Generalaudienz 2003 44


Mittwoch, 11. Juni 2003



Liebe Brüder und Schwestern!

45 1. In Gedanken möchte ich heute noch einmal mit euch zusammen die Reise nach Kroatien zurücklegen, die ich in den vergangenen Tagen unternommen habe und die unter dem Thema »Die Familie: Weg der Kirche und des Volkes« stand.

Es war meine 100. Apostolische Reise! Zum Herrn, der mir hundertmal die Straßen der Welt und der Nationen geöffnet hat, um von ihm Zeugnis abzulegen, erhebe ich aus der Tiefe meines Herzens meine aufrichtigste Danksagung.

Ich bin in das edle kroatische Land zurückgekehrt, um die Brüder im Glauben zu stärken. Allen wollte ich eine Botschaft des Friedens und der Versöhnung überbringen, und mir wurde die Freude zuteil, Schwester Marija vom Gekreuzigten Jesus Petkovic zur Ehre der Altäre zu erheben.

Von Herzen danke ich den Bischöfen für den aufmerksamen und lieben Empfang, den sie mir bereitet haben. Mein Dank geht auch an den Präsidenten der Republik und an die anderen zivilen und militärischen Autoritäten für die freundliche Unterstützung und die gute Zusammenarbeit. Schließlich bedanke ich mich bei der Erzdiözese Rijeka wie auch bei ihrem Seminar, das mir und meinen Mitarbeitern Gastfreundschaft gewährt hat.

2. Die erste Station war die alte und ruhmreiche Stadt Dubrovnik, die stolz ist auf ihre Geschichte und ihre Traditionen der Freiheit und Gerechtigkeit. Dort habe ich eine heilige Messe zelebriert und Schwester Marija vom Gekreuzigten Jesus Petkovic, eine herausragende Tochter der Kirche in Kroatien, seliggesprochen.

Als Frau, deren heldenhafter Wunsch es war, Gott und den ärmsten Brüdern zu dienen, gründete sie die Kongregation der Töchter von der Barmherzigkeit der Regulierten Franziskaner-Terziarinnen, um durch ihre Spiritualität und durch praktische Taten der Nächstenliebe die Kenntnis der göttlichen Liebe zu verbreiten.

Im Licht dieser bewundernswerten Gestalt habe ich eine besondere Botschaft an die Frauen Kroatiens gerichtet, die ich ermutigte, der Kirche und Gesellschaft ihren geistlichen wie moralischen Beitrag zu bieten; insbesondere habe ich die Personen des geweihten Lebens gebeten, ausdrucksvolle Zeichen der liebevollen Präsenz Gottes unter den Menschen zu sein.

3. Am nachfolgenden Tag hatte ich in Osijek im äußersten Nordosten des Landes, in den Diözesen Djakovo und Srijem, die Freude, der Schlußveranstaltung der zweiten Diözesansynode vorzustehen und den 150. Jahrestag der Gründung der Kirchenprovinz Zagreb zu feiern.

Bei diesem Anlaß verweilte ich in Gedanken bei der Heiligkeit als Berufung für jeden Christen: Dieses Thema ist eine der zentralen Lehren des II. Vatikanischen Konzils. Besonders die gläubigen Laien habe ich eingeladen, über die Gnade der Taufe und der Firmung intensiv nachzudenken. Nur der, der von starkem Glauben und großherziger Liebe beseelt ist, kann ein Apostel der Wiederversöhnung und des moralischen Wiederaufbaues sein, dort, wo die Wunden einer schmerzhaften und schweren Vergangenheit noch offen sind.

In Djakovo konnte ich mich kurz in der schönen Kathedrale aufhalten, wo ich die Seminaristen und ihre Professoren zusammen mit einer großen Gruppe von Ordensfrauen begrüßt habe.

4. Am Sonntag, 8. Juni, dem Pfingstfest, habe ich in Rijeka bei der heiligen Messe um eine erneute Ausgießung der Gaben des Heiligen Geistes auf die christlichen Familien in Kroatien und auf der ganzen Welt gebetet. Alle stellte ich unter den besonderen Schutz der Heiligen Familie von Nazaret. Es schien mir außerdem von Bedeutung, die Familie als den wichtigsten sozialen Wert zu bekräftigen und für sie eine privilegierte Aufmerksamkeit und konkrete Maßnahmen, die deren Gründung, Entwicklung und Stabilität fördern, zu erbitten.

46 Am Nachmittag habe ich mich zum Marienheiligtum von Trsat begeben - auf einem Hügel außerhalb der Stadt Rijeka gelegen -, um mich in Gedanken den Pilgern anzuschließen, die dort die Gottesmuter verehren. Nach einer frommen Überlieferung stand dort das Heilige Haus von Nazaret, bevor es Loreto erreichte. Fortwährende Präsenz Marias in der kirchlichen Gemeinschaft

5. Die letzte Station meiner Reise führte mich nach Zadar in Dalmatien, in eine Stadt, die reich an Geschichte ist. Im Schatten der Kathedrale der hl. Anastasia, Märtyrerin von Sirmium, habe ich am Fest der allerseligsten Jungfrau Maria, Mutter der Kirche, die Sext gefeiert. An diesem marianischen Gedenktag, der das Pfingstfest verlängert, haben wir die Atmosphäre des Abendmahlssaals noch einmal verspürt. Wie damals bleibt Maria auch heute fortwährend in der kirchlichen Gemeinschaft: eine demütige und diskrete Präsenz, die uns zum Gebet und zu einem Leben nach dem Geist anregt; eine beschauliche Präsenz, die es vermag, Hirten wie Gläubige aufzurufen, die Innerlichkeit, das Hören und die Aufnahme des Wortes Gottes als unentbehrliche Voraussetzung für eine überzeugte und wirksame Verkündigung des Evangeliums, als Primat anzusehen.

