Generalaudienz 2002 64


64

Mittwoch, 16. Oktober 2002


Liebe Brüder und Schwestern!

1. Während meiner jüngsten Reise nach Polen wandte ich mich mit folgenden Worten an die Gottesmutter: »Heiligste Mutter, …erwirke auch für mich die Kraft des Leibes und des Geistes, damit ich meine Sendung, die mir vom Auferstandenen anvertraut wurde, bis zum Ende erfüllen kann. Dir übergebe ich alle Früchte meines Lebens und meines Dienstes; Dir vertraue ich das Los der Kirche an; …auf Dich vertraue ich und noch einmal bekräftige ich Dir gegenüber: Totus Tuus, Maria ! Totus Tuus. Amen« (Kalwaria Zebrzydowska, 19.8.2002; in: O.R dt., Nr. 35, 30.8.2002, S. 11). Die gleichen Worte wiederhole ich heute, während ich Gott Dank sage für die 24 Jahre meines Dienstes an der Kirche auf dem Stuhl Petri. An diesem besonderen Tag vertraue ich erneut den Händen der Gottesmutter das Leben der Kirche und das so beschwerliche Leben der Menschheit an. Ihr möchte ich auch meine Zukunft anempfehlen. Ich lege alles in ihre Hände, damit sie es ihrem Sohn »zum Lob seiner Herrlichkeit« (Ep 1,12) mit mütterlicher Liebe vorstellt.

2. Mittelpunkt unseres Glaubens ist Christus, der Erlöser des Menschen. Maria beeinträchtigt ihn nicht, sie beeinträchtigt auch sein Heilswerk nicht. Mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen, kostet die Jungfrau Maria als erste die Früchte des Leidens und der Auferstehung ihres Sohnes; sie ist diejenige, die uns auf die sicherste Weise zu Christus führt, dem letzten Ziel unseres Handelns und unseres ganzen Daseins. Als ich im Apostolischen Schreiben Novo millennio ineunte an die ganze Kirche die Aufforderung Christi richtete, »hinauszufahren«, fügte ich deshalb hinzu: »…uns begleitet auf diesem Weg die allerseligste Jungfrau Maria, der ich … zusammen mit vielen Bischöfen …das Dritte Jahrtausend anvertraut habe« (58). Und als ich die Gläubigen einlud, unaufhörlich das Antlitz Christi zu betrachten, wünschte ich zutiefst, daß seine Mutter Maria für alle zur Lehrerin dieser Kontemplation werden möge.

3. Heute möchte ich diesen Wunsch noch deutlicher durch zwei symbolische Gesten zum Ausdruck bringen. In Kürze werde ich das Apostolische Schreiben Rosarium Virginis Mariae unterzeichnen. Außerdem rufe ich mit diesem Dokument, das dem Rosenkranzgebet gewidmet ist, das Jahr von Oktober 2002 bis Oktober 2003 zum »Jahr des Rosenkranzes« aus. Ich tue es nicht nur deshalb, weil es das 25. Jahr meines Pontifikats ist, sondern weil auch das 120jährige Jubiläum der Enzyklika Supremi Apostolatus officio ansteht, mit dem mein verehrungswürdiger Vorgänger Papst Leo XIII. am 1. September 1883 den Anfang setzte für die Veröffentlichung einer Reihe von Dokumenten, die dem Rosenkranz gewidmet waren. Es gibt noch einen weiteren Grund: In der Geschichte der großen Jubiläen war es Brauch, nach dem Jubeljahr, das Christus und dem Erlösungswerk gewidmet war, ein Jubiläumsjahr zu Ehren Marias anzusetzen, um sozusagen von ihr die Hilfe für eine reiche Frucht der empfangenen Gnaden zu erbitten.

4. Gibt es für die anspruchsvolle, aber außerordentlich wertvolle Aufgabe, das Antlitz Christi mit Maria zu betrachten, vielleicht ein besseres Mittel als das Rosenkranzgebet? Wir müssen die tiefe Mystik wiederentdecken, die in der Einfachheit dieses in der Volksfrömmigkeit so beliebten Gebets enthalten ist. Dieses Mariengebet ist in der Tat seiner Struktur nach vor allem eine Betrachtung der Geheimnisse des Lebens und des Werkes Christi. Indem wir das »Gegrüßet seist du Maria« wiederholen, können wir die wesentlichen Ereignisse der Sendung des Gottessohnes auf Erden, die uns vom Evangelium und von der Tradition überliefert wurden, eingehend betrachten. Damit diese Zusammenfassung des Evangeliums vervollständigt wird und noch mehr Inspiration bietet, habe ich im Apostolischen Schreiben Rosarium Virginis Mariae vorgeschlagen, weitere fünf Geheimnisse zu den bisherigen im Rosenkranz betrachteten hinzuzufügen, und ich habe sie »lichtreiche Geheimnisse« genannt. Sie schließen das öffentliche Leben des Erlösers von der Taufe im Jordan bis zum Beginn des Leidens ein. Dieser Vorschlag hat den Zweck, den Horizont des Rosenkranzes zu erweitern, damit es demjenigen, der ihn mit Andacht und nicht mechanisch betet, möglich ist, noch tiefer in den Inhalt der Frohen Botschaft einzudringen und das eigene Dasein dem Leben Christi immer ähnlicher zu machen.

