte, in der die Entdeckung Gottes und Selbstentdeckung miteinander einhergehen. Das Erlebnis des Exodus ist eine exemplarische Gründungserfahrung. Israel lernt dabei, daß es sich jedesmal, wenn es in seiner Existenz bedroht ist, nur mit neuem Vertrauen an Gott zu wenden braucht, um bei Ihm wirksame Hilfe zu finden: »Ich habe dich geschaffen, du bist mein Knecht; Israel, ich vergesse dich nicht« (Is 44,21).

Während Israel so den Wert seiner Existenz als Volk erkennt, macht es auch Fortschritte in derWahrnehmung des Sinnes und Wertes des Lebens als solchen. Eine Reflexion, die, ausgehend von der täglichen Erfahrung der Ungewißheit des Lebens und von der Kenntnis der es gefährdenden Bedrohungen, besonders in den Weisheitsbüchern entfaltet wird. Der Glaube wird angesichts der Gegensätzlichkeiten des Daseins herausgefordert, eine Antwort anzubieten.

Vor allem das Problem des Schmerzes setzt dem Glauben zu und stellt ihn auf die Probe. Soll man etwa in der Meditation des Buches Ijob nicht das universale Stöhnen des Menschen vernehmen? Der vom Leid geschlagene Unschuldige ist verständlicherweise geneigt sich zu fragen: »Warum schenkt er dem Elenden Licht und Leben denen, die verbittert sind? Sie warten auf den Tod, der nicht kommt, sie suchen ihn mehr als verborgene Schätze« (3, 20-21). Aber auch in der tiefsten Finsternis veranlaßt der Glaube zur vertrauensvollen und anbetenden Erkenntnis des »Geheimnisses»: »Ich habe erkannt, daß du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt« (Jb 42,2).

Nach und nach macht die Offenbarung mit immer größerer Klarheit den Keim unsterblichen Lebens begreiflich, der vom Schöpfer ins Herz der Menschen gelegt wurde: »Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt« (Qo 3,11). Dieser Keim von Ganzheit und Fülle wartet darauf, sich in der Liebe zu offenbaren und sich durch die unentgeltliche Hingabe Gottes in der Teilhabe an seinem ewigen Leben zu verwirklichen.




»Der Name Jesu hat diesen Mann zu Kräften gebracht«

(Ac 3,16):

in der Ungewißheit des menschlichen Daseins bringt Jesus den Sinn des Lebens zur Vollendung


32 Die Erfahrung des Bundesvolkes erneuert sich in der Erfahrung aller »Armen», die Jesus von Nazaret begegnen. Wie schon Gott, der »Freund des Lebens« (Sg 11,26), Israel inmitten der Gefahren beruhigt hatte, so verkündet nun der Gottessohn allen, die sich in ihrer Existenz bedroht und behindert fühlen, daß auch ihr Leben ein Gut ist, dem die Liebe des Vaters Sinn und Wert verleiht.

»Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lc 7,22). Mit diesen Worten des Propheten Jesaja (35, 5-6; 61, 1) legt Jesus die Bedeutung seiner Sendung dar: so vernehmen alle, die unter einer irgendwie von Behinderung gekennzeichneten Existenz leiden, von ihm die frohe Kunde von der Anteilnahme Gottes ihnen gegenüber und finden bestätigt, daß auch ihr Leben eine in den Händen des Vaters eifersüchtig gehütete Gabe ist (vgl. Mt 6,25-34).

Es sind besonders die »Armen», an die sich die Verkündigung und das Wirken Jesu richtet. Die Massen von Kranken und Ausgegrenzten, die ihm folgen und ihn suchen (vgl. Mt 4,23-25), finden in seinem Wort und in seinen Taten offenbart, welch großen Wert ihr Leben besitzt und wie begründet ihre Heilserwartungen sind.

Nicht anders geschieht es in der Sendung der Kirche seit ihren Anfängen. Sie, die Jesus als den verkündet, der »umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm« (Ac 10,38), weiß sich als Trägerin einer Heilsbotschaft, die in ihrer ganzen Neuartigkeit gerade in den von Elend und Armut geprägten Lebenssituationen des Menschen zu vernehmen ist. So macht es Petrus bei der Heilung des Gelähmten, der jeden Tag an die »Schöne Pforte« des Tempels von Jerusalem gesetzt wurde, wo er um Almosen betteln sollte: »Silber und Gold besitze ich nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!« (Ac 3,6). Im Glauben an Jesus, den »Urheber des Lebens« (Ac 3,15), gewinnt das verlassen und bedauernswert daniederliegende Leben wieder Selbstbewußtsein und volle Würde.