Liebe Brüder und Schwestern! Auch während dieser Reise konnte ich feststellen, wie sehr das Christentum zur künstlerischen, kulturellen, aber vor allem spirituellen und moralischen Entwicklung von Kroatien und seinem Volk beigetragen hat. Auf dieser festen Grundlage kann die geliebte kroatische Nation nun, zu Beginn des dritten Jahrtausends, weiterhin ihren Zusammenhalt und ihre Stabilität aufbauen, um sich so harmonisch in die Gemeinschaft der europäischen Völker zu integrieren.

Möge Gott auch weiterhin Kroatien segnen und beschützen! Es wird stets einen besonderen Platz in meiner Zuneigung und in meinen Gebeten einnehmen.

Voller Dankbarkeit schaue ich auf meinen Besuch in Kroatien zurück - auf meine hundertste Pastoralreise, bei der ich zusammen mit unzähligen Gläubigen das Thema „Die Familie - Weg der Kirche und des Volkes" vertiefen konnte.

Jede Etappe dieser Reise war ein Höhepunkt, beginnend mit der Seligsprechung der Dienerin Gottes Maria Petkovic in Dubrovnik. In Osijek habe ich daran erinnert, daß jeder Christ zur Heiligkeit berufen ist. Ein starker Glaube und eine große freigebige Liebe befähigen zu Werken des Friedens und des moralischen Wiederaufbaus. Am hohen Pfingstfest durfte ich in Rijeka den Heiligen Geist auf alle herabflehen, besonders auf die Familien, deren Rolle in Kirche und Gesellschaft so unverzichtbar ist. Möge der Allmächtige Gott Kroatien und ganz Europa im christlichen Glauben erhalten und segnen!
***


Mit herzlicher Freude grüße ich alle Rom-Wallfahrer und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache, darunter heute besonders eine ökumenische Pilgergruppe aus dem Landkreis Biberach. Der Heilige Geist bestärke euch in der Treue zu Christus und seiner Kirche. Er mache euch zu mutigen und frohen Kündern des Evangeliums! Sein Segen begleite euch allezeit!




Mittwoch, 18. Juni 2003



Lesung: Jesaja\i 61,10; 62,4-5

10 Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt.
47 4 Nicht länger nennt man dich »Die Verlassene « und dein Land nicht mehr »Das Ödland«, sondern man nennt dich »Meine Wonne« und dein Land »Die Vermählte«. Denn der Herr hat an dir seine Freude, und dein Land wird mit ihm vermählt.
5 Wie der junge Mann sich mit der Jungfrau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Das soeben erklungene schöne Canticum, das die Liturgie der Laudes uns vorstellt, hat wie ein »Magnificat« begonnen: »Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott« (
Is 61,10). Der Text ist in den dritten Teil des Buches des Propheten Jesaja eingefügt, in einen Abschnitt, den die Gelehrten einer späteren Zeit zuschreiben, als das Volk Israel nach seiner Rückkehr aus dem babylonischen Exil (6. Jahrhundert v. Chr.) im Land seiner Väter wieder als freies Volk zu leben beginnt und Jerusalem und den Tempel wieder aufbaut. Die Heilige Stadt steht nicht ohne Grund im Mittelpunkt des Canticum, wie wir noch genauer sehen werden, und der sich eröffnende Ausblick ist hell und voller Hoffnung.

2. Der Prophet beginnt sein Lied, indem er das wiedergeborene Volk als ein festlich gekleidetes Brautpaar darstellt, das sich für den großen Tag der Hochzeit bereitet (vgl. V. 10). Gleich danach wird auf ein anderes Symbol des Lebens, der Freude und des Neuen verwiesen, nämlich das aus dem Bereich der Pflanzenwelt stammende Symbol der Saat (vgl. V. 11).

Die Propheten bedienen sich des Vergleichs mit der aufkeimenden Saat in verschiedener Form, um den messianischen König darzustellen (vgl. Jes Is 11,1 Is 53,2 Jr 23,5 Zacch Jr 3,8 Jr 6,12). Der Messias ist ein fruchtbarer Keim, der die Welt erneuert, und der Prophet erklärt die tiefe Bedeutung dieser Lebenskraft: »Gott, der Herr, bringt Gerechtigkeit hervor« (Is 61,11), deshalb wird die Heilige Stadt gleichsam zum Garten der Gerechtigkeit, das heißt der Treue und Wahrheit, des Rechtes und Heiles werden. Der Prophet hat es vorhergesagt: »Deine Mauern nennst du Rettung und deine Tore Ruhm« (Is 60,18).

