Generalaudienz 2002




1

Januar 2002


Mittwoch, 2. Januar 2002

1.Bei der ersten Begegnung im neuen Jahr und am Tag nach dem Hochfest der Gottesmutter Maria und dem Weltfriedenstag wollen wir Gott von neuem danken für die zahllosen Wohltaten, mit denen er jeden Tag unseres Lebens bereichert. Zugleich führen wir die Reflexion über das große Geheimnis der Menschwerdung fort, das wir in diesen Tagen erleben und das einen grundlegenden Schwerpunkt des Kirchenjahres bildet.

Anknüpfend an das Johanneswort: »Und das Wort ist Fleisch geworden« (Jn 1,14), hat die lehrmäßige Reflexion der Kirche den Terminus »Inkarnation« geprägt, um auf die Tatsache hinzuweisen, daß der Sohn Gottes die menschliche Natur vollkommen und vollständig angenommen hat, um in ihr und durch sie unser Heil zu wirken. Der Katechismus der Katholischen Kirche lehrt, daß der Glaube an die tatsächliche Menschwerdung des Sohnes Gottes »das entscheidende Kennzeichen« des christlichen Glaubens ist (vgl. CEC 463).

Das bekennen wir übrigens mit den Worten des Nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses: »Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.«

2. Die Christen erkennen in der Geburt des Sohnes Gottes aus dem jungfräulichen Schoß Marias die unendliche Güte des Allerhöchsten gegenüber dem Menschen und der ganzen Schöpfung. Gott besucht sein Volk in der Menschwerdung: »Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat sein Volk besucht und ihm Erlösung geschaffen; er hat uns einen starken Retter erweckt im Hause seines Knechtes David« (Lc 1,68 -69). Und der Besuch Gottes bleibt nie ohne Folgen: Er befreit von der Trübsal und schenkt Hoffnung, er bringt Heil und Freude.

Im Bericht über die Geburt Jesu erkennen wir, daß die frohe Botschaft vom Kommen des erwarteten Erlösers zuerst einer Gruppe armer Hirten verkündet wird, wie das Lukasevangelium berichtet: »Da trat der Engel des Herrn zu ihnen« (Lc 2,9). Damit will Lukas, den wir in gewissem Sinn als den »Evangelisten der Weihnacht« bezeichnen könnten, Gottes Wohlwollen und Freundlichkeit gegenüber den Kleinen und Einfachen hervorheben. Gott offenbart sich ihnen, weil sie zumeist eher geneigt sind, ihn zu erkennen und aufzunehmen.

Das Zeichen, das den Hirten gegeben wurde, das Offenbarwerden der unendlichen Majestät Gottes in einem Kind, ist reich an Hoffnungen und Verheißungen: »Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt« (Lc 2,12).

Eine solche Botschaft findet in den einfachen und bereitwilligen Herzen der Hirten sogleich Widerhall. Für sie ist das Wort, das der Herr sie erkennen ließ, tatsächlich etwas Wirkliches, ein »Ereignis« (vgl. Lc 2,15). Sie eilen hin, finden das ihnen versprochene Zeichen und werden sofort Boten des Evangeliums, indem sie die frohe Nachricht von der Geburt Jesu in der Umgebung verbreiten.

3. In diesen Tagen haben wir den Gesang der Engel in Betlehem gehört: »Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade« (Lc 2,14). Dieser Gesang soll sich auch in unserer Zeit in der Welt verbreiten, einer Zeit großer Hoffnungen und außerordentlicher Öffnungen in allen Bereichen, aber auch mit starken Spannungen und Schwierigkeiten beladen. Nun ist der Beitrag aller notwendig, damit die Menschheit in dem soeben begonnenen Jahr rascher und sicherer auf den Wegen des Friedens fortschreiten kann.

Deshalb wollte ich gestern anläßlich des Weltfriedenstages den Zusammenhang aufzeigen, der zwischen dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Vergebung besteht. In der Tat, »ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden«, und »ohne Vergebung gibt es keine Gerechtigkeit«! Deshalb muß in allen Menschen ein tiefes Verlangen nach Versöhnung entstehen, das vom echten Willen zur Vergebung getragen wird. Während des ganzen Jahres soll unser Gebet eindringlicher und beharrlicher werden, um von Gott das Geschenk des Friedens und der Geschwisterlichkeit zu erlangen, besonders in den am meisten leidgeprüften Gebieten der Erde.

2 4. So beginnen wir vertrauensvoll das neue Jahr, indem wir die Herausforderungen und die treue und gehorsame Bereitschaft Marias nachahmen, die in ihrem Herzen alle wunderbaren Dinge bewahrte (vgl. Lc 2,19), die vor ihren Augen geschahen. Gott selbst wirkt durch seinen eingeborenen Sohn das volle und endgültige Heil für die ganze Menschheit.

Wir betrachten die Jungfrau, die Jesus in den Armen hält, um ihn allen Menschen zu schenken. Ebenso wie sie, so schauen auch wir auf die großen Taten, die Gott Tag für Tag in der Geschichte vollbringt, und bewahren sie im Herzen. So lernen wir in den Wechselfällen des täglichen Lebens das ständige Eingreifen der göttlichen Vorsehung erkennen, die alles mit Weisheit und Liebe lenkt.

