Generalaudienz 1999 14


Mittwoch, 31. März 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

15 1. Mit dem vergangenen Sonntag, dem Palmsonntag, sind wir in die Karwoche eingetreten, die auch »heilige« Woche genannt wird, weil wir in ihr das Gedächtnis der zentralen Ereignisse unserer Erlösung begehen. Der Kern dieser Woche sind die Drei Österlichen Tage vom Leiden, vom Tod und von der Auferstehung des Herrn, die, wie es im Römischen Meßbuch heißt »Höhepunkt des ganzen Kirchenjahres« sind, denn: »Das Werk der Erlösung der Menschen und der vollendeten Verherrlichung Gottes hat Christus, der Herr, vor allem vollzogen durch das Paschamysterium, indem er durch seinen Tod unseren Tod überwunden und in der Auferstehung das Leben wiederhergestellt hat« (Meßbuch, Grundordnung des Kirchenjahres und des neuen Römischen Generalkalenders, Nr. 18). In der Geschichte der Menschheit hat sich nichts Bedeutenderes und nichts von größerem Wert ereignet. So gehen wir also am Ende der Fastenzeit daran, diese für unseren Glauben wichtigsten Tage mit andächtiger Teilnahme zu leben, und verstärken unser Bemühen, Christus, dem Erlöser des Menschen, mit immer größerer Treue nachzufolgen.

2. Die Karwoche führt uns zur Meditation über den Sinn des Kreuzes, in dem »die Offenbarung der erbarmenden Liebe ihren Höhepunkt erreicht« (vgl. Dives in misericordia
DM 8). Ganz besonders regt uns zu dieser Betrachtung das Thema dieses dritten Jahres der unmittelbaren Vorbereitung auf das Große Jubiläum des Jahres 2000 an: Gottvater. Sein unendliches Erbarmen hat uns gerettet. Um die Menschheit zu erlösen, hat er aus freiem Entschluß seinen eingeborenen Sohn dahingegeben. Wie sollte man ihm nicht danken? Die Geschichte wird erleuchtet und auf ihrem Weg geleitet durch das unvergleichliche Ereignis der Erlösung: Gott, der voll Erbarmen ist, hat durch das Opfer Christi seine unendliche Güte über jeden Menschen ausgeschüttet. Wie können wir auf angemessene Weise unsere Dankbarkeit ausdrücken? Wenn die Liturgie dieser Tage uns einerseits einen Dankeshymnus erheben läßt zum Herrn, dem Sieger über den Tod, fordert sie uns doch zugleich auf, alles aus unserem Leben zu entfernen, was uns daran hindert, Ihm gleichgestaltet zu werden. Wir betrachten Christus im Glauben und lassen die entscheidenden Augenblicke des von ihm bewirkten Heils an uns vorbeiziehen. Wir erkennen uns als Sünder an und bekennen unseren Undank, unsere Untreue und unsere Gleichgültigkeit gegenüber seiner Liebe. Wir bedürfen seiner Vergebung, die uns reinwäscht und uns stützt im Bemühen innerer Umkehr und steter Erneuerung im Geist.

3. »Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen! Wasch meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde!« (Ps 51,3-4). Diese Worte, die wir am Aschermittwoch gebetet haben, haben uns auf dem ganzen Weg durch die Fastenzeit begleitet. Sie hallen mit besonderer Eindringlichkeit in uns wider beim Herannahen der heiligen Tage, in denen das außerordentliche Geschenk der Sündenvergebung, das Christus uns am Kreuz erworben hat, uns neu geboten wird. Wie sollten wir vor dem Gekreuzigten, dem beredten Anruf des göttlichen Erbarmens, nicht unsere Sünden bereuen und zur Liebe umkehren? Wie sollten wir anderen zugefügtes Unrecht nicht konkret wiedergutmachen und unehrlich erworbenes Gut nicht zurückerstatten? Vergebung erfordert konkrete Gesten: Die Reue ist nur dann aufrichtig und wirksam, wenn sie sich in greifbaren Taten der Umkehr und gerechten Wiedergutmachung niederschlägt.

4. »Gott, hilf mir in deiner Treue!« So läßt uns heute die Liturgie vom Mittwoch in der Karwoche beten, die bereits ganz auf die Heilsereignisse ausgerichtet ist, die wir in den kommenden Tagen feiern werden. Wenn wir heute das Evangelium nach Matthäus vom Paschamahl und dem Verrat des Judas lesen, denken wir bereits an die feierliche Messe vom Letzten Abendmahl, bei der wir morgen abend der Einsetzung des Priesteramts und der Eucharistie sowie des »neuen« Gebots brüderlicher Liebe, das der Herr uns am Abend vor seinem Tod hinterlassen hat, gedenken werden.