3. Der Prophet erhebt weiter seine Stimme. Sein Gesang ist unermüdlich und soll die Wiedergeburt Jerusalems anzeigen, dem sich eine neue Ära eröffnet (vgl. Is 62,1). Die Stadt wird als eine Braut beschrieben, die sich anschickt, ihre Hochzeit zu feiern.

Die bräutliche Symbolik, die in diesem Abschnitt deutlich aufscheint (vgl. V. 4-5), ist in der Bibel eines der eindringlichsten Bilder, um das Band der Vertrautheit und den Liebesbund hervorzuheben, die zwischen dem Herrn und dem auserwählten Volk bestehen. Seine Schönheit, die im »Heil«, in der »Gerechtigkeit « und in der »Herrlichkeit« gründet (vgl. V. 1-2), wird so groß sein, daß sie zu einer »prächtigen Krone in der Hand des Herrn« wird (vgl. V. 3).

Der entscheidende Moment wird die Namensänderung sein, wie es auch in unserer Zeit geschieht, wenn die junge Frau heiratet. Einen »neuen Namen« annehmen (vgl. V. 2) bedeutet gleichsam, eine neue Identität zu bekommen, eine Mission zu unternehmen, entschlossen zu sein, das Leben zu ändern (vgl. Gn 32,25-33).

4. Der neue Name, den die Braut Jerusalem annehmen wird, die das ganze Volk Gottes vertreten soll, kommt durch den Kontrast zum Ausdruck, den der Prophet herstellt: »Nicht länger nennt man dich ›Die Verlassene‹ und dein Land nicht mehr ›Das Ödland‹, sondern man nennt dich ›Meine Wonne‹ und dein Land ›Die Vermählte‹ (Is 62,4). Anstelle der Namen, die die vorhergegangene Situation der Verlassenheit und Trostlosigkeit anzeigten, das heißt die Verwüstung der Stadt durch die Babylonier und das Drama des Exils, werden jetzt Worte für die Wiedergeburt verwendet, die Liebe und Zärtlichkeit, Freude und Glück beinhalten.

An dieser Stelle richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Bräutigam. Und nun die große Überraschung: Der Herr selbst gibt Zion den neuen bräutlichen Namen. Die abschließende Erklärung ist besonders schön, weil sie den Leitfaden des Liebesliedes zusammenfaßt, das vom Volk angestimmt wird: »Wie der junge Mann sich mit der Jungfrau vermählt, so vermählt sich mit dir dein Erbauer. Wie der Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich« (V. 5).

48 5. Das Lied preist nicht mehr die Hochzeit zwischen einem König und einer Königin, sondern feiert die tiefe Liebe, die Gott und Jerusalem für immer verbindet. In seiner irdischen Braut, die das heilige Volk ist, findet der Herr dasselbe Glück, das ein Ehemann mit seiner geliebten Ehefrau erfährt. An die Stelle des fernen und transzendenten Gottes, des gerechten Richters, tritt jetzt der nahestehende und liebende Gott. Diese bräutliche Symbolik überträgt sich auf das Neue Testament (vgl. Ep 5,21-32) und wird von den Kirchenvätern aufgegriffen und entfaltet. Der hl. Ambrosius erinnert zum Beispiel daran, daß in dieser Sicht »Christus der Ehemann, die Kirche die Ehefrau, die Braut durch die Liebe und die Jungfrau durch die unberührte Reinheit ist« (Esposizione del Vangelo secondo Luca: Opere esegetiche XII, Milano-Roma 1978, S. 289).

Ambrosius schreibt in einem anderem Werk: »Die Kirche ist schön. Darum sagt das Wort Gottes zu ihr: ›Alles an dir ist schön, meine Freundin; kein Makel haftet dir an‹ (Ct 4,7), denn die Sünde ist ausgelöscht … Angeregt von der Sehnsucht einer so großen Liebe, von ihrem herrlichen Gewand und ihrer Anmut, denn an denen, die gereinigt wurden, ist kein Makel einer Sünde, sagt der Herr Jesus zur Kirche: ›Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel an deinen Arm‹ (Ct 8,6), das heißt: Du bist geschmückt, meine Seele, ganz schön bist du, kein Makel ist an dir! Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, denn dafür glänzt dein Glaube in der Fülle des Sakraments. Auch deine Werke glänzen und zeigen das Bild Gottes, als dessen Abbild du geschaffen bist« (I misteri, Nr. 49.41: Opere dogmatiche, III, Milano-Roma 1982, Ss. 156-157).

Zum Abschluß der Audienz sagte der Papst:

Am kommenden Sonntag werde ich nach Bosnien und Herzegowina reisen, um jene katholische Gemeinschaft im Glauben zu stärken, die einen wichtigen Weg der Versöhnung und Eintracht durchläuft. Ich bitte euch, mich bei dieser meiner Apostolischen Reise, die ich der mütterlichen Sorge der heiligsten Jungfrau anvertraue, mit euren Gebeten zu begleiten.

Gott verläßt die Seinen nicht. Diese Gewißheit bewegt den Propheten Jesaja zu einem hochzeitlichen Lied: Wie eine Braut darf Jerusalem den Bund mit Jahwe feiern.