Noch einmal:Allen ein gutes neues Jahr!

Liebe Schwestern und Brüder!

Bei dieser ersten Generalaudienz des neuen Jahres möchten wir zuvorderst Gott danken. Mit unzähligen Wohltaten begleitet er unser Leben.

Zugleich fahren wir fort in unserer Betrachtung des Weihnachtsgeheimnisses. Gottes Kommen zu uns ist immer wirksam. Er befreit uns aus der Trübsal, schenkt uns Hoffnung, bringt Heil und Freude.

Gestern haben wir den Weltfriedenstag gefeiert. In meiner Botschaft wollte ich betonen, daß Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in einer inneren Verbindung zueinander stehen. Wahrhaftig: es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit und keine Gerechtigkeit ohne Vergebung.

Möge uns Maria, die Mutter Gottes und Mutter der Kirche, durch ihre Fürsprache helfen, daß wir Gottes Hand in der Geschichte der Welt und unseres Lebens erkennen und sein heilsmächtiges Handeln an uns erfahren!

Mit diesen Gedanken begrüße ich herzlich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 9. Januar 2002



Liebe Schwestern und Brüder!

3 1. Der Hymnus, der soeben unser Gebet begleitet hat, ist der Psalm 150, der letzte Gesang des Psalters. Und das letzte Wort in Israels Gebetbuch ist das Halleluja, das heißt das reine Lob Gottes. Deshalb kommt der Psalm im liturgischen Morgengebet zweimal vor, am zweiten und am vierten Sonntag.

Der kurze Text ist durch zehn aufeinanderfolgende Imperative gekennzeichnet, die dasselbe Wort »hallelú«, »lobet«, wiederholen. Es ist gewissermaßen eine Musik und ein Gesang, die nicht aufzuhören scheinen, wie auch im berühmten Halleluja des »Messias« von Händel. Das Lob Gottes wird gleichsam zum Atem der Seele, der keine Unterbrechung kennt. Wie geschrieben wurde, ist dies eine der Belohnungen des Menschseins: der ruhige Lobpreis, die Fähigkeit zu feiern. Rabbi Akiba hat das gut mit einem Satz ausgedrückt, den er seine Jünger lehrte: Ein Lied an jedem Tag, ein Lied für jeden Tag« (A. J. Heschel, Chi è l’uomo?, Milano 1971, S. 198).

2. Psalm 150 scheint in drei Sätzen zu verlaufen. Bei der Eröffnung in den beiden ersten Versen (V. 1 - 2)wird der Blick auf »Gott« in »seinem Heiligtum«, in »seiner mächtigen Feste«, auf »seine große Taten«, auf »seine gewaltige Größe« gelenkt. Im zweiten Satz, der einem wahren musikalischen Rhythmus ähnelt, wird das Orchester des Tempels von Zion in den Lobpreis miteinbezogen (vgl. V. 3 -5b), das den religlösen Gesang und Tanz begleitet. Im letzten Vers des Psalms schließlich (vgl. V. 5c) tritt das Universum in Erscheinung, d.h. alles, was lebt, oder, wenn man das ursprüngliche Hebräische noch deutlicher zum Ausdruck bringen will, »alles, was atmet«. Das Leben selbst wird zum Lobpreis, einem Lobpreis, der von den Geschöpfen zum Schöpfer aufsteigt.

3. Bei unserer ersten Begegnung mit dem Psalm 150 wollen wir nur den ersten und letzten Satz des Hymnus betrachten. Sie bilden sozusagen den Rahmen für den zweiten Satz, den Hauptteil der Komposition, den wir demnächst näher behandeln werden, wenn der Psalm wieder in der Liturgie der Laudes gebetet wird.

Der erste Ort, an dem das musikalische Gebetsthema entfaltet wird, ist der des »Heiligtums« (vgl. V. 1). Das hebräische Original spricht vom »heiligen«, reinen und transzendenten Ort, an dem Gott wohnt. Hier findet sich also ein Hinweis auf den himmlischen und paradiesischen Horizont, wo - wie das Buch der Offenbarung näher erläutert - die ewige und vollkommene Liturgie des Lammes gefeiert wird (vgl. z. B.
Ap 5,6 -14). Das Geheimnis Gottes, in das die Heiligen zur vollen Gemeinschaft aufgenommen werden, ist ein Bereich des Lichtes und der Freude, der Offenbarung und der Liebe. Die griechische Übersetzung der Septuaginta und die lateinische Übersetzung der Vulgata haben ziemlich frei, aber nicht ohne Grund anstelle von »Heiligtum«das Wort »Heilige« gewählt: »Lobt den Herrn inmitten seiner Heiligen.«

