Familiaris consortio DE


APOSTOLISCHES SCHREIBEN

FAMILIARIS CONSORTIO

VON PAPST

JOHANNES PAUL II.
AN DIE BISCHÖFE,
DIE PRIESTER UND GLÄUBIGEN
DER GANZEN KIRCHE
ÜBER DIE AUFGABEN DER CHRISTLICHEN FAMILIE IN DER WELT VON HEUTE


EINLEITUNG


Die Kirche im Dienst an der Familie


1 Die Familie wurde in unseren Tagen - wie andere Institutionen und vielleicht noch mehr als diese - in die umfassenden, tiefgreifenden und raschen Wandlungen von Gesellschaft und Kultur hineingezogen. Viele Familien leben in dieser Situation in Treue zu den Werten, welche die Grundlage der Familie als Institution ausmachen. Andere sind ihren Aufgaben gegenüber unsicher und verwirrt oder sogar in Zweifel und fast in Unwissenheit über die letzte Bedeutung und die Wahrheit des ehelichen und familiären Lebens. Wieder andere sind durch ungerechte Situationen verschiedener Art in der Ausübung ihrer Grundrechte behindert.

In dem Wissen, daß Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern der Menschheit zählen, möchte die Kirche ihre Stimme und das Angebot ihrer Hilfe zu jenen gelangen lassen, die den Wert von Ehe und Familie bereits kennen und dementsprechend leben wollen, zu jenen, die unsicher und unruhig nach der Wahrheit suchen, sowie zu jenen, die ungerechterweise daran gehindert werden, ihre Auffassung von der Familie in Freiheit zu verwirklichen. Indem sie die einen stützt, die anderen belehrt und den letzteren hilft, bietet die Kirche ihren Dienst allen Menschen an, die sich über das Schicksal von Ehe und Familie Gedanken machen (Vgl. Gaudium et Spes
GS 52).

Insbesondere wendet sie sich an die jungen Menschen, die am Anfang ihres Weges zu Ehe und Familie stehen, um ihnen zu helfen, die Schönheit und Größe der Berufung zur Liebe und zum Dienst am Leben zu entdecken und ihnen so neue Horizonte aufzutun.

Die Synode von 1980 in ihrem Zusammenhang mit den vorhergehenden


2 Ein Zeichen dieses großen Interesses der Kirche für die Familie war die letzte Bischofssynode, die vom 26. September bis 25. Oktober 1980 in Rom abgehalten wurde. Sie war die natürliche Fortsetzung der zwei vorhergehenden (Vgl. Johannes Paul II.: Homilie zur Eröffnung der VI. Bischofssynode (26.9.1980), 2; AAS 72 (1980) 1008). Die christliche Familie ist ja die erste Gemeinschaft, der es obliegt, dem heranwachsenden Menschen das Evangelium zu verkünden und ihn durch eine fortschreitende Erziehung und Glaubensunterweisung zur vollen menschlichen und christlichen Reife zu führen.

Und nicht nur das. Die letzte Synode steht auch mit jener über das Amtspriestertum und über die Gerechtigkeit in der Welt von heute in einer gewissen gedanklichen Verbindung. Denn als erziehende Gemeinschaft muß die Familie dem Menschen beim Erkennen der persönlichen Berufung und bei der Entscheidung zum notwendigen Einsatz für größere Gerechtigkeit behilflich sein, indem sie von Anfang an zu zwischenmenschlichen Beziehungen erzieht, die von Gerechtigkeit und Liebe geprägt sind.

Zum Abschluß ihrer Beratungen überreichten mir die Väter der Synode eine umfangreiche Liste von Vorschlägen ("Propositiones"). Sie enthält die Ergebnisse ihrer Überlegungen in jenen arbeitsreichen Tagen. Einmütig baten sie mich, vor der Menschheit die lebendige Sorge der Kirche für die Familie zu bekunden und geeignete Weisungen für einen erneuerten pastoralen Einsatz in diesem so grundlegenden Bereich menschlichen und kirchlichen Lebens zu geben.

Dieser Aufgabe will ich mit dem vorliegenden Schreiben nachkommen, worin ich einen Dienst des mir anvertrauten apostolischen Amtes sehe. Dabei möchte ich allen Teilnehmern der Synode meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen für ihren wertvollen Beitrag an Lehre und Erfahrung, der besonders in ihren "Propositiones" seinen Niederschlag fand. Deren Text vertraue ich dem Päpstlichen Rat für die Familie an mit dem Auftrag, durch ein vertieftes Studium jeden Aspekt des darin enthaltenen Reichtums fruchtbar zu machen.