5. Ich danke den hier Anwesenden und allen, die an diesem besonderen Tag mit mir geistlich verbunden sind. Danke für die Freundlichkeit und besonders für die Versicherung der ständigen Unterstützung im Gebet. Ich übergebe den Hirten und den Gläubigen in der ganzen Welt diese Dokument über den heiligen Rosenkranz. Das »Jahr des Rosenkranzes«, das wir zusammen erleben werden, wird gewiß heilsame Früchte in den Herzen aller hervorbringen, es wird das Wirken der Gnadengaben des Großen Jubiläums des Jahres 2000 verstärken und eine Quelle des Friedens für die Welt werden.

Maria, die Königin vom heiligen Rosenkranz, die wir hier auf dem schönen hochverehrten Gnadenbild von Pompeji sehen, führe die Kinder der Kirche zur Fülle der Gemeinschaft mit Christus in seiner Herrlichkeit.

Am heutigen Jahrestag meiner Wahl vertraue ich erneut alle Anliegen der Kirche und der Menschheit der Fürsprache Marias an. Als gute Mutter trägt sie Christus, dem Erlöser, unsere Bitten vor. Maria begleitet uns auf dem Weg zum Ziel unseres Lebens.

Beim Beten des Rosenkranzes erschließt sich uns das Antlitz Christi und wir lernen den Heilsplan Gottes kennen. Daher lade ich Euch ein, das nun beginnende 25. Jahr meines Pontifikates mit mir als „Jahr des Rosenkranzes" zu begehen. Um dieses Gebet auszuweiten, kann es durch fünf Gesätze ergänzt werden: die lichtreichen Geheimnisse, in denen wir das öffentliche Wirken Jesu betrachten. Sie mögen uns helfen, auf dem Weg der Nachfolge Christi vollkommener zu werden.
***


65 Herzlich danke ich den Pilgern aus den Ländern deutscher Sprache für ihre Glückwünsche und für ihr Gebet. Besonders grüße ich den Familienbund aus dem Erzbistum Paderborn, sowie die Schüler und Lehrer der Liebfrauenschule Nottuln im Bistum Münster. Gebt alle ein frohes Zeugnis von der Erlöserliebe Christi, die Maria uns im Rosenkranz zeigt!




Mittwoch, 23. Oktober 2002


Lesung: Psalm 86, 1-2. 11. 16-17

1 Der Hilferuf eines Armen zu Gott [Ein Gebet Davids.] Wende dein Ohr mir zu, erhöre mich, Herr! Denn ich bin arm und gebeugt.
2 Beschütze mich, denn ich bin dir ergeben! Hilf deinem Knecht, der dir vertraut!
11 Weise mir, Herr, deinen Weg; ich will ihn gehen in Treue zu dir. Richte mein Herz darauf hin, allein deinen Namen zu fürchten!
12 Ich will dir danken, Herr, mein Gott, aus ganzem Herzen, will deinen Namen ehren immer und ewig.
16 Wende dich mir zu und sei mir gnädig, / gib deinem Knecht wieder Kraft, und hilf dem Sohn deiner Magd!
17 Tu ein Zeichen, und schenke mir Glück! / Alle, die mich hassen, sollen es sehen und sich schämen, weil du, Herr, mich gerettet und getröstet hast.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der soeben erklungene Psalm 86, der Gegenstand unserer Reflexion ist, bietet uns eine eindrucksvolle Beschreibung des Betenden. Dieser stellt sich Gott vor mit den Worten: Ich bin »dein Knecht« und »Sohn deiner Magd« (V. 16). Diese Bezeichnung mag zum Sprachgebrauch des Hofzeremoniells gehört haben, aber sie fand auch Verwendung für den Knecht, der vom Familien- oder Stammesoberhaupt als Sohn adoptiert wurde. So gesehen, fühlt sich der Psalmist, der sich auch als dem Herrn »ergeben« bezeichnet (vgl. V. 2), an Gott gebunden, aber nicht nur durch den Gehorsam, sondern auch durch ein Band der Vertrautheit und der Gemeinschaft. Deshalb ist sein Beten ganz von vertrauensvoller Hingabe und Hoffnung durchdrungen.

66 Verfolgen wir jetzt dieses Gebet, das uns von der Liturgie der Laudes am Tagesanfang angeboten wird, wo voraussichtlich nicht nur Verpflichtungen und Mühen, sondern auch mangelndes Verständnis und Schwierigkeiten auf uns zukommen.

2. Der Psalm beginnt mit einem eindringlichen Hilferuf, den der Beter an den Herrn richtet im Vertrauen auf dessen Liebe (vgl. V. 1-7). Zum Schluß spricht er wieder die Gewißheit aus, daß der Herr ein »barmherziger und gnädiger Gott ist, langmütig, reich an Huld und Treue« (V. 15; vgl.
Ex 34,6). Diese wiederholten und überzeugten Vertrauensbeweise offenbaren einen unversehrten und reinen Glauben, der sich dem Herrn überantwortet, der »gütig und bereit ist zu verzeihen, für alle, die zu ihm rufen, reich an Gnade« (vgl. Ps 86,5).

Mitten im Psalm steigt ein Loblied auf, das Dankgefühle mit einem Bekenntnis des Glaubens an die Heilswerke verbindet, die Gott vor den Völkern vollbringt (vgl. V. 8-13).