Dieser eindrucksvollen Feier geht am morgigen Vormittag die Chrisam-Messe voraus, die in allen Bischofskirchen der Welt vom Bischof in Gemeinschaft mit seinen Priestern gefeiert wird. Dabei werden die heiligen Öle geweiht: das Katechumenenöl, das Krankenöl und der Chrisam. In der Nacht ist dann nach der Abendmahlsmesse Zeit für die Anbetung gewissermaßen in Antwort auf die Einladung, die Jesus in der dramatischen Nacht der Todesangst an seine Jünger richtete: »Bleibt hier und wacht mit mir!« (Mt 26,38).

Der Karfreitag ist der Tag großer Betroffenheit, an dem die Kirche uns von neuem die Erzählung der Passion Christi vernehmen läßt. Die »Verehrung« des Kreuzes steht im Mittelpunkt des liturgischen Geschehens, das an diesem Tag stattfindet, während die kirchliche Gemeinschaft eindringlich für die Anliegen der Glaubenden und der ganzen Welt betet.

Danach folgt eine Zeit tiefer Stille. Alles schweigt bis zur Nacht des Karsamstags. Mitten in die Finsternis brechen Licht und Freude herein mit den eindrucksvollen Riten der Feier der Osternacht und dem festlichen Gesang des Halleluja. Es ist die Begegnung im Glauben mit dem auferstandenen Christus, und die österliche Freude breitet sich über die ganzen fünfzig folgenden Tage aus.

5. Liebe Brüder und Schwestern, machen wir uns bereit, diese Ereignisse mit inniger Anteilnahme zu leben zusammen mit der allerheiligsten Maria, die im Augenblick des Leidens ihres Sohnes anwesend und Zeugin seiner Auferstehung war. In einem polnischen Lied heißt es: »Heiligste Mutter, zu deinem vom Leidensschwert durchbohrten Herzen schreien wir empor …« Maria nehme unsere Gebete und die Opfer der Leidenden auf; sie besiegle unsere Vorsätze aus der Fastenzeit und begleite uns, während wir Jesus in die Stunde der äußersten Prüfung folgen. Der gemarterte und gekreuzigte Christus ist Quelle der Kraft und Zeichen der Hoffnung für alle Glaubenden und für die ganze Menschheit.

Mit dem Palmsonntag sind wir in die Karwoche eingetreten. Während dieser heiligen Woche gedenken wir der zentralen Ereignisse der Erlösung. Im Herzen dieser Woche stehen die heiligen drei Tage sowie die Nacht der Auferstehung des Herrn. Mit der Feier dieser Tage erreicht das Kirchenjahr seinen Höhepunkt. Das Erlösungswerk und die Verherrlichung Gottes in Jesus Christus vollziehen sich im Ostermysterium. Es ist das große Geheimnis unseres Glaubens: In seinem Tod hat Jesus unseren Tod vernichtet und in seiner Auferstehung uns das Leben zurückgegeben.

In der Geschichte der Menschheit kommt keinem Ereignis größere Bedeutung zu. Keines hat höheren Wert.

So erleben wir am Ende der Fastenzeit die wichtigsten Ereignisse unseres Glaubens. Diese Tage mögen ein Anlaß sein, um uns für die Nachfolge Christi Kraft zu holen.
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16 Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Euch allen, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



April 1999

                                  

Mittwoch, 7. April 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Gegenüber der Liebe Gottvaters können wir nicht gleichgültig bleiben; sie verlangt nach Erwiderung in ständigem Liebesbemühen. Dieses Bemühen erfährt eine immer tiefere Bedeutung, je mehr wir Jesus nahekommen, der in vollkommener Gemeinschaft mit dem Vater lebt und so für uns zum Vorbild wird.

Im kulturellen Sinnzusammenhang des Alten Testaments ist die Autorität des Vaters unbeschränkt und wird als ein Vergleichsbegriff genommen, um die Autorität des Schöpfergottes zu beschreiben, die keine Beanstandungen duldet. In Jesaja lesen wir: »Weh dem, der zum Vater sagt: Warum zeugtest du mich?, und zur Mutter: Warum brachtest du mich zur Welt? So spricht der Herr, der Heilige Israels und sein Schöpfer: Wollt ihr mir etwa Vorwürfe machen wegen meiner Kinder und Vorschriften über das Werk meiner Hände?« (Is 45,10 f.). Ein Vater hat auch die Aufgabe, den Sohn zu führen und ihn wenn nötig mit Strenge zu ermahnen. Das Buch der Sprichwörter erinnert daran, daß das auch für Gott gilt: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er, wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat« (Pr 3,12 vgl. Ps 103,13). Der Prophet Maleachi bestätigt seinerseits die erbarmungsvolle Zuneigung Gottes zu seinen Kindern (Ml 3,17), aber es handelt sich dabei doch stets um eine anspruchsvolle Liebe: »Denkt an das Gesetz meines Knechtes Mose; am Horeb habe ich ihm Satzung und Recht übergeben, die für ganz Israel gelten« (Ml 3,22).

