Fides et ratio 15

KAPITEL II


CREDO UT INTELLEGAM


Die Weisheit weiß und versteht alles (vgl. @Sg 9,11@)


16 Wie tief der Zusammenhang zwischen Glaubens- und Vernunfterkenntnis ist, wird bereits in der Heiligen Schrift mit erstaunlich deutlichen Hinweisen aufgezeigt. Das bezeugen besonders die Weisheitsbücher. Was bei der unvoreingenommenen Lektüre dieser Seiten der Heiligen Schrift beeindruckt, ist die Tatsache, daß in diesen Texten nicht nur Israels Glaube enthalten ist, sondern auch der Reichtum bereits untergegangener Zivilisationen und Kulturen. Wie nach einem besonderen Plan lassen Ägypten und Mesopotamien wieder ihre Stimme hören, und manche gemeinsamen Züge der altorientalischen Kulturen werden auf diesen Seiten, die so reich sind an inneren Einsichten einzigartiger Tiefe, wieder ins Leben zurückgeholt.

Es ist kein Zufall, daß der heilige Verfasser den weisen Menschen, den er beschreiben möchte, als denjenigen darstellt, der die Wahrheit liebt und nach ihr sucht: »Wohl dem Menschen, der nachsinnt über die Weisheit, der sich bemüht um Einsicht, der seinen Sinn richtet auf ihre Wege und auf ihre Pfade achtet, der ihr nachgeht wie ein Späher und an ihren Eingängen lauert, der durch ihre Fenster schaut und an ihren Türen horcht, der sich bei ihrem Haus niederläßt und seine Zeltstricke an ihrer Mauer befestigt, der neben ihr sein Zelt aufstellt und so eine gute Wohnung hat, der sein Nest in ihr Laub baut und in ihren Zweigen die Nacht verbringt, der sich in ihrem Schatten vor der Hitze verbirgt und im Schutz ihres Hauses wohnt« (
Si 14,20-27).

Wie man sieht, ist für den inspirierten Verfasser der sehnliche Wunsch nach Erkenntnis ein Wesensmerkmal, das alle Menschen vereint. Dank des Denkvermögens ist allen, Glaubenden wie Nichtglaubenden, die Möglichkeit gegeben, »zu schöpfen im tiefen Wasser« der Erkenntnis (vgl. Pr 20,5). Im alten Israel erfolgte das Erkennen der Welt und ihrer Erscheinungen sicher nicht durch Abstraktion, wie das für den jonischen Philosophen oder den ägyptischen Weisen zutrifft. Noch weniger empfing der gute Israelit die Erkenntnis mit Hilfe der Kriterien, wie sie der zunehmend nach Wissensspaltung tendierenden modernen Zeit eigen sind. Trotzdem hat die Welt der Bibel in das große Meer der Erkenntnislehre ihren originellen Beitrag einfließen lassen.

Wie sieht dieser Beitrag aus? Die Besonderheit, die den Bibeltext auszeichnet, besteht in der Überzeugung, daß zwischen der Vernunft- und der Glaubenserkenntnis eine tiefe, untrennbare Einheit besteht. Die Welt und was in ihr vorgeht ebenso wie die Geschichte und die wechselvollen Ereignisse des Volkes sind Wirklichkeiten, die mit den Mitteln der Vernunft betrachtet, analysiert und beurteilt werden, ohne daß aber der Glaube an diesem Prozeß unbeteiligt bliebe. Er greift nicht ein, um die Autonomie der Vernunft zu beschneiden oder ihren Handlungsraum einzuschränken, sondern nur dazu, um dem Menschen begreiflich zu machen, daß der Gott Israels in diesen Geschehnissen sichtbar wird und handelt. Die Welt und die geschichtlichen Begebenheiten gründlich zu kennen, ist also unmöglich, ohne sich gleichzeitig zum Glauben an den in ihnen wirkenden Gott zu bekennen. Der Glaube schärft den inneren Blick, indem er den Verstand dafür offen macht, im Strom der Ereignisse die tätige Gegenwart der Vorsehung zu entdecken. Ein Satz aus dem Buch der Sprichwörter ist in diesem Zusammenhang bezeichnend: »Des Menschen Herz plant seinen Weg, doch der Herr lenkt seinen Schritt« (Pr 16,9). Man könnte sagen, der Mensch vermag mit dem Licht der Vernunft seinen Weg zu erkennen, kann ihn aber nur dann rasch und ohne Hindernisse zu Ende gehen, wenn er mit redlichem Herzen sein Forschen in den Horizont des Glaubens einfügt. Vernunft und Glaube lassen sich daher nicht voneinander trennen, ohne daß es für den Menschen unmöglich wird, sich selbst, die Welt und Gott in entsprechender Weise zu erkennen.


17 Es gibt also keinen Grund für das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfes zwischen Vernunft und Glaube: sie wohnen einander inne, und beide haben ihren je eigenen Raum zu ihrer Verwirklichung. Wieder ist es das Buch der Sprichwörter, das uns mit dem Ausruf in diese Richtung weist: »Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verhüllen, des Königs Ehre ist es, eine Sache zu erforschen« (Pr 25,2). Gott und der Mensch sind in ihrer jeweiligen Welt in eine einzigartige Wechselbeziehung gestellt. In Gott hat alles seinen Ursprung, in ihm sammelt sich die Fülle des Geheimnisses, und das macht seine Ehre aus; dem Menschen fällt die Aufgabe zu, mit seiner Vernunft nach der Wahrheit zu forschen, und darin besteht sein Adel. Ein weiterer Stein zu diesem Mosaik wird vom Psalmisten hinzugefügt, wenn er betet: »Wie schwierig sind für mich, o Gott, deine Gedanken, wie gewaltig ist ihre Zahl! Wollte ich sie zählen, es wären mehr als der Sand. Käme ich bis zum Ende, wäre ich noch immer bei dir« (Ps 139,17-18). Das Streben nach Erkenntnis ist so groß und mit einem derartigen Dynamismus verbunden, daß sich das Herz des Menschen trotz der Erfahrung der unüberschreitbaren Grenze nach dem unendlichen Reichtum sehnt, der sich jenseits befindet, weil es ahnt, daß dort die befriedigende Antwort auf jede noch ungelöste Frage gehütet wird.