Ehe und Familie - ein kostbares Gut


3 Die Kirche weiß aus dem Glauben um den Wert von Ehe und Familie in ihrer ganzen Wahrheit und tiefen Bedeutung, deshalb fühlt sie sich erneut gedrängt, das Evangelium, die "Frohbotschaft", allen ohne Unterschied zu verkünden, besonders aber jenen, die zur Ehe berufen sind und sich auf sie vorbereiten, sowie allen Eheleuten und Eltern in der Welt.

Sie ist tief davon überzeugt, daß nur die Annahme des Evangeliums die volle Verwirklichung aller Hoffnungen schenkt, die der Mensch mit Recht in Ehe und Familie setzt.

Von Gott mit der Schöpfung selbst gewollt (Vgl. Gen
Gn 1-2), sind Ehe und Familie innerlich auf die Vollendung in Christus hingeordnet (Vgl. Eph Ep 5) und bedürfen seiner Gnade, um von den Wunden der Sünde geheilt (Vgl. Gaudium et Spes GS 47 Johannes Paul II., Brief Appropinquat iam vom 15 8 1980,1 AAS 72, 791) und so "auf ihren Anfang" (Vgl. Mt Mt 19,4) zurückgeführt zu werden, das heißt zur vollen Kenntnis und Verwirklichung der Pläne Gottes.

In einem geschichtlichen Augenblick, in dem die Familie Ziel von zahlreichen Kräften ist, die sie zu zerstören oder jedenfalls zu entstellen trachten, ist sich die Kirche bewußt, daß das Wohl der Gesellschaft und ihr eigenes mit dem der Familie eng verbunden ist (Vgl. Gaudium et Spes GS 47), und fühlt umso stärker und drängender ihre Sendung, allen den Plan Gottes für Ehe und Familie zu verkünden, um deren volle Lebenskraft und menschlich-christliche Entfaltung zu sichern und so zur Erneuerung der Gesellschaft und des Volkes Gottes beizutragen.

ERSTER TEIL


DIE FAMILIE HEUTE -LICHT UND SCHATTEN


Notwendige Kenntnis der Situation


4 Da der Plan Gottes für Ehe und Familie Mann und Frau konkret betrifft - in ihrer täglichen Existenz, in bestimmten sozialen und kulturellen Situationen -, muß sich die Kirche, um ihren Dienst leisten zu können, um die Kenntnis jener Situationen bemühen, in denen Ehe und Familie sich heute verwirklichen (Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an den Rat des Generalsekretariates der Bischofssynode (23.2.1980): Insegnamenii di Giovanni Paolo II, III, 1 (1980) 472-476.

Diese Kenntnis ist also eine für die Evangelisierung unerläßliche Notwendigkeit: muß doch die Kirche das unveränderliche und immer neue Evangelium Christi an die Familien unserer Zeit herantragen, müssen doch die Familien in den Bedingungen unserer Welt den Plan Gottes für sie aufgreifen und verwirklichen. Und nicht nur das: Die Forderungen und Anrufe des göttlichen Geistes sprechen auch aus den Ereignissen der Geschichte, weshalb die Kirche auch durch die Situationen, Fragen, Ängste und Hoffnungen der Jugendlichen, der Eheleute und der Eltern von heute zu einer tieferen Kenntnis des unerschöpflichen Mysteriums der Ehe und Familie geführt werden kann (Vgl. Gaudium et Spes
GS 4).

Hinzu kommt noch eine weitere, in der heutigen Zeit besonders wichtige Überlegung. Nicht selten werden dem Mann und der Frau von heute in ihrer ehrlichen und tiefen Suche nach einer Antwort auf die täglichen ernsten Probleme ihres ehelichen und familiären Lebens Ansichten und Vorschläge angeboten, die zwar verlockend sind, aber die Wahrheit und Würde der menschlichen Person mehr oder weniger verletzen. Dieses Angebot wird oft von der mächtigen und weitverzweigten Organisation der Medien gestützt, welche die Freiheit und die Fähigkeit zur objektiven Beurteilung unterschwellig gefährden.

Viele wissen bereits um diese Gefahr, in der die menschliche Person schwebt, und setzen sich für die Wahrheit ein. Die Kirche schließt sich ihnen mit ihrer evangelischen Unterscheidungsgabe an, indem sie ihren Dienst an der Wahrheit, der Freiheit und der Würde jedes Mannes und jeder Frau anbietet.

Die evangelische Unterscheidungsgabe


5 Die von der Kirche geleistete Unterscheidung wird zum Angebot einer Orientierung mit dem Ziel, daß die ganze Wahrheit und die volle Würde von Ehe und Familie gerettet und verwirklicht werde.