4. Vom Himmel geht der Gedanke unwillkürlich zur Erde mit der Betonung auf die von Gott vollbrachten »großen Taten«, die seine »gewaltige Größe« offenbar machen (V. 2). Diese großen Taten werden in Psalm 105 beschrieben, der die Israeliten einlädt, »über alle Wunder Gottes nachzusinnen« (vgl. V. 2) und »an die Wunder, die er getan hat, seine Zeichen und die Beschlüsse aus seinem Mund zu denken« (vgl. V. 59). Der Psalmist erinnert dann an »den Bund, den Gott mit Abraham geschlossen hat« (vgl. V. 9), an die außerordentliche Geschichte Josefs, an die wunderbare Befreiung aus Ägypten sowie die Wüstenwanderung und schließlich an die Landgabe. Ein anderer Psalm spricht von der schweren Bedrängnis, aus der der Herr diejenigen rettet, die zu ihm »rufen«; die befreiten Personen werden wiederholt eingeladen, für die von Gott vollbrachten Wundertaten zu danken: »Sie alle sollen dem Herrn danken für seine Huld, für sein wunderbares Tun an den Menschen« (Ps 107,8 Ps 107,15 Ps 107,21 Ps 107,31).

So wird in unserem Psalm der Hinweis auf die »großen Taten« verständlich, wie der hebräische Originaltext lautet, das heißt der Hinweis auf die machtvollen »Wundertaten«, die Gott in der Heilsgeschichte vollbringt. Der Lobpreis wird zum Bekenntnis des Glaubens an Gott, den Schöpfer und Erlöser, wird zur festlichen Feier der göttlichen Liebe, die sich entfaltet, indem sie erschafft und erlöst, indem sie das Leben und die Befreiung schenkt.

5. Wir kommen jetzt zum letzten Vers des Psalms 150 (vgl. V. 5c). Das hebräische Wort für die »Lebendigen«, die Gott loben, verweist, wie gesagt, auf den Atem, aber auch auf etwas tief Innerliches, dem Menschen Innewohnendes.

Man könnte meinen, das ganze Leben der Schöpfung sei ein Lobpreis des Schöpfers, aber richtiger ist die Überzeugung, daß der Mensch in diesem Chor eine Vorrangstellung einnimmt. Durch den Menschen als Wortführer der gesamten Schöpfung loben alle Lebewesen den Herrn. Unser Lebensatem, der auch Selbsterkenntnis, Selbstbewußtsein und Freiheit bedeutet (vgl. Spr Pr 20,27), wird zum Gesang und Gebet von allem, was lebt und im Universum pulsiert.

Deshalb laßt uns miteinander »Psalmen, Hymnen und Lieder singen und jubeln aus vollem Herzen zum Lob des Herrn« (vgl. Ep 5,19).

6. In der Abschrift der Verse des Psalms 150 weisen die hebräischen Manuskripte oft die »Menorah« auf, den berühmten siebenarmigen Leuchter, der im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempel steht. Diese Handschriften interpretieren sehr schön diesen Psalm und bilden damit im ständigen Gebet unserer »älteren Brüder« ein wahres »Amen«. Der ganze Mensch mit all seinen Instrumenten und musikalischen Ausdrucksformen, die sein Genius erfunden hat - »Hörner, Harfen und Zithern, Pauken und Tanz, Flöten und Saitenspiel, helle Zimbeln und klingende Zimbeln«, wie es in dem Psalm heißt -, aber auch »alles, was atmet«, ist eingeladen, wie die »Menorah« angesichts des Heiligsten der Heiligen in ständigem Gebet des Lobes und der Danksagung zu entbrennen.

4 Vereint mit dem Sohn, der vollkommenen Stimme der ganzen von Ihm geschaffenen Welt, werden auch wir zum immerwährenden Gebet vor dem Thron Gottes.

Unsere Gedanken richten sich heute auf Psalm 150, der das Buch der Psalmen abschließt. Seine Worte verherrlichen Gott. Der Halleluia-Ruf scheint nicht verklingen zu wollen, wie im berühmten ‘Messias’ von Händel.

Das Lob Gottes gleicht einem Einund Ausatmen der Seele; es ist ein Lob und Preis ohne Unterlaß. Wir loben Gott in seinem Heiligtum, in seiner mächtigen Feste. Wir loben ihn für all seine großen Taten, in seiner gewaltigen Größe.

Vereinen wir unser Rufen mit dem Gebet Christi, des Sohnes Gottes. Durch ihn und mit ihm und in ihm wird die Stimme der Welt, die er miterschaffen hat, zu einem mächtigen Lobgebet vor dem Thron Gottes!
* * * * *


Grußworte:

Mit diesen Gedanken begrüße ich herzlich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 16. Januar 2002