18 Wir können daher sagen, Israel hat es vermocht, mit seinem Nachdenken der Vernunft den Weg zum Geheimnis zu eröffnen. In der Offenbarung Gottes konnte es alles gründlich erkunden, was es mit der Vernunft vergeblich zu erreichen versuchte. Von dieser tiefsten Erkenntnisform ausgehend hat das auserwählte Volk verstanden, daß die Vernunft einige Grundregeln beachten muß, um der ihr eigenen Natur bestmöglich Ausdruck geben zu können. Die erste Regel besteht in der Berücksichtigung der Tatsache, daß das Erkennen des Menschen ein Weg ist, der keinen Stillstand kennt; die zweite entsteht aus dem Bewußtsein, daß man sich auf diesen Weg nicht mit dem Hochmut dessen begeben darf, der meint, alles sei Frucht persönlicher Errungenschaft; eine dritte Regel gründet auf der »Gottesfurcht«: die Vernunft muß Gottes souveräne Transzendenz und zugleich seine sorgende Liebe bei der Lenkung der Welt anerkennen.

Wenn der Mensch von diesen Regeln abweicht, setzt er sich der Gefahr des Scheiterns aus und befindet sich schließlich in der Verfassung des »Toren«. Für die Bibel beinhaltet diese Torheit eine Bedrohung des Lebens. Denn der Tor bildet sich ein, viele Dinge zu wissen, ist aber in Wirklichkeit nicht imstande, den Blick auf die wesentlichen Dinge zu heften. Das hindert ihn daran, Ordnung in seinen Verstand zu bringen (vgl.
Pr 1,7) und gegenüber sich selbst und seiner Umgebung eine entsprechende Haltung einzunehmen. Wenn er dann so weit geht zu behaupten: »Es gibt keinen Gott« (Ps 14,1), enthüllt er mit endgültiger Klarheit, wie unzureichend sein Wissen ist und wie weit er von der vollen Wahrheit über die Dinge, ihren Ursprung und ihre Bestimmung entfernt ist.


19 Einige wichtige Texte, die weiteres Licht auf dieses Thema werfen, sind im 13. Kapitel des Buches der Weisheit enthalten. Darin spricht der Verfasser von Gott, der sich auch durch die Natur erkennen läßt. In der Antike fiel das Studium der Naturwissenschaften großenteils mit dem philosophischen Wissen zusammen. Nachdem der heilige Text ausgeführt hat, daß der Mensch mit seinem Verstand in der Lage ist, »den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente, ... den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Sterne, die Natur der Tiere und die Wildheit der Raubtiere« zu verstehen (Sg 7,17 Sg 7,19-20), mit einem Wort, daß er fähig ist zu philosophieren, vollzieht er einen sehr bemerkenswerten Schritt nach vorn. Während der Verfasser das Denken der griechischen Philosophie aufgreift, auf das er sich in diesem Zusammenhang offensichtlich bezieht, erklärt er, daß man eben durch vernünftiges Nachdenken über die Natur wieder auf den Schöpfer zurückkommen könne: »Denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen« (Sg 13,5). Es wird also eine erste Stufe der göttlichen Offenbarung anerkannt, die aus dem wunderbaren »Buch der Natur« besteht; liest der Mensch dieses Buch mit den seiner Vernunft eigenen Mitteln, kann er zur Erkenntnis des Schöpfers gelangen. Wenn der Mensch mit seinem Verstand Gott, den Schöpfer von allem, nicht zu erkennen vermag, dann liegt das nicht so sehr am Fehlen eines geeigneten Mittels als vielmehr an dem Hindernis, das ihm von seinem freien Willen und seiner Sünde in den Weg gelegt wurde.


20 Die Vernunft wird in dieser Sicht gewürdigt, aber nicht überbewertet. Denn alles, was sie erreicht, kann zwar wahr sein, erlangt aber volle Bedeutung erst, wenn sein Inhalt in den weiteren Horizont des Glaubens gestellt wird: »Der Herr lenkt die Schritte eines jeden. Wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen?« (Pr 20,24). Nach dem Alten Testament befreit also der Glaube die Vernunft, da er ihr ermöglicht, ihren Erkenntnisgegenstand konsequent zu erreichen und ihn in jene höchste Ordnung zu stellen, in der alles seine Sinnhaftigkeit erlangt. Mit einem Wort, der Mensch gelangt durch die Vernunft zur Wahrheit, weil er zugleich mit dem Glauben den tiefen Sinn von allem und insbesondere den Sinn seines eigenen Daseins entdeckt. Mit Recht setzt daher der Verfasser als den Anfang der wahren Erkenntnis die Gottesfurcht voraus: »Gottesfurcht ist Anfang der Erkenntnis« (Pr 1,7 vgl. Si 1,14).