Der Herr liebt seine heilige Kirche. Als Gottesvolk des Neuen Bundes dürfen wir uns voll Freude die Worte des Propheten zu eigen machen: „Wie ein Bräutigam sich freut über die Braut, so freut sich dein Gott über dich" (Is 62,5).
***


Von Herzen heiße ich die Pilger und Besucher aus den deutschsprachigen Ländern willkommen. Gott schenkt uns seine Nähe. Seine bleibende Gegenwart in der Kirche ist für uns Grund der Freude und des Trostes. Laßt euch in der Treue zum Wort Gottes von niemandem übertreffen! Sein Heiliger Geist führe euch zu jeder Zeit!



Mittwoch, 25. Juni 2003

Lesung: Joh 21,15-17

49 Jn 21,15-17

15 Das Wort des Auferstandenen an Petrus
Als sie gegessen hatten, sagte Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Lämmer!
16 Zum zweiten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Er antwortete ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe!
17 Zum dritten Mal fragte er ihn: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Da wurde Petrus traurig, weil Jesus ihn zum dritten Mal gefragt hatte: Hast du mich lieb? Er gab ihm zu Antwort: Herr, du weißt alles; du weißt, daß ich dich liebhabe. Jesus sagte zu ihm: Weide meine Schafe!

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, den wir soeben gehört haben, hat uns eine eindrucksvolle Szene vor Augen geführt. Der Sohn Gottes vertraut Petrus seine Herde an, seine Kirche, die - wie er schon zuvor zugesichert hatte - die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen werden (vgl. Mt 16,17-18). Bevor Jesus ihm diesen Auftrag erteilt, fragt er ihn nach seiner Liebe: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?« (Jn 21,15). Eine beunruhigende Frage, die, weil dreimal wiederholt, an die dreifache Verleugnung des Apostels denken läßt. Trotz der bitteren Erfahrung beteuert er einfach: »Herr, du weißt alles; du weißt, daß ich dich liebhabe« (Jn 21,17).

Die Liebe ist das Geheimnis der Sendung des Petrus! Die Liebe ist auch das Geheimnis derer, die berufen sind, den Guten Hirten in der Leitung des Volkes Gottes nachzuahmen. »Officium amoris pascere dominicum gregem … - Pflicht der Liebe ist, die Herde des Herrn zu weiden…«, pflegte Paul VI. zu sagen, indem er sich ein bekanntes Wort von Augustinus zu eigen machte.

2. »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese?« Wie oft mag mein verehrungswürdiger Vorgänger, der Diener Gottes Paul VI., dessen wir heute gedenken, diese Worte Jesu in seinem Innersten vernommen haben. Seit seiner Wahl auf den Stuhl Petri am 21. Juni 1963 sind 40 Jahre vergangen, und 25 Jahre seit seinem Tod am 6. August 1978. Schon in jungen Jahren arbeitete er im Dienst des Apostolischen Stuhls neben Pius XI. Lange Zeit zählte er zu den treuesten und tüchtigsten Mitarbeitern von Pius XII. Er war der direkte Nachfolger des seligen Johannes XXIII., den ich vor drei Jahren zu meiner Freude seligsprechen konnte. Sein Dienst als oberster Hirte der universalen Kirche dauerte 15 Jahre und war vor allem vom II. Vatikanischen Konzil und von einer weiten Öffnung für die Ansprüche der Neuzeit gekennzeichnet.

Ich hatte auch die Gnade, an den Konzilsarbeiten teilzunehmen und die nachkonziliare Zeit zu erleben. Ich wußte persönlich die Bemühungen zu schätzen, die Paul VI. unablässig fortsetzte, um das notwendige »aggiornamento« der Kirche an die Anforderungen der Neuevangelisierung zu sichern. Als ich ihm auf dem Stuhl Petri nachfolgte, war es mir ein Anliegen, die von ihm begonnene Hirtentätigkeit weiterzuführen, indem ich mich an ihm als einem Vater und Lehrer inspirierte.

3. Paul VI., ein starker und milder Apostel, hat die Kirche geliebt und für ihre Einheit und die Intensivierung ihrer Missionstätigkeit gewirkt. Aus dieser Sicht ist die erneuernde Initiative der Apostolischen Reisen, die ein unerläßlicher Bestandteil des Dienstes des Nachfolgers Petri sind, sehr gut verständlich.

Paul VI. wollte, daß sich die kirchliche Gemeinschaft auf die Welt hin öffnet, jedoch dem weltlichen Geist nicht nachgibt. Mit Klugheit und Weisheit verstand er es, der Versuchung zu widerstehen und sich nicht der modernen Mentalität »anzupassen«, wobei er Schwierigkeiten, Unverständnis und manchmal sogar Anfeindungen mit evangeliumsgemäßer Standhaftigkeit ertrug. Auch in den schwierigsten Augenblicken ließ er es an seinem erleuchtenden Wort für das Volk Gottes nicht fehlen. Am Ende seiner Tage schien die ganze Welt seine Größe zu entdecken und drängte zu ihm hin, um ihn tief betroffen zu umarmen.

4. Sein Lehramt ist sehr reichhaltig und zum Großteil darauf ausgerichtet, die Gläubigen zum Sinn für die Kirche zu erziehen.