Lesung: Ps 41, 2 -3. 11 -12

5 Ps 41,2-3 Ps 41,11-12
1. Eine durstige Hirschkuh mit trockener Kehle erhebt ihren Klageruf angesichts der dürren Wüste, weil sie sich nach frischem Quellwasser sehnt. Mit diesem bekannten Bild beginnt der Psalm 42, der soeben gesungen wurde. In ihm können wir gleichsam die eindrucksvolle geistliche Symbolik dieser Schrift, eines wahren Kleinods des Glaubens und der Dichtung, erkennen. In Wirklichkeit ist unser Psalm, gemäß den Sachverständigen des Psalters, eng mit dem nachfolgenden Psalm 43 verbunden, aber er wurde von ihm getrennt, als die Psalmen geordnet wurden, um das Gebetbuch des Volkes Gottes zu bilden. In der Tat sind beide Psalmen nicht nur hinsichtlich des Themas und der Entwicklung miteinander verbunden, sondern sie werden von derselben Antiphon begleitet: »Meine Seele, warum bist du betrübt und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue« (Ps 42,6 Ps 42,12 Ps 43,5). Dieser Ruf, der in unserm Psalm zweimal und im nachfolgenden Psalm ein drittes Mal wiederholt wird, ist eine Einladung, die der Betende an sich selbst richtet, um die Traurigkeit durch das Vertrauen auf Gott zu vertreiben, der sich gewiß wieder als Retter erweisen wird.

2. Aber kehren wir zum anfänglichen Bild des Psalms zurück, das man gern vom Gregorianischen Gesang oder dem polyphonen Meisterwerk »Sicut cervus« des Pierluigi da Palestrina musikalisch untermalt hören möchte. Die dürstende Hirschkuh ist in der Tat das Symbol des Bittenden, der mit ganzem Leib und Geist auf den Herrn hin strebt, der als weit entfernt und doch lebensnotwendig empfunden wird: »Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott« (Ps 42,3). Das hebräische Wort »nefesh« bedeutet zugleich »Seele« und »Kehle«. Wir können also sagen, daß Seele und Leib des Bittenden in die wesentliche, spontane und vorrangige Sehnsucht nach Gott einbezogen sind (vgl. Ps 62,2). Nicht umsonst wird das Gebet einer langen Tradition gemäß als »Atem« bezeichnet, denn es ist naturgemäß notwendig und von fundamentaler Bedeutung wie der Lebensatem.

Origines, der bedeutende christliche Schriftsteller des dritten Jahrhunderts, zeigte, daß die Suche nach Gott von seiten des Menschen ein unvollendetes Vorhaben bleibt, weil immer neue Fortschritte möglich und notwendig sind. In einer seiner Homilien über das Buch Numeri schreibt er: »Diejenigen, die sich auf den Weg machen und die Weisheit Gottes suchen, bauen sich keine festen Häuser, sondern bewegliche Zelte, weil sie ständig auf Wanderschaft sind und weiter voranschreiten, und je weiter sie voranschreiten, um so mehr öffnet sich vor ihnen der Ausblick auf einen Horizont, der in die Ewigkeit mündet« (Homilie XVII, In Numeros, GCS VII, 159 -160).

3. Wir versuchen jetzt, den inneren Aufbau dieses Bittgebets zu erfassen, den wir uns in drei Akte untergliedert vorstellen könnten. Zwei von ihnen sind in diesem Psalm , während der letzte im nachfolgenden Psalm 43 beginnt, den wir später betrachten werden. Die erste Szene (vgl. Ps 42,2-6) drückt tiefe Wehmut aus, es ist die Erinnerung an die Vergangenheit, in der man bei den festlichen nunmehr unwiederholbaren Gottesdiensten glückliche Stunden erlebt hatte: »Das Herz geht mir über, wenn ich daran denke, wie ich zum Haus Gottes zog in festlicher Schar, mit Jubel und Dank in feiernder Menge« (V. 5).

»Das Haus Gottes« mit seiner Liturgie ist der Jerusalemer Tempel, den der Gläubige eine Zeit lang besuchte, aber es ist auch der Sitz der Vertrautheit mit Gott, dem »Quell des lebendigen Wassers«, wie Jeremia singt (2, 13). Das einzige Wasser, das jetzt seine Pupillen benetzt, ist das der Tränen (Ps 42,4) wegen seiner Entfernung vom Lebensquell. An die Stelle des feierlichen Gebets von damals, das während des Gottesdienstes im Tempel zum Herrn aufstieg, tritt jetzt das Trauern, Klagen und Bitten.

4. Im Gegensatz zur glücklichen Vergangenheit ist die Gegenwart leider betrüblich. Der Psalmist ist jetzt weit weg von Zion: Der ihn umgebende Horizont ist der von Galilea, der nördliche Teil des Heiligen Landes, das Jordanland, der Hermon, wo der Jordan entspringt, und ein uns unbekannter Berg, der Mizar-Berg, wie es heißt (vgl. V. 7). Wir sind also mehr oder weniger in dem Gebiet, wo die Katarakten des Jordans sind, die Wasserfälle, bei denen der Flußlauf durch das ganze verheißene Land beginnt. Aber dieses Wasser stillt nicht den Durst wie das vom Zion. In den Augen des Psalmisten ähnelt es vielmehr dem chaotischen Wasser der Sturzflut, das alles zerstört. Er fühlt, daß es ihn wie ein wilder Strom überflutet, der das Leben auslöscht: »Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser, all deine Wellen und Wogen gehen über mich hin« (V. 8). Denn in der Bibel werden das Chaos und das Böse und selbst das göttliche Gericht als eine Sturzflut darstellt, die Zerstörung und Tod hervorbringt (Gn 6,3-8 Ps 69,2-3).