Sie wird im Glaubenssinn vollzogen (Vgl. Lumen gentium
LG 12), den der Heilige Geist allen Gläubigen mitteilt (Vgl. 1Jn 2,20), und ist demnach Werk der gesamten Kirche entsprechend den verschiedenen Gaben und Charismen, die gemeinsam und nach dem Grad der jeweiligen Verantwortung für eine immer tiefere Erkenntnis und Verwirklichung des Wortes Gottes zusammenwirken. Die Kirche vollzieht diese ihre evangelische Unterscheidung also nicht nur durch die Hirten, die im Namen und mit der Vollmacht Christi lehren, sondern auch durch die Laien: Christus "bestellt sie zu Zeugen und rüstet sie mit dem Glaubenssinn und der Gnade des Wortes aus (vgl. Apg Ac 2,17-18 Ap 19,10), damit die Kraft des Evangeliums im alltäglichen Familien- und Gesellschaftsleben aufleuchte" (Vgl. Lumen gentium LG 35). Die Laien haben sogar aufgrund ihrer besonderen Berufung die spezifische Aufgabe, im Licht Christi die Geschichte dieser Welt auszulegen; ist es doch ihr Auftrag, die zeitlichen Wirklichkeiten nach dem Plan Gottes, des Schöpfers und Erlösers, zu erhellen und zu ordnen.

Der "übernatürliche Glaubenssinn" (Vgl. Lumen gentium LG 12 Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Mysterium Ecclesiae CDF 2, AAS CDF 65 CDF 398-400) besteht jedoch nicht nur oder notwendigerweise in der Übereinstimmung der Gläubigen. Die Kirche sucht, indem sie Christus folgt, die Wahrheit, welche sich nicht immer mit der Meinung der Mehrheit deckt. Sie horcht auf das Gewissen und nicht auf die Macht und verteidigt so die Armen und Verachteten. Die Kirche weiß auch die soziologischen und statistischen Forschungen zu schätzen, wenn diese sich zur Erfassung des geschichtlichen Umfeldes, in dem sich das pastorale Wirken vollziehen muß, nützlich erweisen und wenn sie zu einer besseren Erkenntnis der Wahrheit verhelfen; diese Forschungen allein können jedoch nicht ohne weiteres als Ausdruck des Glaubenssinnes betrachtet werden.

Aufgabe des apostolischen Amtes ist es, das Bleiben der Kirche in der Wahrheit Christi zu gewährleisten und sie immer tiefer darin einzuführen; die Hirten müssen deshalb den Glaubenssinn in allen Gläubigen fördern, die Echtheit seiner Ausdrucksformen verbindlich abwägen und beurteilen und die Gläubigen zu einer immer reiferen Unterscheidung im Licht des Evangeliums erziehen (Vgl. Lumen gentium LG 12 Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum DV 10).

Zur Erarbeitung einer echten evangelischen Unterscheidungsgabe in den verschiedenen Situationen und Kulturen, in denen Mann und Frau ihre Ehe und Familie leben, können und müssen die christlichen Eheleute und Eltern einen eigenen, unersetzlichen Beitrag leisten. Zu dieser Aufgabe befähigt sie das ihnen eigene Charisma, die ihnen eigene Gnadengabe, die sie im Sakrament der Ehe empfangen haben (Vgl. Johannes Paul II., Homilie zur Eröffnung der VI. Bischofssynode(26.9.1980), 3: AAS 72 (1980) 1008).

Die Lage der Familie in der Welt von heute


6 Die Situation, in der sich die Familie befindet, weist positive und negative Aspekte auf: Die einen sind Zeichen für das in der Welt wirksame Heil in Christus, die anderen für die Ablehnung, mit der der Mensch der Liebe Gottes begegnet.

Einerseits ist man sich der persönlichen Freiheit mehr bewußt, schenkt der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Ehe, der Förderung der Würde der Frau, der verantworteten Elternschaft, der Erziehung der Kinder größere Aufmerksamkeit; man weiß darüber hinaus um die Notwendigkeit der Entwicklung von Beziehungen zwischen den einzelnen Familien zu gegenseitiger spiritueller und materieller Hilfe; man entdeckt wieder neu die der Familie eigene ekklesiale Sendung und ihre Verantwortung für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Andererseits aber gibt es Anzeichen einer besorgniserregenden Verkümmerung fundamentaler Werte: eine irrige theoretische und praktische Auffassung von der gegenseitigen Unabhängigkeit der Eheleute; die schwerwiegenden Mißverständnisse hinsichtlich der Autoritätsbeziehung zwischen Eltern und Kindern; die häufigen konkreten Schwierigkeiten der Familie in der Vermittlung der Werte; die steigende Zahl der Ehescheidungen; das weit verbreitete Übel der Abtreibung; die immer häufigere Sterilisierung; das Aufkommen einer regelrechten empfängnisfeindlichen Mentalität.

