Generalaudienz 2001






1                                                                                   Januar 2001

Mittwoch, 3. Januar 2001



1. »Laßt uns jubeln im Herrn und jauchzen in der Freude des Geistes; denn das ewige Heil ist aller Welt erschienen. Halleluja.« Mit diesen Worten lädt uns die Liturgie heute ein, in der »Freude des Geistes« des Weihnachtsfests zu verweilen. Zu Beginn eines neuen Jahres werden wir durch diese Aufforderung dazu ermutigt, es ganz im Licht Christi zu leben, dessen Heil in der Welt für alle Menschen erschienen ist.

Die Weihnachtszeit stellt den Christen erneut das Geheimnis Jesu und sein Heilswerk vor Augen. Vor der Krippe verehrt die Kirche das erhabene Mysterium der Menschwerdung: Das Kind, das in den Armen Mariens wimmert, ist das ewige Wort, das in die Zeit eingegangen ist und die von der Sünde verletzte Menschennatur angenommen hat, um sie sich zu eigen zu machen und zu erlösen. Jede menschliche Wirklichkeit, jedes zeitliche Ereignis nimmt so den Widerhall der Ewigkeit an: In der Person des menschgewordenen Wortes wird die Schöpfung auf wunderbare Weise erhöht.

Der hl. Augustinus schreibt: »Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werde.« Zwischen Himmel und Erde wurde nun endgültig eine Brücke errichtet: Im Mensch-Gott findet die Menschheit den Weg zum Himmel wieder. Der Sohn Mariens ist der universale Mittler und oberste Brückenbauer. Jede Tat dieses Kindes ist ein Geheimnis und dazu bestimmt, das grenzenlose Wohlwollen Gottes zu offenbaren.

2. In der Grotte von Betlehem zeigt sich mit entwaffnender Schlichtheit die unendliche Liebe Gottes zu jedem Menschen. In der Krippe betrachten wir den Gott, der für uns Mensch geworden ist.

Der hl. Franz von Assisi hatte den Einfall, diese Botschaft durch das Krippenspiel in Greccio am 25. Dezember 1223 neu darzustellen. Sein Biograph, Thomas von Celano, erzählt, daß er vor Freude strahlte, denn in jener bewegenden Szene leuchtete die Einfachheit des Evangeliums auf, die Armut wurde erhöht und die Demut gepriesen. Der Biograph schließt mit dem Hinweis, daß nach Beendigung der nächtlichen Feier ein jeder in seliger Freude nach Hause zurückkehrte (vgl. Erste Lebensbeschreibung, XXX, 86).

Diese Eingebung des hl. Franziskus ist erstaunlich: Die Krippe ist nicht nur ein neues Betlehem, weil sie das dortige geschichtliche Ereignis ins Gedächtnis ruft und dessen Botschaft aktualisiert, sondern auch Anlaß zu Trost und Glückseligkeit: Es ist der Tag der Freude, die Zeit des Jubels. Der oben bereits erwähnte Thomas von Celano merkt hierzu an: Hell wie der Tag wird die Nacht, und für Mensch und Tier wird sie liebreich (vgl. ebd., 85).

3. In der Krippe wird der Bund zwischen Gott und Mensch, zwischen Erde und Himmel gefeiert. Betlehem, die Stätte der Freude, wird auch zur Schule der Güte, denn dort offenbaren sich die Barmherzigkeit und Liebe, durch die Gott an seine Kinder gebunden ist. Dort findet sich der sichtbare Beleg der Brüderlichkeit, die alle Geschwister im Glauben miteinander verbindet, da sie Kinder des einzigen Vaters im Himmel sind. In diesem Raum der Gemeinschaft erstrahlt Betlehem als das Haus, in dem alle Nahrung finden können - die etymologische Bedeutung des Namens ist »Haus des Brotes« -, und darin kündigt sich gewissermaßen schon das österliche Geheimnis der Eucharistie an.

In Betlehem wird - gleichsam auf einem symbolischen Altar - schon das Leben gefeiert, das nicht stirbt; den Menschen aller Zeiten ist gewissermaßen gegeben, einen Vorgeschmack auf die Speise der Unsterblichkeit zu bekommen; sie ist »Brot auf unserer Pilgerreise, das den Hunger wahrhaft stillt« (Fronleichnamssequenz). Nur der in Betlehem geborene Erlöser kann die tiefsten Erwartungen des Menschenherzens erfüllen und seine Wunden und Leiden lindern.

4. In der Grotte von Betlehem betrachten wir Maria, die durch das Wirken des Heiligen Geistes den Sohn Gottes zur Welt gebracht hat: »Als Frau, die der Stimme des Geistes gehorsam ist, als Frau der Stille und des Zuhörens, als Frau der Hoffnung, die wie Abraham den Willen Gottes anzunehmen wußte ›voll Hoffnung gegen alle Hoffnung‹ (Rm 4,18)« (Tertio millennio adveniente, 48), erstrahlt die Muttergottes als Vorbild für alle, die sich mit ganzem Herzen den Verheißungen Gottes anvertrauen.

2 Zusammen mit ihr und mit Josef verweilen wir in Anbetung vor der Wiege in Betlehem, während sich unser Bittruf zum Himmel erhebt: Laß dein Antlitz leuchten und rette uns, Herr.