»Erwirb dir Weisheit, erwirb dir Einsicht«\b\i (@Pr 4,5@)


21 Die Erkenntnis beruht nach dem Alten Testament nicht nur auf einer sorgfältigen Beobachtung des Menschen, der Welt und der Geschichte, sondern setzt auch eine unerläßliche Beziehung zum Glauben und zu den Inhalten der Offenbarung voraus. Hier liegen auch die Herausforderungen, denen sich das auserwählte Volk stellen mußte und auf die es geantwortet hat. Beim Nachdenken über diese seine Lage hat der biblische Mensch entdeckt, daß er sich nur begreifen kann, insofern er »in Beziehung steht«: in Beziehung zu sich selbst, zum Volk, zur Welt und zu Gott. Diese Öffnung für das Geheimnis, die ihm von der Offenbarung zukam, war schließlich für ihn die Quelle einer wahren Erkenntnis, die seiner Vernunft das Eintauchen in die Räume des Unendlichen erlaubte, wodurch er bis dahin unverhoffte Verständnismöglichkeiten erhielt.

Die Anstrengung des Forschens war für den Verfasser nicht frei von der Mühseligkeit, die von der Auseinandersetzung mit den Grenzen der Vernunft herrührt. Das läßt sich zum Beispiel den Worten entnehmen, mit denen das Buch der Sprichwörter den Zustand der Erschöpfung offenlegt, der sich bei dem Versuch, die geheimnisvollen Pläne Gottes zu begreifen, einstellte (vgl.
Pr 30,1-6). Der Glaubende gibt sich jedoch trotz der Beschwerlichkeit nicht geschlagen. Die Kraft, um seinen Weg zur Wahrheit fortzusetzen, erhält er aus der Gewißheit, daß Gott ihn als »Forscher« erschaffen hat (vgl. Qo 1,13), der den Auftrag hat, trotz der ständigen Erpressung durch den Zweifel nichts unversucht zu lassen. Dadurch, daß er sich auf Gott stützt, bleibt er immer und überall auf das Schöne, Gute und Wahre ausgerichtet.


22 Der hl. Paulus hilft uns im ersten Kapitel seines Briefes an die Römer, die Überlegung der Weisheitsbücher in ihrer Eindringlichkeit besser zu würdigen. Mit seiner Darlegung einer philosophischen Argumentation in der Sprache des Volkes bringt der Apostel eine tiefe Wahrheit zum Ausdruck: Durch die Schöpfung können die »Augen des Verstandes« zur Erkenntnis Gottes gelangen. Denn durch die Geschöpfe läßt er die Vernunft seine »Macht« und seine »Gottheit« erahnen (vgl. Rm 1,20). Der Vernunft des Menschen wird also eine Fähigkeit zuerkannt, die gleichsam ihre natürlichen Grenzen zu übersteigen scheint: nicht nur daß sie von dem Augenblick an, wo sie kritisch darüber nachdenken kann, nicht mehr in die sinnliche Erkenntnis verbannt ist, sondern auch durch das Argumentieren über die Sinneswahrnehmungen kann sie zu dem Grund vordringen, der am Anfang jeder sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit steht. In philosophischer Fachsprache könnten wir sagen, daß in dem wichtigen Text die metaphysische Fähigkeit des Menschen bejaht wird.

Nach Überzeugung des Apostels war im ursprünglichen Schöpfungsplan die Fähigkeit der Vernunft vorgesehen, die Sinnenwelt mit Leichtigkeit zu übersteigen, um zum eigentlichen Ursprung von allem zu gelangen: dem Schöpfer. Infolge des Ungehorsams, durch den sich der Mensch die volle und absolute Unabhängigkeit gegenüber seinem Schöpfer erwirken wollte, ist diese Leichtigkeit des Aufstiegs zum Schöpfergott verloren gegangen.

Das Buch Genesis beschreibt auf anschauliche Weise diesen Zustand des Menschen, wenn es davon erzählt, daß Gott ihn in den Garten Eden setzte, in dessen Mitte »der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« stand (Gn 2,17). Das Symbol ist klar: Der Mensch war nicht in der Lage, von sich aus zu unterscheiden und zu entscheiden, was gut und was böse war, sondern mußte sich auf ein höheres Prinzip berufen. Verblendung durch Überheblichkeit verführte unsere Stammeltern zu der trügerischen Täuschung, sie wären souverän und unabhängig und könnten auf die von Gott stammende Erkenntnis verzichten. In ihren Ur-Ungehorsam zogen sie jeden Mann und jede Frau hinein und fügten der Vernunft Wunden zu, die von da an den Weg zur vollen Wahrheit behindern sollten. Das menschliche Vermögen, die Wahrheit zu erkennen, wurde nunmehr von der Auflehnung gegen denjenigen beeinträchtigt, der Quelle und Ursprung der Wahrheit ist. Wieder ist es der Apostel, der darlegt, wie auf Grund der Sünde die Gedanken der Menschen »nichtig« geworden sind und sich ihre Überlegungen als entstellt und falsch orientiert erwiesen haben (vgl. Rm 1,21-22). Die Augen des Verstandes waren nun nicht mehr in der Lage, klar zu sehen: die Vernunft wurde zunehmend zur Gefangenen ihrer selbst. Das Kommen Christi war das Heilsereignis, das die Vernunft aus ihrer Schwachheit erlöste und sie von den Fesseln, in denen sie sich selbst gefangen hatte, befreite.