An der Wurzel dieser negativen Erscheinungen findet sich oft eine Zersetzung von Begriff und Erfahrung der Freiheit, die nicht als die Fähigkeit aufgefaßt wird, den Plan Gottes für Ehe und Familie zu verwirklichen, sondern vielmehr als autonome Kraft der Selbstbehauptung - für das eigene, egoistisch verstandene Wohlergehen und nicht selten gegen die Mitmenschen.

Auch eine andere Tatsache verdient unsere Aufmerksamkeit, nämlich die, daß es in den Ländern der sogenannten Dritten Welt den Familien sowohl an den grundlegenden Mitteln zum Überleben fehlt, wie Nahrung, Arbeit, Wohnung, Arzneien, als auch an den elementarsten Freiheiten. In den reicheren Ländern hingegen nehmen der übertriebene Wohlstand und die Konsumhaltung sowie eine gewisse paradoxerweise damit verbundene Angst und Unsicherheit gegenüber der Zukunft den Eltern die Hochherzigkeit und den Mut, neues Leben zu wecken. So wird das Leben oft nicht als Segen, sondern als eine Gefahr betrachtet, gegen die man sich verteidigen muß.

Die geschichtliche Situation, in der die Familie lebt, steht somit als Ineinander von Licht und Schatten vor uns.

Darin wird deutlich, daß die Geschichte nicht einfach ein notwendiger Fortschritt zum Besseren ist, sondern vielmehr ein Ereignis der Freiheit, ja ein Kampf zwischen Freiheiten, die einander widerstreiten; sie ist - nach der bekannten Formulierung des heiligen Augustinus - ein Konflikt zwischen zweierlei Liebe: der Liebe zu Gott bis hin zur Verachtung seiner selbst und der Liebe zu sich bis hin zur Verachtung Gottes (Vgl. Augustinus, De Civitate Dei, XIV, 28: CSEL 40, II, 56 f.).

Daraus folgt, daß nur die Erziehung zu einer im Glauben verwurzelten Liebe die Fähigkeit schenken kann, die "Zeichen der Zeit" zu deuten, die der geschichtliche Ausdruck dieser zweifachen Liebe sind.

Die Auswirkung dieser Situation auf das Gewissen der Gläubigen


7 In einer solchen Welt und unter dem besonders von den Massenmedien ausgeübten Druck waren und sind die Gläubigen nicht immer fähig, dem Verblassen der fundamentalen Werte gegenüber immun zu bleiben und sich als kritisches Gewissen dieser Familienkultur und als aktive Miterbauer eines echten "Familienhumanismus" zu erweisen.

Unter den beunruhigendsten Anzeichen für diese Tatsache haben die Synodenväter besonders die folgenden hervorgehoben: die Zunahme von Scheidung und Eingehen einer neuen Verbindung sogar bei den Gläubigen; das Hinnehmen der nur zivilrechtlich geschlossenen Ehe im Gegensatz zur Berufung der Getauften, "sich im Herrn zu vermählen"; die kirchliche Feier der Eheschließung ohne lebendigen Glauben, sondern aus anderen Beweggründen; die Ablehnung der sittlichen Normen für einen menschlichen und christlichen Vollzug der Sexualität in der Ehe.

Unsere Zeit bedarf der Weisheit


8 So steht die ganze Kirche vor der Aufgabe tiefgreifender Besinnung und Bemühung, damit die neue, aufsteigende Kultur in ihrem Inneren evangelisiert werde, damit die echten Werte anerkannt und die Rechte von Mann und Frau verteidigt werden, damit die Gerechtigkeit schon in den Strukturen der Gesellschaft gefördert werde. Auf diese Weise wird der "neue Humanismus" die Menschen nicht von ihrem Gottesverhältnis weg-, sondern vielmehr vollkommener hineinführen.

Für den Aufbau eines solchen Humanismus bieten die Wissenschaft und ihre technischen Anwendungen neue ungeheure Möglichkeiten. Dennoch wird die Wissenschaft infolge politischer Entscheidungen, welche die Ausrichtung der Forschung und ihre Anwendung bestimmen, oft gegen ihren ursprünglichen Sinn - die Förderung der menschlichen Person - eingesetzt.

