Generalaudienz 2002 34

Juni 2002


34

Mittwoch, 5. Juni 2002



1. Das soeben gesungene Lauda Jerusalem ist sehr beliebt in der christlichen Liturgie. Oft wurde damit der Psalm 147 angestimmt, und es wurde auf das Wort Gottes, das auf Erden »rasch dahineilt«, aber auch auf die Eucharistie bezogen, den »besten Weizen«, den Gott reichlich ausgeteilt hat, um den Hunger des Menschen zu »sättigen« (vgl. V. 14 -15).

Origenes hat in einer seiner Predigten, die im Westen vom hl. Hieronymus übersetzt und verbreitet wurden, diesen Psalm kommentiert und ihn mit dem Wort Gottes und der Eucharistie verknüpft: »Wir lesen die Heiligen Schriften. Ich denke, daß das Evangelium der Leib Christi ist; ich denke, daß die Heiligen Schriften seine Lehre sind. Und wenn er sagt: Wer mein Fleisch nicht ißt und ein Blut nicht trinkt (Jn 6,53), dann ist unter diesen Worten das [eucharistische] Geheimnis zu verstehen; dennoch ist der Leib Christi und sein Blut wahrhaftig das Schriftwort, die Lehre Gottes. Wenn wir das [eucharistische] Geheimnis empfangen und ein kleines Stückchen davon fällt auf den Boden, meinen wir, wir seien verloren. Wie gefährlich ist dann für uns, wenn wir das Wort Gottes hören, wenn das Wort Gottes und das Fleisch Christi und sein Blut uns in die Ohren geträufelt werden, wir aber an etwas ganz anderes denken?« (74 Homilien über das Buch der Psalmen, Mailand 1993, Ss. 543 -544).

Die Gelehrten weisen darauf hin, daß dieser Psalm an den vorhergehenden anknüpft und mit ihm eine Einheit bildet, wie es im hebräischen Original der Fall ist. Man hat in der Tat ein einziges zusammenhängendes Loblied auf die Schöpfung und die vom Herrn gewirkte Erlösung vor sich. Es beginnt mit einer freundlichen Einladung zum Lob Gottes: »Gut ist es, unserem Gott zu singen; schön ist es, ihn zu loben« (Ps 147,1).

2. Wenn wir den soeben gehörten Abschnitt näher betrachten, können wir drei Momente des Lobes unterscheiden, die mit einer an die Heilige Stadt Jerusalem gerichteten Einladung beginnen, ihren Herrn zu preisen und ihm zu lobsingen (vgl. Ps 147,12).

Im ersten Teil (vgl. V. 13 -14) ist die Rede von Gottes Wirken in der Geschichte. Es wird mit einer Reihe von Symbolen beschrieben, die Gottes Werk des Schutzes und der Unterstützung gegenüber der Stadt Zion und ihren Kindern darstellen. Es wird vor allem auf die »Riegel« hingewiesen, die Jerusalems Tore verstärken und festmachen. Vielleicht bezieht sich der Psalmist auf Nehemia, der die Heilige Stadt nach der bitteren Erfahrung der Babylonischen Verbannung wiederaufgebaut und befestigt hatte (vgl. Neh Ne 3,3 Neh Ne 3,6 Neh Ne 3,13 Ne 4,1 -9; Ne 6,15 -16; 12,27- Ne 43). Das Tor ist unter anderem ein Zeichen, das die ganze Stadt in ihrer Festigkeit und Sicherheit darstellen soll. In ihr, die als sicherer Schoß dargestellt ist, genießen die Kinder Zions, das heißt die Bürger, die vom Schutzmantel des göttlichen Segens umhüllt sind, Frieden und Sicherheit.

Der Eindruck von der frohen und ruhigen Stadt wird noch verstärkt durch das höchste und wertvollste Geschenk, den Frieden, der die Grenzen sicher macht. Aber gerade weil für die Bibel der Friede (shalòm) kein negativ belegter Begriff ist und die Betonung nicht auf der Abwesenheit von Krieg, sondern auf dem positiven Tatbestand des Wohlergehens und Wohlstandes liegt, bezeichnet der Psalmist die Sattheit als »besten Weizen«, das heißt als Weizen mit Ähren voller Körner. Der Herr hat also Jerusalems Befestigung verstärkt (vgl. Ps 87,2), er hat seinen Segen auf die Heilige Stadt herabkommen lassen (vgl. Ps 128,5 Ps 134,3), und indem er ihn auf das ganze Land ausgeweitet hat, hat er Frieden geschenkt (vgl. Ps 122,6 - 8) und die Kinder gesättigt (vgl. Ps 132,15).

3. Im zweiten Teil des Psalms (vgl. Ps 147,15 -18) stellt sich Gott vor allem als Schöpfer vor. In der Tat wird das Schöpfungswerk mit dem Wort in Verbindung gebracht, das das Erscheinen des Lebens erschlossen hat: »Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht … Er sendet sein Wort zur Erde … Er sendet sein Wort aus« (vgl. Gn 1,3 Ps 147,15 -18).

Auf das göttliche Wort hin werden die beiden Hauptjahreszeiten festgesetzt und treten in Erscheinung. Die Ordnung des Herrn läßt einerseits den Winter über die Erde kommen, malerisch dargestellt vom Schnee, der weiß wie Wolle ist, vom pulverähnlichen Tau und vom Hagel in Form von Brotkrümeln und Eisbrocken, die alles erstarren lassen (vgl. V. 16-17). Dem göttlichen Befehl ist anderseits zu verdanken, daß der warme Wind weht, der den Sommer bringt und damit das Eis schmelzen läßt: Das Regenwasser und die Flüsse haben freien Lauf und können die Erde bewässern und befruchten.