3. Gegen jede götzendienerische Versuchung verkündet der Betende die absolute Einzigkeit Gottes (vgl. V. 8). Dann wird die kühne Hoffnung ausgesprochen, daß eines Tages »alle Völker« den Gott Israels anbeten werden (V. 9). Diese wunderbare Perspektive erfüllt sich in der Kirche Christi, denn er hat seine Apostel »zu allen Völkern« gesandt (Mt 28,19). Niemand kann eine volle Befreiung anbieten, wenn nicht der Herr, dem alle Geschöpfe unterstehen und an den man sich in anbetender Haltung wenden soll (vgl. Ps 86,9). Er offenbart sich im Kosmos und in der Geschichte durch seine machtvollen Taten, die seine absolute Herrschaft bezeugen (vgl. V. 10).

Der Psalmist beansprucht nun Platz für sich selbst, um sich Gott mit einer eindringlichen und klaren Bitte vorzustellen: »Weise mir, Herr, deinen Weg; ich will ihn gehen in Treue zu dir. Richte mein Herz darauf hin, allein deinen Namen zu fürchten!« (V. 11). Wie schön ist diese Bitte, den Willen Gottes zu erkennen, und dieses flehende Ansuchen, das Geschenk des »Herzens« eines Kindes zu erlangen, das sich ohne Falschheit und Berechnung der Führung des Vaters anvertraut, um den Weg des Lebens zu gehen.

4. Da fließt dem Gläubigen das Herz über, und er lobt den barmherzigen Gott, der ihn nicht der Verzweiflung, dem Tod, dem Bösen und der Sünde überläßt (vgl. V. 12-13; Ps 15, 10-11).

Psalm 86 ist ein im Judentum beliebter Text, das ihn in die Liturgie eines großen Festtages, des Yóm Kippur oder Bußtages, eingebaut hat. Das Buch der Offenbarung seinerseits hat dem Psalm einen Vers (vgl. V. 9) entnommen und ihn im Rahmen der himmlischen Liturgie in das »Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und Lied zu Ehren des Lammes« eingegliedert: »Alle Völker kommen und beten dich an«, und die Offenbarung fügt hinzu: »…denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden« (Ap 15,4).

Der hl. Augustinus hat unserem Psalm in seinen »Enarrationes in Psalmos« einen langen und leidenschaftlichen Kommentar gewidmet und ihn in ein Lied Christi und des Christen verwandelt. Die lateinische Übersetzung verwendet in Vers 2 gemäß der griechischen Version der Septuaginta anstatt »ergeben« die Version »heilig«: »Beschütze mich, denn ich bin heilig.« Eigentlich ist nur Christus heilig. Aber -so Augustinus - »auch der Christ kann diese Worte auf sich anwenden: »Ich bin heilig, weil du mich geheiligt hast; weil ich [diesen Titel] empfangen habe, nicht weil ich ihn von mir selbst hätte, sondern weil du ihn mir geschenkt hast und nicht weil ich ihn mir verdient habe.« So »wage auch jeder Christ, wage auch der Leib Christi zu rufen von den Enden der Erde, während er Leiden, Versuchungen und zahllose Ärgernisse erträgt: ›Bewahre meine Seele, denn ich bin heilig! Rette, mein Gott, deinen Knecht, der auf dich hofft.‹ Nun, dieser Heilige hofft auf den Herrn, er ist also nicht hochmütig« (vol. II, Roma 1970, S. 1251).

5. Der Christ, der heilig ist, öffnet sich der Universalität der Kirche und betet mit dem Psalmisten: »Alle Völker kommen und beten dich an, Herr« (Ps 86,9). Und Augustinus kommentiert: »Weil alle Völker im einen Herrn eins sind, bilden sie eine Einheit. Wie es nämlich die Kirche und die Kirchen gibt, und die Kirchen das sind, was die Kirche ist, so ist jenes Volk dasselbe wie die Völker. Früher gab es verschiedene Völker, viele Völker, jetzt ist es ein Volk. Warum ein Volk? Weil ein Glaube, eine Hoffnung, eine Liebe, eine Erwartung. Warum, letztlich, nicht ein Volk, da doch eine Heimat? Die Heimat ist der Himmel, die Heimat ist Jerusalem. Und dieses Volk reicht von Osten nach Westen, vom Norden bis zum Meer, in alle vier Himmelsrichtungen« (ebd.).

In diesem universalen Licht wird unser liturgisches Beten zum Atem des Lobes und zu einem Loblied an den Herrn im Namen aller Geschöpfe.

Psalm 86 stellt uns das Modell eines Gott wohlgefälligen Beters vor Augen. Der betende Mensch erfährt die göttliche Gegenwart als eine tragende Wirklichkeit, die eine tiefe Geborgenheit vermittelt und die sein Vertrauen stärkt. Der Beter möchte immer besser den Willen Gottes erkennen und ihn erfüllen. So fleht er zum Herrn, er möge ihn näher zu sich führen. Er bittet um das Herz eines Kindes, das ganz auf den Vater ausgerichtet ist.

67 Der heilige Augustinus faßt diese Haltung in einem schönen Gedanken zusammen: „Behüte mich! Denn ich bin heilig, weil du mich geheiligt hast. " In dieses Gebet stimmt die Kirche ein. Sie ist der mystische Leib Christi, den Gott aus allen Völkern zusammengefügt hat.
***


Mit einem frohen Gruß heiße ich die Pilger und Besucher willkommen, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Das Gebet sei Euch ein treuer Begleiter auf allen Wegen! Es festige Eure Gemeinschaft mit Gott, dem Herrn und Schöpfer des Alls.