Es ist demnach notwendig, daß alle das Wissen um den Vorrang der sittlichen Werte - welche die Werte der menschlichen Person als solcher sind - wiedergewinnen. Den letzten Sinn des Lebens und seine Grundwerte wieder zu erfassen, ist die große Aufgabe, die sich heute für die Erneuerung der Gesellschaft stellt. Nur das verantwortungsbereite Wissen um den Vorrang dieser Werte erlaubt eine wirklich auf die Förderung der menschlichen Person in ihrer ganzen Wahrheit, Freiheit und Würde ausgerichtete Anwendung der durch die Wissenschaften dem Menschen in die Hand gegebenen ungeheuren Möglichkeiten. Die Wissenschaft ist berufen, sich mit der Weisheit zu verbünden.

Auch auf die Probleme der Familie kann man die Worte des II. Vatikanischen Konzils anwenden: "Unsere Zeit braucht mehr als die vergangenen Jahrhunderte diese Weisheit, damit menschlich wird, was immer an Neuem vom Menschen entdeckt wird. Es gerät nämlich das künftige Geschick der Welt in Gefahr, wenn nicht weisere Menschen erweckt werden." (Vgl. Gaudium et Spes
GS 15)

Die Erziehung des Gewissens, das jeden Menschen befähigt, die rechten Weisen zu erkennen, zu werten und zu unterscheiden, in denen er sich nach seiner ureigenen Wahrheit verwirklichen kann, wird so zu einer vordringlichen und unverzichtbaren Notwendigkeit.

Die Bindung an die göttliche Weisheit ist es, die in der heutigen Kultur vertieft wiederhergestellt werden muß. An jener Weisheit hat jeder Mensch durch die Schöpfertat Gottes Anteil. Nur in der Treue zu dieser Bindung werden die Familien unserer Zeit in der Lage sein, positiv am Aufbau einer Welt mitzuwirken, in der mehr Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen.

Stufenweises Wachstum und Bekehrung


9 Die Ungerechtigkeit, die aus der Sünde stammt - welche auch in die Strukturen der heutigen Welt tief eingedrungen ist -, behindert oft die Familie in ihrer vollen Selbstverwirklichung und in der Ausübung ihrer fundamentalen Rechte; ihr müssen wir uns alle mit einer Bekehrung des Geistes und des Herzens entgegenstellen, indem wir in der Nachfolge des gekreuzigten Herrn unseren Egoismus bekämpfen. Solche Umkehr wird notwendig auch auf die Strukturen der Gesellschaft einen wohltuenden und erneuernden Einfluß ausüben.

Es bedarf einer fortgesetzten, ständigen Bekehrung, die, obwohl sie die innere Loslösung von allem Bösen und die Annahme des Guten in seiner Fülle erfordert, sich konkret in Schritten vollzieht, in einem dynamischen Prozeß von Stufe zu Stufe entsprechend der fortschreitenden Hereinnahme der Gaben Gottes und der Forderungen seiner unwiderruflichen und absoluten Liebe in das gesamte persönliche und soziale Leben des Menschen. Ein erzieherischer Weg des Wachsens ist also nötig, damit die einzelnen Gläubigen, die Familien und die Völker, ja die ganze Kultur von dem, was sie vom Geheimnis Christi bereits angenommen haben, geduldig weitergeführt werden, um zu einer reicheren Kenntnis und einer volleren Einbeziehung dieses Geheimnisses in ihr Leben zu gelangen.

"Inkulturation"


10 Von den Kulturen der Völker all das anzunehmen, was den "unergründlichen Reichtum Christi" besser zum Ausdruck bringen kann, entspricht der durchgehenden Tradition der Kirche (Vgl. Eph Ep 3,8 Gaudium et Spes GS 44 Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes AGD 15 AGD 22). Nur im Zusammenwirken aller Kulturen kann dieser Reichtum immer klarer offenbar werden und kann die Kirche in ein von Tag zu Tag vollkommeneres und tieferes Verstehen der Wahrheit hineinwachsen, die ihr bereits in ganzer Fülle vom Herrn geschenkt ist.

Geleitet von dem doppelten Grundsatz der Vereinbarkeit der verschiedenen in Frage kommenden Kulturen mit dem Evangelium und der Verbundenheit mit der universalen Kirche muß man durch weitere Studien - besonders von seiten der Bischofskonferenzen und der zuständigen Ämter der Römischen Kurie - und durch weiteren pastoralen Einsatz dazu beitragen, daß diese "Inkulturation" des christlichen Glaubens in immer größerem Umfang geschehe, auch im Bereich von Ehe und Familie.

Die "Inkulturation" ist der Weg in Richtung auf die volle Wiederherstellung des Bündnisses mit der Weisheit Gottes, die Christus selbst ist. Die ganze Kirche wird auch durch jene Kulturen bereichert, die, obgleich arm an Technologie, reich an menschlicher Weisheit und von hohen moralischen Werten durchdrungen sind.