Das Wort Gottes ist also der Ursprung von Kälte und Hitze, von den Jahreszeiten und vom Lebensfluß in der Natur. Die Menschheit ist eingeladen, den Schöpfer zu erkennen und ihm für das primäre Geschenk des Universums zu danken, das sie umgibt, sie atmen läßt, sie nährt und erhält.

4. Nun kommt also der dritte und letzte Teil des Lobgesangs (vgl. V. 19 -20). Wir kehren zurück zum Herrn der Geschichte, von dem wir ausgegangen sind. Das göttliche Wort bringt dem Volk Israel ein noch höheres und wertvolleres Geschenk, das Gesetz, die Offenbarung. Ein ganz besonderes Geschenk: »An keinem andern Volk hat er so gehandelt, keinem sonst seine Rechte verkündet« (V. 20).

35 Die Bibel ist also der Schatz des auserwählten Volkes, aus dem es in Liebe und treuer Zustimmung schöpfen soll. Es ist das, was Mose im Deuteronomium zu den Juden sagt: »Welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften, die so gerecht sind wie alles in dieser Weisung, die ich euch heute vorlege?« (Dt 4,8).

5. So wie es zwei ruhmvolle Taten Gottes in der Schöpfung und in der Geschichte gibt, so gibt es auch zwei Offenbarungen: Die eine ist in die Natur selbst eingeschrieben und allen zugänglich, die andere ist dem auserwählten Volk geschenkt und in der Heiligen Schrift enthalten. Zwei unterschiedliche Offenbarungen, aber Gott ist einer, und sein Wort ist eines. Alles ist durch das Wort geworden, heißt es im Prolog des Johannesevangeliums , und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. Aber das Wort ist auch »Fleisch« geworden, das heißt, es ist in die Geschichte eingetreten und wohnt unter uns (vgl. Jn 1,3 Jn 1,14).

Liebe Schwestern und Brüder!

„Jerusalem, preise den Herrn, lobsinge, Zion, deinem Gott!" (Ps 147,12). Im Psalmengesang preist die Kirche den Schöpfer und dankt ihm für sein wunderbares Werk.

Die Tradition bezieht Psalm 147 auf das Wort Gottes, das am Beginn der Schöpfung steht und der Ursprung aller Wohltaten ist: „Er sendet sein Wort zur Erde, rasch eilt sein Befehl dahin" (Ps 147,15). Wir lesen und beten diese Worte im Licht des Prologs des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war Gott. Alles ist durch das Wort geworden" (vgl. Jn 1,1 Jn 1,3). Die Menschheit ist eingeladen, dem Schöpfer für das Universum zu danken. Denn Gott ist es, der alles Sein und Leben schafft und erhält. Die Güte des Herrn gipfelt in der Offenbarung Seiner selbst an das Volk der Erwählten: „An keinem andern Volk hat er so gehandelt" (Ps 147,20).
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Einen sehr herzlichen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern. Möge das Lob Gottes, des Schöpfers, auf Euren Lippen und in Euren Herzen nie verstummen! Gerne erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 12. Juni 2002



Lesung aus Psalm 92:
1 Ein Loblied auf die Treue Gottes [Ein Psalm. Ein Lied für den Sabbattag.]
2 Wie schön ist es, dem Herrn zu danken, deinem Namen, du Höchster, zu singen,
36 3 am Morgen deine Huld zu verkünden und in den Nächten deine Treue
4 zur zehnsaitigen Laute, zur Harfe, zum Klang der Zither.
5 Denn du hast mich durch deine Taten froh gemacht; Herr, ich will jubeln über die Werke deiner Hände.
6 Wie groß sind deine Werke, o Herr, wie tief deine Gedanken!
7 Ein Mensch ohne Einsicht erkennt das nicht, ein Tor kann es nicht verstehen.
8 Wenn auch die Frevler gedeihen / und alle, die Unrecht tun, wachsen, so nur, damit du sie für immer vernichtest.
9 Herr, du bist der Höchste, du bleibst auf ewig.
10 Doch deine Feinde, Herr, wahrhaftig, deine Feinde vergehen; auseinandergetrieben werden alle, die Unrecht tun.
11 Du machtest mich stark wie einen Stier, du salbtest mich mit frischem Öl.
12 Mein Auge blickt herab auf meine Verfolger, / auf alle, die sich gegen mich erheben; mein Ohr hört vom Geschick der Bösen.
13 Der Gerechte gedeiht wie die Palme, er wächst wie die Zedern des Libanon.
37 14 Gepflanzt im Hause des Herrn, gedeihen sie in den Vorhöfen unseres Gottes.
15 Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische;
16 sie verkünden: Gerecht ist der Herr; mein Fels ist er, an ihm ist kein Unrecht.

1. Der Psalm 92, der soeben als Lied des Gerechten an Gott, den Schöpfer, erklungen ist, nimmt in der altjüdischen Tradition einen besonderen Platz ein. In der Tat zeigt der Titel des Psalms an, daß dieser für den Sabbattag bestimmt ist (vgl. V. 1). Er ist also das Lied, das zum ewigen und erhabenen Herrn aufsteigt, wenn man am Freitag bei Sonnenuntergang in den geheiligten Tag des Gebets, der Kontemplation und der Ruhe des Leibes und Geistes eintritt.