Das Wort und die Taten Jesu und seiner Kirche gelten nicht nur dem, der von Krankheit, von Leiden oder von den verschiedenen Formen sozialer Ausgrenzung betroffen ist. Tiefgehender berühren sie den eigentlichen Sinn des Lebens jedes Menschen in seinen moralischen und geistlichen Dimensionen. Nur wer erkennt, daß sein Leben von der Krankheit der Sünde gezeichnet ist, kann in der Begegnung mit dem Retter Jesus die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Existenz entsprechend dessen eigenen Worten wiederfinden: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, um die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten« (Lc 5,31-32).

Wer hingegen wie der reiche Landwirt im Gleichnis des Evangeliums meint, er könne sein Leben durch den Besitz allein der materiellen Güter sichern, täuscht sich in Wirklichkeit: das Leben entgleitet ihm, und er wird es sehr bald verlieren, ohne dazu gekommen zu sein, seine wahre Bedeutung zu erfassen: »Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?« (Lc 12,20).



33 Im Leben Jesu selbst begegnet man von Anfang bis Ende dieser einzigartigen »Dialektik« zwischen der Erfahrung der Gefährdung des menschlichen Lebens und der Geltendmachung seines Wertes. Denn gefährdet ist das Leben Jesu von seiner Geburt an. Gewiß findet erAufnahme von seiten der Gerechten, die sich dem bereiten und freudigen »Ja« Marias anschließen (vgl. Lk Lc 1,38). Aber da ist auch sofort die Ablehnung durch eine Welt, die feindselig auftritt und das Kind »zu töten« trachtet (Mt 2,13) oder sich gegenüber der Erfüllung des Geheimnisses dieses Lebens, das in die Welt eintritt, gleichgültig und achtlos verhält: »in der Herberge war kein Platz für sie« (Lc 2,7). Gerade aus dem Gegensatz zwischen den Bedrohungen und Unsicherheiten einerseits und der Mächtigkeit des Gottesgeschenkes andererseits leuchtet mit um so größerer Kraft die Herrlichkeit, die vom Haus in Nazaret und von der Krippe in Betlehem ausstrahlt: dieses hier geborene Leben bedeutet Heil für die ganze Menschheit (vgl. Lk Lc 2,11).

Widersprüche und Gefahren des Lebens werden von Jesus voll angenommen: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen« (2Co 8,9). Die Armut, von der Paulus spricht, besteht nicht nur darin, daß sich Jesus der göttlichen Vorrechte entäußert, sondern auch die niedrigsten und unsichersten Bedingungen menschlichen Lebens teilt (vgl. Phil Ph 2,6-7). Jesus lebt diese Armut sein ganzes Leben hindurch bis zu dessen Höhepunkt am Kreuz: »er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen« (Ph 2,8-9). Geradein seinem Tod macht Jesus die ganze Größe und den Wert des Lebens offenbar, weil sein Sichhingeben am Kreuz zur Quelle neuen Lebens für alle Menschen wird (vgl. Joh Jn 12,32). Auf diesem Pilger- weg durch die Widersprüche des Lebens und selbst bei dessen Verlust läßt sich Jesus von der Gewißheit leiten, daß es in den Händen des Vaters liegt. Darum kann er am Kreuz zu ihm sagen: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lc 23,46), das heißt mein Leben. Der Wert des menschlichen Lebens ist in der Tat groß, wenn der Sohn Gottes es angenommen und zu dem Ort gemacht hat, an dem sich das Heil für die ganze Menschheit verwirklicht!




»Sie sind dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben«

(vgl. Rm 8,29):

die Herrlichkeit Gottes leuchtet auf dem Antlitz des Menschen


34 Das Leben ist immer ein Gut. Das ist eine intuitive Ahnung oder sogar eine Erfahrungstatsache, deren tiefen Grund zu erfassen der Mensch berufen ist.