5. Die Symbolik dieses Wassereinbruchs wird später erklärt: Es sind die Bedränger, die Feinde des Bittenden, vielleicht auch die Heiden, die in dieser verlassenen Region wohnen, in die der Gläubige verbannt ist. Sie verhöhnen den Gerechten und verspotten seinen Glauben, indem sie ihm zurufen: »Wo ist nun dein Gott?« (V. 11; vgl. V. 4). Und er fragt Gott angstvoll: »Warum hast du mich vergessen?« (V. 10). Das »Warum«, das an den Herrn gerichtet wird, der am Tag der Prüfung abwesend zu sein scheint, ist typisch für die biblischen Bittgebete.

Kann Gott stumm bleiben angesichts dieser trockenen Lippen, die schreien, angesichts dieser betrübten Seele, dieses Gesichts, das in einer Schlammflut unterzugehen droht? Gewiß nicht! Der Betende faßt wieder Mut und Hoffnung (vgl. V. 6. 12). Der dritte Akt, der im nachfolgenden Psalm 43 enthalten ist, ist eine vertrauensvolle Bitte an Gott (Ps 43,1 Ps 43,2 Ps 43,3 Ps 43,4) und verwendet frohe Dankesworte: »So will ich zum Altar Gottes treten, zum Gott meiner Freude. Jauchzend will ich dich auf der Harfe loben.«

Liebe Schwestern und Brüder!

"Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann darf ich Gottes Antlitz schauen?" - Das Lied des Psalmisten bringt das spontane und tiefe Verlangen des Menschen nach Gott zum Ausdruck. Solches Beten gibt unserer Sehnsucht eine Simme. Gleich dem Lebensatem ist das Gebet ein ursprünglicher, wesentlicher und notwendiger Vollzug des Menschseins.

"Meine Seele, warum bist du betrübt und unruhig? Ich harre auf Gott, meinen Retter, auf den ich schaue. " Bei aller Anfechtung und Bedrängnis finden wir Ruhe und Hoffnung in Gott. Wissend, daß unser Leben sich erst im Schauen Gottes vollenden wird, wenn wir treu bleiben auf dem Weg.
Wir suchen beständig die Nähe Gottes. Im Auf und Nieder des Lebens führen viele kleine und große Schritte unsere Gottsuche zum Ziel, zur wahren Quelle von "frischem Wasser", die nie versiegt.
*****


6 Mit diesen Gedanken begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Möge das tiefe Verlangen nach Gott, dem Retter unseres Lebens, immer in Euch wach sein! Dazu erteile ich euch, euren Lieben daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 23. Januar 2002



Liebe Schwestern und Brüder!

1. Im Alten Testament gibt es nicht nur das offizielle Gebetbuch des Volkes Gottes, das heißt den Psalter. Viele Seiten der Bibel bestehen aus Gesängen, Hymnen, Psalmen, Bitten, Gebeten und Anrufungen, die zum Herrn als Antwort auf sein Wort aufsteigen. So erweist sich die Bibel als ein Dialog zwischen Gott und der Menschheit, eine Begegnung, die unter das Siegel des göttlichen Wortes, der Gnade und der Liebe gestellt ist.

Das ist bei dem Bittruf der Fall, den wir soeben an den »Gott des Alls« (V. 1)gerichtet haben. Er ist im Buch Jesus Sirach enthalten, eines Weisheitslehrers, der seine Gedanken, seine Ratschläge und seine Lieder wahrscheinlich um 190 -180 v. Chr. zusammenfaßte, an der Schwelle der heldenhaften Befreiung, die Israel unter der Führung der Makkabäer-Brüder erlebte. Um diese Unterweisungen einem größeren Leserkreis von Jüngern zu vermitteln, übersetzte ein Enkel dieses Weisheitslehrers das Werk des Großvaters im Jahr 138 v. Chr. in Griechisch, wie es im Vorwort zur griechischen Übersetzung heißt.

Das Buch Jesus Sirach wird von der christlichen Tradition »Ecclesiasticus« genannt. Da es nicht in den jüdischen Kanon aufgenommen worden war, bildete dieses Buch schließlich mit anderen Büchern die sogenannte »veritas christiana«. Auf diese Weise fanden die von diesem Lehrbuch der Weisheit dargelegten Werte Eingang in die christliche Erziehung und Bildung der patristischen Zeit, insbesondere im monastischen Umfeld, und es wurde gleichsam ein Handbuch des praktischen Verhaltens der Jünger Christi.

2. Der Bittruf aus Kapitel 36 des Buches Jesus Sirach, der in vereinfachter Form als Gebet in die Laudes des liturgischen Stundengebets aufgenommen ist, folgt bestimmten thematischen Leitlinien.