Im Mittelpunkt des Psalms steht der erhabene große Gott, der Höchste (vgl. V. 9); um ihn herum zeichnet sich eine harmonische und befriedete Welt ab. Vor ihm steht auch die Person des Gerechten, der nach einer im Alten Testament beliebten Vorstellung mit Wohlstand, Freude und langem Leben als natürlicher Folge seines redlichen und treuen Daseins belohnt wird. Es handelt sich um die sogenannte »Vergeltungstheorie«, wonach jedes Verbrechen schon auf Erden bestraft und jede gute Tat belohnt wird. Diese Ansicht enthält zwar ein Körnchen Wahrheit, aber - wie Ijob vermuten läßt und Jesus hervorhebt (vgl.
Jn 9,2 -3), ist die Wirklichkeit des menschlichen Leidens viel komplexer und kann nicht so leicht vereinfacht werden. Das menschliche Leid muß unter dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet werden.

2. Untersuchen wir nun dieses Weisheitslied mit liturgischen Anklängen näher. Es besteht aus einem allgemeinen Aufruf zum Lob und Dank, zu frohem Gesang und festlicher Musik, die sich aus der zehnsaitigen Laute, der Harf und der Zither zusammensetzt (vgl. V. 2-4). Die Liebe und Treue des Herrn sollen durch den liturgischen Gesang gepriesen werden: Ihm soll ein Psalmenlied »gespielt« werden (vgl. Ps 47,8). Diese Einladung gilt auch für unsere Feiern, damit sie nicht nur in den Worten und Riten, sondern auch in ihren Begleitmelodien neuen Glanz erhalten.

Nach dieser Aufforderung, den inneren und äußeren Gebetsfaden, den wahren beständigen Atem der gläubigen Menschheit, nie abreißen zu lassen, zeichnet der Psalm 92 gleichsam in zwei Bildern das Profil des Menschen ohne Einsicht (vgl. V. 7-10) und des Gerechten (vgl. V. 13-16). Der Frevler wird aber dem Herrn, dem »Höchsten« (V. 9), gegenübergestellt, der seine Feinde umkommen läßt und alle Übeltäter zerstreut (V. 10). Allein im göttlichen Licht gelingt es, das Gute und das Böse, die Gerechtigkeit und die Verirrung, wirklich zu verstehen.

3. Der Sünder wird durch in Bild aus der Pflanzenwelt beschrieben: »Wenn auch die Frevler gedeihen und alle, die Unrecht tun, wachsen« (V. 8). Aber dieses Gedeihen ist dazu bestimmt, zu vertrocknen und zu vergehen. Der Psalmist intensiviert die Ausdrucksweise, mit der er die Zerstörung beschreibt: »So nur, damit du sie für immer vernichtest … Herr, wahrhaftig, deine Feinde vergehen; auseinandergetrieben werden alle, die Unrecht tun« (V. 8.10).

Wurzel dieses unglückseligen Ausgangs ist das innere Böse, das Sinn und Herz des Toren beherrscht: »Ein Mensch ohne Einsicht erkennt das nicht, ein Tor kann es nicht verstehen« (V. 7). Die hier verwendeten Worte gehören zur Sprache der Weisheitsliteratur und bezeichnen die Brutalität, Blindheit und Beschränktheit dessen, der meint, auf Erden ohne moralische Grenzen wüten zu können, und sich der Illusion hingibt, Gott sei abwesend und unbeteiligt. Der Beter hingegen ist sich sicher, daß der Herr früher oder später erscheinen wird, um Gericht zu halten und die Überheblichkeit der Uneinsichtigen zu beugen (vgl. Ps 13).

4. Nun haben wir die Gestalt des Ger chten vor uns, der in kräftigen Farben beschrieben wird. Auch in diesem Fall bedient man sich eines frischen, duftigen Bildes (vgl. Ps 91,13 -16). Im Unterschied zum Frevler, der wie das üppige Gras auf dem Feld vergeht, wächst der Gerechte zum Himmel, fest und majestätisch wie die Palme und die Zeder vom Libanon. Die Gerechten sind »gepflanzt im Haus des Herrn« (V. 14), das heißt, sie haben eine außerordentliche feste und dauerhafte Beziehung zum Tempel und damit zum Herrn, der darin Wohnung genommen hat.

Die christliche Tradition spielt auch mit der Doppelbedeutung des griechischen Wortes phoinix, das bei der Übersetzung des hebräischen Wortes für Palme verwendet wird. Phoinix ist die griechische Bezeichnung für Palme, aber auch für die Vogelart »Phönix«. Bekanntlich ist der Phönix das Symbol für Unsterblichkeit, denn man glaubte, das dieser Vogel aus seiner Asche wiedergeboren würde. Der Christ macht eine ähnliche Erfahrung durch seine Teilhabe am Tod Christi, der Quelle des neuen Lebens (vgl. Rm 6,3 -4). »Gott hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, […] mit Christus wieder lebendig gemacht«, heißt es im Epheserbrief :»Er hat uns mit Christus auferweckt« (2, 5-6).

38 5. In einem weiteren Bild wird der Gerechte mit einem Tier verglichen, das die Kraft verdeutlichen soll, die Gott ausspendet, auch wenn das Alter vor der Tür steht: »Du machtest mich stark wie einen Stier, du salbtest mich mit frischem Öl« (Ps 92,11). Die göttliche Kraft führt erstens zum Sieg und schenkt Sicherheit (vgl. V. 12); zweitens wird die ruhmvolle Stirn des Gerechten mit Öl gesalbt, das Kraft, Schutz und Segen ausstrahlt. Psalm 92 ist also ein optimistisches Lied, das durch die Begleitmusik und den Gesang noch verstärkt wird. Es feiert die Zuversicht und das Vertrauen auf Gott, der die Quelle der Gelassenheit und des Friedens ist, auch wenn man den scheinbaren Erfolg des Übeltäters erlebt. Eines Friedens, der auch im vorgerückten Alter noch unversehrt ist (vgl. V. 15), in einem Lebensabschnitt, der dennoch in Fruchtbarkeit und Sicherheit gelebt wird.