Vom Geschenk der Geburt des Erlösers gefestigt, verstärken wir unseren Einsatz in diesen letzten Tagen des Heiligen Jahrs. Öffnen wir unser Herz für Christus, die einzige und universale Pforte, die zu Gott führt. So werden wir unseren Weg durch das neue Jahr mit festem Vertrauen fortsetzen können. Auf diesem Weg unterstütze uns die mächtige Fürsprache Mariens, der treuen Jungfrau und stillen Zeugin des Geheimnisses von Betlehem.

Liebe Schwestern und Brüder!

Nachdem wir Weihnachten würdig gefeiert haben, sind wir nun ins neue Jahr eingetreten. Diese weihnachtliche Zeit lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Geheimnis der Menschwerdung Gottes und auf das Heilswerk Jesu Christi. In der Person des fleischgewordenen Wortes bündelt und spiegelt sich die ganze Schöpfung.

Aus Betlehem, wo unser Heil erschienen ist, steigt unser Gebet zum Himmel: Laß Dein Antlitz über uns leuchten, und erlöse uns, o Herr!

Besonders begleite uns die mächtige Fürbitte Marias. Sie hat Gottes Einladung gern angenommen: So ist sie zum Tempel geworden, in dem Gottheit und Menschheit einander begegnen.

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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Mein Wunsch ist, daß uns allen das menschgewordene Wort Gottes zur Gnadenquelle werde. Euch, Euren Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 10. Januar 2001

1.Die Stimme der Propheten - so etwa die des Jesaja, die wir soeben gehört haben - ist wiederholt erklungen, um uns daran zu erinnern, daß wir uns für die Befreiung der Unterdrückten und die Schaffung von Gerechtigkeit einsetzen müssen. Wenn ein solcher Einsatz fehlt, ist die Verehrung, die Gott dargebracht wird, ihm nicht wohlgefällig. Dieser kraftvolle Aufruf kommt zuweilen sogar in paradoxen Formulierungen zum Ausdruck, wie etwa bei Hosea, der von folgender -auch von Jesus zitierter -Weissagung (vgl. Mt 9,13 Mt 12,7) berichtet: »Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer« (6,6).

Auch der Prophet Amos stellt mit pointierter Eindrücklichkeit Gott dar, der seinen Blick anderswohin wendet und weder Riten noch Feste, Fasttage, Musik oder Flehen annimmt, wenn außerhalb des Heiligtums der Unschuldige für Geld und der Arme für ein Paar Sandalen verkauft wird und die Kleinen in den Staub getreten werden (vgl. 2,6 -7). Daher folgt ohne Zögern die Aufforderung: »Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach « (5,24). Die Propheten, die im Namen Gottes sprechen, richten sich also gegen einen vom Leben abgetrennten Kult, gegen eine von der Gerechtigkeit abgespaltene Liturgie, gegen ein vom alltäglichen Einsatz abgetrenntes Gebet, gegen einen Glauben ohne Werke.

3 2. Der Ruf Jesajas: »Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!« (1,16 -17), hallt in den Lehren Christi wider, der uns ermahnt: »Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe« (Mt 5,23 -24). Am Ende des Lebens eines jeden Menschen und am Ende der Menschheitsgeschichte wird Gott uns nach unserer Liebe richten, nach der Ausübung der Gerechtigkeit und der Aufnahme der Armen (vgl. Mt 25,31 -46). Angesichts einer von Spaltungen und Ungerechtigkeit zerrissenen Gemeinschaft wie der Gemeinde von Korinth geht Paulus soweit, eine Unterbrechung der Teilnahme an der Eucharistie zu fordern, und er lädt die Christen ein, zuerst ihr Gewissen zu prüfen, um sich nicht am Leib und am Blut des Herrn schuldig zu machen (vgl. 1Co 11,27 -29).

3. Der Dienst der Nächstenliebe, konsequent mit dem Glauben und der Liturgie verknüpft (vgl. Jak Jc 2,14 -17), der Einsatz für die Gerechtigkeit, der Kampf gegen jede Art von Unterdrückung, der Schutz der Würde der Person sind für den Christen nicht bloßer Ausdruck einer in der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie gründenden Philanthropie. Es handelt sich vielmehr um Entscheidungen und Handlungen mit einer tief religiösen Seele, es sind echte Opfer, an denen Gott - gemäß den Worten des Hebräerbriefes - Wohlgefallen hat (vgl.13,16). Die Ermahnung des hl. Johannes Chrysostomus ist besonders einprägsam: »Willst du also Christi Leib ehren? Geh nicht an ihm vorüber, wenn du ihn nackt siehst; ehre ihn nicht hier (in der Kirche) mit seidenen Gewändern, während du dich draußen auf der Straße nicht um ihn kümmerst, wo er vor Kälte und Blöße zugrunde geht!« (In Matthaeum hom. 50,3; aus: Bibliothek der Kirchenväter, Band 26, Kempten/München, 1916, S. 107).