Wir finden zuerst die Bitte, daß Gott zugunsten Israels gegen die fremden Völker, die es unterdrücken, eingreifen möge. Gott hat in der Vergangenheit seine Heiligkeit bewiesen, als er die Sünden seines Volkes bestrafte und es den Händen seiner Feinde überließ. Jetzt bittet der Betende Gott darum, er möge seine Macht dadurch zeigen, daß die Gewalt der Unterdrücker gebeugt wird und eine neue Zeit mit messianischem Charakter anbricht.

Das Bittgebet spiegelt sehr deutlich die Gebetstradition Israels wider und ist geprägt durch biblische Erinnerungen. Es kann in gewissem Sinn als Gebetsmodell für die Zeit der Verfolgung und Unterdrückung betrachtet werden. Als solche kann auch die Zeit angesehen werden, in der der Autor lebte, unter der recht harten und strengen syro-hellenistischen Fremdherrschaft.

3. Der erste Teil dieses Gebets beginnt mit der inständigen, an den Herrn gerichteten Bitte um Rettung (vgl. V, 1). Aber die Aufmerksamkeit richtet sich sogleich auf das göttliche Handeln, das mit einer Reihe eindrucksvoller Verben hervorgehoben wird: »Rette uns … wirf deinen Schrecken … Schwing deine Hand … verherrliche dich … erneuere die Zeichen … wiederhole die Wunder …zeig die Macht deiner Hand und die Kraft deines rechten Armes …«

Der Gott der Bibel steht dem Bösen nicht gleichgültig gegenüber. Auch wenn seine Wege nicht unsere Wege und seine Pläne verschieden von unseren Plänen sind (vgl. Is 55,8 -9), stellt er sich doch auf die Seite der Opfer und erweist sich als strenger Richter der Gewalttätigen, der Unterdrücker und der Sieger, die kein Erbarmen kennen.

7 Aber sein Eingreifen hat nicht die Zerstörung zum Ziel. Wenn er seine Macht und Treue in der Liebe zeigt, kann er auch das Gewissen des Ungerechten erschaudern lassen, so daß dieser sich bekehrt. »Damit sie erkennen, wie wir es erkannten: Es gibt keinen Gott außer dir« (5).

4. Der zweite Teil des Hymnus beginnt mit einem besseren Ausblick. Denn während im ersten Teil um das Eingreifen Gottes gegen die Feinde gebeten wird, erwähnt der zweite Teil die Feinde nicht mehr, sondern bittet um Gottes Wohltaten für Israel, fleht um sein Erbarmen für das auserwählte Volk und für die Heilige Stadt Jerusalem.

Die Sehnsucht nach der Rückkehr aller Verbannten, einschließlich derer aus dem Nordreich, wird nun zum Inhalt des Gebetes: »Sammle alle Stämme Jakobs, verteil den Erbbesitz wie in den Tagen der Vorzeit« (V. 13). So wird um eine Art Wiedererstarken von ganz Israel gebeten, wie es in den glücklichen Zeiten der Besitznahme des ganzen verheißenen Landes war.

Um das Gebet noch eindringlicher zu machen, beharrt der Betende auf der Beziehung, die Gott mit Israel und Jerusalem verbindet. Israel wird bezeichnet als »Volk, das deinen Namen trägt«, das »du deinen Erstgeborenen nanntest«; Jerusalem ist »deine Heilige Stadt«, der »Ort, wo du wohnst«. Dann wird der Wunsch ausgesprochen, daß die Verbindung noch enger und damit ruhmvoller wird: »Erfülle Zion mit deinem Glanz und deinen Tempel mit deiner Herrlichkeit« (V. 19), zu dem alle Völker strömen werden (vgl.
Is 2,2 - 4; Mich 4, 1 -3), und der Herr wird sein Volk seine Herrlichkeit schauen lassen.

5. In der Bibel endet die Klage der Leidenden nie in der Verzweiflung, sondern bleibt offen für die Hoffnung. Grund hierfür ist die Gewißheit, daß der Herr seine Kinder nicht verläßt, daß er die Menschen, die er geschaffen hat, nicht aus seiner Hand fallen läßt.

Die von der Liturgie getroffene Auswahl hat ein schönes Wort in unserem Gebet ausgelassen. Es ist die an Gott gerichtete Bitte: »Leg Zeugnis ab für das, was du ehedem verfügt hast« (V. 20). Von Ewigkeit her hat Gott einen Heilsplan der Liebe für alle Geschöpfe, die berufen sind, sein Volk zu werden. Das ist - wie Paulus sagt - »seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist offenbart worden:nach seinem ewigen Plan, den er durch Christus Jesus, unseren Herrn, ausgeführt hat« (Ep 3,5 -11).



Der Psalter ist das Gebetbuch des Volkes Gottes schlechthin. Daneben finden wir in den Büchern des Alten Testaments eine Reihe weiterer Lieder, Psalmen, Gebete und Anrufungen. In verschiedenen Lebenssituationen sind sie die gläubige Antwort des Menschen auf Gottes Heilszusage.