Damit das Ziel dieses Weges klar und infolgedessen der Weg dorthin sicher angezeigt sei, hat die Synode mit Recht zunächst den ursprünglichen Plan Gottes für Ehe und Familie von Grund auf betrachtet: Sie wollte, der Weisung Christi folgend, "zum Anfang zurückkehren" (Vgl. Mt Mt 19,4 ff.).

ZWEITER TEIL


EHE UND FAMILIE IM PLANE GOTTES


Der Mensch, Abbild des liebenden Gottes


11 Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis erschaffen: (Vgl. Gen 1,26f.) den er aus Liebe ins Dasein gerufen hat, berief er gleichzeitig zur Liebe.

"Gott ist Liebe" (
1Jn 4,8) und lebt in sich selbst ein Geheimnis personaler Liebesgemeinschaft. Indem er den Menschen nach seinem Bild erschafft und ständig im Dasein erhält, prägt Gott der Menschennatur des Mannes und der Frau die Berufung und daher auch die Fähigkeit und die Verantwortung zu Liebe und Gemeinschaft ein (Vgl. Gaudium et Spes GS 12). Die Liebe ist demnach die grundlegende und naturgemäße Berufung jedes Menschen.

Als Geist im Fleisch, das heißt als Seele, die sich im Leib ausdrückt, und als Leib, der von einem unsterblichen Geist durchlebt wird, ist der Mensch in dieser geeinten Ganzheit zur Liebe berufen. Die Liebe schließt auch den menschlichen Leib ein, und der Leib nimmt an der geistigen Liebe teil.

Die christliche Offenbarung kennt zwei besondere Weisen, die Berufung der menschlichen Person zur Liebe ganzheitlich zu verwirklichen: die Ehe und die Jungfräulichkeit. Sowohl die eine als auch die andere ist in der ihr eigenen Weise eine konkrete Verwirklichung der tiefsten Wahrheit des Menschen, seines "Seins nach dem Bild Gottes".

Infolgedessen ist die Sexualität, in welcher sich Mann und Frau durch die den Eheleuten eigenen und vorbehaltenen Akte einander schenken, keineswegs etwas rein Biologisches, sondern betrifft den innersten Kern der menschlichen Person als solcher. Auf wahrhaft menschliche Weise wird sie nur vollzogen, wenn sie in jene Liebe integriert ist, mit der Mann und Frau sich bis zum Tod vorbehaltlos einander verpflichten. Die leibliche Ganzhingabe wäre eine Lüge, wenn sie nicht Zeichen und Frucht personaler Ganzhingabe wäre, welche die ganze Person, auch in ihrer zeitlichen Dimension, miteinschließt. Wenn die Person sich etwas vorbehielte, zum Beispiel die Möglichkeit, in Zukunft anders zu entscheiden, so wäre schon dadurch ihre Hingabe nicht umfassend.

Die Ganzheit, wie sie die eheliche Liebe verlangt, entspricht auch den Forderungen, wie sie sich aus einer verantworteten Fruchtbarkeit ergeben. Auf die Zeugung eines Menschen hingeordnet, überragt diese ihrer Natur nach die rein biologische Sphäre und berührt ein Gefüge von personalen Werten, deren harmonische Einfaltung den dauernden, einträchtigen Beitrag beider Eltern verlangt.

Diese Hingabe ist in ihrer ganzen Wahrheit einzig und allein im "Raum" der Ehe möglich, im Bund ehelicher Liebe, auf dem Boden der bewußten und freien Entscheidung, mit der Mann und Frau die innige, von Gott gewollte Lebens- und Liebesgemeinschaft eingehen (Vgl. Gaudium et Spes GS 48), die nur in diesem Licht ihren wahren Sinn enthüllt. Die Ehe als Institution ist weder ein ungebührliches Eingreifen der Gesellschaft oder der Autorität noch ein von außen kommendes Auferlegen einer Form, sondern eine dem ehelichen Liebesbund innewohnende Notwendigkeit, der sich dadurch der Öffentlichkeit als etwas Einmaliges und Ausschließliches kundtut, damit so die Treue zum Plan des Schöpfergottes voll verwirklicht wird. Eine solche Treue beeinträchtigt keineswegs die Freiheit der Person, sondern schützt sie vielmehr vor jedem Subjektivismus und Relativismus und läßt sie an der schöpferischen Weisheit Gottes teilhaben.

Die Ehe und die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen


12 Die Liebesgemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, fundamentaler Inhalt der Offenbarung und der Glaubenserfahrung Israels, kommt auf bedeutsame Weise im bräutlichen Bündnis zwischen Mann und Frau zum Ausdruck.