4. »In der heutigen Welt [ist] wieder ein Sinn für Gerechtigkeit erwacht [...]; er ist weit verbreitet« (Dives in misericordia, DM 12). Gerade deshalb teilt die Kirche »mit den Menschen unserer Zeit diesen tiefen, brennenden Wunsch nach einem in jeder Hinsicht gerechten Leben und versäumt es nicht, die verschiedenen Aspekte der Gerechtigkeit, wie sie das Leben der Menschen und der Gesellschaftsgruppen fordert, zu durchdenken. Das bestätigt der Bereich der katholischen Soziallehre, die sich im Lauf der letzten hundert Jahre machtvoll entwickelt hat« (ebd.). Diese Bemühungen des Denkens und Tuns müssen gerade vom Jubiläumsjahr ausgehend einen kräftigen Impuls erhalten. In seiner biblischen Grundlegung war es eine Feier der Solidarität: Wenn das Horn des Jubeljahres ertönte, kehrte ein jeder »zu seinem Grundbesitz« und »zu seiner Sippe« zurück, wie der offizielle Text zum Jubeljahr erklärt (Lv 25,10).

5. Zunächst wurden die aufgrund verschiedener wirtschaftlicher und familiärer Gegebenheiten enteigneten Grundstücke den ursprünglichen Besitzern zurückgegeben. Mit dem Jubeljahr wurde es also allen ermöglicht, durch kühne und mutige Werke der Gerechtigkeit und des Teilens zu einem ideellen Ausgangspunkt zurückzukehren. Unübersehbar ist hierbei eine Dimension, die wir als »utopisch« bezeichnen könnten; sie wird vorgeschlagen als konkrete Maßnahme gegen die Festigung von Privilegien und Machtmißbrauch. Es handelt sich um den Versuch, die Gesellschaft zu einem höheren Ideal der Solidarität, Selbstlosigkeit und Brüderlichkeit anzuspornen. Unter den heutigen geschichtlichen Umständen könnte die Rückkehr zum verlorenen Grundbesitz in Form einer vollkommenen Streichung oder zumindest eines Erlasses der internationalen Schulden der armen Länder geschehen, wie ich schon mehrmals vorgeschlagen habe (vgl. Tertio millennio adveniente TMA 51).

6. Eine weitere Verpflichtung des Jubeljahrs bestand darin, einen Sklaven als freien Menschen zu seiner Sippe zurückkehren zu lassen (vgl. Lev Lv 25,39 - 41). Das Elend hatte ihn in die demütigende Sklaverei getrieben, jetzt tat sich vor ihm die Möglichkeit auf, seine Zukunft in Freiheit und im Kreise seiner Familie aufzubauen. Aus diesem Grund nennt der Prophet Ezechiel das Jubeljahr ein »Erlaßjahr«, also ein Jahr der Befreiung (vgl. Ez 46,17). Und ein anderes Buch der Bibel, das Deuteronomium, fordert mit folgenden Worten eine gerechte, freie und solidarische Gesellschaft: »Eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben [...] Wenn bei dir ein Armer lebt [...] dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen« (15,4.7).

Nach diesem Ziel der Solidarität müssen auch wir streben: »Solidarität der Armen untereinander, Solidarität mit den Armen, zu der die Reichen aufgerufen sind, Solidarität der Arbeiter und mit den Arbeitern« (Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über Christliche Freiheit und Befreiung, 89). Wenn das vor kurzem beendete Heilige Jahr auf diese Art und Weise gelebt wird, wird es auch in Zukunft reiche Früchte der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Liebe bringen.

Liebe Schwestern und Brüder!

Das Große Jubiläum liegt hinter uns. Doch der Auftrag, den das Heilige Jahr uns stellt, bleibt für die Zukunft.

Wenn wir die biblischen Wurzeln des Jubeljahres betrachten, stoßen wir auf eine Botschaft, die aktueller ist denn je: Als das Signalhorn ertönte, sollte jeder zu seinem Grundbesitz zurückkehren und zu seiner Familie. So war das Jubeljahr schon immer eine Feier der Solidarität.

Die Menschen sind aufgerufen, die Solidarität in einer Weise zu leben, die fast utopisch anmutet. Sie sollten zu den ursprünglichen Besitzverhältnissen zurückkehren und dadurch einen neuen Anfang setzen. Unter modernen Vorzeichen wird dieser Aufruf zur Solidarität dann konkret, wenn die reichen Länder den Armen ihre Schulden ganz erlassen oder wenigstens reduzieren.

Das Große Jubiläum muß über das Jahr 2000 hinauswirken. Ich hoffe, daß es weiterhin reiche Früchte bringt an Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe.
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Ich begrüße die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Eure Anwesenheit zeigt mir, daß ihr euren Lebensweg auch in Zukunft als Wallfahrt zum Herrn betrachtet. Werdet nicht müde, euch für Gerechtigkeit und Frieden in eurer Umgebung einzusetzen. Dazu erteile ich euch von Herzen den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 17. Januar 2001

4


Liebe Schwestern und Brüder!

Die Schriften der Bibel erzählen von der ursprünglichen Harmonie des Menschen mit seinen Artgenossen, mit der Schöpfung insgesamt und mit Gott. Dieser vom Schöpfer gewollte Zustand ging aber verloren durch das Eindringen der Sünde.

Gott hat den Menschen als Verwalter der Schöpfung und als deren Diener eingesetzt. Doch die Herrschaft über die Lebewesen ist nicht absolut. Der Mensch ist berufen, das Werk Gottes weiterzuführen, damit das Leben in Frieden und Gerechtigkeit gedeihen kann.