Der heutige Text aus dem Buch Jesus Sirach ist eine Anrufung der Macht und Größe Gottes. Der Beter weiß: Nur Gott allein kann die Not wenden und aus der Bedrängnis befreien. Er ist der Richter und ihm gehört der Sieg. Im Vertrauen auf Gottes gütiges Eingreifen bringt der betende Mensch seine Hoffnung ins Wort: Alle sollen erkennen: „Es gibt keinen Gott außer dir!" (Si 36,5).
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Herzlich begrüße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Vertraut in allen Lebenslagen der liebenden Vorsehung Gottes und schöpft Kraft aus seinem Wort! Gerne erteile ich euch und euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan oder das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 30. Januar 2002



8 1. Die Sonne hat durch ihren steigenden Glanz am Himmel, durch ihr strahlendes Licht und durch die wohltuende Wärme ihrer Strahlen die Menschheit seit ihren Anfängen erobert. Die Menschen haben in vielfacher Weise ihre Dankbarkeit für diese Quelle des Lebens und Wohlergehens mit einer Begeisterung kundgetan, die nicht selten in wahrer Poesie gipfelt. Der herrliche Psalm 19, von dem der erste Teil vorgelesen wurde, ist nicht nur ein hymnisches Gebet von außerordentlicher inhaltlicher Dichte, sondern auch ein poetischer Hymnus an die Sonne und ihre Ausstrahlung auf die Erde. Damit stellt sich der Psalmist in die lange Reihe der Sänger des antiken Vorderen Orients, die den Stern des Tages besingen, der am Himmel leuchtet und ihre Gebiete seit langem durch seine brennende Glut bedroht. Man denke an den berühmten Hymnus an Aton, der im 14. Jh. v. Chr. vom Pharao Akhnaton komponiert und der als Gottheit verehrten Sonnenscheibe gewidmet wurde.

Für den Menschen der Bibel besteht aber ein tiefgreifender Unterschied zu diesen Hymnen an die Sonne: Die Sonne ist keine Gottheit, sondern ein Geschöpf im Dienst des einen Gottes und Schöpfers. Es mag genügen, an die Worte der Genesis zu erinnern: »Dann sprach Gott:Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen Zeichen sein und zur Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren dienen …Gott machte die beiden großen Lichter, das größere, das über den Tag herrscht, das kleinere, das über die Nacht herrscht …Gott sah, daß es gut war« (
Gn 1,14 Gn 1,16 Gn 1,18).

2. Bevor wir die von der Liturgie ausgewählten Psalmverse untersuchen, werfen wir einen Blick auf sie in ihrer Gesamtheit. Psalm 19 ähnelt einem Diptychon. Im ersten Teil (Vers 2 -7), der soeben unser Gebet war, hörten wir ein Loblied an den Schöpfer, dessen geheimnisvolle Größe sich in der Sonne und im Mond kundtut. Im zweiten Teil des Psalms (Vers 8 -15) finden wir hingegen ein Lob auf die Torah, das göttliche Gesetz.

Beide Teile sind durch einen gemeinsamen Leitfaden verbunden:Gott erhellt das Weltall durch die Sonnenstrahlen und erleuchtet die Menschheit mit dem Glanz seines Wortes, das in der biblischen Offenbarung enthalten ist. Es handelt sich gleichsam um eine doppelte Sonne: Die erste ist eine kosmische Epiphanie des Schöpfers, die zweite eine geschichtliche und ungeschuldete Erscheinung des göttlichen Erlösers. Nicht umsonst wird die Torah, das göttliche Wort, mit Merkmalen der Sonne beschrieben: «…das Gebot des Herrn ist lauter, es erleuchtet die Augen« (V. 9).

3. Wenden wir uns jetzt dem ersten Teil des Psalms zu. Er beginnt mit einer wunderbaren Personifizierung der Himmel, die für den Autor sprechende Zeugen von Gottes Schöpfungswerk zu sein scheinen (V. 2 -5). Denn sie »rühmen« und »verkünden« die Wunder des göttlichen Werkes (vgl. V. 2). Auch der Tag und die Nacht werden als Boten dargestellt, die die wunderbare Botschaft der Schöpfung weitergeben. Es handelt sich um eine stumme Zeugenschaft, die aber überall zu hören ist wie eine Stimme, die das ganze Weltall erfüllt.

Mit den Augen des Herzens, mit der religösen Intuition, die frei von Oberflächlichkeit ist, können die Menschen entdecken, daß die Welt nicht stumm ist, sondern vom Schöpfer spricht. Denn, wie der antike Weisheitslehrer sagt, »von der Größe und Schönheit der Geschöpfe läßt sich auf ihren Schöpfer schließen« (Sg 13,5). Auch Paulus erinnert die Römer daran, daß »seit Erschaffung der Welt seine [Gottes] unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen« wird (Rm 1,20).

4. Im Hymnus erscheint dann die Sonne. Der Verfasser beschreibt den Sonnenball als Kriegshelden, der aus dem Brautgemach kommt, wo er die Nacht verbracht hat; das heißt, die Sonne kommt aus der Finsternis und beginnt ihren Lauf von einem Ende des Himmels bis ans andere (V. 6 -7). Sie ähnelt einem Athleten, der nicht stehenbleibt und nicht ermüdet, während unser Planet von ihrer unwiderstehlichen Wärme umhüllt wird.