Mittwoch, 30. Oktober 2002

Lesung: Jes 33, 13. 14b-15a. 16

68 Is 33,13-16

13 Ihr in der Ferne, hört, was ich tue; ihr in der Nähe, erkennt meine Kraft!
14 Die Sünder in Zion beginnen zu zittern, ein Schauder erfaßt die ruchlosen Menschen. Wer von uns hält es aus neben dem verzehrenden Feuer, wer von uns hält es aus neben der ewigen Glut?
15 Wer rechtschaffen lebt und immer die Wahrheit sagt, wer es ablehnt, Gewinn zu erpressen, wer sich weigert, Bestechungsgelder zu nehmen, wer sein Ohr verstopft, um keinen Mordplan zu hören, und die Augen schließt, um nichts Böses zu sehen:
16 der wird auf den Bergen wohnen, Felsenburgen sind seine Zuflucht; man reicht ihm sein Brot, und seine Wasserquelle versiegt nicht.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Unter den biblischen Cantica, die sich mit den Psalmen in der Liturgie der Laudes vermischen, stoßen wir auf den heute vorgetragenen kurzen Text. Er ist einem Kapitel aus dem Buch des Propheten Jesaja entnommen, dem 33. seiner umfangreichen und wunderbaren Sammlung göttlicher Sprüche.

Das Canticum beginnt in den Versen, die den obengenannten vorausgehen (vgl. Vv. 10-12), mit der Ankündigung eines mächtigen und ruhmvollen Erscheinens Gottes auf der Bühne der menschlichen Geschichte: »Jetzt stehe ich auf, spricht der Herr, jetzt erhebe ich mich, jetzt richte ich mich auf« (V. 10). Die Worte Gottes sind an die in der »Ferne« und an die in der »Nähe« gerichtet, das heißt an alle Völker der Erde, auch an die entlegendsten, und an Israel, das Volk, das aufgrund seines Bundes in der »Nähe« des Herrn ist.

In einem anderen Abschnitt des Buches Jesaja wird bekräftigt: »Ich schaffe Lob auf den Lippen. Friede, Friede den Fernen und den Nahen, spricht der Herr, ich werde sie heilen« (Is 57,19). Dann werden die Worte des Herrn streng und nehmen den Ton eines Gerichts über das Böse der »Fernen« und der »Nahen« an.

2. Die Bewohner von Zion, in denen sich Sünde und Gottlosigkeit festsetzen, werden nun tatsächlich von Angst ergriffen (vgl. Is 33,14). Sie wissen, daß sie beim Herrn leben, der im Tempel wohnt, in der Geschichte neben ihnen hergeht und zum »Immanuel«, dem »Gott-mit-uns«, geworden ist (vgl. Is 7,14). Der gerechte und heilige Herr kann Gottlosigkeit, Korruption und Ungerechtigkeit nicht dulden. Als »verzehrendes Feuer« und als »ewige Glut« (vgl. Is 33,14) erhebt er sich gegen das Böse, um es zu vernichten.

Jesaja mahnte schon im 10. Kapitel: »Israels Licht wird zum Feuer, sein Heiliger wird zur Flamme. Sie brennt und verzehrt« (V. 17). Auch der Psalmist verkündete: »Sie verfliegen, wie Rauch verfliegt; wie Wachs am Feuer zerfließt, so vergehen die Frevler vor Gottes Angesicht« (Ps 68,3). Damit wollte man in der alttestamentlichen Ökonomie sagen, daß Gott dem Guten und dem Bösen nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern sich empört und angesichts der Bosheit in Zorn entbrennt.

3. Unser Canticum verstummt vor dieser düsteren Gerichtsszene nicht. Im Gegenteil, es behält sich den größten und wichtigsten Teil vor für die Heiligkeit, die als Zeichen für die erfolgte Umkehr und Versöhnung mit Gott angenommen und gelebt wird. Auf der gleichen Linie mit den Psalmen 14 und 23, die die Bedingungen hervorheben, welche der Herr demjenigen stellt, der mit ihm in froher Gemeinschaft in der Liturgie des Tempels leben will, zählt Jesaja sechs moralische Verpflichtungen auf;sie gelten für den wahren, treuen, gerechten Gläubigen (vgl. Is 33,15), der, ohne Schaden zu erleiden, in der Nähe des göttlichen Feuers wohnen darf, das für ihn eine Quelle der Wohltaten ist.

Die erste Verpflichtung besteht darin, »rechtschaffen zu leben«, das heißt, daß man das göttliche Gesetz als Licht nimmt, das den Lebensweg erleuchtet. Die zweite Pflicht besteht darin, die Wahrheit zu sagen, was zugleich rechte und gesunde soziale Beziehungen anzeigt. Die dritte Pflicht ist - laut Jesaja -, »es abzulehnen, Gewinn zu erpressen«, wodurch die Unterdrückung der Armen und der ungerechte Reichtum bekämpft werden. Der Gläubige verpflichtet sich dann, jede politische und gerichtliche Korruption zu verurteilen, indem er »sich weigert, Bestechungsgelder zu nehmen«, ein beeindruckendes Bild, das die Verweigerung von Schenkungen anzeigt, die gemacht werden, um die Gesetzesanwendung und den Lauf der Gerechtigkeit zu behindern.