50 Von seinen vielen Aussagen will ich neben der Enzyklika Ecclesiam suam vom Beginn seines Pontifikats das bewegende Glaubensbekenntnis, bekannt als das Credo des Volkes Gottes, nennen, das er am 30. Juni 1968 auf dem Petersplatz mit Nachdruck gesprochen hat. Und wie könnte man die mutigen Stellungnahmen zum Schutz des menschlichen Lebens in der Enzyklika Humanae vitae verschweigen, oder die zugunsten der Entwicklungsländer in der Enzyklika Populorum progressio für den Aufbau einer gerechteren und solidarischeren Gesellschaft?

Dann gibt es die persönlichen Notizen, die er während der geistlichen Exerzitien zu machen pflegte, während er sich in sich selbst »zurückzog« wie »in die Zelle des Herzens«. Er dachte häufig über den Platz nach, auf den ihn Gott zum Dienst in der Kirche berufen hatte, die er im Geist der Berufung des Petrus »immer geliebt« hat. »In diese Meditation könnte sich keiner so vertiefen wie ich« - merkte er während einer dieser Exerzitien an - »… Sie verstehen, sie leben! Herr, welche Wirklichkeit, welches Geheimnis! … Sie ist ein Abenteuer, bei dem alles von Christus abhängt …« (Einkehrtage 5. bis 13. August 1963; Meditazioni inedite, Ed. Studium).

5. Liebe Brüder und Schwestern! Wir danken Gott für das Geschenk dieses Papstes, dieses unerschütterlichen und weisen Führers der Kirche. In der Predigt am 29. Juni 1978, einen knappen Monat vor dem Ende seines arbeitsamen Erdenlebens, erklärte Paul VI.: »Angesichts der Gefahren, die wir beschrieben haben … fühlen wir uns wie Petrus gedrängt, zu ihm zu gehen als unserem einzigen Heil und zu ihm zu rufen: ›Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens‹ (
Jn 6,68). Er allein ist die Wahrheit, er allein ist unsere Stärke, er allein unser Heil! Durch ihn gestärkt, werden wir gemeinsam unseren Weg fortsetzen« (Wort und Weisung im Jahr 1978, Vatikanische Verlagsbuchhandlung, 1979, S. 254).

Im Licht des Zieles der Ewigkeit verstehen wir besser, wie notwendig es ist, Christus zu lieben und seiner Kirche mit Freude zu dienen. Diese Gnade erlange uns Maria, die Paul VI. mit kindlicher Liebe zur Mutter der Kirche erklären wollte. Sie, die Muttergottes, möge diesen ihren frommen Sohn in ihre Arme nehmen in der ewigen Seligkeit, die den treuen Dienern des Evangeliums vorbehalten ist.

„Herr, du weißt alles; du weißt, daß ich dich lieb habe" (Jn 21,17), sagt Petrus zu Jesus. Die Liebe ist das Geheimnis des Petrusdienstes: Officium amoris pascere dominicum gregem.

Vor vierzig Jahren hat der Diener Gottes Papst Paul VI. das Amt des Petrusnachfolgers übernommen. Seine ganze Liebe galt der Kirche, um deren Einheit er sich sorgte. Geprägt vom Zweiten Vatikanischen Konzil suchte er die Öffnung zur Welt, ohne je der Versuchung einer falschen Anpassung an den „Geist der Welt" zu erliegen. Sein Wort ist wegweisend für die Kirche unserer Tage.
***


Sehr herzlich begrüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Verliert niemals das wahre Ziel eures Lebens aus den Augen: die ewige Gemeinschaft mit Gott! Der Weg dahin besteht in einer tiefen Liebe zu Christus und seiner Kirche. Maria, die Mutter der Kirche, erbitte euch die Gnade zu einem Gott wohlgefälligen Leben. Der Herr segne euch alle!



Juli 2003


Mittwoch, 2. Juli 2003

Lesung: Psalm 146, 1-8


51 1 Preislied auf Gott, den Herrn und Helfer Israels
Halleluja! Lobe den Herrn, meine Seele!
2 Ich will den Herrn loben, solange ich lebe, meinem Gott singen und spielen, solange ich da bin.
3 Verlaßt euch nicht auf Fürsten, auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt.
4 Haucht der Mensch sein Leben aus / und kehrt er zurück zur Erde, dann ist es aus mit all seinen Plänen.
5 Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt.
6 Der Herr hat Himmel und Erde gemacht, / das Meer und alle Geschöpfe; er hält ewig die Treue. 7 Recht verschafft er den Unterdrückten, / den Hungernden gibt er Brot; der Herr befreit die Gefangenen.
8 Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf.

Liebe Brüder und Schwestern!

1. Der Psalm 146, den wir soeben gehört haben, ist ein »Halleluja«, das erste der fünf, die die ganze Psaltersammlung abschließen. Schon die jüdische liturgische Tradition hat diesen Hymnus als Morgenlob verwandt. Er gipfelt in der Kundgabe der Herrschaft Gottes über die menschliche Geschichte. In der Tat wird am Schluß des Psalms bekräftigt: »Der Herr ist König auf ewig« (V. 10).

Daraus folgt eine tröstliche Wahrheit: Wir sind nicht uns selbst überlassen, unser Lebenslauf wird nicht vom Chaos oder vom blinden Schicksal bestimmt; die Ereignisse sind kein reines Aufeinanderfolgen von Tatsachen ohne Sinn und Ziel. Aus dieser Überzeugung erwächst ein wahres und echtes Bekenntnis des Glaubens an Gott, ausgedrückt in einer Art Litanei, in der seine Eigenschaften, die Liebe und die Treue, verkündet werden (vgl. V. 6-9).