23 Das Verhältnis des Christen zur Philosophie verlangt daher eine tiefgreifende Unterscheidung. Im Neuen Testament, vor allem in den Briefen des hl. Paulus, tritt eine Tatsache klar ans Licht: die Gegenüberstellung zwischen der »Weisheit dieser Welt« und der in Jesus Christus geoffenbarten Weisheit Gottes. Die Tiefgründigkeit der geoffenbarten Weisheit sprengt den Zirkel unserer üblichen Denkschemata, die keinesfalls in der Lage sind, sie adäquat wiederzugeben.

Der Anfang des ersten Briefes an die Korinther wirft dieses Dilemma in radikaler Weise auf. Der gekreuzigte Sohn Gottes ist das geschichtliche Ereignis, an dem jeder Versuch des Verstandes scheitert, auf rein menschlichen Argumenten einen ausreichenden Beleg für den Sinn des Daseins aufzubauen. Der wahre Knotenpunkt, der die Philosophie herausfordert, ist der Tod Jesu Christi am Kreuz. Denn hier ist jeder Versuch, den Heilsplan des Vaters auf reine menschliche Logik zurückzuführen, zum Scheitern verurteilt. »Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Welt? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt?« (
1Co 1,20), fragt sich der Apostel emphatisch. Für das, was Gott verwirklichen will, genügt nicht bloß die Weisheit des weisen Menschen, vielmehr ist ein entschlossener Übergang zur Annahme von etwas völlig Neuem gefordert: »Das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen [...]. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten« (1Co 1,27-28). Die Weisheit des Menschen lehnt es ab, in ihrer Schwachheit die Voraussetzung für ihre Stärke zu sehen; aber der hl. Paulus zögert nicht zu bekräftigen: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark« (2Co 12,10). Der Mensch vermag nicht zu begreifen, wie der Tod Quelle von Leben und Liebe sein könne, aber Gott hat gerade das für die Enthüllung des Geheimnisses seines Heilsplanes erwählt, was die Vernunft als »Torheit« und »Ärgernis« ansieht. Mit Hilfe der Sprache der Philosophen seiner Zeit erreicht Paulus den Höhepunkt seiner Lehre und des Paradoxons, das er ausdrücken will: »Gott hat in der Welt das, was nichts ist, erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten« (1Co 1,28). Der Apostel scheut sich nicht, von der radikalsten Sprache, welche die Philosophen in ihren Erwägungen über Gott verwendeten, Gebrauch zu machen, um das Wesen der ungeschuldeten Liebe zum Ausdruck zu bringen, die sich im Kreuz Jesu Christi geoffenbart hat. Die Vernunft kann das Geheimnis, das das Kreuz darstellt, nicht der Liebe entleeren; statt dessen kann das Kreuz der Vernunft die letzte Antwort geben, nach der sie sucht. Nicht die Weisheit der Worte, sondern das Wort von der Weisheit ist es, das der hl. Paulus als Kriterium der Wahrheit und damit des Heils festsetzt.

Die Weisheit des Kreuzes überwindet daher jede kulturelle Grenze, die man ihr auferlegen will, und verpflichtet dazu, sich der Universalität der Wahrheit, deren Trägerin sie ist, zu öffnen. Was für eine Herausforderung stellt sich da unserer Vernunft und welchen Nutzen zieht sie daraus, wenn sie sich denn geschlagen gibt! Die Philosophie, die schon von sich aus imstande ist, die unablässige Selbsttranszendierung des Menschen auf die Wahrheit hin zu erkennen, kann sich mit Hilfe des Glaubens öffnen, um in der »Torheit« des Kreuzes die echte Kritik an denen aufzugreifen, die sich der Täuschung hingeben, die Wahrheit zu besitzen, während sie sie in die Untiefen ihres Systems gefangenhalten. Das Verhältnis von Glaube und Philosophie trifft in der Verkündigung vom gekreuzigten und auferstandenen Christus auf die Felsenklippe, an der es Schiffbruch erleiden kann. Doch jenseits dieser Klippe kann es in das unendliche Meer der Wahrheit einmünden. Hier zeigt sich deutlich die Grenze zwischen Vernunft und Glaube, es wird aber auch der Raum klar erkennbar, in dem sich beide begegnen können.

KAPITEL III


INTELLEGO UT CREDAM


Auf dem Weg der Suche nach der Wahrheit


24 Der Evangelist Lukas erzählt in der Apostelgeschichte, daß Paulus auf seinen Missionsreisen nach Athen kam. Die Stadt der Philosophen war voll von Statuen, die verschiedene Götzen darstellten. Ein Altar erregte seine Aufmerksamkeit, und er nahm das sogleich zum Anlaß, darin eine gemeinsame Grundlage zu entdecken, auf der er mit der Verkündigung des Kerygmas beginnen konnte. Und so sprach er: »Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: Einem unbekannten Gott. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch« (Ac 17,22-23). Von da ausgehend spricht der hl. Paulus von Gott als Schöpfer, als dem, der alles übersteigt und alles zum Leben bringt. Dann setzt er seine Rede so fort: »Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgelegt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern« (Ac 17,26-27).

Der Apostel legt eine Wahrheit vor, die sich die Kirche stets zunutze gemacht hat: Das Streben und die Sehnsucht nach Gott ist tief in das Menschenherz eingesät. Daran erinnert auch ausdrücklich die Karfreitagsliturgie, wenn sie uns im Gebet für alle Nichtglaubenden sprechen läßt: »Allmächtiger, ewiger Gott, du hast eine so tiefe Sehnsucht nach dir ins Herz des Menschen gesenkt, daß sie erst Frieden haben, wenn sie dich finden«. (22) Es gibt also einen Weg, den der Mensch, wenn er will, gehen kann; er beginnt mit der Fähigkeit der Vernunft, sich über das Zufällige zu erheben, um auf das Unendliche zuzutreiben.