4. Die fünfte Pflicht wird durch die bedeutsame Geste dessen ausgedrückt, der »sich sein Ohr verstopft«, wenn ihm angeboten wird, blutige Gewaltakte zu begehen. Die sechste und letzte Verpflichtung findet Ausdruck in einem Vergleich, der uns zunächst befremdet, weil er in unserem Sprachgebrauch nicht üblich ist. Wenn wir sagen:»ein Auge zudrücken«, dann soll das heißen, »so zu tun, als sähe man nichts, um nicht einschreiten zu müssen«; der Prophet hingegen sagt, daß der rechtschaffene Mensch die Augen schließt, »um nichts Böses zu sehen« zum Zeichen dafür, daß er auch die geringste Berührung mit dem Bösen vermeiden will.

In seinem Kommentar über Jesaja entfaltet Hieronymus diesen Begriff unter Berücksichtigung des gesamten Abschnitts: »Jede Sünde, Unterdrückung und Ungerechtigkeit ist eine mit Blut befleckte Entscheidung: Auch wenn man nicht durch das Schwert tötet, tötet man dennoch durch die Absicht. ›Und er schließt die Augen, um nichts Böses zu sehen.‹ Glücklich das Gewissen, das nichts Böses hört und denkt! Ein solcher Mensch wird ›in der Höhe‹ wohnen, das heißt im Himmelreich oder in der höchsten Höhle des mächtigsten Felsens, in Jesus Christus« (In Isaiam prophetam, 10, 33; PL 24, 367).

So führt uns Hieronymus zum rechten Verständnis dessen, was der Prophet meint, wenn er sagt: »die Augen schließen«. Es handelt sich um eine Aufforderung, jede Komplizenschaft mit dem Bösen abzulehnen. Dabei ist leicht zu erkennen, daß die wichtigen Sinnesorgane des Körpers gemeint sind: Die Hände, die Füße, die Augen, die Ohren und die Zunge sind in das moralische Tun des Menschen verwickelt.

5. Wer sich dafür entscheidet, sich an diese ehrliche und aufrechte Lebensführung zu halten, wird in den Tempel des Herrn eintreten können, wo er die Sicherheit jenes äußeren und inneren Wohlergehens erhält, die Gott dem schenkt, der mit ihm in Gemeinschaft lebt. Der Prophet verwendet zwei Bilder, um diesen freudvollen Ausgang zu beschreiben (vgl. V. 16): die Sicherheit der Felsenburgen und den Reichtum von Brot und Wasser, dem Symbol eines fruchtbaren und glücklichen Lebens.

Die Tradition hat das Zeichen des Wassers spontan als Hinweis auf die Taufe verstanden (vgl. z.B. den Brief von Barnabas 11, 5), während die Christen im Brot das Zeichen für die Eucharistie erkannten. Das ist zum Beispiel im Kommentar des Märtyrers Justinus zu lesen, der in Jesajas Worten eine Prophetie des eucharistischen »Brotes« sah, des »Gedächtnisses« des Heilstodes Christi (vgl. Dialogo con Trifone, Paoline 1988, S. 242).

69 Gottes Gericht heißt Gerechtigkeit. Er ist die Quelle des Rechts. Darum darf sich der Mensch, der rechtschaffen lebt, der Nähe des Herrn erfreuen.

Das Canticum in Kapitel 33 des Propheten Jesaja macht deutlich: Das Böse wie das Gute, das Menschen tun, ruft Gott auf den Plan. Er ist niemals gleichgültig. Der „Immanuel", der „Gott-mit-uns" (vgl. Jes.
Is 7,14), bleibt stets an unserer Seite: Seine Gerechtigkeit erreicht alle Völker: „Ihr in der Ferne, hört, was ich tue! Ihr in der Nähe, erkennt meine Kraft!" (Is 33,13). Wer diesen Ruf vernimmt, redet und handelt nach Gottes Geboten. Ihm steht ein Leben „in der Höhe" in Aussicht: in Gottes Nähe, der selbst die Quelle unversiegbaren Lebens ist (vgl. Jes. Is 33,16).
***


Herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich Journalisten aus dem Bistum Rottenburg-Stuttgart sowie eine Gruppe von Religionspädagogen aus der Erzdiözese Wien willkommen. Werdet zu überzeugten Mitarbeitern an Gottes Gerechtigkeit unter den Menschen nah und fern! Der Herr segne euch alle!



November 2002


Mittwoch, 6. November 2002


Lesung: Psalm 98, 1.3.5-6
1 Ein neues Lied auf den Richter und Retter. [Ein Psalm.]
Singet dem Herrn ein neues Lied; denn er hat wunderbare Taten vollbracht. Er hat mit seiner Rechten geholfen und mit seinem heiligen Arm.
3 Er dachte an seine Huld und an seine Treue zum Hause Israel. Alle Enden der Erde sahen das Heil unsres Gottes.
5 Spielt dem Herrn auf der Harfe, auf der Harfe zu lautem Gesang!
70 6 Zum Schall der Trompeten und Hörner jauchzt vor dem Herrn, dem König!

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der soeben vorgetragene Psalm 98 gehört zu einer Psalmengattung, der wir auf unserem geistlichen Weg, den wir im Licht des Psalters gehen, schon begegnet sind.