52 2. Gott ist Schöpfer des Himmels und der Erde, er hält dem Bund, der ihn an sein Volk bindet, die Treue; er verschafft Recht den Unterdrückten, den Hungernden gibt er Brot und befreit die Gefangenen. Er ist es, der den Blinden die Augen öffnet, die Gebeugten aufrichtet, die Gerechten liebt, die Fremden beschützt, den Waisen und Witwen zu ihrem Recht verhilft. Er ist es, der die Schritte der Frevler in die Irre leitet; er ist König und herrscht über alle Lebewesen und alle Zeiten.

Es handelt sich um zwölf theologische Aussagen, die durch ihre vollendete Zahl die Fülle und Vollkommenheit des göttlichen Handelns zum Ausdruck bringen wollen. Der Herr ist kein Herrscher, der seinen Geschöpfen fernsteht, sondern er ist in ihre Geschichte eingebunden als derjenige, der die Gerechtigkeit verteidigt, indem er sich auf die Seite der Geringsten, der Opfer, der Unterdrückten, der Unglücklichen stellt.

3. Der Mensch steht also vor einer Grundsatzentscheidung zwischen zwei gegensätzlichen Möglichkeiten: Auf der einen Seite besteht die Versuchung, »sich auf Fürsten zu verlassen« (vgl. V. 3), indem er deren Kriterien annimmt, die sich an der Bosheit, dem Egoismus und dem Hochmut inspirieren. In Wirklichkeit sind das aber schlüpfrige Wege in den Niedergang, »Pfade, die krumm verlaufen, und Straßen, die in die Irre führen« (
Pr 2,15), die in der Verzweiflung enden.

In der Tat erinnert der Psalmist daran, daß der Mensch ein schwaches und sterbliches Lebewesen ist, wie schon das Wort ’adam anzeigt, das sich im Hebräischen von Erde, Materie, Staub ableitet. Der Mensch - so wiederholt die Bibel oft - gleicht einem Haus, das zerbröckelt (vgl. Koh Qo 12, 1-7), einem Spinngewebe, das der Wind zerfetzt (vgl. Ijob Jb 8,14), dem Gras, das am Morgen grünt und am Abend welkt (vgl. Ps 89,5-6 Ps 102,15-16). Wenn der Tod über ihn kommt, werden alle seine Pläne zunichte, und er kehrt zum Staub zurück: »Haucht der Mensch sein Leben aus und kehrt er zurück zur Erde, dann ist es aus mit all seinen Plänen« (Ps 146,4).

4. Es gibt aber für den Menschen auch eine andere Möglichkeit, und die wird vom Psalmisten seliggepriesen: »Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt« (V. 5). Das ist der Weg des Vertrauens auf den Gott, der ewig und treu ist. Das Amen, das das hebräische Wort des Glaubens ist, bedeutet, sich auf die unerschütterliche Stärke des Herrn zu stützen, auf seine Ewigkeit, auf seine unendliche Macht. Aber es bedeutet vor allem, seine Entscheidungen zu teilen, die von dem zuvor beschriebenen Bekenntnis des Glaubens und des Lobes ins Licht gerückt wurden.

Es ist notwendig, in Zustimmung zum göttlichen Willen zu leben, den Hungernden das Brot zu reichen, die Gefangenen zu besuchen, die Kranken zu stützen und zu ermutigen, die Fremden zu schützen und aufzunehmen, sich der Armen und Leidenden anzunehmen. Es ist praktisch derselbe Geist der Seligpreisungen; es ist die Entscheidung für das Liebesangebot, das uns schon in diesem Leben rettet und das dann Gegenstand unserer Prüfung sein wird beim Jüngsten Gericht, das die Geschichte besiegeln wird. Dann werden wir nach den Entscheidungen gerichtet, Christus zu dienen im Hungrigen, im Durstigen, im Fremden, im Nackten, im Kranken, im Gefangenen. »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40), wird der Herr sagen.

5. Wir beenden unsere Meditation über den Psalm 146 mit einem Denkanstoß, der uns von der späteren christlichen Tradition angeboten wird.

Als der große Schriftsteller des 3. Jahrhunderts, Origines, den Vers 7 dieses Psalms kommentieren will - »den Hungernden gibt er Brot; der Herr befreit die Gefangenen«, faßt er es als eine deutliche Einladung im Bezug auf die Eucharistie auf: »Wir hungern nach Christus, und er selbst wird uns das Brot des Himmels geben. ›Gib uns unser tägliches Brot.‹ Die so sprechen, sind Hungernde, die das Brot brauchen, die hungern.« Und dieser Hunger wird vollständig gesättigt durch das eucharistische Sakrament, in dem der Mensch sich vom Leib und vom Blut Christi nährt (vgl. Origines-Hieronymus, 74 omelie sul libro dei Salmi, Milano 1993, SS. 526-527).