Deshalb wird das im Mittelpunkt der Offenbarung stehende Wort "Gott liebt sein Volk" auch in den persönlichen Worten ausgesprochen, mit denen Mann und Frau einander ihre eheliche Liebe konkret kundtun. Ihr Liebesband wird zum Abbild und Symbol des Bundes, der Gott und sein Volk verbindet (Vgl. z.B. Hos
Os 2,21 Is 54). Selbst die Sünde, die den ehelichen Bund verletzen kann, wird zum Abbild der Untreue des Volkes gegen seinen Gott: der Götzendienst ist Prostitution (Vgl. Jer Jr 3,6-13 Ez 16,25), die Untreue ist Ehebruch, der Ungehorsam gegen das Gesetz ist ein Verrat an der bräutlichen Liebe des Herrn. Die Untreue Israels zerstört jedoch nicht die ewige Treue des Herrn, und somit wird die immer treue Liebe Gottes zum Vorbild für das Verhältnis treuer Liebe, das zwischen den Eheleuten bestehen muß (Vgl. Hos Os 3).

Jesus Christus, der Bräutigam der Kirche, und das Sakrament der Ehe


13 Die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen findet ihre endgültige Erfüllung in Jesus Christus, dem liebenden Bräutigam, der sich hingibt als Erlöser der Menschheit und sie als seinen Leib mit sich vereint.

Er offenbart die Urwahrheit über die Ehe, die Wahrheit des "Anfangs" (Vgl. Gen
Gn 2,24 Mt 19,5) und macht den Menschen fähig, sie vollends zu verwirklichen, indem er ihn von seiner Herzenshärte befreit.

Diese Offenbarung gelangt zur endgültigen Vollendung in der Liebesgabe, die das göttliche Wort der Menschheit macht, indem es die menschliche Natur annimmt, und im Opfer, mit dem Jesus Christus sich am Kreuz für seine Braut, die Kirche, darbringt. In diesem Opfer wird der Plan vollständig enthüllt, den Gott dem Menschsein des Mannes und der Frau seit ihrer Schöpfung eingeprägt hat (Vgl. Eph Ep 5,32 f.); die Ehe der Getauften wird so zum Realsymbol des neuen und ewigen Bundes, der im Blut Christi geschlossen wurde. Der Geist, den der Herr ausgießt, macht das Herz neu und befähigt Mann und Frau, einander zu lieben, wie Christus uns geliebt hat. Die eheliche Liebe erreicht dadurch jene Fülle, auf die sie von innen her ausgerichtet ist, die übernatürliche Gattenliebe, in welcher die Vermählten auf die ihnen eigene und spezifische Art an der sich am Kreuz schenkenden Liebe Christi teilnehmen und sie zu leben berufen sind.

An einer zu Recht berühmten Stelle hat Tertullian die Größe und Schönheit dieses ehelichen Lebens in Christus und seiner Kirche gut zum Ausdruck gebracht: "Wie vermag ich das Glück jener Ehe zu schildern, die von der Kirche geeint, vom Opfer gestärkt und vom Segen besiegelt ist, von den Engeln verkündet und vom Vater anerkannt? ... Welches Joch: zwei Gläubige mit einer Hoffnung, mit einem Verlangen, mit einer Lebensform, in einem Dienste; Kinder eines Vaters, Diener eines Herrn! Keine Trennung im Geist, keine im Fleisch, sondern wahrhaft zwei in einem Fleisch. Wo das Fleisch eines ist, dort ist auch der Geist eins" (Tertullian, Ad uxorem, II, VIII, 6-8: CCL, 1, 393).

In treuem Annehmen und Bedenken des Wortes Gottes hat die Kirche feierlich gelehrt - und lehrt es heute -, daß die Ehe zwischen Getauften eines der sieben Sakramente des Neuen Bundes (Vgl. Konzil von Trient, 24. Session, Kan. 1: I. D. Mansi, Sacrorum Conciliorum Nova ei Amplissima Collectio, 33, 149 f.)

Denn durch die Taufe wurden Mann und Frau endgültig in den neuen und ewigen Bund, in den bräutlichen Bund Christi mit seiner Kirche, hineingenommen, und aufgrund dieses unzerstörbaren Hineingenommenseins wird die vom Schöpfer begründete innige Lebens- und Liebesgemeinschaft der Ehe (Vgl. Gaudium et Spes GS 48) erhoben und mit der bräutlichen Liebe Christi verbunden - bestärkt und bereichert von seiner erlösenden Kraft.

Dank des sakramentalen Charakters ihrer Ehe haben sich Mann und Frau auf zutiefst unlösbare Weise aneinander gebunden. Ihr gegenseitiges Sichgehören macht die Beziehung Christi zur Kirche sakramental gegenwärtig.