Der Mensch hat auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten bewiesen, daß er imstande ist, dieser seiner tiefsten Sehnsucht Ausdruck zu verleihen. Literatur, Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur und jedes andere Erzeugnis seines schöpferischen Verstandes sind zu Kanälen geworden, durch die er sein sehnsüchtiges Suchen ausdrückt. In besonderer Weise hat die Philosophie diesen Antrieb in sich aufgenommen und mit ihren Mitteln sowie ihren wissenschaftlichen Möglichkeiten gemäß diesem universalen Streben des Menschen Ausdruck verliehen.


25 »Alle Menschen streben nach Wissen«; (23) Gegenstand dieses Strebens ist die Wahrheit. Selbst das Alltagsleben zeigt, wie sehr ein jeder daran interessiert ist herauszufinden, wie über das bloß gehörte Wort hinaus die Dinge in Wahrheit sind. Der Mensch ist das einzige Wesen in der ganzen sichtbaren Schöpfung, das nicht nur zu wissen fähig ist, sondern auch um dieses Wissen weiß; darum interessiert er sich für die tatsächliche Wahrheit dessen, was für ihn sichtbar ist. Ehrlicherweise darf niemandem die Wahrheit seines Wissens gleichgültig sein. Wenn er entdeckt, daß es falsch ist, verwirft er es; wenn er es hingegen als wahr feststellen kann, ist er zufrieden. Das ist die Lehre des hl. Augustinus, wenn er schreibt: »Ich habe manchen gefunden, der andere täuschen wollte, aber keinen, der getäuscht sein wollte«. (24) Mit Recht gilt ein Mensch dann als erwachsen, wenn er mit eigenen Mitteln zwischen wahr und falsch unterscheiden kann, indem er sich über die objektive Wirklichkeit der Dinge sein Urteil bildet. Hier liegt der Grund zu vielen Forschungen, besonders auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, die in den letzten Jahrhunderten so bedeutsame Ergebnisse erbracht und damit einen echten Fortschritt der gesamten Menschheit gefördert haben.

Nicht weniger wichtig als die Forschung auf theoretischem Gebiet ist jene im praktischen Bereich. Denn durch sein sittliches Handeln schlägt die menschliche Person, wenn sie ihrem freien und rechten Willen gemäß handelt, den Weg der Glückseligkeit ein und strebt nach Vollkommenheit. Auch in diesem Fall geht es um die Wahrheit. Diese Überzeugung habe ich in der Enzyklika Veritatis splendor unterstrichen: »Moral ohne Freiheit gibt es nicht... Wenn für den Menschen das Recht besteht, auf seinem Weg der Wahrheitssuche respektiert zu werden, so besteht noch vorher die für jeden schwerwiegende moralische Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und an der anerkannten Wahrheit festzuhalten«. (25)

Es ist also notwendig, daß die angenommenen und durch das eigene Leben verfolgten Werte wahr sind, weil nur wahre Werte die menschliche Person durch Verwirklichung ihrer Natur vollenden können. Diese Wahrheit der Werte findet der Mensch nicht dadurch, daß er sich in sich verschließt, sondern indem er sich öffnet, um sie auch in den über ihn hinausgehenden Dimensionen anzunehmen. Das ist eine unerläßliche Voraussetzung, damit ein jeder er selbst werden und als erwachsene, reife Person wachsen kann.


26 Die Wahrheit stellt sich beim Menschen anfangs in Frageform vor: Hat das Leben einen Sinn? Wohin führt es? Auf den ersten Blick könnte das Dasein des Menschen als Person gänzlich sinnlos erscheinen. Man braucht nicht Philosophen, die die Absurdität vertreten, oder die provokatorischen Fragen im Buch Ijob heranzuziehen, um am Sinn des Lebens zu zweifeln. Die tägliche Erfahrung von eigenem und fremdem Leid, der Anblick so vieler Tatsachen, die im Lichte der Wahrheit unerklärlich erscheinen, genügen, daß wir unausweichlich eine so dramatische Frage wie jene nach dem Sinn stellen. (26) Hinzukommt, daß die erste absolut sichere Wahrheit unserer Existenz außer der Tatsache, daß wir überhaupt da sind, die Unvermeidbarkeit unseres Todes ist. Angesichts dieses bestürzenden Umstandes stellt sich die Suche nach einer erschöpfenden Antwort. Jeder will — und soll — die Wahrheit über sein Ende kennen. Er will wissen, ob der Tod das endgültige Ende seines Daseins ist oder ob es noch etwas gibt, das über den Tod hinausreicht; ob er auf ein Weiterleben hoffen darf oder nicht. Nicht von ungefähr hat das philosophische Denken seine entscheidende Orientierung vom Tod des Sokrates her erhalten und ist seit über zweitausend Jahren davon geprägt geblieben. Es ist also durchaus kein Zufall, daß angesichts der Tatsache des Todes die Philosophen sich dieses Problems, zusammen mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und der Unsterblichkeit, immer von neuem angenommen haben.