Es handelt sich um eine Hymne an den Herrn, den König, den Herrscher des Universums und der Geschichte (vgl. V. 6). Sie wird als »neues Lied« (V. 1) bezeichnet; damit ist im biblischen Sprachgebrauch ein langes, feierliches, getragenes Lied mit Instrumentalbegleitung gemeint. In der Tat werden das Spiel »auf der Harfe zu lautem Gesang« (vgl. V. 5), die Trompeten und die Hörner, aber auch eine Art von kosmischer Beifallsbekundung erwähnt (vgl. V. 8).

Des weiteren erklingt wiederholt der Name des »Herrn« (sechsmal); er wird als »unser Gott« angerufen (V. 3). Im Mittelpunkt steht also Gott in seiner ganzen Majestät, wie er in der Geschichte das Heil wirkt, und auf den man wartet, daß er kommt, um die Erde und die Völker »zu richten« (V. 9). Das hebräische Wort für »Gericht« bedeutet auch »herrschen«: Man erwartet deshalb das wirksame Handeln des Herrschers der ganzen Erde, der Frieden und Gerechtigkeit bringen wird.

2. Der Psalm beginnt mit der Ankündigung des göttlichen Eingreifens in die Geschichte Israels (vgl. V. 1-3). Die Bilder der »Rechten« und des »heiligen Arms« verweisen auf den Auszug, auf die Befreiung von der Knechtschaft in Ägypten (vgl. V. 1). Der Bund mit dem auserwählten Volk wird hingegen durch die beiden großen göttlichen Vollkommenheiten »Liebe« und »Treue« hervorgehoben (vgl. V. 3).

Diese Heilszeichen werden »vor den Augen der Völker« und bis an »die Enden der Erde« (V. 2. 3) bezeugt, damit die ganze Menschheit zu Gott, dem Retter, hingezogen wird und sich seinem Wort und seinem Heilswerk öffnet.

3. Die Aufnahme, die dem in der Geschichte wirkenden Herrn vorbehalten ist, wird durch ein Loblied angezeigt: Außer dem Orchester und den Liedern des Tempels von Zion (vgl. V. 5-6) nimmt auch das Universum teil, das eine Art kosmisches Gotteshaus bildet.

In diesem großen Loblied gibt es vier Sänger. Der erste ist das Meer mit seinem Brausen, das gleichsam die begleitende Baßstimme zu diesem großartigen Lobpreis bildet (vgl. V. 7). Ihm folgen die Erde und die ganze Welt (vgl. V. 4. 7)mit allen ihren in feierlicher Harmonie vereinten Bewohnern. An dritter Stelle kommen die Flüsse, die als Arme des Meeres betrachtet werden und durch ihre rhythmische Bewegung Beifall zu klatschen scheinen (vgl. V. 8). Zuletzt erscheinen die Berge, die vor dem Herrn zu jubeln und zu tanzen scheinen, auch wenn sie die gewaltigsten und stattlichsten Geschöpfe sind (vgl. V. 8;
Ps 28,6 Ps 113,6).

Ein gewaltiger Chor also, der nur ein Ziel hat: den Herrn, den König und gerechten Richter, zu verherrlichen. Am Schluß des Psalms wird, wie schon erwähnt, Gott vorgestellt, der »kommt, um die Erde gerecht … so, wie es recht ist«, zu richten (und zu regieren) (Ps 97,9).

Unsere große Hoffnung und Bitte lautet also: »Dein Reich komme!«, ein Reich des Friedens in Gerechtigkeit und Ruhe, das die ursprüngliche Harmonie der Schöpfung wiederherstellt.

71 4. Der Apostel Paulus hat in diesem Psalm mit großer Freude eine Prophetie des Werkes Gottes im Geheimnis Christi erkannt. Paulus bediente sich des 2. Verses, um das Thema seines großen Briefes an die Römer deutlich zu machen: Im Evangelium »wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart« (vgl. Rm 1,17) und »ist die Gerechtigkeit Gottes offenbart worden« (vgl. Rm 3,21).

Die Auslegung von seiten des Apostels Paulus verleiht dem Psalm eine tiefere Sinnfülle. Wenn er in der Sicht des Alten Testaments gelesen wird, verkündet der Psalm, daß Gott sein Volk rettet und daß alle Völker, die das sehen, in Bewunderung ausbrechen. In christlicher Sicht hingegen wirkt Gott das Heil in Christus, dem Sohn Israels; alle Völker sehen ihn und werden eingeladen, dieses Heil zu nutzen, denn das Evangelium »ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen«, das heißt den Heiden (Rm 1,16). »Alle Enden der Erde sahen das Heil unsres Gottes« nicht nur (Ps 97,3), sondern sie haben es auch empfangen. Christliche Neuheit des gekreuzigten Erlösers

5. Der christliche Schriftsteller Origines aus dem 3. Jahrhundert deutete in einem Text, der später von Hieronymus wieder aufgegriffen wurde, das »neue Lied« des Psalms als eine vorweggenommene Feier der christlichen Neuheit des gekreuzigten Erlösers. Folgen wir seinem Kommentar, der das Lied des Psalmisten mit der Verkündigung des Evangeliums verbindet.