Besonders in unserer Zeit sieht der Zustand unserer Umwelt bedrohlich aus. Die Erde ist verwüstet, das Wasser vergiftet, die Luft verschmutzt. Umkehr tut not. Der Mensch braucht eine "humane Ökologie". Geschaffen zu sein, das bedeutet Würde und Achtung.
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Indem ich Euch das tägliche Lob der Schöpfung Gottes ans Herz lege, begrüße ich alle, die aus den Ländern deutscher Sprache hier anwesend sind. Insbesondere heiße ich die Schülerinnen und Schüler des Luitpold-Gymnasiums in München willkommen. Gerne erteile ich euch und allen, die mit uns verbunden sind, den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 24. Januar 2001

5


1. Wenn wir auf die Welt und ihre Geschichte schauen, dann sieht es auf den ersten Blick so aus, als würde das Banner des Krieges, der Gewalt, der Unterdrückung, der Ungerechtigkeit und des sittlichen Verfalls vorherrschen. Es scheint uns, wie in der Vision aus dem 6. Kapitel der Offenbarung, daß durch die Einöden der Erde Reiter jagen, die einmal den Kranz der siegreichen Macht, einmal das Schwert der Gewalt, einmal die Waage der Armut und des Hungers und einmal die scharfe Sense des Todes tragen (vgl.
Ap 6,1 -8).

Angesichts der Tragödien der Geschichte und der um sich greifenden Unmoral stellt sich erneut die Frage, die der Prophet Jeremia an Gott richtet und durch die er sich zum Sprecher vieler Leidenden und Unterdrückten macht: »Du bleibst im Recht, Herr, wenn ich mit dir streite; dennoch muß ich mit dir rechten. Warum haben die Frevler Erfolg, weshalb können alle Abtrünnigen sorglos sein?« (Jr 12,1). Im Unterschied zu Mose, der von den Höhen des Berges Nebo das gelobte Land betrachtet (vgl. Dt 34,1), schauen wir auf eine zerrissene Welt, in der das Reich Gottes Mühe hat, sich durchzusetzen. Durch Christus zu innerer Ruhe finden

2. Im zweiten Jahrhundert fand der hl. Irenäus eine Erklärung hierfür in der Freiheit des Menschen, der, anstatt dem göttlichen Plan eines friedlichen Miteinanders zu folgen (vgl. Gn 2), die Beziehungen zu Gott, zum Mitmenschen und zur Welt zerrüttet. Der Bischof von Lyon schrieb dazu: »Also fehlt es nicht an der Kunst Gottes, denn er vermag ›aus Steinen Abrahams Söhne zu erwecken‹; vielmehr wird der, welcher sie nicht annimmt, sich selbst die Ursache seiner Unvollkommenheit. Wird doch auch das Licht nicht schwächer durch die, welche sich selbst blenden, es bleibt wie es ist; die, welche sich selbst blendeten, sitzen durch ihre Schuld in der Finsternis. Und wie das Licht keinen mit Zwang unter seine Gewalt bringt, so zwingt auch Gott niemand, seine Kunst anzunehmen« (Adversus haereses, IV, 39,3; in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 4, Kempten/München 1912, S. 144).

Es ist also eine stete Anstrengung zur Bekehrung nötig, die den Kurs der Menschheit zurechtrückt, damit diese sich aus freiem Willen dafür entscheidet, der »Kunst Gottes«, d. h. seinem Plan des Friedens und der Liebe, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, zu folgen. Diese Kunst offenbart sich vollständig in Christus, und der Konvertit Paulinus von Nola machte sie sich mit diesem ergreifenden Lebensprogramm zu eigen: Meine einzige Kunst ist der Glaube, und die Musik ist Christus (vgl. Gedichte, XX, 32 ).

3. Mit dem Glauben legt der Heilige Geist auch den Samen der Hoffnung in das Menschenherz. Der Glaube ist nämlich, wie der Hebräerbrief sagt, »Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht« (11,1). Vor einem Horizont, der oft von Mutlosigkeit, Pessimismus, Entscheidungen für den Tod, Trägheit und Oberflächlichkeit geprägt ist, muß sich der Christ der aus dem Glauben hervorgehenden Hoffnung öffnen. Dies ist dargestellt in der Szene aus dem Evangelium, als der Wirbelsturm über dem See losbricht: »Meister, Meister, wir gehen zugrunde!«, rufen die Jünger. Da fragt Christus sie: »Wo ist euer Glaube?« (Lc 8,24 -25). Mit dem Glauben an Christus und an das Reich Gottes ist man nie verloren, und die Hoffnung auf innere Ruhe erscheint erneut am Horizont. Auch für eine menschenwürdige Zukunft ist es nötig, den aktiven Glauben, der Hoffnung hervorbringt, erneut zum Blühen zu bringen. Darüber hat ein französischer Dichter folgendes geschrieben: Die Hoffnung ist das gespannte Warten auf den guten Sämann, sie ist die Sehnsucht des Menschen, der sich für die Ewigkeit bewirbt. Die Hoffnung ist Unendlichkeit der Liebe (vgl. Charles Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung).