2. Das Gesetz, das Gott seinem Volk gibt, ist nicht eine von einem tyrannischen Vater auferlegte Last, sondern Ausdruck jener Vaterliebe, die den rechten Weg für das menschliche Verhalten weist und Bedingung ist, um der Verheißungen Gottes teilhaftig zu werden. Das ist der Sinn der Aufforderung des Deuteronomiums: »Du sollst auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, achten, auf seinen Wegen gehen und ihn fürchten«, die in engem Zusammenhang steht mit der Verheißung, daß Gott, der Herr, sein Volk »in ein prächtiges Land führt« (Dt 8,6 f.). Als Satzung, die den Bund zwischen Gott und den Söhnen Israels festlegt, ist das Gesetz von der Liebe geleitet. Es zu übertreten bleibt jedoch nicht ohne Folgen und bringt schmerzliche Resultate mit sich, die allerdings stets unter der Logik der Liebe stehen, denn sie veranlassen den Menschen zu einem heilsamen Bewußtwerden einer grundlegenden Dimension seines Seins. »Wenn unser Herz die Größe und Liebe Gottes entdeckt, wird es von Abscheu vor der Sünde und von ihrer Last erschüttert. Es beginnt davor zurückzuschrecken, Gott durch die Sünde zu beleidigen und so von ihm getrennt zu werden« (CEC 1432).

Wenn der Mensch sich von seinem Schöpfer abwendet, fällt er notwendigerweise ins Böse, in den Tod, ins Nichts. Im Gegenteil ist Zuwendung zu Gott Quelle des Lebens und Segens. Das wird ebenfalls vom Buch Deuteronomium betont: »Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen« (Dt 30,15 f.).

3. Jesus hebt das Gesetz in seinen Grundwerten nicht auf, sondern vollendet es, wie er in der Bergpredigt selbst sagt: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5,17).

Jesus verkündet als Kern des Gesetzes das Gebot der Liebe und leitet radikale Forderungen daraus ab. In Erweiterung der Vorschrift des Alten Testaments gebietet er, Freunde und Feinde zu lieben, und erklärt die Ausdehnung der Regel, indem er den Bezug zur Vaterschaft Gottes deutlich macht: »damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,43-45 vgl. KKK CEC 2784).

17 Mit Jesus geschieht ein qualitativer Sprung: Er faßt das Gesetz und die Propheten in einer einzigen Regel zusammen, die in ihrer Formulierung ebenso einfach wie in der Anwendung schwierig ist: »Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!« (vgl. Mt 7,12). Ja, sie wird als der Weg dargestellt, der zu gehen ist, um vollkommen zu sein, wie es der himmlische Vater ist (vgl. Mt 5,48). Wer so handelt, legt Zeugnis ab vor den Menschen, damit der Vater im Himmel verherrlicht werde (vgl. Mt 5,16), und wird bereit, das Reich zu empfangen, das der Vater für die Gerechten vorbereitet hat nach den Worten Christi beim letzten Gericht: »Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist« (Mt 25,34).

4. Wenn er die Liebe des Vaters verkündet, unterläßt Jesus es nie, daran zu erinnern, daß es sich um eine anspruchsvolle Liebe handelt. Dieser Zug des Antlitzes Gottes geht aus dem ganzen Leben Jesu hervor. Seine »Speise« ist es doch, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat (vgl. Jn 4,34). Und gerade, weil es ihm nicht um den eigenen Willen geht, sondern um den Willen des Vaters, der ihn in die Welt gesandt hat, ist sein Gericht gerecht (vgl .Jn 5,30). Der Vater legt deshalb über ihn Zeugnis ab (vgl. Jn 5,37) und so auch die Schriften (vgl. Jn 5,39). Vor allem die Werke, die er im Namen des Vaters vollbringt, bürgen dafür, daß er von ihm gesandt ist (vgl. Jn 5,36 Jn 10,25 Jn 10,37-38). Das höchste unter ihnen ist, daß er sein Leben hingibt, wie es ihm der Vater aufgetragen hat: Diese Selbsthingabe ist gerade der Grund, weshalb der Vater ihn liebt (vgl. Jn 10,17-18), und das Zeichen dafür, daß er den Vater liebt (vgl. Jn 14,31). Wenn schon das Gesetz des Deuteronomiums Weg und Gewähr für das Leben war, so ist das Gesetz des Neuen Testaments es in völlig neuer und paradoxer Weise, ausgedrückt in dem Gebot, daß man einander bis zu dem Punkt lieben soll, daß man sein Leben für seine Freunde hingibt (vgl. Jn 15,12-13).