Wir schließen mit den von Hieronymus übersetzten Worten des Origenes, die von dem Satz ausgehen, in dem der Psalmist zu Gott sagt: »Du salbtest mich mit frischem Öl« (V. 11). Origenes kommentiert: »Unser vorgerücktes Alter braucht das göttliche Öl. So wie unser Körper, wenn er müde ist, sich nur erfrischt, wenn er mit Öl gesalbt wird, oder wie die Flamme in der Laterne erlischt, wenn kein Öl nachgegossen wird: So braucht auch das Flämmchen meines vorgerückten Alters, wenn es wachsen soll, das Öl der Barmherzigkeit Gottes. Übrigens sind auch die Apostel auf den Ölberg gegangen (vgl. Ac 1,12), um das Licht, das Öl des Herrn, zu empfangen, denn sie waren müde, und ihre Laternen brauchten das Öl des Herrn … Bitten wir also den Herrn, das unser vorgerücktes Alter und alle unser Mühe und Finsternis vom Öl des Herrn rhellt werden« (74 Homilien über das Buch der Psalmen, Mailand 1993, S. 280-282, passim).

Liebe Schwestern und Brüder!

Der gerechte Mensch preist Gott, den Schöpfer, für alle seine Werke und Wohltaten. Die jüdische Tradition hat Psalm 92 eine Sonderstellung im Leben der Gläubigen eingeräumt: Er wurde am Sabbattag gebetet, dem Tag des Gebetes, der Betrachtung und der Ruhe für Leib und Geist.

Im Mittelpunkt des Psalms erhebt sich feierlich die Gestalt des höchsten Gottes umgeben von einer harmonischen und friedlichen Welt: „Herr, du bist der Höchste, du bleibst auf ewig" (Ps 92,9).

Das Leben des Gerechten dient dem Lobpreis Gottes, der ihn mit Freude und Wohlergehen belohnt. Demgegenüber steht dem Frevler ein schlimmes Ende bevor, auch wenn er sich zunächst glücklich schätzt. Der gläubige Mensch lebt aus der Gewißheit, daß am Ende der Herr erscheinen wird, um Gerechtigkeit walten zu lassen.
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Von Herzen heiße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Möge Gottes Liebe und Treue Euer Beten inspirieren! Euch allen und Euren Lieben daheim sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan oder das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gerne den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 19. Juni 2002

Lesung aus dem Buch Deuteronomium 32, 1 -12 1.

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1. »Mose trug der vollzähligen Versammlung Israels den Wortlaut dieses Liedes vor, ohne irgend etwas auszulassen« (
Dt 31,30). So ist am Anfang des soeben vorgetragenen Gesangs zu lesen, der den letzten Seiten des Buches Deuteronomium, das heißt dem Kapitel 32 entnommen ist. Die ersten zwölf Verse wurden in die Liturgie der Laudes eingefügt, weil sie als ein Lied der Freude an den Herrn galten, der sein Volk in den täglichen Gefahren und Schwierigkeiten beschützt. Die Analyse des Canticums hat gezeigt, daß es sich um einen sehr alten Text handelt, der auf die Zeit nach Mose zu datieren ist, diesem aber in den Mund gelegt wurde, damit er feierlicher klingt. Das liturgische Lied ist in die Frühgeschichte des Volkes Israel einzuordnen. Es fehlt in diesem Gebet nicht an Hinweisen oder Verbindungen zu einigen Psalmen und zur Botschaft der Propheten: Es ist deshalb eine eindrucksvolle und starke Glaubensaussage Israels geworden.

2. Das Lied des Mose ist länger als der Abschnitt, der von der Liturgie der Laudes angeboten wird und nur den Anfang bildet. Manche Fachleute glaubten, in dieser Komposition einen literarischen Text vor sich zu haben, der in der Fachsprache mit dem hebräischen Wort ríb, das heißt Rechtsstreit, Prozeß, bezeichnet wird. Das in der Bibel dargestellte Gottesbild erscheint keineswegs als das eines unheimlichen Wesens, einer anonymen, unnahbaren Gewalt, als ein unbegreifliches Schicksal. Gott ist hingegen eine Person, die Gefühle hat, handelt und reagiert, liebt und verurteilt, am Leben seiner Geschöpf teilhat und ihrem Tun nicht gleichgültig gegenübersteht. So in unserem Fall, wo der Herr eine Art Gerichtsverhandlung einberuft, die Vergehen des angeklagten Volkes im Beisein von Zeugen anzeigt, eine Strafe verlangt, aber seinen Richterspruch in unendliches Erbarmen umwandelt. Verfolgen wir jetzt den Verlauf dieser Angelegenheit, auch wenn wir uns nur mit den Versen beschäftigen, die von der Liturgie angeboten werden.

3. Zu Beginn werden die kosmischen Augenzeugen genannt: »Hört zu, ihr Himmel, […] die Erde lausche meinen Worten.« In diesem symbolischen Gerichtsverfahren tritt Mose gleichsam als Staatsanwalt in Erscheinung. Was er sagt, hat Gewicht und Wirkung wie das prophetische Wort, das Ausdruck des göttlichen Wortes ist. Man achte auf die besondere Anordnung der Bilder, die es veranschaulichen sollen: Es handelt sich um Zeichen, die der Natur entnommen sind, wie der Regen, der Tau, die Wasserströme, die Regentropfen und die Tauperlen, die auf der Erde Gras und Pflanzen wachsen lassen.