Psalm 146 ist ein Loblied auf Gottes Güte und Treue: Der Schöpfer trägt und erhält unser Leben. Menschliche Macht schwindet. Auf Gott aber ist immer Verlaß. Er ist gerecht und tritt für die Bedürftigen und Unglücklichen ein. „Den Hungernden gibt er Brot" (Ps 146,7). In Christus hat sich diese Verheißung erfüllt: Er ist das Brot des Lebens und das Heil der Welt.
***


Freudig heiße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache willkommen. Besonders grüße ich heute die Teilnehmer an der Diözesanwallfahrt des Bistums Münster. Macht euch Gottes Barmherzigkeit zu eigen: Tut allen Gutes, denn ihr selbst lebt von der Güte des Herrn! Der Friede Christi begleite euch!




53

Mittwoch, 9. Juli 2003

Lesung: Psalm 143,1-11


1 Gebet um Kraft und Hilfe gegen Feinde
[Ein Psalm Davids.] Herr, höre mein Gebet, vernimm mein Flehen; in deiner Treue erhöre mich, in deiner Gerechtigkeit!
2 Geh mit deinem Knecht nicht ins Gericht; denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir.
3 Der Feind verfolgt mich, tritt mein Leben zu Boden, er läßt mich in der Finsternis wohnen wie längst Verstorbene.
4 Mein Geist verzagt in mir, mir erstarrt das Herz in der Brust.
5 Ich denke an die vergangenen Tage, / sinne nach über all deine Taten, erwäge das Werk deiner Hände.
6 Ich breite die Hände aus (und bete) zu dir; meine Seele dürstet nach dir wie lechzendes Land. [Sela]
7 Herr, erhöre mich bald, denn mein Geist wird müde; verbirg dein Antlitz nicht vor mir, damit ich nicht werde wie Menschen, die längst begraben sind.
8 Laß mich deine Huld erfahren am frühen Morgen; denn ich vertraue auf dich. Zeig mir den Weg, den ich gehen soll; denn ich erhebe meine Seele zu dir.
54 9 Herr, entreiß mich den Feinden! Zu dir nehme ich meine Zuflucht.
10 Lehre mich, deinen Willen zu tun; denn du bist mein Gott. Dein guter Geist leite mich auf ebenem Pfad.
11 Um deines Namens willen, Herr, erhalt mich am Leben, führe mich heraus aus der Not in deiner Gerechtigkeit!



Liebe Brüder und Schwestern!

1. Soeben wurde der Psalm 143 vorgelesen, der letzte der sogenannten »Bußpsalmen« im Septenar der im Psalter vorkommenden Bittpsalmen (vgl.
Ps 6 Ps 32 Ps 38 Ps 51 Ps 102 Ps 130 Ps 143). Die christliche Tradition hat sie alle benutzt, um vom Herrn die Vergebung der Sünden zu erbitten. Der Text, den wir heute vertiefen wollen, lag dem Apostel Paulus besonders am Herzen: Er leitete aus ihm eine tief verwurzelte Sündhaftigkeit jedes Menschen ab: »… keiner der lebt, ist gerecht vor dir, (Herr)« (V. 2). Dieser Satz wurde vom Apostel als Grundlage seiner Lehre über die Sünde und die Gnade übernommen (vgl. Ga 2,16 Rm 3,20).

Die Liturgie der Laudes bietet uns dieses Gebet an als Vorsatz der Treue und als Bitte um Gottes Hilfe am Tagesbeginn. In der Tat läßt uns der Psalm zu Gott sprechen: »Laß mich deine Huld erfahren am frühen Morgen; denn ich vertraue auf dich« (Ps 143,8).

2. Der Psalm beginnt mit einem inständigen und beharrlichen Ruf zu Gott, der dem Heilsversprechen gegenüber seinem Volk treu ist (vgl. V. 1). Der Beter erkennt an, daß er keine Verdienste geltend machen kann und bittet Gott demütig, über ihn nicht zu urteilen (vgl. V. 2).

Dann schildert er die dramatische Situation, ähnlich einer tödlichen Gefahr, in der er sich befindet: Der Feind, der sinnbildlich für das Böse in der Geschichte und in der Welt steht, hat ihn bis an die Schwelle des Todes geführt. In der Tat, hier liegt er, am Boden, im Staub, gleichsam schon im Grab; in der Finsternis, die eine Verneinung des Lichtes, des göttlichen Lebenszeichens, ist; schließlich die »längst Verstorbenen« (vgl. V. 3), unter denen er schon zu wohnen scheint.

3. Das Dasein des Psalmisten ist zerstört. Ihm fehlt der Atem, und sein Herz scheint zu erstarren und nicht mehr schlagen zu können (vgl. V. 4). Der am Boden liegende, geschundene Gläubige hat nur noch die Hände frei, die sich zum Himmel in einer Geste erheben, die zugleich eine Bitte um Hilfe und Suche nach einer Stütze ist (vgl. V. 6). Denn er denkt an die Vergangenheit, in der Gott wunderbare Taten vollbracht hat (vgl. V. 5).

Dieser Hoffnungsschimmer bringt das Eis des Leidens und der Prüfung zum Schmelzen, in dem der Beter unterzugehen droht (vgl. V. 7). Die Spannung ist zwar immer noch sehr groß, aber am Horizont erscheint ein Lichtstrahl. Wir gehen deshalb über zum zweiten Teil des Psalms (vgl. V. 7-11).