Das »neue Gebot« der Liebe hat seinen letzten Ursprung in der göttlichen Liebe, wie Johannes Chrysostomus erwähnt: »Ihr könnt euren Vater nicht den Gott alles Guten nennen, wenn ihr ein unmenschliches und grausames Herz behaltet. Denn in diesem Fall habt ihr nicht mehr das Kennzeichen der Güte des himmlischen Vaters in euch« (Hom. in illud »Angusta est porta«: , 44B; in CEC 2784). In dieser Sichtweise haben wir Kontinuität und Überwindung in Einklang gebracht: Das Gesetz wird verwandelt und vertieft als Gesetz der Liebe, das einzige, das dem väterlichen Antlitz Gottes entspricht.

Die Liebe Gottes zu uns Menschen kann uns nicht gleichgültig lassen. Sie verlangt nach einer Erwiderung in unserem Leben und Handeln. Vorbild dafür ist uns Jesus Christus, der in voller Einheit und Gemeinschaft mit dem Vater lebt.

Dabei soll das von Gottvater gegebene Gesetz keine Last sein, sondern Ausdruck der Liebe des Vaters, der seinem Volk den richtigen Lebensweg zeigen will.

Jesus Christus hat seinerseits das Gesetz nicht aufgehoben, sondern erfüllt und in seinem ursprünglichen Sinn wiederhergestellt. Im “neuen Gebot” trägt er den Seinen auf, sowohl die Freunde als auch die Feinde zu lieben.

Immer wieder verkündet er die Liebe des Vaters, die zugleich Verpflichtung ist. Sein Lebensprogramm soll unser Maßstab sein: “Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat” (Jn 4,34).
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Mit dieser Betrachtung grüße ich alle Pilger und Besucher aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein. Insbesondere heiße ich die Teilnehmer an der Pilgerfahrt des Bistums Würzburg in Begleitung des Diözesanbischofs Paul-Werner Scheele willkommen. Außerdem begrüße ich die vielen Ministranten - und Jugendgruppen. Allen wünsche ich schöne Ferientage in Rom. Gern erteile ich Euch und Euren Lieben daheim sowie allen, die über Radio Vatikan oder das Fernsehen mit uns verbunden sind, den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 14. April 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

18 1. Die religiöse Ausrichtung des Menschen entspringt seiner Geschöpflichkeit, die ihn zur Sehnsucht nach Gott drängt, von dem er geschaffen ist als sein Abbild, ihm ähnlich (vgl. Gn 1,26). Das II. Vatikanische Konzil lehrt: »Ein besonderer Wesenszug der Würde des Menschen liegt in seiner Berufung zur Gemeinschaft mit Gott. Zum Dialog mit Gott ist der Mensch schon von seinem Ursprung her aufgerufen: er existiert nämlich nur, weil er, von Gott aus Liebe geschaffen, immer aus Liebe erhalten wird; und er lebt nicht voll gemäß der Wahrheit, wenn er diese Liebe nicht frei anerkennt und sich seinem Schöpfer anheimgibt« (Gaudium et spes GS 19).

Der Weg, der die Menschen zur Erkenntnis Gottvaters führt, ist Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, das zu uns kommt in der Macht des Heiligen Geistes. Wie ich in den vorangegangenen Katechesen betont habe, ist eine solche Erkenntnis echt und vollkommen, wenn sie sich nicht auf ein rein verstandesmäßiges Erfassen beschränkt, sondern in lebendiger Weise die ganze Person des Menschen mit einbezieht. Dieser schuldet dem Vater eine Glaubens- und Liebesantwort aus dem Bewußtsein, daß wir, noch bevor wir erkannt haben, von Ihm schon erkannt und geliebt worden sind (vgl. Ga 4,9 1Co 13,12 1Jn 4,19).

Leider wird diese innigste und lebenskräftige Verbindung mit Gott, die seit dem Beginn der Geschichte durch die Schuld der Ureltern beeinträchtigt ist, vom Menschen in schwankender und widersprüchlicher Weise gelebt, bedroht durch Zweifel und oft gebrochen durch Sünde. Schließlich hat die moderne Zeit besonders verheerende Formen von »theoretischem« und »praktischem« Atheismus gekannt (vgl. Fides et ratio FR 46-47). Vor allem erweist sich der »Säkularismus« verderblich mit seiner Gleichgültigkeit gegenüber den letzten Fragen und dem Glauben: Er ist in der Tat Ausdruck eines vom Bezug zur Transzendenz völlig abgelösten Menschenbildes. Somit ist der »praktische« Atheismus bittere und konkrete Wirklichkeit. Zeigt er sich auch vor allem in den wirtschaftlich und technisch hochentwickelten Kulturen, so erfassen seine Auswirkungen doch jene Situationen und Kulturen mit, die noch am Anfang eines Entwicklungsprozesses stehen.

2. Es ist nötig, sich vom Wort Gottes leiten zu lassen, um diese Situation der heutigen Welt verstehen und auf die schwerwiegenden Fragen, die sich stellen, antworten zu können.