Die Stimme des Mose, des Propheten und Vermittlers des göttlichen Wortes, kündigt das bevorstehende Erscheinen des hohen Richters, des Herrn, an, dessen heiligsten Namen er anruft, wobei er eine der vielen göttlichen Eigenschaften hervorhebt. Gott wird als Felsen bezeichnet (vgl. Nr. 4), ein Titel, der dieses ganze Lied durchzieht (vgl. V. 15.18.30.31.37), ein Bild, das Gottes unerschütterliche und feste Treue herausstellt, die ganz anders ist als die Unbeständigkeit und Untreue des Volkes. Das Thema wird in einer Reihe von Bekräftigungen der göttlichen Gerechtigkeit entfaltet: »Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade« (V. 4).

4. Nach der feierlichen Vorstellung des obersten Richters, der auch die verletzte Partei ist, wandert der Blick des Sängers zum Angeklagten. Um diesen zu charakterisieren, verwendet er das eindrucksvolle Bild Gottes, des Vaters (vgl. V. 6). Seine vielgeliebten Geschöpfe werden als seine »Söhne« bezeichnet, aber leider sind sie »Verkrüppelte« (vgl. V. 5). Wir wissen ja, daß es schon im Alten Testament das Bild von Gott als fürsorglichem Vater seiner Kinder gibt, die ihn oft enttäuschen (Ex 4,22 Dt 8,5 Ps 102,13 Si 51,10 Is 1,2 Is 63,16 Os 11, 1-4). Die Anklage ist deshalb nicht gefühllos, sondern leidenschaftlich: »Ist das euer Dank an den Herrn, du dummes, verblendetes Volk? Ist er nicht dein Vater, dein Schöpfer? Hat er dich nicht geformt und hingestellt?« (Dt 32,6). Es ist in der Tat ein großer Unterschied, ob man sich gegen einen unerbittlichen Herrscher oder gegen einen liebevollen Vater auflehnt.

Damit der Anklagepunkt klar herausgestellt wird und um zu bewirken, daß die Umkehr aus aufrichtigem Herzen kommt, appelliert Mose an das Gedächtnis »Denk an die Tage der Vergangenheit, lerne aus den Jahren der Geschichte« (V. 7). Der biblische Glaube ist ja ein »Gedenken«, das heißt, Gottes ewiges, in den Fluß der Zeit verwobenes Handeln wird neu überdacht;das heißt, das Heil, die Erlösung, die Gott dem Menschen geschenkt hat und ihm weiterhin anbietet, wird wirksam vergegenwärtigt. Die Untreue, die schwere Sünde, besteht in der »Gedächtnislosigkeit«, die die Erinnerung an die göttliche Gegenwart in uns und in der Geschichte auslöscht.

5. Das entscheidende Ereignis, das nicht vergessen werden soll, ist die Wanderung durch die Wüste nach dem Auszug aus Ägypten, das Hauptthema des Deuteronomiums und des ganzen Pentateuchs. So wird an den schwierigen dramatischen Weg in der Wüste des Sinai erinnert: »…in der Wüste, wo wildes Getier heult« (vgl. V. 10), wie es in inem stark emotionell gefärbten Vergleich heißt. Aber Gott wendet sich dort seinem Volk mit überraschender Zärtlichkeit und Wärme zu. Mit dem väterlichen Symbol ist auch die Anspielung auf das mütterliche Symbol des Adlers verbunden: »Er hüllte ihn ein, gab auf ihn acht und hütete ihn wie seinen Augenstern, wie der Adler, der sein Nest beschützt und über seinen Jungen schwebt, der seine Schwingen ausbreitet, ein Junges ergreift und es flügelschlagend davonträgt« (V. 10-11). Der Weg in der Wüste nimmt dann einen ruhigen und friedlichen Verlauf, weil der Schutzmantel der göttlichen Liebe da ist.

Das Lied weist auch auf den Sinai hin, wo Israel zum Verbündeten des Herrn wurde, sein »Anteil« und »Erbland«, das heißt die wertvollste Wirklichkeit (vgl. V. 9; Ex 19,5). So wird das Lied des Mose zur einmütigen Gewissensprüfung, damit nicht mehr die Sünde, sondern die Treue die göttlichen Wohltaten beantwortet.

Liebe Schwestern und Brüder!

Unser Gott ist ein unbeirrbar treuer Gott; gerecht und gerade sind seine Wege! (vgl. Dt 32,4). Moses preist im Canticum des Buches Deuteronomium die Vollkommenheit und Größe des Allerhöchsten. Hinter dem Bekenntnis steht die lebendige Erfahrung des Gottesvolkes: Gott ist nicht ein fernes Etwas, nicht eine unerreichbare und diffuse Macht, sondern eine Person, die am Leben der Geschöpfe teilnimmt.

Dieser Gott kennt keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Handeln der Menschen: Er liebt und richtet. Er wendet sich uns zu in unerschütterlicher Treue. Er gleicht einem „Fels" und seine Gerechtigkeit ist unvergänglich.
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40 Gerne richte ich einen freudigen Gruß an die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern. Euer Leben sei ein beständiger Lobpreis auf Gottes unerschütterliche Treue zu uns Menschen! Mit diesem Wunsch erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die heute mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, von Herzen den Apostolischen Segen.




Mittwoch, 26. Juni 2002

Lesung: Psalm 8, 2.4 -7

Liebe Schwestern und Brüder!