4. Er beginnt mit einer neuen, dringenden Bitte. Weil der Gläubige fühlt, daß ihn das Leben zu verlassen scheint, ruft er zu Gott: »Herr, erhöre mich bald, denn mein Geist wird müde« (V. 7). Er fürchtet, daß Gott sein Antlitz verbirgt und fern ist, ja, daß er sein Geschöpf allein gelassen hat.

55 Das Verschwinden des göttlichen Antlitzes läßt den Menschen in die Verzweiflung, ja, in den Tod stürzen, denn der Herr ist die Quelle des Lebens. Gerade an dieser äußersten Grenze erwacht das Vertrauen in Gott, der niemanden verläßt. Der Beter vervielfacht seine Rufe und beteuert gegenüber dem Herrn sein Vertrauen: »… denn ich vertraue auf dich … denn ich erhebe meine Seele zu dir … Zu dir nehme ich meine Zuflucht … du bist mein Gott.« Er bittet um Schutz vor seinen Feinden (vgl. V. 8-10) und um Befreiung aus der Not (vgl. V. 11), aber er wiederholt noch eine andere Bitte, die ein tiefes geistliches Verlangen offenbart: »Lehre mich, deinen Willen zu tun; denn du bist mein Gott« (V. 10a; vgl. V. 8b.10b). Diese bewundernswerte Bitte sollen wir uns zu eigen machen. Wir müssen begreifen, daß unser größtes Wohl die Übereinstimmung unseres Willens mit dem Willen unseres himmlischen Vaters ist, denn nur so können wir in uns seine ganze Liebe empfangen, die uns das Heil und die Fülle des Lebens bringt. Wenn es nicht von einem starken Verlangen nach Fügsamkeit gegenüber Gott begleitet wird, ist das Vertrauen in ihn nicht wahrhaftig.

Der Beter ist sich dessen bewußt und bringt deshalb diesen Wunsch zum Ausdruck. Er bekennt also dadurch sein festes Vertrauen auf Gott, den Retter, der ihn von der Angst befreit und ihm den Geschmack am Leben wiedergibt im Namen seiner »Gerechtigkeit«, das heißt seiner liebevollen und heilbringenden Treue (vgl. V. 11). Von der anfänglichen bedrückenden Situation ist das Gebet in Hoffnung, Freude und Licht übergegangen, dank einer aufrichtigen Zustimmung zu Gott und seinem Willen, der ein Wille der Liebe ist. Das ist die Macht des Gebets, das Leben und Heil hervorbringt.

5. Der hl. Gregor der Große schaut auf Gottes Huld am frühen Morgen (vgl. V. 8), und in seinem Kommentar zu den sieben Bußpsalmen beschreibt er diesen Morgen voll Hoffnung und Freude so: »Das ist der Tag, der von der wahren Sonne erhellt wird, die keinen Untergang kennt, die von den Wolken nicht verdeckt und vom Nebel nicht verhüllt wird … Wenn Christus, unser Leben, erscheinen wird, werden wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen, dann wird sich jeder Schleier der Finsternis lüften, jeder Rauch der Unwissenheit auflösen, jeder Nebel der Versuchung verflüchten … Das wird der strahlende und herrliche Tag sein, der allen Erwählten von dem bereitet wurde, der uns der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich seines geliebten Sohnes überführt hat.

Der Morgen dieses Tages ist die zukünftige Auferstehung … An jenem Morgen wird die Glückseligkeit der Gerechten glänzen, die Herrlichkeit erscheinen, der Jubel sichtbar sein, wenn Gott jede Träne von den Augen der Heiligen abwischen wird, wenn am Ende der Tod besiegt sein wird, wenn die Gerechten wie die Sonne im Reich des Vaters erglänzen werden.

An jenem Morgen wird der Herr seine Barmherzigkeit spüren lassen, indem er sagt: ›Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid‹ (
Mt 25,34). Dann wird Gottes Erbarmen offenbar werden, das der menschliche Geist in diesem Leben nicht erfassen kann. Denn der Herr hat für die, die ihn lieben, das bereitet, was kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört hat und in kein Menschenherz je gedrungen ist« (PL 79, coll. 649-650).

Ein Schrei um Hilfe, ein „Notruf", ist manchmal der Beginn einer neuen Gottesbeziehung: „Herr, vernimm mein Flehen; in deiner Treue erhöre mich!" (Ps 143,1). Die Hinwendung zu Gott nimmt uns die Angst. Freiheit, Dank und Liebe lassen den Wunsch stark werden, Gottes Willen zu erfüllen: „Lehre mich, deinen Willen zu tun; denn du bist mein Gott!" (Ps 143,10). Darin liegt unser Heil: Unseren Willen mit dem unseres himmlischen Vaters zu vereinen!
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Mit Freude grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Festes Vertrauen in Gottes Liebe und in seinen Heilsplan befreit von Angst, stärkt die Hoffnung und führt ins Licht. Aus dem Gebet erwächst uns die Kraft, Gottes Willen zu tun. - Gebt alle Zeugnis für den Gott des Lebens; dient seinem heiligen Willen! Euch allen wünsche ich von Herzen gesegnete und frohe Ferientage.






Generalaudienz 2003 44