4. Die Liebe zur Menschheit, für ihr materielles und spirituelles Wohlergehen und für einen wahren Fortschritt, muß alle Gläubigen beseelen. Alles Handeln zur Schaffung einer besseren Zukunft, einer wohnlicheren Erde und einer brüderlicheren Gesellschaft hat - wenn auch indirekt - am Aufbau des Reiches Gottes Anteil. In der Perspektive dieses Reiches stellt »der Mensch, der lebendige Mensch […] den ersten und grundlegenden Weg der Kirche dar« (Evangelium vitae EV 2 vgl. Redemptor hominis RH 14). Es ist der Weg, den Christus selbst gegangen ist, wobei er sich zugleich zum »Weg« des Menschen machte (vgl. Jn 14,6).

Auf diesem Weg sind wir zuerst aufgerufen, die Angst vor der Zukunft zu verlieren. Oft peinigt diese Angst die jungen Generationen, und sie reagieren mit Gleichgültigkeit, mit Abstandnehmen gegenüber Verpflichtungen im Leben, mit Drogeneinnahme, die sie verrohen läßt, mit Gewalt und Apathie. Außerdem sollte Freude herrschen über jedes Kind, das zur Welt kommt (vgl. Jn 16,21), damit es in Liebe aufgenommen und ihm die Möglichkeit gegeben werde, in Körper und Geist zu wachsen. Auf diese Weise arbeitet man am Werk Christi selbst mit, der seine Sendung folgendermaßen beschrieb: »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Jn 10,10).

5. Zu Beginn haben wir die Botschaft gehört, die der Apostel Johannes an Väter und Söhne, an alte und junge Menschen richtet, damit sie weiter gemeinsam kämpfen und hoffen in der Gewißheit, daß durch die wirksame Gegenwart des himmlischen Vaters das Böse und der Böse überwunden werden können. Die Hoffnung aufzuzeigen ist eine der wesentlichen Aufgaben der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns dazu diese einleuchtende Überlegung hinterlassen: »Mit Recht dürfen wir annehmen, daß das künftige Schicksal der Menschheit in den Händen jener ruht, die den kommenden Geschlechtern Triebkräfte des Lebens und der Hoffnung vermitteln können« (Gaudium et spes GS 31). In diesem Zusammenhang möchte ich euch den Aufruf zum Vertrauen wiederholen, den ich während meiner Ansprache an die Vereinten Nationen im Jahr 1995 aussprach: »Wir dürfen keine Angst vor der Zukunft haben [...] Wir haben in uns die Fähigkeit zur Weisheit und zur Tugend. Mit diesen Gaben und mit der Hilfe der Gnade Gottes können wir im kommenden Jahrhundert und für das nächste Jahrtausend eine der Menschenperson würdige Zivilisation, eine wahre Kultur der Freiheit errichten. Wir können und müssen es! Und indem wir es tun, werden wir uns bewußt werden können, daß die Tränen dieses Jahrhunderts den Boden für einen neuen Frühling des menschlichen Geistes bereitet haben« (Ansprache am 5 1995 O.R. dt., Nr. 41,13 41,10, S. 4).

Liebe Schwestern und Brüder!

Wenn wir die Lage der Welt betrachten, scheint auf den ersten Blick das Dunkle zu überwiegen: Krieg, Gewalt, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und moralischer Verfall.

Doch in dieses Dunkel strahlt das Licht. Die ‘Kunst Gottes’ besteht darin, daß er einen Plan mit uns Menschen hat: den Plan des Friedens und der Liebe, der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Damit dieser Plan Wirklichkeit wird in der Architektur der Welt, ist der Mensch zur Umkehr gerufen. Es geht um eine Richtungsänderung, damit dem Plan Gottes der Weg geebnet wird.

Paulinus von Nola faßt es in die tiefen Worte: “Meine einzige Kunst ist der Glaube, und die Musik ist Christus”.

Wo Musik erklingt, da ist Hoffnung. Wir Christen sind die Hoffnungsträger der Menschheit.

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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Ich lade Euch alle ein, in dieser Woche besonders für die Einheit der Christen zu beten. Euch, Euren Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.

Appell:

Die uns aus Kolumbien erreichenden Nachrichten, die von einem Anwachsen der Gewalt berichten, müssen uns dazu veranlassen, alle Beteiligten darum zu bitten, den obersten Wert des Lebens wiederzuentdecken: »Es kann keinen Frieden geben, wenn der Schutz dieses grundlegenden Gutes Schaden nimmt« (Botschaft zum Weltfriedenstag 2001, Nr.19).

Zudem möchte ich alle beteiligten Parteien dazu aufrufen, einen wirkungsvollen und aufrichtigen Dialog zu fördern, und eindringlich darum bitten, den Menschenraub, die terroristischen Akte und die Angriffe auf das Leben, wie etwa die Plage des Rauschgifthandels, zu unterbinden.

Es ist Zeit, zum Herrn zurückzukehren, damit er die Herzen aller Kolumbianer bewege und sie erkennen lasse, daß sie einer großen Familie angehören.



Mittwoch, 31. Januar 2001

6


1. Der 2. Petrusbrief bedient sich der Symbole, die für den in der jüdischen Literatur verwendeten apokalyptischen Sprachgebrauch bezeichnend sind, um die neue Schöpfung gleichsam wie eine Blume darzustellen, die aus der Asche der Geschichte und der Welt erblüht (vgl. 3,11 -13). Dieses Bild besiegelt das Buch der Offenbarung, in dem Johannes verkündet: »Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr« (
Ap 21,1). Im Römerbrief beschreibt der Apostel Paulus eine Schöpfung, die unter der Last des Bösen seufzt; sie ist aber dazu bestimmt, »von der Sklaverei und Verlorenheit befreit [zu] werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Rm 8,21).