1. »Der Mensch erscheint uns hier im Mittelpunkt dieses Unternehmens als Gigant. Er offenbart sich uns als göttlich, nicht von sich aus, aber in seinem Ursprung und seiner Bestimmung. Dem Menschen gebührt also Ehre, seiner Würde, seinem Geist und seinem Leben gebührt Ehre.« Mit diesen Worten übergab Paul VI. im Juli 1969 den amerikanischen Astronauten vor ihrem Start zum Mond den soeben hier vorgetragenen Text von Psalm 8, damit dieser in den Weltraum eingeht (Insegnamenti VII, 1969, SS. 493 -494).

Dieser Hymnus ist in der Tat ein Loblied auf den Menschen, der im Vergleich zur unendlichen Weite des Universums ein schwaches »Schilfrohr« im Wind ist - um einen berühmten Ausspruch des großen Philosophen Blaise Pascal zu verwenden (Pensées, Nr. 264). Und doch ist er ein »denkendes Schilfrohr«, das die Schöpfung erfassen kann, weil er von Gott als Herrscher über die Schöpfung eingesetzt und von ihm selbst gekrönt wurde (vgl. Ps 8,6). Wie es bei den Liedern, die den Schöpfer lobpreisen, oft der Fall ist, beginnt und endet Psalm 8 mit einer feierlichen Antiphon an den Herrn, dessen Herrlichkeit sich über das Universum ausbreitet: »Herr, unser Herrscher, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde« (V. 2.10).

2. Der eigentliche Liedkörper läßt eine nächtliche Atmosphäre mit Mond und Sternen vermuten, die am Himmel aufgehen. In der ersten Liedstrophe (vgl. V. 2-5) steht Gott dem Menschen und dem Kosmos gegenüber. Es tritt zunächst der Herr in Erscheinung, dessen Herrlichkeit vom Himmel und auch von den Lippen der Menschheit verkündet wird. Das Lob, das spontan aus dem Mund der Kinder ertönt, bringt die überheblichen Reden der Gegner Gottes zum Verstummen (vgl. V. 3). Sie werden als Gegner, Feinde und Widersacher bezeichnet, denn sie meinen, den Schöpfer durch ihr Denken und Handeln herausfordern und sich ihm widersetzen zu können.

Dann wird das eindrucksvolle Bild einer sternklaren Nacht sichtbar. Angesichts dieses unendlichen Horizonts drängt sich die ewige Frage auf: »Was ist der Mensch?« (Ps 8,5). Die erste spontane Antwort spricht von der Nichtigkeit sowohl in bezug auf die Unendlichkeit des Himmels als auch hinsichtlich der Größe des Schöpfers. Denn der Mond und die Sterne - sagt der Psalmist -, »die du befestigst«, sind dein und »das Werk deiner Finger« (vgl. V. 4). Wie schön ist dieser Ausdruck anstelle des gewohnten »Werks deiner Hände« (vgl. V. 7)! Gott hat diese kolossalen Wirklichkeiten mit einer Leichtigkeit und Feinheit gleichsam wie eine Stickerei oder Ziselierarbeit geschaffen, unter dem zarten Klang eines Harfenspielers, der seine Finger über die Saiten gleiten läßt.

3. Die erste Reaktion ist deshalb Erstaunen: Wie kann Gott an ein so zerbrechliches und unbedeutendes Geschöpf denken und sich seiner annehmen (vgl. V. 5)? Aber da kommt die große Überraschung: Dem Menschen, diesem schwachen Geschöpf, hat Gott eine wunderbar Würde verliehen: Er hat ihn nur wenig geringer als die Engel gemacht, oder, wie das hebräische Original auch übersetzt werden kann, wenig geringer als einen Gott (vgl. V. 6).

So kommen wir zur zweiten Strophe des Psalms (vgl. V. 6-10). Der Mensch wird als der königliche Statthalter des Schöpfers gesehen. Denn Gott hat ihn wie einen Vizekönig »gekrönt« und zu einer universalen Herrschaft bstimmt: »Du hast ihm alles zu Füßen gelegt.« Nach dem Adjektiv »alles« werden die verschiedenen Geschöpfe aufgezählt (vgl. V. 7. 9). Doch diese Herrschaft wird nicht von der Fähigkeit des Menschen erobert, die schwach und begrenzt ist; ebensowenig wird sie durch einen Sieg über Gott errungen, wie es der griechische Mythos des Prometheus haben möchte. Es ist eine von Gott geschenkte Herrschaft:Den zerbrechlichen und oft egoistischen Händen des Menschen ist der ganze Horizont der Schöpfung anvertraut, damit er deren Harmonie und Schönheit bewahrt, sie nutzt, aber nicht ausnützt, ihr Geheimnisse erschließt und ihre Möglichkeiten entfaltet.

Wie die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils erklärt, ist »der Mensch ›nach dem Bild Gottes‹ geschaffen, fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt, um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen« (GS 12).

41 4. Leider kann die in Psalm 8 bekräftigte Herrschaft des Menschen vom egoistischen Menschen mißverstanden und entstellt werden;eoft hat er sich mehr als irrsinniger Tyrann denn als kluger und weiser Herrscher erwiesen. Das Buch der Weisheit warnt vor solchen Abweichungen, wenn es erklärt, daß Gott den Menschen »durch seine Weisheit erschaffen hat, damit er über die Geschöpfe herrscht« (9, 2-3). Auch Ijob beruft sich auf unseren Psalm - wenn auch in einem anderen Zusammenhang -, um vor allem an die menschliche Schwachheit zu erinnern, die von seiten Gottes nicht so viel Aufmerksamkeit verdienen würde: »Was ist der Mensch, daß du groß ihn achtest und deinen Sinn auf ihn richtest, daß du ihn musterst jeden Morgen?« (7, 17-18). Der Lauf der Geschichte macht das Böse deutlich, das die menschliche Freiheit durch die Unweltverwüstungen und die eklatanten sozialen Ungerechtigkeiten in der Welt verbreitet.