Von der Heiligen Schrift ausgehend, wird man sogleich bemerken, daß sich darin kein Hinweis auf »theoretischen« Atheismus findet, während das Interesse darauf gerichtet ist, »praktischen« Atheismus anzuprangern. Der Torheit bezichtigt der Psalmist diejenigen, die denken: »Es gibt keinen Gott« (Ps 14,1), und sich danach verhalten: »Sie handeln verwerflich und schnöde; da ist keiner, der Gutes tut« (ebd.). In einem anderen Psalm wird der überhebliche Frevler getadelt, der den Herrn verachtet und sagt: »Gott straft nicht, es gibt keinen Gott« (Ps 10,4).

Überhaupt spricht die Bibel nicht von Atheismus, sondern vielmehr von Gottlosigkeit und Götzendienst. Gottlos und ein Götzendiener ist derjenige, der dem wahren Gott eine Reihe von menschlichen Produkten vorzieht, die fälschlicherweise als göttlich, lebendig und wirktätig angesehen werden. Der Hilflosigkeit der Götzenbilder - und parallel dazu derer, die sie anfertigen - sind lange prophetische Anklagereden gewidmet. Mit dialektischer Eindringlichkeit stellen sie der Leere und dem Unvermögen der vom Menschen angefertigten Götzenbilder die Macht des wundertätigen Schöpfergottes entgegen (vgl. Is 44,9-20 Jr 10,1-16).

Diese Lehre erreicht ihre größte Entfaltung im Buch der Weisheit (vgl. Weish Sg 13-15), wo sich der Weg der Gotteserkenntnis über die Werke der Schöpfung abzeichnet, auf den später der Apostel Paulus (vgl. Rm 1,18-23) wieder zurückkommt. »Atheist« zu sein bedeutet also: nicht die wahre Natur der geschaffenen Wirklichkeit zu erkennen, diese vielmehr zu verabsolutisieren und genau deshalb zu »vergöttern«, anstatt sie als Abglanz des Schöpfers und Weg, der zu ihm führt, zu betrachten.

3. Der Atheismus kann sogar zu einer Form von intoleranter Ideologie werden, wie die Geschichte beweist. Die letzten beiden Jahrhunderte haben Strömungen eines theoretischem Atheismus gekannt, die im Namen einer beanspruchten absoluten Autonomie des Menschen, der Natur oder der Wissenschaft Gott leugneten . Hierzu betont der Katechismus der Katholischen Kirche: »Oft basiert der Atheismus auf einer falschen Auffassung von der menschlichen Autonomie, die so weit geht, daß sie jegliche Abhängigkeit von Gott leugnet« (CEC 2126).

Dieser systematische Atheismus hat sich jahrzehntelang behauptet und die Illusion geliefert, daß wenn man Gott eliminierte, der Mensch sowohl in psychologischer als auch in sozialer Hinsicht freier wäre. Die wichtigsten Einwände, die vor allem gegen Gottvater vorgebracht wurden, gehen von der Auffassung aus, daß die Religion für den Menschen einen Wert kompensativer Art darstelle. Der erwachsene Mensch, der das Bild des irdischen Vaters beseitigt hat, würde in Gott das Bedürfnis nach einem vergrößerten Vater projizieren und müsse sich davon wiederum befreien, weil es den Reifeprozeß des Menschen behindere.

Welches ist die Haltung der Kirche gegenüber den Formen des Atheismus und ihren ideologischen Begründungen? Die Kirche verachtet keineswegs ein ernsthaftes Studium der psychologischen und soziologischen Komponenten des religiösen Phänomens, weist jedoch die Interpretation der Religiosität als Projektion der menschlichen Psyche oder als Ergebnis soziologischer Bedingungen entschieden zurück. Die echte religiöse Erfahrung ist in der Tat kein Ausdruck von Infantilismus, sondern eine reife und würdige Haltung der Annahme Gottes, die dem Bedürfnis nach einem umfassenden Sinn des Lebens entspricht und zur Verantwortung für eine bessere Gesellschaft verpflichtet.

4. Das Konzil hat erkannt, daß zur Entstehung des Atheismus die Gläubigen beigetragen haben können, insofern als sie das Antlitz Gottes nicht immer in angemessener Weise offenbart haben (vgl. GS GS 19 CEC 2125).

19 Aus dieser Sicht zeigt sich gerade im Zeugnis für das wahre Antlitz Gottvaters die überzeugendste Antwort auf den Atheismus. Das schließt natürlich nicht aus, sondern erfordert auch, daß man die Gründe rationaler Ordnung, die zur Erkenntnis Gottes führen, richtig darlegt. Leider werden diese Gründe oft verdunkelt durch Konditionierungen, verursacht von der Sünde, sowie vielfältige kulturelle Gegebenheiten. Daher ist die Verkündigung des Evangeliums, bekräftigt durch das Zeugnis einer verständigen Nächstenliebe (vgl. GS GS 21), der wirksamste Weg, damit die Menschen die Güte Gottes zu erahnen vermögen und nach und nach sein barmherziges Antlitz erkennen können.