27 Niemand, weder der Philosoph noch der gewöhnliche Mensch, kann diesen Fragen aus dem Weg gehen. Von der Antwort darauf hängt eine entscheidende Etappe der Suche ab: Ob es möglich ist, zu einer universalen und absoluten Wahrheit zu gelangen oder nicht. An und für sich erscheint jede Wahrheit, auch Teilwahrheit, wenn sie wirklich Wahrheit ist, als universal. Was wahr ist, muß für alle und für immer wahr sein. Außer dieser Universalität sucht der Mensch jedoch nach einem Absoluten, das in der Lage sein soll, seinem ganzen Suchen und Forschen Antwort und Sinn zu geben: etwas Letztes, das sich als Grund jeder Sache herausstellt. Mit anderen Worten, er sucht nach einer endgültigen Erklärung, nach einem höchsten Wert, über den hinaus es weitere Fragen oder Verweise weder gibt noch geben kann. Hypothesen können den Menschen faszinieren, aber sie befriedigen ihn nicht. Es kommt für alle der Zeitpunkt, wo sie, ob sie es zugeben oder nicht, das Bedürfnis haben, ihre Existenz in einer als endgültig anerkannten Wahrheit zu verankern, welche eine Gewißheit vermittelt, die nicht mehr dem Zweifel unterworfen ist.

Die Philosophen haben im Laufe der Jahrhunderte versucht, eine solche Wahrheit zu entdecken und zum Ausdruck zu bringen, indem sie Denksysteme und -schulen ins Leben riefen. Über die philosophischen Systeme hinaus gibt es jedoch noch andere Ausdrucksformen, in denen der Mensch seiner »Philosophie« Gestalt zu geben versucht: dabei handelt es sich um persönliche Überzeugungen oder Erfahrungen, um familiäre oder kulturelle Traditionen oder um Lebensprogramme, wo man sich der Autorität eines Meisters anvertraut. Aus jeder dieser Erscheinungen spricht stets der lebhafte Wunsch, zur Gewißheit der Wahrheit und ihres absoluten Wertes zu gelangen.

Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen


28 Die Wahrheitssuche stellt sich zugegebenermaßen nicht immer mit solcher Transparenz und Folgerichtigkeit dar. Die angeborene Begrenztheit der Vernunft und die Unbeständigkeit des Herzens trüben oft die persönliche Suche und lenken sie ab. Verschiedenartige andere Interessen können die Wahrheit unterdrücken. Es kommt vor, daß der Mensch, kaum daß er die Wahrheit flüchtig erblickt, geradewegs vor ihr flieht, weil er sich vor ihren Ansprüchen fürchtet. Trotzdem beeinflußt die Wahrheit, auch wenn er sie meidet, immer sein Dasein. Denn niemals könnte er sein Leben auf Zweifel, Ungewißheit oder Lüge gründen; eine solche Existenz wäre ständig von Angst und Furcht bedroht. Man kann also den Menschen als den definieren, der nach der Wahrheit sucht.


29 Es ist undenkbar, daß eine so tief in der menschlichen Natur verwurzelte Suche völlig nutzlos und vergeblich sein könnte. Die Fähigkeit, nach der Wahrheit zu suchen und Fragen zu stellen, schließt nämlich bereits eine erste Antwort ein. Der Mensch würde gar nicht anfangen, etwas zu suchen, von dem er überhaupt nichts wüßte oder das er für absolut unerreichbar hielte. Erst die Aussicht, zu einer Antwort gelangen zu können, kann ihn veranlassen, den ersten Schritt zu tun. Tatsächlich geschieht genau das normalerweise in der wissenschaftlichen Forschung. Wenn ein Wissenschaftler, seiner Intuition folgend, sich der Suche nach der logischen und nachweisbaren Erklärung eines bestimmten Phänomens widmet, vertraut er von Anfang an darauf, eine Antwort zu finden, und kapituliert nicht angesichts der Mißerfolge. Er hält seine ursprüngliche Eingebung nicht für nutzlos, nur weil er das Ziel nicht erreicht hat; er wird vielmehr zu Recht sagen, er habe noch nicht die adäquate Antwort gefunden.

Dasselbe muß auch für die Wahrheitssuche im Bereich der letzten Fragen gelten. Die Sehnsucht nach der Wahrheit wurzelt so tief im Herzen des Menschen, daß das Abstandnehmen davon die Existenz gefährden würde. Es genügt schließlich die Beobachtung des Alltagslebens um festzustellen, daß jeder von uns die quälende Last einiger wesentlicher Fragen in sich trägt und zugleich in seinem Herzen zumindest den Entwurf der dazugehörigen Antworten hütet. Es sind Antworten, von deren Wahrheit man auch deshalb überzeugt ist, weil man die Erfahrung macht, daß sie sich im wesentlichen nicht von den Antworten unterscheiden, zu denen viele andere gelangt sind. Sicherlich besitzt nicht jede Wahrheit, die erworben wird, denselben Wert. Von der Gesamtheit der erreichten Ergebnisse wird jedoch die Fähigkeit des Menschen bestätigt, grundsätzlich zur Wahrheit zu gelangen.