»Das neue Lied ist der Sohn Gottes, der gekreuzigt wurde - was man bisher noch nie gehört hatte. Eine neue Wirklichkeit erfordert ein neues Lied. ›Singt dem Herrn ein neues Lied.‹ Er, der gelitten hat, ist in Wirklichkeit ein Mensch; aber ihr singt dem Herrn. Er hat das Leiden als Mensch ertragen, wurde aber als Gott gerettet.« Origines schreibt weiter:Christus »hat unter den Juden Wunder vollbracht: Er hat Lahme geheilt, Aussätzige rein gemacht, Tote auferweckt. Aber auch andere Propheten taten das. Er hat wenige Brote in viele verwandelt, er hat eine riesige Volksmenge gespeist. Aber auch Eliseus tat dasselbe. Also, was ist das Neue, das er getan hat und das ein neues Lied verdienen würde? Wollt ihr wissen, was er Neues getan hat? Gott ist als Mensch gestorben, damit die Menschen das Leben haben. Der Sohn Gottes wurde gekreuzigt, um uns bis in den Himmel zu erheben« (74 Homilien über as Buch der Psalmen, Mailand 1993, S. 309-310).

Gottes Heilstaten sind immer aktuell: stets aufs Neue, in Geschichte und Gegenwart, schenkt der Herr seine Gnade. Auch unsere Antwort muß im „Jetzt" stehen, immer ganz „neu" sein.

Wir Christen machen uns daher gerne das Gotteslob Israels in Psalm 98 zu eigen: „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er hat wunderbare Taten vollbracht!" (Ps 98,1). Unser „neues Lied" will den Schöpfer, Erlöser und Heiligmacher, in perfekter, voller und feierlicher Weise verherrlichen. Auch durch unseren Lobpreis sollen „alle Enden der Erde das Heil unseres Gottes" erfahren dürfen (vgl. Ps. Ps 98,3).
***


Von Herzen heiße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern willkommen. Mein besonderer Gruß gilt heute den Teilnehmern der Rom-Seminare des Collegium Orientale Eichstätt und des Bistums Hildesheim. Laßt nicht nach, die Heilstaten Gottes der Welt zu künden. Singt stets aufs Neue das Lob des Herrn!




Mittwoch, 13. November 2002


Lesung aus Psalm 87:

1 Ein Loblied auf Zion, die Mutter aller Völker [Ein Psalm der Korachiter. Ein Lied.]
72 2 Der Herr liebt (Zion), seine Gründung auf heiligen Bergen; mehr als all seine Stätten in Jakob liebt er die Tore Zions.
3 Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes. [Sela]
4 Leute aus Ägypten und Babel zähle ich zu denen, die mich kennen; auch von Leuten aus dem Philisterland, /aus Tyrus und Kusch sagt man: Er ist dort geboren.
5 Doch von Zion wird man sagen: Jeder ist dort geboren. Er, der Höchste hat Zion gegründet.
6 Der Herr schreibt, wenn er die Völker verzeichnet: Er ist dort geboren. [Sela]
7 Und sie werden beim Reigentanz singen: All meine Quellen entspringen in dir.



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Das soeben gehörte Canticum über Jerusalem, die Stadt des Friedens und universale Mutter, steht leider im krassen Gegensatz zur geschichtlichen Erfahrung, die die Stadt durchlebt. Aber Aufgabe des Gebets ist es, Zuversicht zu säen und Hoffnung zu wecken.

Die weltumspannende Perspektive von Psalm 87 mag an den Hymnus des Buches Jesaja denken lassen, der alle Völker nach Zion strömen sieht, wo sie das Wort des Herrn hören und die Schönheit des Friedens entdecken, indem sie »Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen« schmieden (vgl. 2, 2-5). In Wirklichkeit ist der Psalm aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen, aus dem einer Bewegung, die aber nicht nach Zion hingeht, sondern von Zion ausgeht. Der Psalmist sieht in Zion den Ursprung aller Völker. Nachdem der Primat der Heiligen Stadt keinen historischen oder kulturellen Verdiensten, sondern nur der Liebe zuzuschreiben ist, die Gott auf sie ausgegossen hat (vgl.
Ps 87,1-3), beginnt der Psalm mit einer Würdigung eben dieses Universalismus, der alle Völker verbrüdert.

2. Zion wird besungen als Mutter der ganzen Menschheit und nicht nur von Israel. Eine solche Aussage ist sehr gewagt. Der Psalmist weiß das und betont es: »Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes« (V. 3). Wie kann die bescheidene Hauptstadt einer kleinen Nation als Ursprung viel mächtigerer Völker vorgestellt werden? Woher nimmt Zion diese ungeheure Anmaßung? Die Antwort wird im selben Satz gegeben: Zion ist Mutter der ganzen Menschheit, weil es die »Stadt Gottes« ist und damit die Grundlage für den Plan Gottes bildet.

Alle Himmelsrichtungen der Erde stehen in Beziehung zu dieser Mutter:Raab, das heißt Ägypten, der große westliche Staat;Babel, die bekannte Macht im Osten; Tyrus als das Handelsvolk im Norden, während Äthiopien den tiefen Süden und Palästina das zentrale Gebiet, das auch Tochter Zions ist, darstellen.

73 In der geistlichen Namensliste von Jerusalem sind alle Völker der Erde verzeichnet: dreimal wiederholt sich die Formel »dort geboren« (V. 4.5.6). Es ist die offizielle Rechtsformel, mit der man damals erklärte, daß eine Person in einer bestimmten Stadt geboren worden war und dadurch die vollen Bürgerrechte dieses Volkes besaß.