Die religiöse Orientierung des Menschen leitet sich von seiner Geschöpflichkeit ab: Der Mensch ist Bild und Gleichnis Gottes.

Dennoch gibt es das Phänomen des Atheismus. Unsere Zeit kennt Formen des “theoretischen” und des “praktischen” Atheismus. Der Säkularismus zum Beispiel manifestiert sich insbesondere in den wirtschaftlich und technisch hochentwickelten Ländern. Durch seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben versucht er die Menschen von Gott abzubringen. Daneben wirkt auch der systematische Atheismus, der bisweilen zu einer intoleranten Ideologie werden kann. Er verspricht dem Menschen eine Freiheit ohne Gott.

Die Kirche verurteilt nicht das ernsthafte Studium der psychologischen und soziologischen Elemente der Religiosität. Aber sie weist entschieden jene Auffassung zurück, wonach Religion als Projektion der menschlichen Seele oder als Ergebnis gesellschaftlicher Bedingungen interpretiert wird.
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Mit diesen Gedanken grüße ich die Pilger und Besucher, die aus den Ländern deutscher Sprache nach Rom gekommen sind. Besonders heiße ich die Gruppe der Studentenmusik aus Einsiedeln willkommen. Euch allen, Euren lieben Angehörigen daheim und allen, die mit uns über Radio Vatikan und das Fernsehen verbunden sind, erteile ich von Herzen den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 21. April 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. »Ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist« (Ep 4,6).

Im Licht dieser Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Christen in Ephesus wollen wir heute darüber nachdenken, wie man für Gottvater Zeugnis geben kann im Dialog mit den glaubenden Menschen aller Religionen.

Bei unseren Überlegungen werden wir uns auf zwei Bezugspunkte stützen: das II. Vatikanische Konzil mit der Erklärung Nostra aetate über »Das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen« und das bereits nahe Ziel des Großen Jubiläums.

20 Die Erklärung Nostra aetate hat den Grund zu einem neuen Stil, dem des Dialogs, in den Beziehungen der Kirche zu den verschiedenen Religionen gelegt.

Seinerseits stellt das Große Jubiläum des Jahres 2000 eine vorzügliche Gelegenheit dar, um diesen Stil unter Beweis zu stellen. In Tertio millennio adveniente habe ich dazu eingeladen, den Dialog mit den großen Religionen zu vertiefen auch durch Begegnungen an bedeutsamen Orten (vgl.
TMA 52-53).

2. In der Heiligen Schrift wird das Thema des einen Gottes gegenüber der Gesamtheit der Völker, die das Heil suchen, nach und nach entfaltet bis zum Höhepunkt der vollen Offenbarung in Christus. Der Gott Israels, ausgedrückt im heilgen Tetragramm [J(a)HW(e)H] , ist der Gott der Erzväter, der Gott, der dem Mose im brennenden Dornbusch erschienen ist (vgl. Ex 3), um Israel zu befreien und es zum Bundesvolk zu machen. Im Buch Josua wird von der Entscheidung für den Herrn erzählt, die in Sichem getroffen wurde, wo die große Versammlung des Volkes den Gott wählt, der sich gütig und fürsorgend an ihm erwiesen hat, und alle anderen Götter abschafft (vgl. Jos Jos 24).

Im religiösen Bewußtsein des Alten Testaments verdeutlicht sich diese Wahl immer mehr im Sinn eines strengen, die ganze Menschheit umfassenden Monotheismus. Wenn der Herr, der Gott Israels, nicht ein Gott unter vielen ist, sondern der einzige wahre Gott, dann folgt daraus, daß von ihm alle Völker »bis an das Ende der Erde« (Is 49,6) gerettet werden sollen. Der universale Heilswille macht die Menschheitsgeschichte zu einem großen Pilgerweg der Völker auf ein einziges Ziel, Jerusalem, hin, ohne jedoch die ethnisch-kulturellen Unterschiede aufzuheben (vgl. Ap 7,9). Der Prophet Jesaja stellt diese Aussicht eindrücklich dar durch das Bild einer Straße, die von Ägypten nach Assur führt, und hebt hervor, daß nun der Segen Gottes Israel mit Ägypten und Assur vereint (vgl. Jes Is 19,23-25). Jedes Volk ist unter völliger Bewahrung der eigenen Identität gerufen, sich immer mehr zum einzigen Gott zu bekehren, der sich gegenüber Israel offenbart hat.