Im Gegensatz zu den Menschen, die ihresgleichen und die Schöpfung herabwürdigen, stellt sich Christus als der vollkommene Mensch vor, der »um seines Todesleidens willen mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt wurde; es war nämlich Gottes gnädiger Wille, daß er für alle den Tod erlitt« (
He 2,9). Er gebietet über das Universum mit jener Herrschaft des Friedens und der Liebe, die die neue Welt, den neuen Himmel und die neue Erde vorbereitet (vgl. 2P 3,13). Ja, seine Königsherrschaft wird - wie der Autor des Briefes an die Hebräer nahelegt, indem er Psalm 8 auf ihn bezieht - durch seine äußerste Selbsthingab im Tod »für alle« ausgeübt. .

Christus ist kein Herrscher, der sich dienen läßt, sondern der den anderen dient und sich für sie hingibt: »Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele« (Mc 10,45). Auf diese Weise vereint er alles, »was im Himmel und auf Erden ist« (Ep 1,10). In diesem christologischen Licht offenbart Psalm 8 die ganze Kraft seiner Botschaft und seiner Hoffnung und lädt uns ein, unser Herrschaft über die Schöpfung nicht als Besitztum, sondern als Liebesdienst auszuüben.

Das Staunen des Menschen vor Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat, führt zum Nachdenken über sich selbst. Angesichts der alles überragenden Größe Gottes und seiner Allmacht taucht die Frage auf: „Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst und dich seiner annimmst?" (vgl. Ps 8,5).

Psalm 8 gibt die Antwort: Gott hat dem Menschen eine wunderbare Würde verliehen. Er hat ihm die Herrschaft über seine Schöpfung übertragen, damit er ihre Schönheit bewahre und sich an ihr erfreuen kann. Leider erleben wir oftmals das Gegenteil: die Zerstörung des Menschen und seiner Umwelt. Wenn wir uns jedoch vom Geist Jesu Christi leiten lassen, werden wir fähig, an seiner Herrschaft des Friedens und der Liebe auf Erden mitzuarbeiten.
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Von Herzen heiße ich alle Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Euch allen und Euren Lieben daheim, sowie allen, die mit uns über Radio Vatikan oder das Fernsehen verbunden sind, erteile ich gerne den Apostolischen Segen.



Juli 2002


Mittwoch, 3. Juli 2002

Lesung: Psalm 93, 1.3-4



Liebe Schwestern und Brüder!

42 1. Der Inhalt von Psalm 93, über den wir heute nachdenken, ist im wesentlichen in einigen Versen des Hymnus, den das Stundengebet montags für die Vesper anbietet, eindrucksvoll wiedergegeben: »Des Himmels Schöpfer, großer Gott, du hast das Firmament gebaut und so geschieden Flut von Flut, daß sie nicht wirr zusammenströmt. Den Wolken wiesest du die Bahn, den Flüssen zeigtest du ihr Bett; nun hemmt die Flut des Feuers Macht, damit die Erde nicht verbrennt.«

Bevor wir den Psalm eingehender untersuchen, in dem das Bild der Wasserfluten vorherrscht, wollen wir sein Grundmotiv erfassen, die literarische Gattung, die ihn leitet. Denn dieser Psalm wird wie die nachfolgenden Psalmen 95-98 von den Bibelforschern als »Königslied« bezeichnet. Er rühmt das Reich Gottes, die Quelle des Friedens, der Wahrheit und der Liebe, das wir im Vaterunser herbeirufen, wenn wir flehentlich bitten: »Dein Reich komme!«

In der Tat beginnt Psalm 93 mit einem Freudenruf, der so klingt: »Der Herr ist König« (V. 1). Der Psalmist feiert das aktive Königtum Gottes, das heißt sein wirksames und heilbringendes Handeln, das die Welt erschaffen und den Menschen erlöst hat. Der Herr ist kein gleichgültiger in seinem fernen Himmel eingeschlossener Herrscher, sondern er ist mitten unter seinem Volk gegenwärtig als machtvoller Erlöser, groß in der Liebe.

2. Im ersten Teil des Lobhymnus thront der König, der Herr. Er sitzt wie ein Herrscher auf einem ruhmvollen Thron, der feststeht von Ewigkeit (vgl. V. 2). Er hat sich bekleidet mit Hoheit, gegürtet mit Macht (vgl. V. 1). Im Zentrum des Psalms wird Gottes Allmacht offenbar, anschaulich dargestellt von den Wasserfluten.

Der Psalmist weist insbesondere auf das »Brausen« der Fluten, das heißt auf das Geräusch des Wassers hin. In der Tat erzeugt das ohrenbetäubende Getöse großer Wasserfälle im Zuschauer das Gefühl einer furchterregenden Gewalt und läßt ihn erzittern. Psalm 42 erinnert an dieses Gefühl, wenn es heißt: »Flut ruft der Flut zu beim Tosen deiner Wasser, all deine Wellen und Wogen gehen über mich hin« (V. 8). Angesichts dieser Naturgewalt fühlt sich der Mensch hilflos. Aber der Psalmist bedient sich dieses Sprungbretts, um die viel größere Macht des Herrn zu rühmen. Die dreifache Wiederholung der Worte »Fluten erheben« ihr Brausen (vgl.
Ps 93,3), wird beantwortet durch die dreifache Bekräftigung der noch größeren Macht Gottes.