Warum ist das Leben ein Gut? Die Frage durchzieht die ganze Bibel und findet bereits auf ihren ersten Seiten eine wirkungsvolle und wunderbare Antwort. Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist anders und eigenständig gegenüber dem eines jeden anderen Lebewesens, weil der Mensch, auch wenn er mit dem Staub der Erde verwandt ist (vgl.
Gn 2,7 Gn 3,19 Jb 34,15 Ps 103 Ps 1,14 Ps 104 Ps 2,29), in der Welt Offenbarung Gottes, Zeichen seiner Gegenwart, Spur seiner Herrlichkeit ist (vgl. Gn 1,26-27 Ps 8,6). Das wollte auch der hl. Irenäus von Lyon mit seiner berühmten Definition unterstreichen: »Der lebendige Mensch ist die Herrlichkeit Gottes«. 23 Dem Menschen wird eine erhabene Würde geschenkt, die ihre Wurzeln in den innigen Banden hat, die ihn mit seinem Schöpfer verbinden: im Menschen erstrahlt ein Widerschein der Wirklichkeit Gottes selbst.

Das führt das erste Buch der Genesis im ersten Schöpfungsbericht aus, indem es den Menschen als Höhepunkt des Schöpfungswerkes Gottes, als seine Krönung, an das Ende eines Prozesses stellt, der vom unterschiedslosen Chaos zum vollkommensten Geschöpf führt. Alles in der Schöpfung ist auf den Menschen hingeordnet und alles ist ihm untergeordnet: »Bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht... über alle Tiere, die sich auf dem Land regen« (Gn 1,28), gebietet Gott dem Mann und der Frau. Eine ähnliche Botschaft stammt auch aus dem zweiten Schöpfungsbericht: »Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (Gn 2,15). So wird die Vorrangstellung des Menschen über die Dinge bekräftigt: sie sind auf ihn hin ausgerichtet und seiner Verantwortung anvertraut, während er selbst unter keinen Umständen an seinesgleichen versklavt werden und gleichsam auf die Ebene einer Sache herabgestuft werden kann.

In der biblischen Erzählung wird die Unterscheidung des Menschen von den anderen Geschöpfen vor allem dadurch herausgestellt, daß nur seine Erschaffung als Frucht eines besonderen Entschlusses Gottes dargestellt wird, als Ergebnis einer Entscheidung, die in der Herstellung einer eigenen und besonderen Verbindung mit dem Schöpfer besteht: »Laß uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Gn 1,26). Das Leben, das Gott dem Menschen anbietet, ist ein Geschenk, durch das Gott sein Geschöpf an etwas von sich selbst teilhaben läßt.

Israel wird noch lange Fragen nach dem Sinn dieser eigenen und besonderen Bindung des Menschen an Gott stellen. Auch das Buch Jesus Sirach räumt ein, daß Gott die Menschen bei ihrer Erschaffung »ihm selbst ähnlich mit Kraft bekleidet und nach seinem Abbild erschaffen hat« (Si 17,3). Darauf führt der Verfasser nicht nur ihre Beherrschung der Welt zurück, sondern auch die wesentlichsten geistigen Fähigkeiten des Menschen, wie Vernunft, Erkenntnis von Gut und Böse, den freien Willen: »Mit kluger Einsicht erfüllte er sie und lehrte sie, Gutes und Böses zu erkennen« (Si 17,7). Die Fähigkeit, Wahrheit und Freiheit zu erlangen, sind Vorrechte des Menschen,geschaffen nach dem Abbild seines Schöpfers, des wahren und gerechten Gottes (vgl. Dtn Dt 32,4). Unter allen sichtbaren Kreaturen ist nur der Mensch »fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben«. 24 Das Leben, das Gott dem Menschen schenkt, ist weit mehr als ein zeitlich-irdisches Dasein. Es ist ein Streben nach einer Lebensfülle; es ist Keim einer Existenz, die über die Grenzen der Zeit hinausgeht: »Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht« (Sg 2,23).

23) "Gloria Dei vivens homo": Gegen die Häresien, IV, 20,7: SCh 100/2, 648-649.
24) II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, Nr. GS 12.


Evangelium vitae DE 24