30 Es mag nützlich sein, diese verschiedenen Formen der Wahrheit im folgenden kurz zu erwähnen. Am zahlreichsten sind jene Formen, die auf unmittelbarer Einsichtigkeit beruhen oder durch Erprobung Bestätigung finden. Es handelt sich dabei um die Wahrheitsordnung des Alltagslebens und der wissenschaftlichen Forschung. Auf einer anderen Ebene sind die Wahrheiten philosophischen Charakters anzusiedeln, zu denen der Mensch durch die spekulative Kraft seines Verstandes gelangt. Schließlich gibt es die religiösen Wahrheiten, die in gewissem Maße auch in der Philosophie verwurzelt sind. Enthalten sind sie in den Antworten, welche die verschiedenen Religionen in ihren Traditionen auf die letzten Fragen geben. (27)

Was die philosophischen Wahrheiten betrifft, gilt es klarzustellen, daß sie sich nicht allein auf die mitunter kurzlebigen Wahrheiten der Berufsphilosophen beschränken. Wie ich schon gesagt habe, ist jeder Mensch auf eine gewisse Art ein Philosoph und besitzt seine philosophischen Auffassungen, nach denen er sein Leben ausrichtet. Er bildet sich auf die eine oder andere Weise eine Gesamtanschauung und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Daseins: in diesem Licht deutet er sein persönliches Schicksal und regelt sein Verhalten. Hier müßte er sich die Frage nach dem Verhältnis der philosophisch-religiösen Wahrheiten zu der in Jesus Christus geoffenbarten Wahrheit stellen. Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir noch eine weitere Gegebenheit der Philosophie bedenken.


31 Der Mensch ist nicht geschaffen, um allein zu leben. Er wird geboren und wächst in einer Familie auf, um sich später mit seiner Arbeit in die Gesellschaft einzugliedern. Er findet sich also von Geburt an in verschiedene Traditionen eingebunden, von denen er nicht nur die Sprache und die kulturelle Bildung, sondern auch vielfältige Wahrheiten empfängt, denen er gleichsam instinktiv glaubt. Persönliches Wachstum und Reifung bringen es jedoch mit sich, daß diese Wahrheiten durch den besonderen Einsatz des kritischen Denkens in Zweifel gezogen und überprüft werden können. Das hindert nicht, daß nach dieser Übergangsphase dieselben Wahrheiten aufgrund der mit ihnen gemachten Erfahrung oder kraft nachfolgender Überlegungen »wiedergewonnen« werden. Trotzdem sind im Leben eines Menschen die einfachhin geglaubten Wahrheiten viel zahlreicher als jene, die er durch persönliche Überprüfung erwirbt. Wer wäre denn imstande, die unzähligen wissenschaftlichen Ergebnisse, auf die sich das moderne Leben stützt, kritisch zu prüfen? Wer vermöchte für sich allein den Strom der Informationen zu kontrollieren, die Tag für Tag aus allen Teilen der Welt eintreffen und die immerhin als grundsätzlich wahr angenommen werden? Wer könnte schließlich die Erfahrungs- und Denkwege wiederholen, auf denen sich die Schätze der Menschheit an Weisheit und Religiosität angesammelt haben? Der Mensch, ein Wesen, das nach der Wahrheit sucht, ist also auch derjenige, der vom Glauben lebt.


32 Im Glauben vertraut sich ein jeder den von anderen Personen erworbenen Erkenntnissen an. Darin ist eine bedeutungsvolle Spannung erkennbar: einerseits erscheint die Erkenntnis durch Glauben als eine unvollkommene Erkenntnisform, die sich nach und nach durch die persönlich gewonnene Einsicht vervollkommnen soll; andererseits erweist sich der Glaube oft als menschlich reicher im Vergleich zur bloßen Einsichtigkeit, weil er eine Beziehung zwischen Personen einschließt und nicht nur die persönlichen Erkenntnisfähigkeiten, sondern auch die tiefergehende Fähigkeit ins Spiel bringt, sich anderen Personen anzuvertrauen, indem man eine festere und innige Verbindung mit ihnen eingeht.

Es sei unterstrichen, daß die in dieser zwischenmenschlichen Beziehung gesuchten Wahrheiten nicht in erster Linie in die faktische oder in die philosophische Ordnung gehören. Gesucht wird vielmehr nach der eigentlichen Wahrheit der Person: was sie ist und was sie von ihrem Innersten sichtbar werden läßt. Die Vollkommenheit des Menschen besteht nämlich nicht allein in der Aneignung der abstrakten Erkenntnis der Wahrheit, sondern auch in einer lebendigen Beziehung der Hingabe und Treue gegenüber dem anderen. In dieser Treue, die sich hinzugeben vermag, findet der Mensch volle Gewißheit und Sicherheit. Gleichzeitig ist die Erkenntnis durch Glauben, die sich auf das zwischenmenschliche Vertrauen stützt, jedoch nicht ohne Bezug zur Wahrheit: der gläubige Mensch vertraut sich der Wahrheit an, die der andere ihm kundtut.

Wie viele Beispiele ließen sich zur Erläuterung dieser Tatsache anführen! Meine Gedanken wenden sich jedoch geradewegs dem Zeugnis der Märtyrer zu. Der Märtyrer ist in der Tat der zuverlässigste Zeuge der Wahrheit über das Dasein. Er weiß, daß er in der Begegnung mit Jesus Christus die Wahrheit über sein Leben gefunden hat; nichts und niemand wird ihm jemals diese Gewißheit zu entreißen vermögen. Weder das Leiden noch der gewaltsame Tod werden ihn dazu bringen können, die Zustimmung zu der Wahrheit zu widerrufen, die er in der Begegnung mit Christus entdeckt hat. Deshalb fasziniert uns bis heute das Zeugnis der Märtyrer, es weckt Zustimmung, stößt auf Gehör und findet Nachahmung. Das ist der Grund, warum man auf ihr Wort vertraut: Man entdeckt in ihnen ganz offensichtlich eine Liebe, die keiner langen Argumentationen bedarf, um zu überzeugen, da sie zu jedem von dem spricht, was er im Innersten bereits als wahr vernimmt und seit langem gesucht hat. Schließlich ruft der Märtyrer ein tiefes Vertrauen in uns hervor, weil er sagt, was wir bereits empfinden, und offenkundig macht, was auch wir, wenn wir denn die Kraft dazu fänden, gern ausdrücken würden.