3. Wenn die Kirchenväter diesen Psalm kommentieren, beziehen sie ihn gern auf Christus, den »Herrn und Erlöser«. Origines, der von Hieronymus ins Lateinische übersetzt wurde, sagt: »Der Herr ist König, er hat sich mit Schönheit bekleidet. Das heißt, er, der zuvor in der Niedrigkeit des Fleisches erzitterte, erstrahlt jetzt in göttlicher Majestät.« Die Wasserfluten, die ihr Brausen erheben, stellen »die bedeutenden Gestalten der Propheten und der Apostel« dar, die »den Herrn lobpreisen und verherrlichen und seinen Richterspruch in der ganzen Welt verkünden« (vgl. 74 omelie sul libro dei Salmi, Milano 1993, Ss. 666 -669).

Augustinus deutet das Zeichen der Wasserfluten und Meere noch weiter. Als überflutende Wasser, das heißt gestärkt und voll des Heiligen Geistes, haben die Apostel keine Angst mehr und erheben endlich ihre Stimme. Aber »als Christus von so vielen Stimmen verkündet wurde, begann das Meer zu beben«. Im aufgewühlten Meer dieser Welt - schreibt Augustinus - schien das Schifflein der Kirche gefährlich hin- und herzuschwanken unter den feindlichen Bedrohungen und Verfolgungen, aber »gewaltiger ist der Herr in der Höhe«: Er »ging auf dem See und hat die Fluten gebändigt« (Esposizioni sui salmi, III, Roma 1976, S. 231)

4. Gott ist Herr über alles, allmächtig und unbesiegbar; er ist seinem Volk, dem er seine Weisungen erteilt, immer nahe. Das ist der Leitgedanke, den Psalm 93 in seinem letzten Vers anbietet: Auf den höchsten Himmelsthron folgt der Thron der Arche des Tempels von Jerusalem. An Stelle der Macht seiner kosmischen Stimme tritt die Milde seines heiligen und unfehlbaren Wortes: »Deine Gesetze sind fest und verläßlich; Herr, deinem Haus gebührt Heiligkeit für alle Zeiten« (V. 5).

So endet ein kurzer, aber bewegender Hymnus. Er ist ein Gebet, das den Gläubigen Vertrauen und Hoffnung einflößt, wenn sie oft beunruhigt sind und fürchten, von den Umwälzungen der Geschichte verschlungen und von dunklen, bedrohlichen Mächten ergriffen zu werden.

Als Widerhall auf diesen Psalm ist die Offenbarung des Johannes zu betrachten, wo der inspirierte Schriftsteller in der Beschreibung der großen Schar im Himmel, die über den Untergang Babylons jubelt, bekräftigt: »Da hörte ich etwas wie den Ruf einer großen Schar und das Rauschen gewaltiger Wassermassen und wie das Rollen mächtiger Donner: Halleluja! Denn König geworden ist der Herr, unser Gott« (19, 6).

5. Wir beenden unsere Reflexion über Psalm 93, indem wir das Wort an Gregor von Nazianz, den »Theologen« schlechthin unter den Vätern, weitergeben. Wir tun es durch eines seiner schönen Gedichte, in denen der Lobpreis an Gott, den Schöpfer und Herrscher, einen dreifaltigen Aspekt annimmt: »Du [Vater] hast das Universum erschaffen und jedem den Platz zugewiesen, der ihm zukommt; du erhältst ihn kraft deiner Vorsehung … Dein Wort ist Sohn-Gottes: Er ist wirklich eines Wesens mit dem Vater, ihm an Ehren gleich. Er hat das Universum harmonisch geordnet, um über alles zu herrschen. Und indem Gott der Heilige Geist alles umfängt, sorgt er für alles und schützt es. Ich will dich verkündigen, lebendige Dreifaltigkeit, eine und einzige Herrscherin, …dich, unerschütterliche Kraft, die die Himmel festigt, dich, unzugängliches Auge, das das ganze Universum anschaut und die verborgenen Tiefen der Erde bis in den Abgrund kennt. O Vater, sei mir gnädig … Laß mich Erbarmen und Gnade finden, denn dein ist der Ruhm und die Ehre ohne Ende bis in Ewigkeit« (Carme 31, in: Poesie/1, Roma 1994, Ss. 65 -66).

43 „Der Herr ist König, er hat sich mit Hoheit bekleidet und mit Macht umgürtet - gewaltiger als das Tosen der Wasser ist der Herr in der Höhe" (vgl. Ps 93,1 Ps 93,4). Psalm 93 besingt das Königtum Gottes und seine Erhabenheit über die Schöpfung.

Gottes Hoheit erzeugt im gläubigen Menschen Vertrauen und Hoffnung: Auch die „Unwetter" der Geschichte und die Mächte der Finsternis heben die Souveränität Gottes über das Werk seiner Hände nicht auf. Gott bleibt der Herr! Wer ihm vertraut, findet Ruhe auch in Zeiten der Bedrängnis. Darum wissend, beten wir täglich im „Vaterunser" um das Kommen seines Reiches. In der Bitte „Dein Reich komme!" bekennen wir uns zum Königtum Gottes, der gewaltiger ist als die Fluten jeder menschlichen Bedrohung.
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Mit Freude begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Das Bekenntnis zum Königtum Gottes und die tägliche Bitte um das Kommen seines Reiches mögen Euer Leben als Christen prägen! Von Herzen erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die heute mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, den Apostolischen Segen.




Generalaudienz 2002 34