Die Sonne wird also mit einem Bräutigam, einem Helden, einem Spitzensportler verglichen, der auf göttlichen Befehl jeden Tag eine Arbeit, eine Eroberung und einen Lauf im Weltraum durchführen muß. Dann weist der Psalmist auf die strahlende Sonne am Himmelsgewölbe hin, während die ganze Erde in ihre Wärme eingehüllt ist, kein Lüftchen sich regt und kein Winkel des Horizonts ihrem Licht entfliehen kann.

5. Die Sonnen-Metapher des Psalms wird von der christlichen Osterliturgie aufgenommen, um den triumphalen Auszug Christi aus der Finsternis des Grabes und seinen Eintritt in die Fülle des neuen Lebens nach der Auferstehung zu beschreiben. Die byzantinische Liturgie singt im Morgengebet des Karsamstags: »Wie die Sonne nach der Nacht strahlend in neuer Helligkeit aufgeht, so wirst auch du, göttliches Wort, im neuen Glanz erstrahlen, wenn du nach dem Tod dein Brautgemach verläßt.« Die erste Ode der Ostermatutin verbindet die kosmische Offenbarung mit dem Osterereignis Christi: »Der Himmel frohlocke, und die Erde jauchze mit ihm, weil die ganze sichtbare und unsichtbare Welt an diesem Fest teilhat: Erstanden ist Christus, unsere Freude in Ewigkeit.«Eine andere Ode (die dritte) fügt hinzu: »Heute ist das ganze Universum, Himmel, Erde und Unterwelt, voll des Lichtes, und die ganze Schöpfung verkündet die Auferstehung Christi, unserer Kraft und Freude.« In der vierten Ode heißt es schließlich: »Christus, unser Ostern, ist aus dem Grab erstanden als Sonne der Gerechtigkeit und erfüllt uns alle mit dem Glanz seiner Liebe.«

Die römische Liturgie vergleicht Christus nicht so ausdrücklich mit der Sonne wie die orientalische. Aber sie beschreibt die kosmischen Auswirkungen seiner Auferstehung, wenn sie ihre Laudes am Ostermorgen mit dem berühmten Hymnus beginnt: »Aurora lucis rutilat, caelum resultat laudibus, mundus exultans iubilat, gemens infernus ululat« - »Hell leuchtet die Morgenröte, es frohlockt der Himmel, es jauchzt und freut sich die Erde, während die Unterwelt stöhnt vor Qual.«

6. Die christliche Deutung des Psalms hebt dessen Grundbotschaft nicht auf, die eine Einladung ist, das in der Schöpfung gegenwärtige göttliche Wort zu entdecken. Es gibt gewiß, wie es im zweiten Teil des Psalms heißt, ein anderes und höheres Wort, das wertvoller als das Licht ist, nämlich das Wort der biblischen Offenbarung.

9 Aber wer offene Ohren und unverschleierte Augen hat, für den ist die Schöpfung eine erste Offenbarung, die ihre eigene ausdrucksvolle Sprache hat: Sie ist gleichsam eine zweite Heilige Schrift, deren Buchstaben von der Vielzahl der im Universum vertretenen Geschöpfe gebildet werden. Johannes Chrysostomos bekräftigt: »Das Schweigen der Himmel ist lauter als der Klang einer Trompete: Diese Stimme ruft unseren Augen und nicht unseren Ohren die Größe dessen zu, der sie geschaffen hat« (). Und Athanasius schreibt: »Das Firmament ist durch seine Großartigkeit, seine Schönheit und seine Ordnung ein eindrucksvoller Prediger seines Schöpfers, dessen Beredsamkeit das Universum erfüllt« ().

Liebe Schwestern und Brüder!

Psalm 19 bringt einen Lobgesang auf Gott, den Schöpfer, in schönen Gleichnissen zum Klingen. Im alten Orient wurde die Sonne als göttliches Wesen verherrlicht. Dagegen richtet sich die Lehre der Bibel: auch die Sonne gehört zur Schöpfungsordnung! Sie verweist auf Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der selbst die wahre Quelle des unvergänglichen Lichtes ist.

In diesem Psalm erscheint die Sonne wie ein Held, der tagtäglich aus seinem Gemach hervortritt und siegreich seine Bahn läuft. Er verrichtet seine Arbeit, zum Wohl des Menschen und der ganzen Schöpfung. Die Sonne strahlt und leuchtet über allen: „Nichts kann sich vor ihrer Glut verbergen" (
Ps 19,7).

Die wahre Sonne ist für uns der auferstandene Christus. Er ist unser Held, er ist unser Bräutigam. Er vertreibt die Macht des Bösen, besiegt die Dunkelheit und schenkt uns das wahre Licht.
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Mit diesen Gedanken begrüße ich herzlich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Christus sei in allen Lebenslagen das wahre Licht auf Eurem Weg. Euch, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gern den Apostolischen Segen.




Generalaudienz 2002