3. Es beeindruckt, wenn man sogar die Israel feindlich gesinnten Nationen nach Jerusalem strömen sieht, wo sie nicht als Fremde, sondern als »Verwandte« aufgenommen werden. Ja der Psalmist verwandelt die Prozession dieser Völker nach Zion in einen vielstimmigen Gesang und fröhlichen Tanz: Sie finden ihre »Quellen« (vgl. V. 7) in der Stadt Gottes wieder, von der sich ein Strom lebendigen Wassers verzweigt, der die ganze Welt befruchtet in der Richtung, wie sie von den Propheten verkündet wird (vgl.
Ez 47,1-12 Zacch Ez 13,1 Ez 14,8 Ap 22,1-2).

Alle sollen in Jerusalem ihre geistlichen Wurzeln entdecken, sich hier beheimatet fühlen, sich als Glieder derselben Familie zusammenfinden, sich als Geschwister umarmen, die nach Hause zurückgekehrt sind.

4. Psalm 87 ist eine Seite wahren interreligiösen Dialogs; er sammelt das weltumspannende Erbe der Propheten (vgl. Is 56,6-7 Is 60,6-7 Is 66,21 Jon 4,10-11 Ml 1,11 usw. ) und nimmt die christliche Tradition vorweg, die diesen Psalm auf das »himmlische Jerusalem« anwendet, von dem Paulus sagt, daß es »frei und unsere Mutter« ist und mehr Kinder als das irdische Jerusalem hat (vgl. Ga 4,26-27). Nichts anderes sagt die Offenbarung, wenn sie singt :»…die Heilige Stadt Jerusalem, die von Gott her aus dem Himmel herabkam« (vgl. 21, 2.10).

Auf derselben Linie wie Psalm 87 betrachtet auch das II. Vatikanische Konzil die weltumspannende Kirche als den Ort, an dem »alle Gerechten von Adam an, von dem gerechten Abel bis zum letzten Erwählten …versammelt werden«. Sie wird »am Ende der Weltzeiten in Herrlichkeit vollendet werden« (Lumen gentium LG 2).

5. Diese ekklesiologische Auslegung des Psalms wird in der christlichen Tradition für die marianische Neuauslegung zugänglich. Jerusalem war für den Psalmisten eine wahre »Weltstadt«, das heißt eine »Mutter-Stadt«, in deren Mitte der Herr selbst gegenwärtig ist (vgl. Zef So 3,14-18). In diesem Licht besingt das Christentum Maria als Tochter Zions, in deren Schoß das fleischgewordene Wort empfangen wird und in der Folge die Kinder Gottes geschaffen werden. Die Stimmen der Kirchenväter, von Ambrosius von Mailand bis Athanasius von Alexandrien, von Maximus dem Bekenner zu Johannes Damaskenus, von Chromatius von Aquileia bis Germanus von Konstantinopel, stimmen in dieser christlichen Neuauslegung von Psalm 87 überein.

Wir wollen jetzt einen Meister der armenischen Tradition, Gregor von Narek (CA 950 -1010), hören, der sich in seiner Lobrede auf die seligste Jungfrau Maria mit folgenden Worten an sie wendet: »Indem wir uns unter deine würdigste und mächtige Fürsprache flüchten, sind wir geschützt, o heilige Gottesgebärerin, und finden Erquickung und Ruhe unter deinem Schutz wie unter einer starken befestigten Mauer: Sie ist mit eingesetzten reinsten Brillanten geschmückt und in Feuer gehüllt, darum uneinnehmbar für die Angriffe der Räuber;sie ist eine funkensprühende Mauer, unangreifbar und unzugänglich für die grausamen Verräter; eine Mauer, die von allen Seiten befestigt ist, gemäß David, deren Fundamente vom Höchsten gegründet wurden (vgl. Ps 87,1 Ps 87,5); die Mauer einer erhabenen Stadt, wie Paulus sagt (vgl. Ga 4,26 He 12,22), in der du alle als Bewohner aufgenommen hast, denn durch die leibliche Geburt Gottes hast du die Kinder des irdischen Jerusalems zu Kindern des himmlischen Jerusalems gemacht. Darum preisen ihre Lippen deinen jungfräulichen Schoß, und alle bekennen dich als Wohnung und Tempel dessen, der eines Wesens mit dem Vater ist. Zu Recht sagt der Prophet von dir: ›Du warst unsere Zuflucht und Hilfe gegen die Sturzbäche in den Tagen der Angst und Not‹ (vgl. Ps 45,2)« (Testi mariani del primo millennio, IV, Roma, 1991, S. 589).

Das alttestamentliche Bild der Gottesstadt ist von je her die „Heimatvision“ der Gläubigen: „Herrliches sagt man von dir, du Stadt unseres Gottes!“ (Ps 87,3). Diese Stadt, vom Allerhöchsten „auf heiligen Bergen“ (Ps 87,2) fest gegründet, ist das Ziel auf dem Pilgerweg der Gerechten.

Daher hat die Kirche die Vision der heiligen Stadt in Psalm 87 immer auf sich selbst bezogen. Sie ist die Mutter aller Völker, die sammelt und verbindet. Wer in ihr wohnt, erfährt Heil. Sinnbild dieser Stadt ist Maria, die das ewige Wort empfangen hat, um es der Welt zu schenken: In Jesus Christus werden wir selbst zu Bürgern des Himmlischen Jerusalem.
***


Einen frohen Gruß richte ich an die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Euch allen rufe ich zu: Macht euch zu Boten des Friedens und der Liebe! Baut mit an einer Gemeinschaft, in der alle Menschen Heimat und Heil finden! Dazu helfe euch die Gnade Gottes!




Generalaudienz 2002 64