Die Eheleute sind daher für die Kirche eine ständige Erinnerung an das, was am Kreuz geschehen ist; sie sind füreinander und für die Kinder Zeugen des Heils, an dem sie durch das Sakrament teilhaben. Wie jedes andere Sakrament ist die Ehe Gedächtnis, Vollzug und Prophetie des Heilsgeschehens. "Als Gedächtnis befähigt und verpflichtet sie das Sakrament, der Großtaten Gottes eingedenk zu sein und für sie vor ihren Kindern Zeugnis abzulegen; als Vollzug befähigt und verpflichtet es sie, einander und den Kindern gegenüber im Jetzt zu verwirklichen, was eine verzeihende und erlösende Liebe verlangt; als Prophetie befähigt und verpflichtet es sie, die Hoffnung auf die künftige Begegnung mit Christus zu leben und zu bezeugen" (Johannes Paul II.,Ansprache an die Delegierten des "Centre de Liaison des Equipes de Recherche" (3.11.1979), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, II, 2 (1979) 1032).

Wie jedes der sieben Sakramente, so ist auch die Ehe ein Realsymbol des Heilsgeschehens, jedoch auf eigene Weise. "Die Eheleute haben daran als Eheleute Anteil, zu zweit, als Paar - so sehr, daß die erste und unmittelbare Wirkung der Ehe (res et sacramentum) nicht die übernatürliche Gnade selbst ist, sondern das christliche Eheband, eine Gemeinschaft zu zweit, die als Darstellung des Geheimnisses der Menschwerdung Christi und seines Bundesgeheimnisses spezifisch christlich ist. Auch der Inhalt dieser Teilhabe am Leben Christi ist spezifischer Natur: Die eheliche Liebe hat etwas Totales an sich, das alle Dimensionen der Person umfaßt; sie betrifft Leib und Instinkt, die Kraft des Gefühls und der Affektivität, das Verlangen von Geist und Willen; sie ist auf eine zutiefst personale Einheit hingeordnet, die über das leibliche Einswerden hinaus dazu hinführt, ein Herz und eine Seele zu werden; sie fordert Unauflöslichkeit und Treue in der endgültigen gegenseitigen Hingabe und ist offen für die Fruchtbarkeit (vgl. Enzyklika Humanae vitae HV 9). In einem Wort, es handelt sich um die normalen Merkmale jeder natürlichen ehelichen Liebe, jedoch mit einem neuen Bedeutungsgehalt, der sie nicht nur läutert und festigt, sondern so hoch erhebt, daß sie Ausdruck spezifisch christlicher Werte werden" (Johannes Paul II.,Ansprache an die Delegierten des "Centre de Liaison des Equipes de Recherche" (3.11.1979), 3: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, II, 2 (1979) 1032).

Die Kinder, kostbarstes Gut der Ehe


14 Dem Plan Gottes entsprechend ist die Ehe die Grundlage der größeren Gemeinschaft der Familie, sind doch die Ehe als Institution und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet und finden darin ihre Krönung (Vgl. Gaudium et Spes GS 50).

In ihrer tiefsten Wirklichkeit ist die Liebe wesenhaft Gabe, und wenn die eheliche Liebe die Gatten zum gegenseitigen "Erkennen" führt und zu "einem Fleisch" (Vgl. Gen Gn 2,24) macht, erschöpft sie sich nicht in der Gemeinschaft der beiden, sondern befähigt sie zum größtmöglichen Geben, zum Schenken des Lebens an eine neue menschliche Person, wodurch sie zu Mitarbeitern Gottes werden. Während sich die Eheleute einander schenken, schenken sie über sich selbst hinaus die Wirklichkeit des Kindes: lebender Widerschein ihrer Liebe, bleibendes Zeichen ihrer ehelichen Gemeinschaft, lebendige und unauflösliche Einheit ihres Vater- und Mutterseins.

Als Eltern empfangen die Eheleute von Gott die Gabe einer neuen Verantwortung. Ihre elterliche Liebe ist dazu berufen, für die Kinder zum sichtbaren Zeichen der Liebe Gottes selbst zu werden, "von der jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden ihren Namen hat" (Ep 3,15).

Man darf jedoch nicht vergessen, daß das eheliche Leben auch dann nicht seinen Wert verliert, wenn die Zeugung neuen Lebens nicht möglich ist. Die leibliche Unfruchtbarkeit kann den Gatten Anlaß zu anderen wichtigen Diensten am menschlichen Leben sein, wie Adoption, verschiedene Formen erzieherischer Tätigkeit, Hilfe für andere Familien, für arme oder behinderte Kinder.


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