33 So kann man sehen, daß die Linien des Problems fortschreitend ergänzt werden. Der Mensch sucht von Natur aus nach der Wahrheit. Diese Suche ist nicht allein zur Aneignung von partiellen, faktischen oder wissenschaftlichen Wahrheiten bestimmt; der Mensch sucht nicht nur für jede seiner Entscheidungen das wahre Gute. Seine Suche strebt nach einer jenseitigen Wahrheit, die in der Lage sein soll, den Sinn des Lebens zu erklären; es handelt sich daher um eine Suche, die nur im Absoluten Antwort finden kann. (28) Dank der dem Denken innewohnenden Fähigkeiten ist der Mensch imstande, einer solchen Wahrheit zu begegnen und sie zu erkennen. Diese lebenswichtige und für seine Existenz wesentliche Wahrheit wird nicht nur auf rationalem Weg erreicht, sondern auch dadurch, daß sich der Mensch vertrauensvoll auf andere Personen verläßt, welche die Sicherheit und Authentizität der Wahrheit garantieren können. Die Fähigkeit und Entscheidung, sich selbst und sein Leben einem anderen Menschen anzuvertrauen, stellen gewiß einen der anthropologisch gewichtigsten und ausdrucksstärksten Akte dar.

Man möge nicht vergessen, daß auch die Vernunft bei ihrer Suche auf die Unterstützung durch vertrauensvollen Dialog und aufrichtige Freundschaft angewiesen ist. Ein Klima aus Verdacht und Mißtrauen, wie es die spekulative Forschung mitunter umgibt, vernachlässigt die Lehre der antiken Philosophen, welche die Freundschaft als eine der für das richtige Philosophieren geeignetsten Rahmenbedingungen herausstellten.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß sich der Mensch auf einer nach menschlichem Ermessen endlosen Suche befindet: der Suche nach Wahrheit und der Suche nach einer Person, der er sich anvertrauen kann. Der christliche Glaube kommt ihm dadurch entgegen, daß er ihm die konkrete Möglichkeit bietet, das Ziel dieser Suche verwirklicht zu sehen. Indem er beim Menschen das Stadium des gewöhnlichen Glaubens überwindet, führt er ihn in jene Gnadenordnung ein, die ihm die Teilhabe an dem Geheimnis Christi erlaubt, in dem ihm die wahre und angemessene Erkenntnis des dreieinigen Gottes geschenkt wird. In Jesus Christus, der die Wahrheit ist, anerkennt somit der Glaube den letzten Aufruf, der an die Menschheit gerichtet wird, damit sie das, was sie als Streben und Sehnsucht erfährt, zur Erfüllung bringen kann.


34 Diese »Wahrheit«, die uns Gott in Jesus Christus offenbart, steht nicht im Widerspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt. Die beiden Erkenntnisordnungen führen ja erst zur Wahrheit in ihrer Fülle. Die Einheit der Wahrheit ist bereits ein grundlegendes Postulat der menschlichen Vernunft, das im Non-Kontradiktionsprinzip ausgedrückt ist. Die Offenbarung bietet die Sicherheit für diese Einheit, indem sie zeigt, daß der Schöpfergott auch der Gott der Heilsgeschichte ist. Ein und derselbe Gott, der die Verstehbarkeit und Vernünftigkeit der natürlichen Ordnung der Dinge, auf die sich die Wissenschaftler vertrauensvoll stützen, (29) begründet und gewährleistet, ist identisch mit dem Gott, der sich als Vater unseres Herrn Jesus Christus offenbart. Diese Einheit von natürlicher und geoffenbarter Wahrheit findet ihre lebendige und personale Identifikation in Christus, worauf der Apostel anspielt: »Die Wahrheit ist in Christus« (vgl. Ep 4,21 Col 1,15-20). Er ist das ewige Wort, in dem alles erschaffen worden ist, und zugleich ist er das fleischgewordene Wort, das in seiner ganzen Person den Vater offenbart (vgl. Jn 1,14 Jn 1,18). (30) Das, was die menschliche Vernunft sucht, »ohne es zu kennen« (Ac 17,23), kann nur durch Christus gefunden werden: denn in ihm offenbart sich die »volle Wahrheit« (vgl. Jn 1,14-16) jedes Wesens, das in ihm und durch ihn erschaffen worden ist und daher in ihm seine Vollendung findet (vgl. Col 1,17).


35 Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Betrachtungen gilt es nun, eine unmittelbarere Untersuchung des Verhältnisses zwischen geoffenbarter Wahrheit und Philosophie vorzunehmen. Dieses Verhältnis nötigt uns zu einer doppelten Überlegung, da die Wahrheit, die aus der Offenbarung stammt, gleichzeitig eine Wahrheit ist, die im Lichte der Vernunft verstanden werden muß. Erst in dieser zweifachen Bedeutung ist es nämlich möglich, das richtige Verhältnis zum philosophischen Wissen genau zu bestimmen. Wir betrachten deshalb zunächst die Beziehungen zwischen Glaube und Philosophie im Laufe der Geschichte. Von daher werden sich einige Grundsätze feststellen lassen, an die man sich als Bezugspunkte halten muß, um das richtige Verhältnis zwischen den beiden Erkenntnisordnungen festzulegen.

KAPITEL IV


Fides et ratio 15