3. Diese »universalistische« Eingebung, die schon im Alten Testament vorhanden ist, wird im Neuen weiterentwickelt. Darin wird uns offenbart, daß Gott »will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen« (1Tm 2,4). Die Überzeugung, daß Gott tatsächlich alle Menschen auf das Heil vorbereitet, begründet den Dialog der Christen mit den glaubenden Menschen aller Religionen. Das Konzil hat die Haltung der Kirche gegenüber den nichtchristlichen Religionen folgendermaßen umrissen: »Mit auf richtigem Ernst betrachtet sie [die katholische Kirche] jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muß sie verkündigen Christus, der ist ›der Weg, die Wahrheit und das Leben‹ (Jn 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat« (Na 2).

In den vergangenen Jahren wurde der »Dialog« mit den glaubenden Menschen aller Religionen von gewisser Seite in Gegensatz gebracht zur »Verkündigung«, der vorrangigen Pflicht in der Heilssendung der Kirche. In Wirklichkeit ist der interreligiöse Dialog integrierender Bestandteil des Evangelisierungsauftrags der Kirche (vgl. KKK CEC 856). Wie ich wiederholt betont habe, ist der Dialog für die Kirche von grundlegender Bedeutung, gehört in ihren Heilsauftrag und ist darum ein Dialog des Heils (vgl. Ansprache an die Vollversammlung des Sekretariats für die Nichtchristen am Am 3 Am 1984 in DAS [1984], S. Am 1041-1045). Beim interreligiösen Dialog geht es also nicht darum, auf die Verkündigung zu verzichten, sondern auf einen göttlichen Anruf zu antworten, so daß Austausch und Teilen zu gegenseitigem Zeugnis von der eigenen religiösen Sicht werden und zu tieferer Kenntnis der jeweiligen Überzeugungen und Einigkeit bezüglich gewisser Grundwerte führen.

4. Die Berufung auf die gemeinsame »Vaterschaft« Gottes wird somit nicht als ein vager, allgemeingültiger Anhaltspunkt erscheinen, sondern von den Christen im vollen Bewußtsein jenes Heilsdialogs gelebt werden, der über die Vermittlung Jesu und das Wirken seines Geistes geht. Wenn wir zum Beispiel von Religionen wie der muslimischen das starke Bekenntnis zu einem personalen und in bezug zum Menschen und zum Kosmos transzendenten Absoluten entgegennehmen, so können wir unsererseits das Zeugnis von Gott in seinem innersten trinitarischen Leben vorlegen und erklären, daß die Dreiheit der Personen die Einheit Gottes nicht vermindert, sondern aufwertet.

Ebenso nimmt das Christentum aus religiösen Wegen, die zu einer monistischen Auffassung von der letzten Wirklichkeit als undifferenziertes »Selbst« führen, den Anruf entgegen, den tiefsten Sinn des göttlichen Mysteriums jenseits aller Worte und menschlichen Begriffe zu respektieren. Und es zögert dennoch nicht, die personale Transzendenz Gottes zu bezeugen und zugleich seine allumfassende, liebende Vaterschaft zu verkünden, die sich im Mysterium des gekreuzigten und auferstandenen Sohnes voll offenbart.

Möge das Große Jubiläum eine kostbare Gelegenheit sein, daß die glaubenden Menschen aller Religionen einander besser kennenlernen, um sich gegenseitig wertzuschätzen und zu lieben in einem Dialog, der für alle eine Begegnung des Heils sein solle!

Ein zentrales Wort des Zweiten Vatikanischen Konzils ist der Dialog. Die Kirche ist im Gespräch nicht nur mit sich selbst und allen, die sich Christen nennen. Sie führt auch Dialog mit den anderen Religionen. Denn Gott will, "daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1Tm 2,4).

Es gibt immer wieder Stimmen, die den Dialog der Verkündigung entgegensetzen. Doch recht verstanden, besteht zwischen beiden kein Widerspruch. Im Gegenteil: Der echte interreligiöse Dialog verzichtet nicht auf die Verkündigung. Er gibt die eigene Identität nicht auf, sondern bemüht sich um ein besseres gegenseitiges Verständnis und die Entdeckung gemeinsamer Werte.

21 Auf Gott den Vater bezogen, bedeutet dies für uns Christen: In unseren Heilsdialogen verkünden wir keinen vagen Monotheismus. Statt dessen bekennen wir uns zu Gott dem Vater in seiner Absolutheit und Transzendenz. Die Mittlerschaft Jesu Christi und das Wirken des Heiligen Geistes relativieren den Monotheismus nicht. Vielmehr geben sie ihm Gesicht und Konturen.
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Im Blick auf Gott, den Vater aller Menschen, grüße ich die Pilger und Besucher aus den Ländern deutscher Sprache. Besonders heiße ich die verschiedenen Gruppen von Ordensschwestern willkommen, die sich gerade zur geistlichen Erneuerung in Rom aufhalten. Außerdem grüße ich eine Delegation von Offiziersanwärtern und Offizieren. Euch allen, Euren Angehörigen daheim sowie den über Radio Vatikan und das Fernsehen mit uns verbundenen Gläubigen erteile ich gern den Apostolischen Segen.