Die Heilige Schrift fügt also gewissermaßen einen goldenen Faden in die Schwächen, Nöte, Gewalttätigkeiten und Ungerechtigkeiten der menschlichen Geschichte ein und führt zu einem messianischen Ziel der Befreiung und des Friedens. Auf dieser soliden biblischen Grundlage lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche: »Das sichtbare Universum ist somit ebenfalls dazu bestimmt, umgewandelt zu werden, ›damit die Welt, in ihren anfänglichen Zustand zurückversetzt, nunmehr unbehindert im Dienst der Gerechten stehe‹ und so an deren Verherrlichung im auferstandenen Jesus Christus teilhabe« (CEC 1047 vgl. hl. Irenäus, Adversus haereses, 5,32,1). Dann endlich, in einer befriedeten Welt, wird »das Land erfüllt sein von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist« (vgl. Is 11,9).

2. Diese neue menschliche und kosmische Schöpfung wird eröffnet durch die Auferstehung Christi, die Erstlingsfrucht jener Verwandlung, zu der alle Menschen bestimmt sind. Hiervon spricht Paulus im 1. Korintherbrief : »Erster ist Christus; dann folgen, wenn Christus kommt, alle, die zu ihm gehören. Danach kommt das Ende, wenn er jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet hat und seine Herrschaft Gott, dem Vater übergibt […] Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod […] damit Gott herrscht über alles und in allem« (1Co 15,23 -24.26.28).

Gewiß, dies ist eine Glaubensperspektive, die im Menschen, der in der Geschichte unter der Last des Bösen, der Widersprüche und des Todes lebt, zuweilen Zweifel wecken kann. Schon der eingangs zitierte 2. Petrusbrief befaßt sich mit dieser Thematik und reagiert auf den Einwand der Mißtrauischen, der Skeptiker oder sogar der »höhnischen Spötter« , die fragen: »Wo bleibt denn seine verheißene Ankunft? Seit die Väter entschlafen sind, ist alles geblieben, wie es seit Anfang der Schöpfung war« (2P 3,3 -4).

3. Dies ist die entmutigte Einstellung jener, die auf jegliches Engagement in der Geschichte und hinsichtlich deren Veränderung verzichten. Sie sind überzeugt, daß sich nichts ändern kann, daß alle Mühen zum Scheitern verurteilt sind, daß Gott abwesend und in keiner Weise interessiert ist an diesem winzigen Punkt im Universum, der die Erde ist. Schon in der griechischen Welt vertraten einige Denker diese Geisteshaltung, und vielleicht reagiert der 2. Petrusbrief auch auf diese fatalistische Einstellung mit ihren offensichtlichen Auswirkungen auf die Praxis. Wenn man nichts verändern kann, welchen Sinn hat dann das Hoffen? Man kann sich dann nur an den Rand des Lebens stellen und zuschauen, wie die sich wiederholende Bewegung der Ereignisse der Menschheitsgeschichte ihren ewigen Zyklus fortsetzt. Mit dieser Einstellung sind inzwischen viele Männer und Frauen am Rande der Geschichte niedergesunken - ohne Vertrauen, gleichgültig gegenüber allem, unfähig zu kämpfen und zu hoffen. Die christliche Anschauung hingegen wird von Jesus ganz eindeutig dargestellt: Als er »von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes komme, antwortete er: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es an äußeren Zeichen erkennen könnte. Man kann auch nicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch« (Lc 17,20 -21).

7 4. Christus stellt der Versuchung all jener, die apokalyptische Szenarien vom Untergang des Reiches Gottes andeuten, oder derer, die ihre vom Schlaf der Gleichgültigkeit schwer gewordenen Augen schließen, das unscheinbare Kommen des neuen Himmels und der neuen Erde entgegen. Dieses Kommen ähnelt dem verborgenen und doch eifrigen Wachsen des Samens in der Erde (vgl. Mc 4,26 -29).

Gott ist also in das Menschengeschehen und in die Welt eingetreten; er geht still voran und wartet geduldig auf die Menschheit mit ihren Verzögerungen und ihren Bedingtheiten. Er respektiert ihre Freiheit, er stützt sie, wenn Verzweiflung sich ihrer bemächtigt, er führt sie von einem Lebensabschnitt zum nächsten und lädt sie ein, bei seinem Plan der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Friedens seines Reiches mitzuarbeiten. Göttliches Tun und menschlicher Einsatz müssen also ineinandergreifen. »Daraus wird klar, daß die christliche Botschaft die Menschen nicht vom Aufbau der Welt ablenkt noch zur Vernachlässigung des Wohls ihrer Mitmenschen hintreibt, sondern sie vielmehr strenger zur Bewältigung dieser Aufgaben verpflichtet« (Gaudium et spes GS 34).