Mittwoch, 28. April 1999


Liebe Schwestern und Brüder!

1. Der interreligiöse Dialog, den das Apostolische Schreiben Tertio millennio adveniente als bezeichnenden Aspekt des laufenden Gottvater-Jahres empfiehlt (vgl. TMA 52-53), bezieht sich vor allem auf die Juden, »unsere älteren Brüder«, wie ich sie anläßlich des denkwürdigen Treffens mit der jüdischen Gemeinde der Stadt Rom am 13. April 1986 (vgl. DAS [1986], S. 1245) genannt habe. In Besinnung auf das geistliche Erbe, das uns vereint, hat das II. Vatikanische Konzil, speziell in der Erklärung Nostra aetate, unseren Beziehungen zur jüdischen Religion eine neue Ausrichtung gegeben. Diese Lehre gilt es immer mehr zu vertiefen, und das Jubiläum des Jahres 2000 kann eine großartige Gelegenheit zu gemeinsamen Begegnungen sein möglichst an Orten, die für die großen monotheistischen Religionen Bedeutung haben (vgl. TMA TMA 53).

Es ist bekannt, daß die Beziehung zu den jüdischen Brüdern von den ersten Zeiten der Kirche an bis in unser Jahrhundert leider schwierig gewesen ist. Aber in dieser langen und leidvollen Geschichte hat es nicht an Augenblicken abgeklärten und konstruktiven Dialogs gefehlt. Diesbezüglich sei daran erinnert, daß das erste theologische Werk mit dem Titel »Dialog«, im zweiten Jahrhundert von Justin, dem Märtyrer und Philosophen, verfaßt, bedeutsamerweise dessen Gespräch mit einem Juden namens Tryphon gewidmet ist. Ebenso ist auf die dialogische Dimension hinzuweisen, die stark in der zeitgenössischen neujüdischen Literatur vorhanden ist, welche das philosophisch-theologische Denken des zwanzigsten Jahrhunderts tief beeinflußt hat.

2. Dieses dialogische Verhalten zwischen Christen und Juden ist nicht nur Ausdruck des allgemeinen Wertes des Dialogs unter den Religionen, sondern auch der Gemeinsamkeit des langen Weges, der vom Alten zum Neuen Testament führt. Es gibt einen langen Abschnitt der Heilsgeschichte, auf den Christen und Juden gemeinsam blicken. Denn »im Unterschied zu den anderen nichtchristlichen Religionen ist der jüdische Glaube schon Antwort auf die Offenbarung Gottes im Alten Bund« (CEC 839). Diese Geschichte wird von einer großen Schar heiliger Menschen erhellt, deren Leben den Besitz der erhofften Dinge im Glauben bezeugt. Der Brief an die Hebräer hebt gerade diese Glaubensantwort im ganzen Lauf der Heilsgeschichte hervor (vgl. He 11).

Mutiges Zeugnis für den Glauben sollte auch heute die Zusammenarbeit von Christen und Juden zur Verkündigung und Verwirklichung des Heilsplanes Gottes für die ganze Menschheit kennzeichnen. Wenn dieser Plan an einem gewissen Punkt bezüglich der Annahme Christi unterschiedlich interpretiert wird, führt das natürlich zu einem entscheidenden Unterschied, der für das Christentum selbst grundlegend ist. Er schließt aber nicht aus, daß viele gemeinsame Elemente bleiben.

Vor allem bleibt die Pflicht zur Zusammenarbeit, um dem Plan Gottes besser entsprechende humane Bedingungen zu fördern. Das Große Jubiläum, das sich ja gerade auf die jüdische Tradition der Jubeljahre beruft, rückt die Dringlichkeit eines solchen gemeinsamen Einsatzes zur Wiederherstellung des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ins Licht. In Anerkennung der Herrschaft Gottes über die ganze Schöpfung und im besonderen über die Erde (vgl. Lev Lv 25) sind alle Glaubenden aufgerufen, ihren Glauben in konkreten Einsatz zum Schutz der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in all seinen Formen und zur Verteidigung der Würde jedes Bruders und jeder Schwester umzusetzen.

3. Indem die Christen über das Geheimnis Israels und seiner »unwiderruflichen Berufung« (vgl. Ansprache anläßlich des Besuchs der römischen Synagoge, 13. April 1986; in DAS [1986], S. 1245) nachdenken, erforschen sie auch das Geheimnis ihrer Wurzeln. In den biblischen Quellen, die sie mit den jüdischen Brüdern teilen, finden sie unentbehrliche Elemente, um ihren eigenen Glauben zu leben und zu vertiefen.


Generalaudienz 1999 14