5. Somit eröffnet sich uns ein Thema von großer Bedeutung, welches das Denken und Wirken der Kirche stark beeinflußte. Ohne den einander entgegenstehenden Extremen der sakralen Abschottung oder des Säkularismus zu verfallen, muß der Christ seine Hoffnung auch innerhalb der Strukturen des weltlichen Lebens zum Ausdruck bringen. Das Reich ist zwar göttlich und ewig, es ist aber auch in Raum und Zeit eingepflanzt: Es ist »unter uns«, wie Jesus sagt.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese innige und tiefe Verbindung deutlich herausgestellt: »Darum besteht die Sendung der Kirche nicht nur darin, die Botschaft und Gnade Christi den Menschen nahezubringen, sondern auch darin, die zeitliche Ordnung mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen und zu vervollkommnen« (Apostolicam actuositatem AA 5). »Beide Ordnungen [die geistliche wie die weltliche], die man gewiß unterscheiden muß, sind in dem einzigen Plan Gottes so verbunden, daß Gott selbst in Christus die ganze Welt als neue Schöpfung wieder aufnehmen will, im Keim hier auf Erden, vollendet am Ende der Tage« (ebd.).

Von dieser Gewißheit beseelt, geht der Christ mutig auf den Straßen der Welt; er versucht, den Schritten Gottes zu folgen, und arbeitet mit ihm zusammen, um einen Horizont zu schaffen, an dem »Huld und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen« (vgl. Ps 85,11).

Liebe Schwestern und Brüder!

Von einem neuen Himmel und einer neuen Erde schwärmt die Heilige Schrift, wenn es um das Neue des christlichen Glaubens geht.

Doch die Erfahrung scheint das Gegenteil zu bestätigen: Nach zweitausend Jahren Christentum hätten sich manche größere "Erfolge" erwartet. Nicht wenige stellen die Frage: Ist alles beim Alten geblieben?

Diese Frage ist nicht neu. Schon Jesu Zeitgenossen haben sie gestellt. Der Sohn Gottes antwortete ihnen: "Das Reich Gottes ist schon mitten unter euch" (Lc 17,21).

Das Reich Gottes breitet sich langsam aus. Das liegt nicht an Gott, sondern am Menschen. Gottes Pädagogik achtet die Freiheit des Menschen. Gott überfordert uns nicht. Vielmehr will er, daß wir am Aufbau seines Reiches mitarbeiten. Dabei lautet unser Motto: alles von Gott erwarten im Wissen darum, daß er nichts ohne uns tut.

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Mit diesen Gedanken grüße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich die Schüler des Peter-Josef-Lennie Gymnasiums in Schwedt willkommen. Setzt eure Jugend ein, um am Aufbau des Reiches Gottes mitzuwirken. Euch, Euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.





Mittwoch, 7. Februar 2001

Die Kirche, Braut des Lammes, für ihren Bräutigam geschmückt

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1. Ebenso wie im Alten Testament die Heilige Stadt mit einem weiblichen bildhaften Ausdruck als »Tochter Zion« bezeichnet wurde, so wird in der Offenbarung des Johannes das himmlische Jerusalem dargestellt »wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat« (
Ap 21,2). Die weibliche Symbolik skizziert das Antlitz der Kirche in ihren verschiedenen Gestalten als Verlobte, Braut und Mutter und bringt auf diese Weise eine Dimension der Liebe und Fruchtbarkeit zum Ausdruck.

Unsere Gedanken gehen zu den Worten des Apostels Paulus: Im Epheserbrief umreißt er - in einem eindrucksvollen Textabschnitt - die Züge einer Kirche »ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos«, von Christus geliebt und Vorbild jeder christlichen Ehe (vgl. Ep 5,25 -32). Die kirchliche Gemeinschaft, als keusche Jungfrau »einem einzigen Mann verlobt« (2Co 11,2), steht in Kontinuität zu einer im Alten Testament aufgekommenen Auffassung, insbesondere in leidvollen Kapiteln wie jene des Propheten Hosea (vgl. Kap. 1 -3) oder Ezechiels (vgl. Kap. 16) oder auch durch die freudige Helligkeit des Hohenliedes.

2. Von Christus geliebt sein und ihn mit der Liebe einer Braut zu lieben ist eine Grundeigenschaft des Geheimnisses der Kirche. Am Ursprung steht ein freiwilliger Akt der Liebe, der vom Vater durch Christus und den Heiligen Geist ausströmt. Diese Liebe formt die Kirche, indem sie auf alle Geschöpfe ausstrahlt. In diesem Licht kann man sagen, daß die Kirche ein Zeichen ist, erhaben unter den Völkern als Zeugnis für die Intensität der Liebe Gottes, offenbart in Christus und insbesondere in dem Geschenk, zu dem er sein eigenes Leben macht (vgl. Jn 10,11 -15). Daher »sind durch die Kirche alle Menschen - Frauen wie Männer - berufen, ›Braut‹ Christi, des Erlösers der Welt, zu sein« (Mulieris dignitatem MD 25).

Die Kirche muß diese höchste Liebe durchscheinen lassen, indem sie die Menschheit, die oft das Gefühl hat, im Ödland der Geschichte allein und verlassen zu sein, daran erinnert, daß sie nie vergessen und der Wärme der göttlichen Zuneigung beraubt wird. Mit ergreifenden Worten bestätigt Jesaja: »Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht« (Is 49,15).

3. Gerade weil sie aus der Liebe gezeugt ist, strömt die Kirche Liebe aus. Sie tut dies durch die Verkündigung des Gebotes, einander zu lieben, wie Christus uns geliebt hat (vgl. Jn 15,12), das heißt bis zur Hingabe des Lebens: Er hat »sein Leben für uns hingegeben […] So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben« (1Jn 3,16). Jener Gott, der »uns zuerst geliebt hat« (1Jn 4,19) und nicht zögerte, seinen Sohn aus Liebe auszuliefern (vgl. Jn 3,16), spornt die Kirche an, den Weg der Liebe »bis zur Vollendung« (Jn 13,1) zu gehen. Sie ist aufgerufen, dies mit der Frische von Brautleuten zu tun, die einander in der Freude einer vorbehaltlosen Hingabe und in der täglichen Großherzigkeit lieben, sowohl wenn der Himmel des Lebens frühlingshaft und klar ist, als auch wenn die Nacht und die Wolken des geistigen Winters über ihm hängen.

In diesem Sinne versteht man, warum die Apokalypse - trotz ihrer dramatischen Darstellung der Geschichte - von Gesängen, Musik und freudigen Liturgien durchzogen ist. In der Landschaft des Geistes ist die Liebe wie die Sonne: Sie erhellt und verklärt die Natur, die ohne deren Glanz grau und eintönig bliebe.

4. Eine weitere wesentliche Dimension des kirchlichen Verständnisses von der Vermählung ist die Fruchtbarkeit. Die empfangene und gegebene Liebe beschränkt sich nicht auf den Ehebund, sondern sie wird kreativ und produktiv. In der Genesis, die eine nach dem Abbild und Gleichnis Gottes geschaffene Menschheit vorstellt, findet sich eine bedeutsame Bezugnahme auf das Mann- und Frau-Sein: »Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie« (1,27).

Das Unterschiedlichsein und das gegenseitige Einvernehmen im menschlichen Paar sind ein Zeichen der Liebe Gottes - nicht nur weil sie die Grundlage einer Berufung zur Gemeinschaft, sondern auch weil sie auf eine erzeugende Fruchtbarkeit ausgerichtet sind. Nicht zufällig finden wir schon im Buch Genesis mehrere Genealogien; sie sind Ergebnis der Zeugung und Ursprung der Geschichte, in deren innerstem Kern Gott sich offenbart. Hierdurch wird ersichtlich, wie auch die Kirche - in dem Geist, der sie beseelt und sie mit ihrem Bräutigam Christus verbindet - mit einer tiefinnerlichen Fruchtbarkeit ausgestattet ist, wodurch sie ständig Kinder Gottes in der Taufe hervorbringt und sie bis zur Fülle in Christus wachsen läßt (vgl. Ga 4,19 Ep 4,13).

9 5. Diese Kinder bilden die »Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind«; sie sind dazu bestimmt, den Berg Zion, die Stadt des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem zu bewohnen (vgl. He 12,21 -23). Nicht umsonst sind die letzten Worte des Buches der Offenbarung eine intensive, an Christus gerichtete Anrufung: »Der Geist und die Braut aber sagen: Komm!« (Ap 22,17), »Komm, Herr Jesus!«(ebd., V. 20). Dies ist das letztendliche Ziel der Kirche, die vertrauensvoll ihren Pilgerweg durch die Geschichte fortsetzt, obwohl sie oft neben sich - nach dem Bild aus demselben Buch der Bibel - die feindliche und vernichtende Gegenwart einer anderen weiblichen Gestalt spürt: »Babylon«, die »große Hure« (vgl. Ap 17,1 Ap 17,5), die die Unmenschlichkeit des Hasses, des Todes und der inneren Sterilität verkörpert.

Den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet, nährt die Kirche »die Hoffnung des ewigen Reiches, das sich in der Teilnahme am dreifaltigen Leben verwirklichen wird. Der Heilige Geist, den Aposteln als Beistand gegeben, ist Hüter und Seele dieser Hoffnung im Herzen der Kirche« (Dominum et vivificantem DEV 66). Bitten wir daher Gott, er möge seiner Kirche gewähren, in der Geschichte immer die Hüterin der Hoffnung zu sein, strahlend wie die Frau der Apokalypse, »mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt« (Ap 12,1).

Liebe Schwestern und Brüder!

Jerusalem wird im Alten Testament mit dem Bild der ‚Tochter Sion’ umschrieben. In der Offenbarung des Johannes heißt es über die heilige Stadt, das himmlische Jerusalem, daß ‚sie bereit war wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat’ (Ap 21,2).

Die weibliche Symbolik bestimmt das Gesicht der Kirche. Sie wird uns vorgestellt als Verlobte, als Braut oder als Mutter. Die Weiblichkeit dieser Bilder unterstreicht dabei die Dimension der Liebe und der Fruchtbarkeit.

Das Grundgeheimnis der Kirche besteht darin, daß sie auf die Liebe Christi mit bräutlicher Liebe antwortet. Dabei wirkt sie schöpferisch und bringt Früchte hervor: Der Heilige Geist, der die Kirche belebt und sie mit ihrem Bräutigam Christus eint, zeugt in der Taufe die Kinder Gottes und läßt sie wachsen zur vollendeten Gestalt Christi.
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Herzlich begrüße ich alle Anwesenden aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders willkommen heiße ich die Alumnen des Wiener Priesterseminars. Laßt auch ihr euch von der Liebe Gottes formen, damit ihr treue Kinder der Kirche bleibt und Christus immer ähnlicher werdet. Gerne erteile ich euch, euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.




Generalaudienz 2001